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siehe Bildunterschrift

Erasmus Darwin. 1731-1802. George Cuvier. 1769-1832. J. B. de Lamarck. 1744-1829. Karl v. Nägeli. 1817-1891.

Entwicklungs- und Abstammungstheorien.

Von G. Seiffert, Frankfurt a. M.

Mit 8 Bildnissen.

Kaum 50 Jahre sind verflossen, seitdem der Gedanke der Entwicklung und der Abstammung der Lebewesen begann, Gemeingut aller naturwissenschaftlich Gebildeten zu werden. Aber während dieser Zeit hat er auf die Gedankenwelt aller Gebildeten derartigen Einfluß erlangt, daß er jeden, der nur einigermaßen zu denken gelernt hat, beschäftigt, mag er dazu auch eine noch so ablehnende Stellung einnehmen. Viele begnügen sich leider mit der Feststellung, daß Darwin den Menschen vom Affen abstammen läßt; man lacht oder ärgert sich, daß einem eine derartige Abstammung zugemutet wird, – je nach Naturell – und ist dann meist sehr zufrieden. Trotzdem so viele volkstümliche Schriften heute soviel von Abstammung etc. reden, sind doch die Theorien und Ideen der Forscher, die diese Gedanken zuerst aussprachen, meist unbekannt.

Auf diese Theorien hinzuweisen, zu ihrem Studium anzuregen, seien diese Zeilen geschrieben. Sie mögen den Lesern des Kosmos in den kürzesten Umrissen die Hauptgedanken der einzelnen Theorien vor Augen führen und ihnen durch das am Schluß beigefügte Literaturverzeichnis die Möglichkeit an die Hand geben, sich mit diesem Gegenstand intensiver zu beschäftigen. In einem immerhin nur flüchtig berichtenden Aufsatz einer Zeitschrift läßt sich dieses Thema nicht gründlich genug behandeln. Dafür ist eigenes Bücherstudium erforderlich. Man sehe diesen Aufsatz als Anregung und Einleitung dazu an.

Der erste von den vielen, die sich im Altertum Gedanken über die Entstehung der Welt machten, und der dabei auch an eine Entwicklung dachte, war Empedokles. Rein mechanisch, nicht durch irgendwelche göttlichen Eingriffe sind die Lebewesen auseinander hervorgegangen. Nur Wesen, die zweckmäßig gebaut waren, blieben erhalten.

Nach dieser Schöpfungsphantasie ruhte Jahrhundertelang der Gedanke der Entwicklung. Erst wie in der Renaissance sich alle Wissenschaften wieder neu belebten, erwachte, oder vielleicht besser gesagt, erstand als ein ganz neues Etwas die Naturwissenschaft, die nicht nur Material sammelt und beschreibt, sondern auch nach allgemeinen Gesetzen sucht. Mit ihr begann auch der Gedanke der Entwicklung.

John Ray, ein ungefährer Zeitgenosse Linnés, regte die Frage dadurch an, daß er sich Klarheit über den Begriff der Art zu verschaffen suchte. Nach ihm gehörten diejenigen Individuen zu einer Art, welche von gleichen Eltern abstammen.

Als Linné den einzelnen Vertretern des Pflanzen- und Tierreichs ihre bestimmten Namen gab, stand für ihn die Unveränderlichkeit der Arten fest. Tot sunt species, quot ab initio creavit infinitum Ens. Doch allmählich kamen auch ihm Zweifel an der Konstanz der Arten, ohne daß er dafür nach einer Erklärung suchte. Die Paläontologie vermittelte uns immer mehr die Kenntnis ausgestorbener, versteinerter Lebewesen und brachte so die Systematiker in Verlegenheit, was sie damit anfangen sollten. Da stellte Cuvier die sog. Kataklysmentheorie auf, er suchte den Nachweis zu führen, daß mehrmals über die Erde Ereignisse, wie die Sintflut, hereingebrochen seien, und erklärte die Versteinerungen als Reste der damals vernichteten Lebewelt.

Nun treten die Männer, die von einer wirklichen Umwandlung, einer Entwicklung, sprechen, auf den Plan. Zu den ersten dürfen wir Goethe rechnen, der ohne bestimmte wissenschaftliche Beobachtung in rein idealem Sinne von der Urpflanze und ihrer Metamorphose spricht; dann ist E. Darwin, der Großvater Th. Darwins, zu erwähnen, der die Arten sich stufenweise ausbilden läßt, wie sie sich der Umgebung anpassen. Geoffroy St. Hilaire sieht in den Arten Ausartungen eines Typus, wie ihn Cuvier in der Gestalt seiner Tiertypen sich ausgedacht hatte.

siehe Bildunterschrift

Ernst Haeckel. Geb. 1834., Aug. Pauly. Geb. 1850., Hugo de Bries. Geb. 1848., Aug. Weismann. Geb. 1834

Nach einer Ursache für die Veränderlichkeit der Arten war aber bisher noch nicht gesucht worden. Hiermit begann bewußt Lamarck. Er dachte sich die Lebewesen aus anorganischen Stoffen durch Urzeugung entstanden. Zuerst entstanden Wesen von einfachstem Bau, die sich in langen Zeiträumen allmählich umbildeten. Er sieht als Endpunkt ihrer Entwicklung den Menschen an. Teils sind die noch lebenden, teils die ausgestorbenen Tiere Zwischenformen in dieser Entwicklungsreihe. Die Abänderung wird verursacht durch den Gebrauch ihrer einzelnen Organe, für ihre Entwicklung entscheidet Übung und Nichtübung. Seine Ansicht unterlag im Streite gegenüber dem mächtigen Cuvier. Beinahe rein philosophisch sind die Spekulationen Okens, die sich mit dem ganzen Kosmos beschäftigen. Nach ihm ist alles Organische aus Schleim hervorgegangen – wir würden heute statt Schleim Protoplasma sagen –. Alles ist nichts anderes als verschiedengestalteter Schleim, aus anorganischer Materie hervorgegangen.

Bisher hatten sich die Entwicklungsideen nur wenig an naturwissenschaftlich feststehende Tatsachen angelehnt, dazu waren die naturwissenschaftlichen Spezialwissenschaften zu wenig entwickelt gewesen. Jetzt hatten sich aber die Forschungen über den inneren Bau der Lebewesen, über ihren mikroskopischen Aufbau, über ihre Entwicklungsgeschichte, ihre vergleichende Anatomie soweit zu umfangreichen Disziplinen entwickelt, daß ihre Ergebnisse auch für den Entwicklungsgedanken als Beweismittel herangezogen werden konnten. Der Nachweis Schleidens und Schwanns, daß jeder Körper aus Zellen – Protoplasmaklümpchen, die in ihrem Innern einen besonders geformten Bestandteil, den Kern, enthalten – zusammengesetzt sei, war allgemein anerkannt worden. Man war zur Einsicht gelangt, daß das Ei nichts anderes als eine Zelle sei.

Aus diesen Forschungen aufbauend, beginnt die neue Periode der Entwicklungstheorien mit Charles Darwin, der 1859 sein Werk »Über die Entstehung der Arten« herausgab. Was will Darwin? Er wirft zunächst die Frage auf: Sind Varietäten konstant oder die Anfänge neuer Arten? Zu einem Artunterschied fordert er gute morphologische und physiologische Merkmale, die konstant vorhanden sind. Mittelstufen sind zwischen den Arten nicht vorhanden. Ein physiologisches Merkmal guter Arten ist es, wenn sie sich nicht miteinander kreuzen. Keine ausreichende Definition, da gute Arten sich bisweilen kreuzen, z. B. Pferd und Esel; auch pflanzt sich eine Art nicht dauernd untereinander fort. Der Artbegriff ist ein rein subjektiver. Entfernen sich die Varietäten weit von ihren ursprünglichen Arteigenschaften, sterben die Zwischenstufen aus, so kann man die ursprüngliche Varietät als eine neue Art bezeichnen.

Das Leben ist durch Urzeugung entstanden. Die neuen Lebewesen besitzen eine starke Umbildungsfähigkeit. Sie entwickeln sich aus einfachen zu höheren Formen. Beweise bringen paläontologische, vergleichend-anatomische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen. Ausgebaut wird späterhin dieser Gedanke durch Haeckel zum biogenetischen Grundgesetz. Die Entwicklung eines Individuums – seine Ontogenie – ist in modifizierten Formen die Rekapitulation der Entwicklung seines Stammes – der Phylogenie.

Wie sucht Darwin seine Anschauungen kausal zu begründen? Hat ein Tier zufällig erworbene Eigenschaften, die ihm seinen Artgenossen gegenüber das Leben erleichtern, so wird es sich auch besser im Kampf ums Dasein wehren können, größere Aussichten zu seiner Erhaltung haben wie die anderen. Es kann sich sicherer fortpflanzen und so die ihm Vorteile bringenden Verschiedenheiten weiter vererben. Diese sog. Selektionstheorie kann man als natürliche Zuchtwahl durch den Kampf ums Dasein bezeichnen. Der für das Dasein Passendste überlebt seine Artgenossen; seine Variabilität ist erblich. Beweisend sollen sein die Mimikry, die Anpassung der Individuen durch Form und Farbe an ihre Umgebung, um sie vor ihren Feinden zu schützen; die geschlechtliche Zuchtwahl der Tiere, daß nur die stärksten zur Fortpflanzung zugelassen werden.

Gegen die Darwinsche Theorie wurde zunächst vorgebracht, daß zufällige Variationen nicht zu den Erfolgen der abweichenden Artbildungen führen konnten. Nicht das Variieren eines Organs, nur die untereinander übereinstimmende Variierung aller Organe führe zur Neubildung von Arten, nimmt Spencer an. Weiterhin wird eingewandt, eine unbehinderte Kreuzung mit den Artgenossen vernichte die Erfolge. Wie erkläre sich die Umbildung nach verschiedenen Richtungen; und derart noch mehr. Das Selektionsprinzip allein ist nicht ausreichend, um eine befriedigende Erklärung zu geben.

Eine weitergehende Erklärung suchte Weismann in der Theorie der Germinalselektion zu geben. Er nimmt an, daß alle Anlagen zur Variation schon im Keime vorhanden sind. Einzelanlagen für die einzelnen Eigenschaften des Organismus, sog. Determinanten, bilden, zu großer Zahl vereinigt, die Keimesanlage. Die Entwicklung beruht auf Veränderung der Determinanten, indem einzelne sich weiter entwickeln und verändern, während andere dafür abgeschwächt werden. So entstehen schließlich neue Organismen mit besonderen, neuerworbenen Eigenschaften, neue Variationen. Wenn Keime in größerer Zahl in den gleichen Zustand einer bestimmt gerichteten Variation geraten, wird es nun durch Personalselektion möglich, diese neue Variation weiter fortzupflanzen. Organveränderungen. die durch Übung bewirkt werden, vererben sich nicht, da dadurch keine gleichgerichteten Keimveränderungen hervorgerufen werden.

Eine andere Erklärung sucht de Vries in seiner Mutationstheorie zu geben. Er beobachtete, wie unter einer Massenkultur einer Pflanze, der Königskerze, plötzlich ohne sichtbare äußere Veranlassung neue, scharf umgrenzte Arten ohne jegliche Zwischenformen auftraten, die sich auch als gute Arten weiterhin fortpflanzten. Er nennt diese plötzlich sprunghaft auftretenden Arten Mutationen und glaubt, daß nun sie stabile, neue Arten schaffen. Sie bleiben erhalten, wenn ihnen die Mutation bessere Lebensbedingungen schafft wie der Stammform. Die Artbildung tritt explosionsartig auf, ist aber vorher allmählich vorbereitet.

Um die Konstanz einer neugebildeten Art, das Verhindern einer Kreuzung mit ihrer Stammform zu erklären, was die neuen Arteigenschaften wieder vernichten würde, stellte M. Wagner die Migrationstheorie auf. Wird eine variierende Art an einen neuen Aufenthaltsort gebracht, so verhindert die geographische Isolierung die Kreuzung mit den Stammformen. Auswanderung oder geologische Veränderungen können diese Isolierung bewirken. Als bestehende Beweise sieht er die Inselfauna an. Die Vielgestaltigkeit des Tierlebens ist damit aber noch nicht erklärt.

Alle diese Theorien nehmen an, daß neue Charaktere gewissermaßen durch Zufall erlangt werden, aber geben dafür keine Erklärung. Auf Lamarck aufbauend, der die Variation durch Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe zu erklären sucht, nimmt Naegeli veränderte Existenzbedingungen als ursächliche Faktoren der Variation an. Pflanzen, die in eine andere Erde gebracht werden, verändern sich dort sehr schnell. Aus Puppen von Schmetterlingen, die lange Zeit in einem sehr kalten Raume gehalten wurden, kriechen ganz anders gefärbte Schmetterlinge aus wie aus solchen, die bei normaler Temperatur gehalten wurden. Meistenteils verschwinden diese experimentell erzeugten Veränderungen in der nächsten Generation wieder. Wieviel dauernd bleibt, darüber fehlen bisher genauere Erfahrungen Wahrscheinlich ist eine Veränderung je dauerhafter, je langsamer sie entsteht. Für diese Theorie sprechen sehr die in Rückbildung begriffenen Organe der Lebewesen, z. B. der Blinddarm des Menschen.

Eine letzte Theorie sucht die Variation auf rein innere Ursachen zurückzuführen. Sie, die von v. Baer und weiterhin von Naegeli stammt, sucht in einem gewissen Vervollkommnungsprinzip die Ursache zur Entwicklung zu finden. Jedem Lebewesen wohnt eine gewisse Energie zur Vervollkommnung inne; nebensächlich ist die Einwirkung der Außenwelt. August Pauly verwirft den Darwinschen Auslesegedanken völlig und will ihn nicht einmal als mithelfenden Faktor bei der Artenbildung anerkennen, zumal die Zeit des Erdbestandes für derartige Zuchtwahlprozesse nicht ausreichend sei. Er hat den Lamarckismus zu neuem Leben erweckt und mit frischem Geiste erfüllt und eine neulamarckische Schule ins Leben gerufen, der wir auch den Botaniker Francé beizählen dürfen. Pauly spricht von einer »inneren Teleologie des Lebens« und glaubt, daß ein vom lebenden Körper wahrgenommenes Bedürfnis die bewirkende Veranlassung einer bedürfnisgemäßen körperlichen Umbildung sei. Das die Zweckmäßigkeit erzeugende Prinzip innerhalb der Naturkräfte hält Pauly für eine wissenschaftliche Notwendigkeit und nimmt als Ursache der organischen Teleologie überhaupt seelische Kräfte des Plasmas an. Das Bedürfnis gilt als die Ursache der Anpassung.

Wie mannigfaltig die Erklärungsversuche für die Entwicklung auch sind, eine befriedigende Erklärung ist bisher noch nicht gegeben worden; anerkannt ist aber von fast allen Seiten, daß wir heute nicht mehr von der Konstanz der Arten reden dürfen, daß die Art kein feststehender, sondern ein stets in Wandlung sich befindender Begriff ist.


Überblicke über alle Theorien bieten:

O. Hertwig, Allgemeine Biologie.

Weismann, Deszendenztheorie.

R. H. Francé, Der heutige Stand der Darwinschen Fragen.

Speziellere Schriften sind:

Ch. Darwin, Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl.

Haeckel, Generelle Morphologie.

O. Hertwig, Ältere und neuere Entwicklungstheorien.

I. Lamarck, Zoologische Philosophie, übersetzt von A. Lang.

Naegeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre.

Rohde, Fr., Über den gegenwärtigen Stand der Frage nach der Entstehung und Vererbung individueller Eigenschaften und Krankheiten (mit Literaturverzeichnis).

H. Spencer, Die Faktoren der organischen Entwicklung 1886.

de Vries, Intrazellulare Pangenesis.

de Vries, Die Mutationstheorie.

A. Pauly, Darwinismus und Lamarckismus.

R. H. Francé, Das Leben der Pflanze. II. Bd.

Weitere Literatur wird man beim Durcharbeiten dieser Werke finden.


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