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Der Geschichtsfreund

Zwanglose Mitteilungen aus der Geschichte, der Kultur-, Kunst- und Literaturgeschichte.

Darwin-Festschrift


Darwins Vorläufer.

Jede Zeit ist ein Kind der Vergangenheit und hängt mit ihr durch tausend Fäden zusammen. Um über diese Zusammenhänge ins klare zu kommen, genügt keineswegs die bloße Kenntnis der politischen Vorgänge; auch die kulturelle, die religiöse, soziale und wissenschaftliche Entwicklung muß in die Darstellung einbezogen werden, um verständlich zu machen, wie die heutigen Zustände geworden sind. Schon vor 35 Jahren schrieb J. J. Honegger: »Auch die Geschichtschreibung steht mitten in einer allgemein sich vollziehenden großen Reform, die der Zeitgeist ihr auferlegt, derart daß sie auf diesem ihrem neuen Wege darauf ausgeht, wirkliche Völker- und Menschheitsgeschichte zu werden und uns die Gänge des Zivilisationsprozesses der Menschheit, vertiefter gefaßt, offen zu legen. Darauf sann schon Voltaire, wenn er sagt: Warum immer nur eine Geschichte der Könige? die des Volkes muß geschrieben werden! Die Einsicht von dieser notwendigen und auch im Zuge stehenden Umwandlung in der Art, Geschichte zu schreiben, ist allgemein, nicht bloß unter den Deutschen.«

Daher scheint es wohl berechtigt, zur Erinnerung an Charles Darwin (1809 wurde er geboren, 1859 erschien sein Werk über die Entstehung der Arten, das die Deszendenzlehre zu allgemeiner Geltung brachte) den Geschichtsfreunden das allmähliche Reisen des Entwicklungsgedankens in den Hauptzügen vorzuführen. Diese Theorie hat ja nicht nur den großen Aufschwung der Naturwissenschaften eingeleitet, sondern auch auf die allgemeinen Anschauungen der Menschen einen tiefgreifenden Einfluß ausgeübt. Rein äußerlich wird dies schon dadurch bekundet, daß Ausdrücke, wie »Entwicklung«, »Kampf ums Dasein«, »Erblichkeit« und »Zuchtwahl« seitdem in allen Kultursprachen zu viel gebrauchten und auch wohl mißbrauchten Schlagwörtern geworden sind.

Es ist wohl nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß Evolutions- und Deszendenztheorie nicht gleichbedeutend sind. Als Evolutions- oder Entwicklungstheorie bezeichnet man die monistische Weltanschauung, der zufolge im gesamten Weltall ein großer, einheitlicher Entwicklungsvorgang stattfindet, der, durch mechanische Ursachen bedingt, unaufhaltsam fortschreitet. Ihm ordnen sich alle Zustände und Erscheinungsformen der anorganischen und der organischen Natur ein. Von dieser allgemeinen Anschauungsform abgezweigt, behandelt die Deszendenztheorie oder Abstammungslehre (auch wohl Transmutations- oder Umwandlungstheorie geheißen) nur die Entwicklung der lebenden Wesen, von denen sie annimmt, daß sie nicht von Anbeginn in ihrer heutigen Gestalt vorhanden gewesen sind. Während Linné und seine Nachfolger den Menschen und jegliche Tier- und Pflanzenart für so »geschaffen« hielten, wie sie gegenwärtig sind, läßt die Abstammungslehre, welche die Unveränderlichkeit der Arten bestreitet, sie vielmehr von anders gestalteten und in der Regel einfacher geformten Wesen abstammen und nimmt an, daß die höhere Organisation einzelner Gruppen erst im Laufe sehr langer Zeiträume errungen wurde. Auf ihrem Boden stehend, lehrt nun Darwin, daß die von uns bei Tieren und Pflanzen unterschiedenen Spezies oder Arten nicht, wie die Wissenschaft bis dahin als festes Dogma annahm, konstant, sondern veränderlich und durch allmähliche Umformung aus geologisch älteren Arten entstanden sind. Zeitlich wie ursächlich ist das Einfachere und Niedere dem Komplizierten und Höheren vorausgegangen; die heutigen Organismen wie die der früheren Erdperioden sind – mit Einschluß des Menschen – Abkömmlinge einheitlicher Urformen des organischen Lebens. Nun muß sich für jeden Denkenden aber sogleich die Frage erheben: welche Ursache liegt dieser stetigen Weiter- und Höherentwicklung der Arten zugrunde? Darwin unternahm es, Auskunft darüber zu erteilen, wie dieser Umwandlungsprozeß vor sich gegangen sei und sich noch vollziehe, und die sog. Darwinsche Theorie darf, wie Thesing ausführt, wohl als der umfassendste und eingehendste Erklärungsversuch dieses Problems angesehen werden. »In vielen Kreisen, besonders in solchen, die der Deszendenztheorie, ›der Affentheorie‹, wie sie spöttisch genannt wird, feindlich gegenüberstehen, werden freilich oft Darwinsche Theorie und Abstammungslehre als zwei identische Begriffe gebraucht. Man meint, daß wenn man die geistvolle Hypothese des großen Briten, welche in der Selektionstheorie, in der Annahme des Überlebens der am besten an die zeitweiligen Lebensbedingungen angepaßten Tiere und Pflanzen im Existenzkampfe ihren Angelpunkt besitzt, widerlegen könnte, damit zugleich auch die Deszendenztheorie selbst ihre endgültige Erledigung gefunden hätte.«

»Gegen dieses Zusammenwerfen und Vermischen der Lehre Darwins mit der Abstammungstheorie kann man gar nicht scharf genug Verwahrung einlegen. Es sind durchaus getrennte Gebiete, auf die sich diese beiden Theorien erstrecken, und die Selektionshypothese Charles Darwins setzt die Deszendenz der Lebewesen bereits als erwiesen voraus und beansprucht lediglich, uns eine Erklärung zu geben, welche Kräfte bei der Umwandlung der Organismenwelt tätig waren, und auf welchen Wegen sich die Entstehung der höher organisierten Lebewesen aus einfacher gebauten Vorfahren vollzogen haben mag. Setzen wir also wirklich den Fall, die Lehre dieses großen Naturforschers würde sich als ein Irrtum erweisen, so wäre dadurch die Richtigkeit der Abstammungslehre noch in keiner Weise erschüttert. Das einzige, was damit erreicht wäre, müßte das Zugeständnis sein, daß es dann der Forschung bisher nicht möglich war, für die Art und Weise, wie sich die Umwandlung und Entwicklung der Organismenwelt vollzogen haben mag, eine befriedigende, einheitliche Erklärung zu geben. Noch immer aber besteht die Lehre Darwins in ihren Grundzügen zu Recht, von einer Widerlegung kann nicht wohl gesprochen werden; eine ehrliche Kritik mußte sich vielmehr darauf beschränken, auch die vielen schwachen Seiten der Selektionshypothese hervorzuheben und darauf hinzuweisen, daß die Bedeutung der natürlichen Auslese für die Artbildung von Darwin, namentlich aber von seinen Nachfolgern, erheblich überschätzt wurde, daß auch noch andere Ursachen bei der Ausgestaltung des organischen Lebens mitgewirkt haben. Wie sich aber auch kommende Generationen zu der Lehre dieses genialen Mannes stellen mögen, sein Verdienst kann dadurch nicht geschmälert werden; den Ruhm kann ihm niemand rauben, daß er es war, der durch seine umfassenden Arbeiten die Deszendenztheorie zur allgemeinen Anerkennung, zum endgültigen Siege geführt hat.« » Biologische Streifzüge, eine gemeinverständliche Einführung in die allgemeine Biologie« von Dr. C. Thesing (S. 155/156). Illustr. von Paul Flanderky. 2. Aufl. (I. F. Schreiber, Eßlingen und München).

Auf diesem Wege hat der Philosoph von Down nun aber zahlreiche Vorläufer gehabt, denn auch von der Entwicklungsidee gilt Goethes Wort:

»Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken, Das nicht die Vorwelt schon gedacht.«

Schon in allerfrühester Zeit hat der Mensch infolge des ihm angeborenen faustischen Erkennungsdranges über das geheimnisvolle Rätsel seiner Existenz und des Lebens überhaupt nachzugrübeln begonnen. Davon zeugen die auf uns gekommenen uralten Schöpfungssagen und Kosmologien. Wir gehen hier auf die Mythen der asiatischen Völker nicht ein, auch nicht auf die an die babylonische Form anschließende Schöpfungsgeschichte im ersten Buch Mose, sondern wenden uns gleich den altgriechischen Naturphilosophen zu. Von ihnen ist der im 5. Jahrhundert v. Chr. wirkende Arzt Empedokles nicht nur ein ausgesprochener Entwicklungstheoretiker, sondern es tritt auch bei ihm bereits die erste Andeutung des Darwinschen Prinzips vom Überleben des Passendsten auf. Es gibt nach ihm kein Werden, sondern nur Mischung und Trennung der Materie durch Liebe (oder Anziehungskraft, wie wir sagen würden) und Haß. Die Materie besteht aus den vier Elementen der Alten: Feuer, Wasser, Luft und Erde als den Grundstoffen der gesamten Natur. Im Urzustande waren sie alle durch jene Attraktionskraft zusammengehalten in Form einer Kugel, später kam der Haß (die Repulsionskraft) herein und trennte sie, so daß Einzeldinge sich bilden konnten. Dieser stete Kampf bewirkt die fortdauernde Mischung und Trennung der Elemente, wodurch allmählich das organische Leben auf Erden: zuerst das Pflanzen-, später das Tierreich entstanden ist. Die Entstehung der Tiere erklärt Empedokles so, daß zuerst einzelne Teile sich gebildet und durch Liebe zusammengefügt hätten, jedoch rein zufällig, bis nach zahlreichen Mißbildungen schließlich erhaltungs- und fortpflanzungsfähige Wesen zustande gekommen seien, die ihre Eigenschaften auf die Nachkommen übertrugen. Wie phantastisch dies alles auch klingt, so leuchtet hier doch unverkennbar erstmals der Grundgedanke vom mechanischen Entstehen des Zweckmäßigen und dem Überleben der bestangepaßten Formen in der Natur auf, der nach mehr als zweitausend Jahren bei Darwin der Wegweiser zu einer neuen Weltanschauung werden sollte.

Diogenes von Apollonia (um 450 v. Chr.) läßt alles Einzelne mittels Verdünnung und Verdichtung aus der atmosphärischen Luft als dem Urwesen entstehen; wir werden an die Anschauungen der neuesten Physiker erinnert, wenn man statt Luft: Äther sagt.

Demokritos von Abdera (geb. zwischen 470 und 460) gilt als der eigentliche Begründer der Atomistik. Er verwirft die Annahme eines vom körperlichen Stoff verschiedenen geistigen Prinzips, das die Dinge seinem Endzweck gemäß gestalte; er lehrt einen konsequenten und zwar atomistisch-mechanischen Materialismus, dessen Hauptgrundzüge bei der modernen materialistischen Naturforschung wiederkehren.

Bei dem einflußreichsten Philosophen und Naturkundigen des Altertums, Aristoteles (384 – 322 v. Chr.), tritt als Forschungsprinzip möglichst umfangreiche Beobachtung auf; aus den Tatsachen erst leitet er durch Induktion (Zusammenfassung mehrerer Fälle, in denen eine gemeinsame Regel gilt, zur Ermittlung dieser Regel) allgemeine Sätze ab. Er nimmt in der Natur einen allmählichen Übergang vom Unbeseelten zum Beseelten an. Ihm galt aber die Art als ewig, und deren Umwandlung wird stets nur ideal, nicht real gedacht. Daß die höheren Lebewesen in der Embryonalentwicklung niederen Tierformen entsprechende Entwicklungsstufen durchlaufen, war seinem Scharfblick jedoch nicht entgangen.

Das durchweg im Banne blinden Dogmen- und Autoritätsglaubens stehende Mittelalter außer Betracht lassend, gehen wir gleich über zu dem Franzosen René Descartes (1596 bis 1650), dem Begründer der neueren dogmatisch-rationalistischen Philosophie, der zwar den Entwicklungsgedanken aufnahm, jedoch zwischen Tier und Mensch eine unübersteigliche Schranke aufzurichten suchte, indem er jenem eine denkende Seele überhaupt absprach. In den Tieren geschieht nach seiner Lehre alles ausschließlich nach mechanischen Gesetzen; sie sind für ihn nichts anderes als belebte Automaten. – Als folgerichtiger Vertreter des Entwicklungsgedankens zeigt sich Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716), einer der scharfsinnigsten Denker aller Zeiten. Während Linné erklärt hatte: »Es gibt soviel verschiedene Arten von Tieren und Pflanzen, als ursprünglich verschiedene Formen vom unendlichen Gott erschaffen worden sind«, bestreitet er die Konstanz oder Unveränderlichkeit der Arten und erkennt keine scharfe Grenzlinie zwischen Arten und Varietäten an. Er erblickt in den sämtlichen Ordnungen der natürlichen Wesen eine einzige Kette, worin die verschiedenen Klassen so eng aneinanderhaften, daß sich unmöglich der Punkt genau angeben läßt, wo die eine anfängt und die andere endigt. »Die zwingende Kraft des Kontinuitätsprinzips steht für mich so fest, daß ich nicht im geringsten über die Entdeckung von Mittelwesen erstaunt wäre, die in manchen Eigentümlichkeiten, etwa in ihrer Ernährung und Fortpflanzung, mit ebenso großem Rechte als Pflanzen wie als Tiere gelten können, und die so die gewöhnlichen Regeln umstoßen würden, die auf der Voraussetzung einer vollständigen und unbedingten Trennung der verschiedenen Wesen ... aufgebaut sind. Ja, ich bin sogar davon überzeugt, daß es solche Wesen geben muß, und daß es der Naturgeschichte vielleicht eines Tages gelingen wird, sie aufzufinden, wenn sie erst die Unendlichkeit der Lebewesen genauer studiert, die sich durch ihre Kleinheit den gewöhnlichen Untersuchungen entziehen oder sich im Innern der Erde oder in den Tiefen der Gewässer verborgen halten.« Für ihn besteht kein Zweifel, daß die Menschen mit den Tieren, die Tiere mit den Pflanzen und diese wiederum mit den Fossilien in nahem Zusammenhang stehen; bezüglich der Ontogenie oder Entwicklungsgeschichte des Individuums lehrt er, daß dessen wichtigste Anlagen bereits im Keime vererbt sind. – Auch der englische Philosoph John Locke (1632 – 1704), der Begründer der neueren kritischen Erkenntnistheorie, erklärt in seinem berühmten »Versuche über den menschlichen Verstand« den Glauben für durchaus irrtümlich, »die existierenden Dinge seien von Natur durch reale Wesenheiten ebenso in Arten gesondert, wie wir sie mit Hilfe von Namen in Arten einteilen«.

Daß im 18. Jahrhundert bereits heftig über die Abstammung des Menschen gestritten wurde, hat u. a. Dr. J. H. F. Kohlbrugge »Die morphologische Abstammung des Menschen. Kritische Studie über die neueren Hypothesen« (Stuttgart, Strecker & Schröder). nachgewiesen. James Burnett, Lord Monboddo stellte in seinem 1773 – 92 erschienenen Buche »Über den Ursprung und die Fortschritte der Sprache« nicht nur einen Satz auf, in dem die ganze Evolutionslehre deutlich ausgedrückt ist: »Es scheint ein Gesetz der Natur zu sein, daß keine Gattung von Dingen auf einmal, sondern durch einen Stufen-Fortgang von einer Staffel zur anderen gebildet werde,« sondern er leitete auch die Herkunft des Menschen von den Assen, speziell den Anthropoiden oder menschenähnlichen Affen ab, die er nach damaligem Brauche unter dem Namen Orang-Utan zusammenfaßte. Er hielt den Orang-Utan für einen Menschen, der das Sprechen noch nicht gelernt habe; die Natur des Menschen sei ursprünglich eine rein tierische gewesen, aus der er sich dann sehr, sehr langsam in langen Zeiträumen zum heutigen Standpunkt erhoben habe. Diese Behauptung erregte allgemeinen Widerspruch, fand aber trotzdem später neue Verteidiger, z. B. den Prediger J. G. I. Ballenstedt in Pabsdorf, der in seinem 1818 erschienenen Werke »Die Urwelt« annahm, daß jede Erdperiode die dazu geeigneten Tiere und Menschen besessen habe, und zwischen Tier und Mensch nur graduelle Unterschiede sah. »Er nannte die Tiere Halbbrüder des Menschen, nahm dann auch allerlei Zwischenstufen zwischen Tier und Mensch an, Menschen mit Schwänzen (Bd. III, S. 36), Affenmenschen, Menschen, die noch keine ausgebildete Sprache besäßen, da diese sich erst nach und nach durch Übung entwickelt hätte.«

Der größte Denker seiner Zeit, der Königsberger Weise Immanuel Kant (1724 bis 1804), hatte sich in jüngeren Jahren der Hypothese einer durch stufenweise Vervollkommnung bewirkten allmählichen Fortbildung der organischen Wesen nicht abhold gezeigt. Noch in seiner »Kritik der Urteilskraft« heißt es: »Die Übereinkunft so vieler Tiergattungen in einem gewissen gemeinsamen Schema, das nicht allein in ihrem Knochenbau, sondern auch in der Anordnung der übrigen Teile zum Grunde zu liegen scheint, wo bewunderungswürdige Einfalt des Grundrisses durch Verkürzung einer und Verlängerung anderer, durch Einwickelung dieser und Auswickelung jener Teile eine so große Mannigfaltigkeit von Spezies hat hervorbringen können, läßt einen, obgleich schwachen Strahl von Hoffnung in das Gemüt fallen, daß hier wohl etwas mit dem Prinzip des Mechanismus der Natur, ohne welches es überhaupt keine Naturwissenschaft geben kann, auszurichten sein möchte. Diese Analogie der Formen, sofern sie bei aller Verschiedenheit einem gemeinschaftlichen Urbilde gemäß erzeugt zu sein scheinen, verstärkt die Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter durch die stufenartige Annäherung einer Tiergattung zur andern, von derjenigen an, in welcher das Prinzip der Zwecke am meisten bewährt zu sein scheint, dem Menschen, bis zum Polyp, von diesem sogar bis zu Moosen und Flechten und endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie, aus welcher und ihren Kräften nach mechanischen Gesetzen (gleich denen, wonach sie in Kristallerzeugungen wirkt) die ganze Technik der Natur, die uns im organisierten Wesen so unbegreiflich ist, daß wir uns dazu ein anderes Prinzip zu denken genötigt glauben, abzustammen scheint. Hier steht es nur dem Archäologen der Natur frei, aus den übrig gebliebenen Spuren ihrer ältesten Revolutionen, nach allem ihm bekannten oder gemutmaßten Mechanismus derselben jene große Familie von Geschöpfen ... entspringen zu lassen. Er kann den Mutterschoß der Erde, die eben aus ihrem chaotischen Zustande herausging (gleichsam als ein großes Tier), anfänglich Geschöpfe von minder zweckmäßiger Form, die wiederum andere, welche angemessener ihrem Zeugungsplatze und ihrem Verhältnisse untereinander sich ausbildeten, gebären lassen ...«

Wie erschrocken über solche Kühnheit, kehrt er dann aber schleunigst zur teleologischen Naturauffassung wieder zurück und erklärt jene Theorie bei aller Anerkennung ihres großartigen Wurfes dennoch für ein »gewagtes Abenteuer der Vernunft«. Der Glaube sei ungereimt, es könne jemals ein Newton auferstehen, der auch nur die Entstehung eines Grashalmes nach Naturgesetzen, die keine höhere Absicht geordnet habe, begreiflich machen könne.

In voller Klarheit finden wir den Abstammungsgedanken zuerst bei dem Großvater von Charles Darwin, dem Arzte, Naturforscher und didaktischen Dichter Erasmus Darwin (1731 – 1802), der in seinen Lehrgedichten ein vollständiges System der Entwicklungstheorie entworfen hat, wenn er es auch noch in keiner Weise wissenschaftlich zu begründen vermochte.

Er spricht darin nicht nur von einer natürlichen Entwicklung aller Dinge auf Erden, einschließlich der Tier- und Pflanzenarten, sondern geht auch ein auf die Rätsel der Vererbung, der Anpassung, der Schutzmittel von Pflanzen und Tieren, der geschlechtlichen Zuchtwahl, der insektenfressenden Pflanzen, auf die Analyse der Gemütsbewegungen und soziologischen Triebe usw., so daß man wohl sagen kann, der Enkel habe gewissermaßen ein vom Großvater entworfenes Programm ausgeführt.

Prof. Dr. Rud. Burckhardt »Geschichte der Zoologie« (Sammlung Göschen). nennt Erasmus Darwin eine Parallelerscheinung aus englischem Boden zu dem großen Entwicklungspoeten Goethe, der das gleiche Interesse der Zoologie und Botanik, wie der Mineralogie, Geologie und Paläontologie zuwendete. Sein Freund J. G. Herder (1744 – 1803), mit dem er den Uranfang der Erde und die Fortbildung der ersten Organismen in langen Gesprächen erörtert hatte, schrieb im I. Bande seiner »Ideen zur Philosophie der Geschichte« (1784) »Vom Stein zu Kristallen, von diesen zu Weltallen, von diesen zur Pflanzenschöpfung, von da zum Tier, endlich zum Menschen sahen wir die Form der Organisation steigen, mit ihr auch die Kräfte und Triebe des Geschöpfes vielartiger werden, und sich endlich alle in der Gestalt des Menschen, sofern diese sie fassen konnte, vereinigen. Durch diese Reihe von Wesen bemerkten wir eine Ähnlichkeit der Hauptformen, die sich immer mehr der Menschengestalt näherten – und ebenso sahen wir auch die Kräfte und Triebe sich ihm nähern.«

Unser großer Goethe (1749 – 1832), dessen Leistungen als Naturforscher erst die neueste Zeit richtig zu werten beginnt, ist zwar ein Gegner der mechanischen Weltauffassung gewesen: er sah überall in der Natur Beseelung und Durchgeistigung, freilich keinen Gott, »der nur von außen stieße«. Er gehört aber zu den Vertretern des Deszendenzgedankens; dies läßt schon sein früh begonnenes eifriges Forschen nach einem Urtypus der Pflanzen und Tiere erkennen. Bis in sein höchstes Alter blieb er der Idee einer Herausbildung der Wesen-Mannigfaltigkeit aus einfachen Anfängen treu, wie er schon 1790 (in demselben Jahr erschien seine »Metamorphose der Pflanzen«) in den »Tag- und Jahresheften« verzeichnet hatte: »Ich war völlig überzeugt, ein allgemeiner, durch Metamorphose sich erhebender Typus gehe durch die sämtlichen organischen Geschöpfe durch, lasse sich in allen seinen Teilen auf gewissen mittleren Stufen gar wohl beobachten und müsse auch da noch anerkannt werden, wo er sich auf der höchsten Stufe, der Menschheit, ins Verborgene bescheiden zurückzieht.« Die Fachmänner wollten von seiner Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen ebensowenig etwas wissen, wie von seiner Auffassung des Blattes als einfachstes Grundorgan der Pflanzenwelt (daß es noch ein einfacheres: die Zelle, gäbe, war mit den damaligen mangelhaften Mikroskopen nicht zu entdecken), bis sie später die Richtigkeit zugeben mußten. Prof. Alex. Braun urteilt, daß »auf Ideen Goethes die ganze moderne Botanik weitergebaut habe«; er darf geradezu als Begründer einer neuen Wissenschaft bezeichnet werden, der Formen- oder Gestaltenlehre (griech. Morphologie), die es sich zur Aufgabe stellt, den gemeinsamen Grundplan der Wesen zu erforschen, und durch das Studium des Baues der Tiere zur vergleichenden Anatomie wird:

»Alle Gestalten sind ähnlich, doch gleichet keine der andern,
Und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz.«.

In Goethes Abhandlung »Über einen aufzustellenden Typus zur Erleichterung der vergleichenden Anatomie« aber heißt es: »Dies also hätten wir gewonnen, ungescheut behaupten zu dürfen, daß alle vollkommeneren organischen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugetiere und an der Spitze der letzteren Menschen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien, das nur in seinen sehr beständigen Teile. mehr oder weniger hin und her weicht und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet.« In Deutschland gelangte die Deszendenztheorie ferner zum Ausdruck in den Werken der naturphilosophischen Schule, vor allem in denen von Fr. W. J. Schelling (1775 bis 1854), Lorenz Oken (1779 – 1851) und C. G. Carus (1789 – 1869) und des Anatomen Jos. Fr. Merkel (1781 – 1833).

Wenn der Philosoph G. W. Fr. Hegel (1770 – 1831), der alle Welterscheinungen in der Stufenfolge ihres Werdens zu begreifen sucht, vielfach als »Philosoph der Entwicklung« bezeichnet wird, so muß man sich gegenwärtig halten, daß er unter »Entwicklung« etwas ganz anderes versteht wie die moderne Naturforschung, worauf hier nicht näher einzugehen ist. – Noch vor Darwin ist aber für die Entwicklungshypothese der große Pessimist Arthur Schopenhauer (1788 – 1860), wie Max Steiner » Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen«, von Max Steiner (Berlin, E. Hofmann & Co.). hervorhebt, eingetreten, der sogar die Abstammung des Menschen »vom Affen« energisch verteidigte. Das »biogenetische Grundgesetz« Haeckels findet man bereits in »Parerga und Paralipomena« (Bd. III, Kap. 6, § 92) ausgesprochen: »Jeder Fötus durchgeht sukzessive die Formen der unter seiner Spezies stehenden Klassen, bis er zu der eigenen gelangt.« Während Darwin indes ein mechanisches Prinzip als Ursache des Fortschreitens annahm, glaubte der deutsche Denker an einen nach aufwärts strebenden Willen zum Leben und ist dadurch der eigentliche Begründer der modernen vitalistischen Entwicklungslehren geworden.

In Frankreich hatte zwar ein Zeitgenosse Linnés, Georges Leclerc, nachmals Graf von Buffon (1707 – 1788), im 4. Bande seiner berühmten »Naturgeschichte« ausgesprochen, wenn man die Überzeugung gewönne, daß unter den Pflanzen und Tieren nur eine einzige Art gewesen sei, die im Laufe einer geraden Abstammungsreihe von einer anderen Art hervorgebracht worden wäre, »dann ließen sich der Macht der Natur keine weiteren Schranken setzen, und wir würden nicht unberechtigt handeln, anzunehmen, daß sie in genügenden Zeiträumen alle übrigen von einem einzigen Wesen hätte erzielen können«. Dann aber fuhr er, eingedenk einer früher an ihn ergangenen Verwarnung der Sorbonne fort: »Doch nein: aus der Offenbarung wissen wir gewiß, daß alle Tiere gleichmäßig mit der Gnade einer unmittelbaren Erschaffung begünstigt worden sind, und daß das erste Paar einer jeden Art vollständig ausgebildet aus den Händen des Schöpfers kam.« – Später schien dann der Entwicklungstheorie völlig der Boden entzogen zu sein durch die Autorität von Georges Cuvier (1769 – 1832), dessen Katastrophenlehre jeden Zusammenhang verneinte. Jede Epoche der Erdgeschichte habe eine besondere, ihr durchaus eigentümliche Tier- und Pflanzenwelt gehabt, lehrte er, die am Ende jeder Periode durch furchtbare Umwälzungen völlig vernichtet worden sei, dann habe jedesmal auf dem jungfräulichen Boden eine völlige »Neuschöpfung« konstanter Arten stattgefunden; als die letzte derartige Umwälzung bezeichnete Cuvier, der sich im übrigen als »Vater der Paläontologie« hohe Verdienste erwarb, die biblische Sintflut.

Gegen die von Cuviers geistiger Diktatur beherrschte Fachmeinung der Zeit vermochte ein anderer französischer Forscher nicht aufzukommen, in dem wir zweifellos den bedeutendsten Vorläufer Darwins zu erblicken haben: Jean Bapt. Monet de Lamarck (1744 – 1829), der in seinem Hauptwerke » Philosophie zoologique« (1809) die Abstufungen von den höchsten Tieren bis zu den niedersten darlegte und die Gesetze der Umwandlung ihrer Formen zu ergründen suchte. Von den niedersten Organismen ausgehend, wollte er zeigen, wie sie durch Ausbildung des Gebrauches ihrer Gliedmaßen allmählich im Laufe unendlicher Zeiträume zu immer vollkommeneren Organisationen gelangt seien. Mit genialem Blick erfaßte er den Gedanken der Entwicklung im Tier- und Pflanzenreich, leider stand ihm aber noch nicht genügendes Material zu Gebote, um ihn im einzelnen begründen und die Methode dieser Entwicklung erfassen zu können. Deswegen blieben seine Anschauungen unbeachtet oder ernteten sogar Spott und Hohn. »Vergeblich,« schreibt Thesing, »hat Lamarck während eines langen, arbeitsreichen Lebens, dessen letzte 17 Jahre in der Nacht der Blindheit verflossen, auf die Anerkennung der Zeitgenossen gewartet. Seine zahlreichen Schriften blieben fast unbekannt oder wurden mißverstanden. Erst jetzt, bald ein Jahrhundert nach seinem Tode, scheint ihm die lang vorenthaltene Würdigung zuteil werden zu sollen. Es läßt sich in der Tat nicht verkennen, daß gerade in den letzten Jahren in der naturwissenschaftlichen Anschauung – nicht nur der Botaniker, sondern ebenfalls der Zoologen (Neolamarckismus) – ein starker Zug zurück zu den Lehren dieses geistvollen, unglücklichen Mannes bemerkbar wird«.

Da Lamarck das Verdienst nicht abgesprochen werden kann, der Deszendenztheorie zuerst einen wissenschaftlichen Boden bereitet zu haben, so wollen wir auf seine Lehren nachstehend noch etwas näher eingehen. Nach seiner Ansicht entstanden aus der Erde, nachdem ihre Abkühlung genügend weit vorgeschritten war, zunächst Organismen von einfachstem Bau aus unbelebten Stoffen durch Urzeugung auf natürlichem Wege. Aus diesen einfachsten Lebewesen entwickelten sich im Verlauf unermeßlich langer Zeiträume die gegenwärtig lebenden Arten der Pflanzen und Tiere durch langsame Umbildung und Anpassung, ohne daß die stetige Fortbildung (Kontinuität) des Lebens auf unserem Erdball jemals eine Unterbrechung erfuhr. Den letzten Endpunkt dieser Reihe bildet der Mensch, während die Tiere die Deszendenten der Formen sind, aus denen jener sich entwickelt hat. Gemäß den damals herrschenden Anschauungen saßt Lamarck das Tierreich aus als eine einzige Reihe, die vom einzelligen Urtier bis zum Menschen ansteigt, während man sich heute die stammesgeschichtliche Entwicklung der organischen Welt in Baumform (Hauptstämme, entsprechend den Typen, Phylen oder Stämmen, während die Verästelungen die jedesmaligen Klassen, Ordnungen usw. bezeichnen) vorstellt. Als die hauptsächlichste Ursache für die allmähliche Umwandlung und Vervollkommnung der Organismenwelt und die Entstehung neuer Arten nimmt er die direkte Einwirkung äußerer Bedingungen an und stellt dabei in den Vordergrund die Übung, bezw. Nichtübung der einzelnen Organe. Alles Lebende antwortet auf äußere Reize (es »reagiert« auf sie, wie wir, einen Ausdruck der Chemie anwendend, sagen), und Zwar vermag ein häufig wiederkehrender Reiz den Körper oder bestimmte Teile von ihm derartig zu verändern, daß er oder sie sich dem Reize gegenüber anders verhalten wie zuvor. Diesen Grundsatz der Anpassung hat Lamarck in die Wissenschaft eingeführt, doch ist der französische Forscher vielfach in der Annahme der Anpassungsfähigkeit zu weit gegangen. Dies gilt zumal von dem höchst unglücklich gewählten Beispiel der Giraffe, die nach seiner Meinung sich ursprünglich auch hinsichtlich ihres Halses nicht wesentlich von den übrigen Wiederkäuern unterschied. Durch besondere Lebensbedingungen seien diese Tiere dann gezwungen worden, sich zu strecken, um hochbelaubte Bäume abzuweiden. Durch die beständige Übung wurde eine stärkere Blutzufuhr nach dem Halse hervorgerufen, dessen Muskulatur und sonstige Gewebe besser ernährt, und dadurch sei mit Hilfe der Vererbung, die von Generation zu Generation eine kleine Steigerung brachte, nach Jahrtausenden endlich die heutige, unverhältnismäßige Länge des Giraffenhalses entstanden. Dagegen erfährt es jeder Turner an seinem Körper, in welchem Grade durch fortgesetzte Funktion, d. i. Übung die Muskulatur an Stärke und Leistungsfähigkeit zunimmt. Umgekehrt führt Nichtgebrauch zu einer Verkümmerung und Rückbildung der betreffenden Organe; so haben sich z. B. die Augen der im Dunkeln wohnenden Tiere (Höhlentiere) aus mangelndem Gebrauch zu funktionslosen kleinen Körperchen rückgebildet. Auch die sogen. rudimentären Organe liefern einen Beleg für diese Ansicht. Diese ganze Entwicklungstheorie war nur aufrecht zu erhalten, wenn wir eine Vererbung erworbener Eigenschaften annehmen dürfen – ein Problem, das erst die neuere Wissenschaft befriedigend gelöst hat. – Wie Lamarck, nahm auch der hervorragende Naturforscher Etienne Geoffroy St. Hilaire (1772 – 1844) die Veränderlichkeit der Organismen an, hielt sie jedoch nicht für unbegrenzt. Er suchte die Hauptursache der Veränderung nicht im Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe, sondern in dem Einfluß des umgebenden Mediums (» le monde ambiant«). Als er 1830 die Entwicklungslehre Cuvier gegenüber in der Pariser Akademie der Wissenschaften zu verteidigen versuchte, unterlag er, weil ihm das erforderliche Beweismaterial eben noch nicht zu Gebote stand.

In demselben Jahre aber erschien des Engländers Charles Lyell (1797 bis 1875) große Arbeit über die »Grundsätze der Geologie«, die – zunächst freilich nur aus dem Gebiete der Erdgeschichte und Paläontologie – Cuviers Katastrophentheorie widerlegte, indem sie nachwies, daß alle Veränderungen der Erdoberfläche sich durch Ursachen erklären lassen, die auch jetzt noch wirksam sind, ohne Zuhilfenahme plötzlicher großer Katastrophen. Daraus hat sich die heute zum Gemeingut gewordene Anschauung herausgebildet, daß die Oberfläche unserer Erde nicht durch vereinzelte Naturkräfte, sondern durch ihr gegenseitiges Zusammenwirken langsam, aber stetig und in gewaltigen Zeiträumen ihre gegenwärtige Form bekommen hat.

Am 27. Dez. 1831 trat dann der junge Student Charles Darwin jene nahezu fünfjährige Reise um die Erde an, in deren Verlauf er eine neue Auffassung der Natur gewann die es ihm ermöglichte, jene Anschauung Lyells von der allmählich fortschreitenden Umgestaltung der Erdkruste auch aus die Pflanzen- und Tierwelt zu übertragen. Sein unsterbliches Verdienst ist es, die Entwicklungslehre, für die um die Mitte des 19. Jahrhunderts durch die von Schleiden (1838) und Schwann (1839) begründete Zellentheorie, die K. W. v. Nägeli zum Ausgangspunkt der Morphologie erhob, und zahlreiche andere wissenschaftliche Fortschritte der Boden vorbereitet war, zur Geltung gebracht und sie zu einem einheitlichen großen Gebäude ausgestaltet zu haben.

W. Kersten.


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