Hans Christian Andersen
Sein oder Nichtsein
Hans Christian Andersen

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VIII.

Die letzte Begegnung mit der Zigeunerin.

Abermals befinden wir uns und zwar im Sommer 1856 in der Gegend von Silkeborg draußen auf der Haide; die diamantene Hochzeit der alten Pfarrersleute sollte gefeiert werden. Sechzig Jahre hatte Gott den beiden mit einander zu leben vergönnt. »Wen der Herr liebt, dem schenkt er Lebensjahre die Fülle«, sagt der Psalmist, und hier waren es auch Jahre der Liebe. Drei Jahre waren seit Esthers Tod verflossen, zwölf Jahre seit Niels letzter Anwesenheit. Eben so viel Zeit war vergangen, seit sich eine andere hier bekannte Gestalt, die Zigeunerin, mit ihrem Idiotenkinde in der Gegend gezeigt hatte. Das Kind war jetzt zweiundzwanzig Jahre alt. Während der letzten Jahre hatte es sich auf Krücken umherzuschleppen vermocht, obgleich es die Mutter, namentlich auf langen Märschen, doch am häufigsten auf dem Rücken trug. In Regen und Schnee, in Wind und Wetter hatte diese Mutter ihr Kind Jahr für Jahr mit sich umhergeschleppt und bei seinem Lächeln sich froh gefühlt und allen Hohn, alles Leid ruhig erduldet.

Sie kam mitten aus dem Walde, wo sie diesmal den alten Baum vergebens gesucht hatte. Von den Leuten der Umgegend mußte sie erfahren, wie Zweig auf Zweig eingegangen wäre. Obgleich er noch lange stattlich dagestanden, hätte doch die Forstbehörde den häßlichen Baum nicht länger ausstehen können und er wäre deshalb bei einer Holzauktion meistbietend verkauft worden. Die Bauern liebten trotzdem ihre »Herbergsmutter« so aufrichtig, daß sie sich erboten, den Werth des Holzes zu bezahlen, wenn der alte Baum nur stehen bleiben dürfte; aber dessen ungeachtet fiel er zuerst vor dem Auctionshammer und dann vor den Schlägen der Axt. Darniedergesunken war der Baum, welcher der umherziehenden Zigeunerin die Stätte ihrer Geburt bezeichnet hatte, der ihr ein alter Freund und der Gegenstand ihrer beständigen Sehnsucht gewesen war; nun war er dahin wie Atakos Bild. In der Richtung nach dem »langen See« schritt die Zigeunerin auf die Sandebene hinaus und vor ihr lag, wie durch einen Zauberschlag emporgeschossen, ein ganzer Marktflecken: Silkeborg.

Bellend empfing sie eine Schaar von Hunden, aus Thüren und Fenstern starrten neugierige Gesichter sie an, Arbeitsleute, Mägde und Kinder traten auf die Straße hinaus, um sie besser sehen zu können. Einzelne folgten ihr in einiger Entfernung, und doch waren sie von dem Anblick der Zigeunerin nicht so überrascht, wie diese über die unerwartete Verwandlung der ganzen Gegend. Sie gerieth darüber in förmlichen Schrecken; sie hatte diese Richtung eingeschlagen, um sich über den »langen See« setzen zu lassen und den Pfarrhof an den Hvindingedaler Anhöhen auf kürzestem Wege zu erreichen. Dort konnte sie Hilfe und Pflege für ihr krankes Kind erwarten; sie dachte an Bodil, die sie noch dort zu finden hoffte und glaubte.

Sie ging eiligen Schrittes durch die Stadt hindurch, an dem großen geräuschvollen Fabrikgebäude und dem einladenden Wohnhause vorüber; eine große neue Brücke war über den langen See gebaut, so daß sie den Fährmann nicht erst zu rufen brauchte. Noch immer stand da drüben an den gelben Sandhalden das Haus, aber frisch getüncht und durch die Anlage eines kleinen Gartens verschönert, in dem die hohen Stockrosen in voller Blüte standen. Zwischen diesem und der Landstraße erhob sich ein dichtes Erlengebüsch; in diesem ruhte sie mit ihrem leidenden, elenden Kinde aus. Da tönte aus dem Walde jenseits des Sees und der Stadt der Klang eines Posthorns herüber; ein Reisender fuhr von Horsens über Silkeborg nach dem Pfarrhofe an den Hvindingedaler Anhöhen: es war Niels Bryde. Die Zigeunerin hörte die lustigen Klänge des Posthorns, während ihr Herz voller Kummer und Elend war.

»Mein Kind stirbt!« schluchzte sie und blickte mit der Zärtlichkeit und Angst einer Mutter das arme, sieche Idiotenkind an. Der Kopf und Oberkörper desselben war vollkommen ausgewachsen, ein dünner schwarzer Bart kräuselte sich um das häßliche, gelbe Gesicht; die halbgeöffneten Augen sahen gläsern aus. – Sie saß zusammengekauert vor ihm, Thränen strömten ihr über die Wangen hinab. Die schwere Bürde, die sie Jahre lang getragen hatte, wollte Gott ihr jetzt wieder abnehmen; aber diese Bürde war ihr ein Theil des Lebens geworden, wie es uns allen der Luftdruck ist, dessen viele Centner schweres Gewicht wir beständig tragen, ohne darüber nachzudenken, wie schwer es ist; es ist ein Druck, der einmal zu unserm Dasein hienieden gehört, und so war es ihr mit diesem Kinde während eines ganzen Menschenalters ergangen.

Das Erlengebüsch entzog sie Niels Brydes Blicken, als er vorüberfuhr; er sah nicht diese Erinnerung aus seiner Kinderzeit, die Mutterliebe als Karyatide. Langsam ging es die Anhöhe empor, von ihr aus überschaute er die ganze Gegend.

Hier war noch keine Veränderung eingetreten, noch immer breiteten sich wellenförmig die großen Waldungen aus, die sich überall von den Anhöhen erhoben. Der Himmelsberg mit seiner braunen Haidekrautdecke ragte über die Wälder empor und in allen Richtungen schimmerten die tiefen, spiegelhellen Seen hervor, an deren Anblick er sich in seiner Jugend erfreut hatte. Allein jetzt bildete das Ganze einen Rahmen um eine neue Stadt, erschien gerade wie eine Fata Morgana auf einer Sandebene; reihenweise leuchteten dort die rothen Dächer und weißen Mauern hervor. Er sah das weitausgedehnte Fabrikgebäude und die herrschaftliche Wohnung mit ihrem üppigblühenden Garten, in dem sich namentlich alle mögliche Rosenarten zeigten und zahlreiche grüne Grasflächen, sogenannte »Bowling greens«, wie Sammetteppiche den sandigen Boden verbargen.

Auf der See bewegte sich eine kleine Rauchsäule; sie rührte von einem Dampfschiffe her, das mit flatternder Danebrogs-Flagge von Randers her kam und nach der Mündung des Gudenbachs einige Lichterschiffe mit eisernen Röhren für die Gasbeleuchtung der neuen Stadt brachte. Mitten in die stille Einsamkeit hinein brach hier die Kraft des Dampfes einen Weg; die materiellen Kräfte übten in dieser früher vergessenen Gegend ihre Gewalt. Alles rings umher hatte sich in diesen zwölf Jahren verändert, und wie vieles nicht auch in dem Innern dessen, der diese Stätte wiedersah! Was hatte nicht das Leben in ihm ausgeprägt, entwickelt und gehoben!

Da ertönte ein durchdringender Schrei, ein Jammern – Niels Bryde lauschte, der Kutscher hielt still; aus dem Erlengebüsch tönten die Klagelaute offenbar hervor. Niels Bryde stieg aus dem Wagen und ging auf das Gebüsch zu.

In dem gelben Sande am Fuße der Anhöhe saß da, alt und runzlig, die Zigeunerin mit ihrem kranken Kinde, »Es stirbt, es stirbt!« jammerte sie von neuem und blickte Niels mit ihren Vogelaugen, wenn auch durch Thränen, so doch scharf und prüfend an. Auch sie ergriff der Todeskampf ihres Kindes wie mit unsichtbaren Fäden.

Niels Bryde ging nach dem Fährhause, um Hilfe herbeizuholen; in der Thür trat ihm die neue Hausfrau entgegen, eine andere als dereinst, und doch eine bekannte Gestalt: es war die kleine Karen, die, mit dem Sohne der alten Fährleute verheirathet, jetzt hier wohnte. Die jungen Leute hatten das kleine Haus, das Fährboot und dazu eine kleine Einnahme aus der Erhebung des Brückenzolls erhalten. Die alte Mutter hätte nicht so willig wie die kleine Karen die Zigeunerin mit ihrem kranken Kinde in die Stube hineingelassen. Niels bat um etwas Essig und Wasser in einem Tassenkopfe und wusch damit die Schläfe des Sterbenden; ein nasser Lappen wurde ihm zur Kühlung auf den Scheitel gelegt; dies schien die krampfhaften Zuckungen zu lindern, welche die Mutter gleichsam mitempfunden hatte. Blaßgelb wie Bernstein stand sie neben ihrem Kinde, ihre Augen waren in unaufhörlicher Bewegung, als hätte sie Angst, daß plötzlich der leibhaftige Tod aus jedem Winkel, hinter dem Vorhange oder dem Schranke hervor treten und ihr Kind mit fortnehmen könnte. Unruhig spähte sie umher, als könnte ein Feind hereinbrechen, den sie bekämpfen müßte. Auf jedes Fleckchen, auf jedes einzelne Hausgeräth heftete sie ihre Augen, und doch sah sie nur ihr Kind, dachte sie nur an dasselbe. Einen Augenblick wagte sie nicht zu weinen, nicht einmal zu athmen, als ob schon ein bloßer Hauch die schwache Lebensflamme auszublasen vermöchte und schon im nächsten stieß sie wieder Seufzer des Jammers aus. Doch hier befand sie sich endlich in der Nähe des Zieles, das sie unermüdlich suchte und von dem sie Jahre lang Gesundheit und glücklichere Tage für ihr Kind und sich selbst erhofft hatte. Nur zwei Schritt von ihr entfernt lag auf der Kommode zwischen den auf ihr aufgestellten Tassen der dunkle, vielgesuchte Stein mit dem Bilde Alakos, den die Mutter der Zigeunerin im »tiefen Thale« verloren und den, wie wir wissen, die kleine Karen gefunden und nun schon Jahre lang aufbewahrt hatte.

Der Blick der Zigeunerin glitt über ihn hin, sie sah ihn nicht, und doch erfüllte ihre Seele die feste Überzeugung: hätte ich ihn, könnte ich ihn auf das Herz meines Kindes legen, so würde es diesmal noch nicht sterben, ich würde es noch eine Zeit lang behalten! Aber sie sah ihn nicht, ahnte nicht, daß er hier war und ihr Kind hörte auf zu athmen. Ein hohler, langer Seufzer war der letzte Abschiedston; es lag still, als schliefe es einen ruhigen, sanften Schlaf.

»Euer Sohn ist todt!« sagte Niels Bryde; die Zigeunerin schien ihn nicht zu verstehen. Er wiederholte: »todt!« und zeigte auf die Erde hin; nun erst warf sie sich mit einem lauten Schrei über die Leiche und umklammerte sie fest. Hier war es nicht an der Zeit, Trostworte zu sprechen, denn sie hätte doch nicht gehört, die heftige Natur mußte ihren wilden Ausbruch haben; darauf wurde sie still. Niels Bryde wollte sie aufrichten. Sie starrte erst ihn und dann wieder ihr Kind an: »Was? Wo?«

»Todt!« sagte er und. deutete, um es ihr recht klar zu wachen, abwärts; »todt! Erde! – in die Erde hinein!«

Diese Worte erreichten ihr Ohr, ihr Herz; es leuchtete, es redete darin. Sie konnte es zwar nicht in Worten aussprechen, so viel begriff sie aber doch, daß, wie die kranke Rosenknospe sich nie zu einer frischen, blühenden Rose entfaltet, so wohl auch ihr Kind hienieden nimmer zu einem kräftigen Jünglinge und Mann herangereift wäre; aber alle Keime dazu hatten doch sämmtlich in ihm gelegen, und, nun sollte, was von Erde gekommen, wieder zur Erde werden! In diesem Augenblicke erinnerte sie sich, wie ihre Mutter einst aus der geballten Hand einer Mumie ein Maiskorn genommen, in der es vier Jahrtausende gelegen hatte; sie dachte daran, wie dieselbe es in die nährende Erde gedrückt, wie es unter den erwärmenden Sonnenstrahlen gekeimt, Blätter und Ähren getrieben und hundertfältig getragen hatte. »Kann das Korn, das in der Hand des Todes zusammengepreßt da lag, noch nach Jahrtausenden aufgehen und Früchte tragen, sollte dann nicht mein Kind, eine Menschenseele, obgleich es Jahre lang von schwerer Krankheit in seiner Entwicklung gehemmt war, wieder keimen und wachsen, sobald es nur in den rechten Boden, in die rechte Lebenssonne gelangt? – Gewiß! Schön wird mein Sohn werden! Schlank und behende, mit leuchtenden Augen und rothen Lippen, bei Alako!«

Sie richtete sich empor, stützte den Ellbogen auf die hohe Kommode und schaute mit klaren Blicken rings um sich her – – da zitterten plötzlich ihre Lippen, ihre Augen wurden größer – wie ein Falke griff sie nach dem schwarzen Steine mit Alakos Bilde, nahm ihn auf, starrte ihn an und drückte ihn gegen ihren Mund. »Alako!« schrie sie laut; »mein Kind stirbt nicht, stirbt nicht! – ewig sein!« und unter ihrer allzu heftigen Gemütsbewegung sank sie ohnmächtig zusammen.


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