Hans Christian Andersen
Sein oder Nichtsein
Hans Christian Andersen

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II.

Der »Runde Thurm«.

Alle Kopenhagener kennen den »Runden Thurm«, und die Leute in der Provinz kennen ihn wenigstens aus dem Kalender, auf dessen Titelblatte er im Holzschnitte steht. Man weiß, daß König Christian IV., dem Ewald und Hartmann auch das Gold des Gesanges zu seiner Reise in die Unsterblichkeit mitgegeben haben, den »Runden Thurm« für Tycho Brahe, Dänemarks berühmtesten Sohn, der während der Minderjährigkeit dieses Königs hatte das Land verlassen müssen, als Sternwarte erbauen ließ.

Der Thurm enthält keine Treppe mit Stufen; man gelangt auf einem sich in vielfachen Windungen schlängelnden Steinwege hinauf, der so glatt und eben ist, daß der Czar Peter von Rußland einmal in einem Vierspänner hinaufgefahren sein soll. Der Sage nach hätte er, als er oben auf der Zinne stand, einem seiner Diener befohlen, sich hinabzustürzen, und dieser würde gehorcht haben, wenn ihn nicht der König von Dänemark zurückgehalten hätte. »Würden deine Leute eben so gehorsam sein?« fragte der Czar. »Ich würde keinen solchen Befehl geben,« erwiderte der König, »aber ich weiß, daß ich jedem meiner Diener, selbst dem allergeringsten, mein Haupt in den Schoos legen und ruhig schlafen könnte.«

So lautet die Sage, auf welche die Dänen stolz sein dürfen. Dem kleinen Sohne des Pförtners dort oben galt sie als eine entschieden wahre Begebenheit. Allein bei seiner genauen Ortskenntnis wußte er, daß der Czar nicht bis ganz hinauf an die Galerie gefahren sein konnte, sondern schon vor der Thüre seiner Eltern den Wagen verlassen haben mußte. Von dort führte eine Treppe bis oben hinauf.

Gewiß wenige Stätten bieten in Kopenhagen an sich und durch ihre nächsten Umgebungen dem Gedanken und der Phantasie so viel dar, wie gerade der »Runde Thurm«, und besonders wenn man dort oben geboren ist, wie es mit Niels der Fall war.

Mitten in der geräuschvollen Stadt, in dem geschäftigen Treiben der engen Straßen, hoch bis zu der Kirche hinauf erhebt sich der alte Thurm mit seinen offenen Fensterbogen, durch die der Wind hineinbraust und zur Winterszeit der Schnee haufenweise auf dem steilen Steinweg zusammengeweht wird. Die Orgeltöne und der Choralgesang, welche dort unten über Wessels und Ewalds Gräber hinausklingen, dringen mit gleicher Kraft bis hier oben hinauf.

Durch den »Runden Thurm« gelangt man zur Universitäts-Bibliothek, die sich wie ein großer Saal, in dem die Bücherregale Kreuz- und Querstraßen bilden, über die Kirchengewölbe hinweg erstreckt. An der tiefsten Stelle und ungefähr dort, wo unterhalb in der Kirche der Altar steht, befand sich damals das altnordische Museum; hier wurden tausendjährige Steinäxte, Aschenkrüge und Schwerter des Alterthums aufbewahrt. Das klingt nun freilich, als hätte ich es auf eine Beschreibung Kopenhagens abgesehen, aber in der Erinnerung dessen, der damals der kleine Niels, der Sohn Pauls aus dem Thurme hieß, klingt es noch in seinen Mannesjahren wie ein schönes Lied aus seiner Kindheit; wir hören nur die schlichten Worte, er aber vernimmt die Melodie.

Von dem dem Thurme gegenüber liegenden Hause, von der Regenz, der Studentenkaserne, klang an sternenhellen Abenden und bei klarem Mondschein der Gesang der jungen »Herren im Reiche des Geistes«; so frisch, so schwellend erhob er sich bis zur Pförtnerfamilie oben auf dem Thurme, dessen Fenster offen stand, daß sie, wäre ihr der Text bekannt gewesen, jede Silbe hätte verstehen können. Wie oft saß Niels nicht lauschend da! Sein ganzes Herz war voller Seligkeit. Tief unter ihm lag die ganze geschäftige Stadt wie im Traume. An den dunklen Abenden nahmen sich alle Straßen bei ihrer Beleuchtung wie Nebelstreifen aus; hier und da strahlte ein Licht aus einer Dachkammer; hell und licht war es aber auch in seinen Gedanken, und es beschäftigte ihn, sich die Stadt in den verschiedenen alten Zeiten vorzustellen; er sah im Geiste, wie sie sich aus einem Fischerdorfe zu einem Handelsplatze, einem »Kaufmannshafen« entwickelte und endlich zu einer Königsstadt heranwuchs, so wie er es von ihr gelesen hatte.

Manche stürmische Nacht lag er wach in seinem Bette und hörte, wie gewaltig der Wind durch die scheibenlosen Fensteröffnungen brauste und pfiff; es war, als wollte er den alten Thurm in die Höhe heben, und daß der Sturm Gewalt und Stärke besitzt, hatte Niels zur Genüge erfahren, als er mit seinem Vater einst noch spät bei solchem Wetter auf den Thurm stieg. Das Laternenlicht bewegte sich die Mauer entlang scharf über die dort aufgestellten Runensteine und steinernen Särge. Ängstlich spähte das Auge umher, und immer schärfer wurde das Ohr. Der Sturm verlöschte das Licht, ergriff sowohl Vater wie Sohn und schleuderte sie gegen die Wand, während es über und unter ihnen sauste, pfiff und heulte. Es war ein Sturm, der seine Gewalt fühlbar machte; sie mußten sich vor ihm neigen, und der Thurm that dasselbe; sie sahen es.

Niels Kindheitszeit hier oben war eine Zeit wunderlicher Träume gewesen. Wenn er in späteren Jahren sich eine Biene an der Spitze eines schlanken Rosenstockes zwischen den Blättern tummeln sah, dann gedachte er wieder seiner Kindheit auf dem »Runden Thurme«. Dort war er wie die Biene genießend und träumend gewesen, dort hatte er dasselbe Spiel getrieben, dieselbe Lust empfunden, von der uns Tieck in seinem Märchen »Die Elfen« erzählt, in welchem diese mit der kleinen Marie Obstkerne in die Erde legen. Zwei schlanke Bäume schießen aus ihnen empor, in deren Wipfeln sich die Kleinen schaukeln und in die Welt hinausschauen. So hatte auch er dort oben im Thurme sich auf seinen Gedanken geschaukelt; der Thurm war sein Zauberbaum gewesen, der hoch über Stadt und Land emporragte.

Auch das Schauerliche fand hier in der Heimat seiner Kindheit einen Vertreter, und dieser war kein anderer als die sonst sehr achtungswerthe Mutter Börre, die alte Äpfelfrau. Wie bereits erwähnt, saß sie unten in der Thurmhalle und verkaufte daselbst Obst und die bei den Kindern so beliebten billigen, wohlschmeckenden und stets rosenrothen Zuckerferkel, vier Stück für einen Groschen. Dort saß sie Sommer und Winter, hatte aber in der kältesten Zeit einen Kohlentopf zur Erwärmung. Manch einen halbverdorbenen Apfel, manch ein zerbrochenes Ferkelchen machte sie Niels zum Geschenk; aber als er über die ersten Kinderjahre hinaus war, aß er sie nicht mehr; nein, er warf sie weit von sich und war nicht dazu zu bewegen, Mutter Börre die Hand zu geben; Grausen überfiel ihn, wenn sie ihm über das Haar strich; und weshalb? – Er hatte von seinen Eltern gehört, daß sie ihr Skelett bei lebendigem Leibe an einen Doctor des Armenhauses verkauft hatte. Für ihn war es etwas Schauerliches, daß schon bei ihren Lebzeiten ihre Leiche verkauft war; es galt ihm als eine Art Verschreibung, wenn auch gerade nicht an den Teufel, so doch an den Tod. Für diese Verschreibung bezog sie eine jährliche Pension von zwei Reichsthalern. Einen von diesen lieh sie einmal, als sie ihr gerade ausgezahlt waren, der Pförtnersfrau; als ihn Niels wechseln mußte, kam es ihm vor, als trüge er Blutgeld.

Rein und hübsch war es in dem kleinen Zimmer der Pförtnersleute an der Sternwarte. Am Tage hatte Vater Paul fleißig umherzuspringen, aber des Abends blieb er gern zu Hause bei Frau und Sohn und las ihnen einen Abschnitt aus der Geschichte Dänemarks vor. Oft befanden sich in seinen Büchern schöne Bilder, so daß man sehen konnte, wie alles gewesen war. Er erhielt sie aus der Universitätsbibliothek gerade unter sich geliehen, denn man wußte, daß er sorgfältig und ordentlich war.

Der Familie eigener Bücherschatz bestand nur aus zwei Büchern, aus der Bibel, die der Mutter gehörte, und aus dem alten Märchenbuche »Tausend und eine Nacht«, welches Niels Eigenthum und ein Geschenk seines Pathen, des Herrn Schwan, war. Beide Bücher wurden beständig gelesen, und Niels war in beiden, in Bibel und Märchenbuch, so entgegengesetzt sie auch waren, vollkommen zu Hause und sie galten der kindlichen Seele für zwei Bücher gleicher Wahrheit. Ein Schriftsteller, Humboldt, wenn ich mich nicht irre, sagt, daß Träume Gedanken sind, die im wachen Zustande nicht ausgedacht wurden und sich nun im Schlafe lösen; deshalb träumt man nie, was man am liebsten will und die Gedanken am meisten erfüllt. Wie sehr sich bei Niels der Gedanke oder der Wunsch festgesetzt hatte, ein Aladdin zu sein, können wir nicht sagen, aber für sein reiferes Alter wurde ein Traum aus seinen Kinderjahren bedeutungsvoll. Ihm träumte nämlich in einer Nacht, er stiege wie Aladdin in die Höhle hinab, wo ihn Tausende von Schätzen und schimmernden Früchten fast blendeten; aber er fand und bekam die Wunderlampe, und als er mit ihr nach Hause kam, war es – – die alte Bibel seiner Mutter.

Wie bedeutungsvoll wurde nicht dieser Traum mit der Zeit! Das Kind kann das, was sich der Ältere erst nach des Lebens Kampf und Streit zu eigen macht, zwar nicht ergreifen, aber doch erblicken.

Der ferne Orient, der Schauplatz von »Tausend und Eine Nacht«, und der Boden, auf dem die heiligen Geschichten der Bibel ihr Leben hatten, waren ihm ein und dasselbe Stück der Welt; Damaskus und Jerusalem, Persien und das steinige Arabien bildeten für ihn ein und dasselbe Reich, auf dem er bekannt und heimisch war und das mit Dänemark, wo er lebte, für ihn die ganze Welt ausmachte. Andere Reiche und Länder hörte er wohl mitunter nennen, aber sie waren ihm fremd und ferner noch als Sonne und Mond; diese konnte er doch vor sich sehen. – Es gab sogar eine Zeit, in der er glaubte, die schwarzen Flecke im Monde rührten von einem Manne her, der Kohlen gestohlen hätte und zur Strafe dafür hinauf versetzt wäre, um von allen Menschen gesehen zu werden. Das war eine gräßliche Strafe.

»Das ist kein Kohlendieb,« sagte Herr Schwan, »es ist ein kleiner Schalk, der im Glasballon umherfliegt und den Leuten in die Fenster guckt. Nimm dich vor dem Luftschiffer in Acht; er fliegt rund um die Erde und lacht uns alle aus.«

Diese Worte und diese Erklärung machten einen tiefen Eindruck auf Niels, und er sprach davon und sogar zu dem Studenten, der dem Professor der Astronomie bei der Handhabung der Instrumente behilflich war.

»Das ist ja ein entsetzlicher Aberglaube und eine fürchterliche Unwissenheit bei einer Person, die mit der Sternwarte Wand an Wand wohnt,« sagte der Student und ließ ihn durch eines der großen Fernröhre sehen. Da zeigte sich ihm der Mond wie eine riesengroße Kugel mit förmlichen Landkartenzeichnungen. Darauf mußte er die Sonnenflecke betrachten, die sich ihm auszudehnen und zusammenzuziehen schienen; und nun hörte er erzählen, daß Sonne und Mond, ja jeder einzelne Stern ein ganzer Weltkörper wäre. Es war wie ein Märchen anzuhören. Irgend einen einigermaßen klaren Begriff bekam er freilich nicht, aber seine Phantasie schwang sich in den unendlichen Weltraum hinaus; jeden Stern bevölkerte er mit Menschen und dachte, ob sie wohl da oben mit ihren Fernröhren Kopenhagen und den »Runden Thurm«, wo er wohnte, sehen könnten.

Wieder und immer wieder wünschte er nun wie die Schwalben fliegen zu können, die in pfeilschnellem Fluge an seinem Fenster vorüber in den Thurm hineinschossen, um dann wieder, sich hochemporschwingend, umher zu kreisen, bis sie seinen Blicken entschwanden; in einem solchen Fluge mußte er den leuchtenden Stern erreichen können. »Dort hinauf brauchtest du doch ein paar hundert Jahre,« hatte der Student gesagt, und diese Worte hatten sich ihm so tief eingeprägt, daß er wirklich in einer Nacht träumte, er schwänge sich hurtig und leicht wie die Schwalbe von der Erde empor, die kleiner und kleiner wurde. Der Stern jedoch, auf den er zuflog, wurde nicht größer, weit war er in den unendlichen Raum hinausgelangt, und fort und fort tönte ihm des Studenten Stimme vor Ohren: »Dort hinauf brauchtest du doch ein paar hundert Jahre!« Aber dorthin wollte, dorthin mußte er, und wie von der Luft getragen flog er dahin, und klarer und klarer leuchtete der Stern, aber nicht näher, und noch weit vom Ziele entfernt, erwachte er mitten im Fluge.

Der Vater hatte seiner Familie aus einer alten dänischen Übersetzung des »Hinkenden Teufels« vorgelesen, jenes Teufels, der zu einem fast eben so hoch wie sie auf dem »Runden Thurme« wohnenden Studenten kam und vor ihm des Nachts alle Dächer von den Häusern hob, so daß derselbe alles sah, was in ihnen vorging. Die Phantasie erwies Niels den gleichen Liebesdienst; was er jedoch sah, waren einzig und allein gedeckte Tische, Gesellschaften, die bei Braten und Kuchen saßen, oder die Herrlichkeit des Weihnachtsabends mit strahlenden Weihnachtsbäumen. Er erhielt selbst jeden Weihnachtsabend einen solchen, wenn auch nur kleinen; in einem Blumentopfe stand er, mit ausgeschnittenen Netzen und wirklichen Äpfeln behängt; an der Spitze strahlte ein goldener Stern, der auf Jesu Geburtsstern hindeuten sollte. Und gerade am heiligen Weihnachtsabende, als er gegessen hatte und eben im Begriff stand, sich vom Vater eine Geschichte vorlesen zu lassen, stieß die Mutter einen Seufzer aus und saß zugleich starr da, als wäre sie gestorben. Vater lief nach dem Arzte, ein Aderlaß wurde vorgenommen, Mutter öffnete wieder ihre Augen, aber von dem Augenblicke an waren alle ihre Glieder gelähmt, und nur in ihren Augen zeigte sich Leben; ein Schlagfluß hatte sie getroffen. Sie mußte aus dem Bette und in das Bett getragen werden, und auf diese Weise verliefen fünf schwere lange Monate.

Noch immer wurde des Abends aus der Bibel vorgelesen, und ihren Augen sah man es an, daß sie den Vortrag verstand. Oft war in des kleinen Niels Gegenwart geäußert worden: »Die Bibel ist Gottes Wort«, und deshalb nahm er eines Abends in frommem und kindlichem Glauben die Bibel und berührte mit ihr den stummen Mund der Mutter, damit die Bibel, der Mund Gottes, gleichsam den Mund der Mutter küssen möchte. Es war, als ob sie seine Absicht verstanden hätte; nie vergaß der Knabe, selbst später als Mann nicht, den Ausdruck, der aus ihren Augen leuchtete; in ihnen lag das einzige Band zwischen der Seele und der sie umgebenden Welt.

Gegen Ende des Mai starb sie; es war für Niels der erste große Verlust in dieser Welt, der erste Riß in das schöne Bilderbuch des Lebens; wohl lebte der Vater noch, wohl blieb ihm noch die Heimat, aber die eine Hälfte der Welt war ihm verloren.

Den Thurm hinab trugen sie den Sarg der Mutter; draußen auf der Straße hielt der Leichenwagen für die Armen; zu Fuß folgten Mann und Sohn den langen Weg nach dem vor dem Nordthore gelegenen Friedhofe hinaus; die Sonne schien, die Bäume hatten vor Kurzem Knospen bekommen; die Landseen, an denen der Zug vorüberging, spiegelten die blaue Luft wieder. Noch nie war Niels außerhalb der Wälle Kopenhagens gewesen; nur vom Thurme aus war ihm der Anblick der Vorstädte, Felder, Wiesen und Wälder zu Theil geworden. Zum ersten Male kam er an diesem frischen, schönen Frühlingstage in die grüne Natur unter Blumen und Bäume hinaus, aber nur am Grabe seiner Mutter.

Man erzählt von einer englischen Familie, die auf der Reise nach Petersburg in Kopenhagen auf einige Stunden an das Land ging, einen Wagen nahm und dem Kutscher befahl: »Fahre uns dahin, wo etwas Schönes zu sehen ist,« und das Schönste, was der Kutscher kannte, waren nicht Bildergalerien oder Museen, nein, es war der Armenfriedhof. Dort hinaus fuhr er die Engländer, und sie sollten so entzückt gewesen sein, daß sie wiederzukommen versprachen, um sich hier begraben zu lassen, da hier die schönste Stelle in der Welt wäre. So hat es wenigstens der Kutscher erzählt, und Niels theilte völlig seine und der ganzen englischen Familie Ansicht: ja, es war die schönste Stelle in der Welt! Hier unter den schönen Bäumen, wo die Vögel sangen, wo die Mauern mit Bildern prangten und die Gräber mit Denkmälern, Blumen und Kränzen dastanden, hier wünschte er mit seinem Vater immerdar weilen zu können. Hier war es so festlich, so lieblich, und doch weinte er, denn sein Vater weinte, und über den Sarg der Mutter hinab warfen sie die schwarze, schwere Erde.

Langsam ging es nun wieder heimwärts nach dem alten Thurme, wo Niels dem Vater jetzt alles war; das Triebrad der Heimat war fort, er war von nun an dem Vater gleichsam theurer geworden, indem er den verlassenen Platz der Mutter in seinem Herzen einnahm, und Niels verstand das wohl. Weniger leicht ist dagegen zu verstehen, – und doch verhält es sich so, – daß das Kind seine Mutter so bald vergißt, sie vergißt, deren Herz ganz für dasselbe schlug, ganz für dasselbe lebte, ganz von ihm erfüllt war, die es liebte, wie nur eine Mutter zu lieben vermag, die sich über dieses Kind selber vergißt und nur in diesem ihre Hoffnung, ihre Zukunft hat. Auch Niels vergaß seine Trauer, vergaß fast seine Mutter, und während der nächsten drei Jahre wissen wir von keiner größeren und bedeutenderen Schattenseite, die ihm das Leben bot, als von der, daß es Hunde gab.

Dreist, fast herausfordernd, heftig aufbrausend und von festem Willen, war er doch nach einer Seite hin eine vollkommene Memme: er hatte eine angeborene Furcht vor Hunden. Das bloße Dasein dieser Geschöpfe war sein Kummer. Sobald ein Hund ihn nur beschnüffelte, überfiel Zittern alle seine Glieder, und man wird es deshalb begreifen, welche Qual es für Niels sein mußte, durch die Straßen Kopenhagens zu gehen, das selbst im Auslande und mit vollem Rechte, wegen seines unglaublichen Hundegewimmels berühmt ist. Reisende haben darüber geschrieben und gesagt, daß wir Konstantinopel, daß doch wegen seiner Schaaren umhertreibender, herrenloser Hunde berüchtigt ist, hierin noch übertreffen. »In Kopenhagen sind sie nicht herrenlos,« sagte Herr Schwan, und wir wollen seine Äußerungen über diesen thierischen Trieb der Hauptstadt, wie er sich in guter Laune ausdrückte, einmal mitanhören.

»Hier sind die Hunde keine herrenlosen, keine umherschweifenden Schaaren; nein, sie haben eine Heimat. Jeder Herr, jeder Bursche, jede Frau besitzt einen eigenen Hund, jedes Haus hat seine eigenen Hunde. Am lebhaftesten geht es in dem Hafen zu; auf den Obstschuten und Frachtschiffen bellen und heulen sie dort so gottesjämmerlich bis in die Nacht hinein, daß, wer in den dortigen Straßen einen leichten Schlaf hat, kaum zum Schlafen gelangt. Ist nun dort ein Hund ausgesperrt, so bellt oder heult er mit wie ein neues Tau auf einer alten Winde, wenn schwere Waaren aufgehißt werden. Das hört ein anderer Hund auf seiner nächtlichen Wanderschaft und antwortet. Jetzt giebt es Duette und Terzette, aber nie ein Finale, nie ein Ende, ehe die Nacht endet und der Tag anbricht. Nun beginnt ein förmliches Schauspiel: vier, fünf Hunde stehen da und versperren dir Thor und Hausthür; zwei liegen in der Sonne und nehmen das Trottoir ein, ein bissiger Köter jagt quer über die Straße, und es fehlt nicht viel, so rennt er anständige Leute zu Boden. Der Spitz der gnädigen Frau bellt zum offenen Fenster hinaus; ein kleiner Hund ohne Kennzeichen der Rasse, zu welcher er gehört, bellt sich an der Hausthür heiser, und widerlich feist, wie ein im Wasser aufgeschwollenes Aas, watschelt der Mops einher; es läuft einem das Wasser im Munde zusammen, wenn man alle diese Hunde sieht. Da triffst du Hunde, die dazu geboren sind, an der Kette zu liegen, Hunde für alte Jungfern, Hunde mit und ohne Dressur, und nicht nur Hunde auf der Straße, sondern auch Hunde in den Höfen und in den Stuben, oft auf dem Sopha, selbst im Bette und oben auf dem Tische, kurz eine wirkliche große Bestie, ohne alles wohlriechende Wasser, mitten im Schooße der Familie; sie wird von der ganzen Familie geküßt und ist ein Glied derselben, und das ist nicht etwa übertrieben, aber es ist mit den Hunden übertrieben.«

So drückte sich Herr Schwan aus. Jetzt war der kleine Niels von dieser Plage befreit, von ihnen allen erlöst, war fern von Kopenhagen, von der Heimat und von dem »Runden Thurme«, der noch unverändert, schwer und grau dastehen wird, als wäre kein Tag vergangen, wenn Niels vielleicht nach Jahren größer, älter und in vielem verändert, wieder hierher zurückkommen sollte. Seine Kleider wurden in einen kleinen schweren Holzkoffer, den einzigen, der hier zu finden war, gepackt. Die alte Bibel und »Tausend und Eine Nacht«, die die ganze Bibliothek oben im »Runden Thurme« bildeten, nahm er mit, und – nun ging die Reise nach Jütland.


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