Hans Christian Andersen
Sein oder Nichtsein
Hans Christian Andersen

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IV.

Göthe's Faust und Esther.

Eines Vormittags – in Kopenhagen rechnet man ihn nach der im Hause üblichen Zeit des Mittagsessens, selbst wenn es erst um sechs Uhr abends aufgetragen wird – eines Vormittags also erschien Niels Bryde, um der Familie Arons einen Besuch abzustatten. Fast alle Familienglieder waren ausgegangen; nur der Großvater und die kleine Esther, wie die jüngste der Töchter noch immer genannt wurde, obgleich sie bereits siebzehn Jahre zählte, waren daheim. Esther saß allein in dem Empfangszimmer und war in ein Buch so vertieft, daß sie gar nicht bemerkte, wie jemand eintrat. Als Herr Bryde seinen Gruß wiederholte, fuhr sie ganz erschreckt auf, wurde glühend roth und blickte ihn mit ihren großen, schwarzbraunen Augen verwirrt an.

»Ich bin es nur,« sagte er; »kann ich Sie in so große Furcht setzen? – Ist denn das ganze Haus heute ausgegangen?«

Sie beantwortete seine Frage mit Ja, war aber sichtlich verlegen. Er glaubte zu bemerken, daß sie das Buch, in welchem sie gelesen, unter ihrem Taschentuche zu verbergen suchte.

»Ich störte Sie wahrscheinlich in der Lektüre eines sehr unterhaltenden Buches?« sagte er. »Unterhaltend,« wiederholte sie, »so könnte man es wohl kaum nennen.«

»Darf ich es sehen?«

»Nein!« Sie hatte dieses Nein zwar nicht unfreundlich, aber mit einer Bestimmtheit gesprochen, welche verrieth, daß es Esthers Ernst war. »Ich werde dem Großvater mittheilen, daß Sie hier sind,« fuhr sie fort und entfernte sich mit ihrem Buche.

»Ja, wer kann wissen, worin sie gelesen haben mag!« sagte der alte Großvater, als Niels Bryde später scherzend darüber mit ihm redete und sich dahin aussprach, daß nicht alle Romane von jungen Mädchen gelesen werden dürften.

»Das ist auch schwerlich ein Roman gewesen,« versetzte der alte Mann, »eher ein gelehrtes Buch, oder vielleicht – das Neue Testament!«

»Das liest sie auch?« rief Niels.

»Ja, ich habe sie einmal dabei überrascht. Ihre Lectüre ist völlig abweichend von der aller andren jungen Mädchen, allein nach meiner festen Überzeugung wird sie nur aus einer reinen Quelle schöpfen.«

Esther las also auch das Neue Testament; war aber diese für ein junges Judenmädchen sonderbare Lectüre eine gesunde und natürliche? So orthodox der alte Großvater auch in seinen Glaubensansichten war, so hatte er doch ihretwegen keine Besorgnis.

»Ich habe damals nicht das Neue Testament gelesen,« sagte sie selbst eines Tages vertraulich zu Niels Bryde, der, als sie allein waren, das Gespräch absichtlich darauf hingelenkt hatte. »Weshalb hätte ich verlegen werden sollen, wenn Sie mich bei der Lectüre dieses Buches angetroffen hätten? Nein, es war ein ganz anderes Buch. Sie würden vielleicht darüber gelacht haben, daß ich so eifrig darin las, weil ich es gewiß noch nicht recht zu verstehen vermag; aber seine Lectüre bereitet mir gleichwohl große Freude!«

»Sie müssen es ja verstehen, wenn Sie Freude daran haben!«

»Ich verstehe es nicht wie Sie, wie andere, die mehr wissen als ich, aber ich empfinde dessen Reichthum, dessen Tiefe; es liegt vor mir wie ein ganzes durchlebtes Leben; ach, ich kann gar keinen völlig bezeichnenden Ausdruck für dieses Buch finden!«

Wie erstaunte er, als sie das Buch nannte: Göthe's »Faust«.

»An dem ersten Theile können Sie gewiß viel Freude haben, er bildet ein zusammenhängendes Ganze, in welchem Gretchen »gerichtet und gerettet« dasteht. Der zweite Theil gleicht dagegen einem Kometenschweife, der sich ausbreitet und verschwindet; da giebt es keinen Zusammenhang, keinen dramatischen Faden, keine fortlaufende Geschichte. Göthe ist bei ihm alt geworden!«

»Haben Sie den Faust vor kurzem gelesen?« fragte Esther.

»Nein, schon seit mehreren Jahren nicht; ich wurde dieser Maskenzüge und all dieser Allegorien überdrüssig. Die eigentliche Einheit der Dichtung hört mit dem ersten Theile auf!«

»Gerade durch das Hinzutreten des zweiten Theiles,« entgegnete Esther, »scheint mir das Werk erst das zu werden, was Sie unter einer ganzen Geschichte verstehen. Für mich hat es keinen Abschluß, ehe ich nicht auch den letzten Theil gelesen habe.«

»Das läßt sich freilich von jedem Buche in zwei Theilen sagen,« versetzte Niels Bryde lächelnd, aber doch mit so großer Gutmüthigkeit, daß Esther nicht an seinem guten Willen und seiner Ehrlichkeit zweifelte, als er fortfuhr: »Ich muß offen bekennen, daß ich mich des zweiten Theiles fast gar nicht mehr entsinne, aber so viel weiß ich, daß mir darin alles völlig zusammenhangslos, gleichsam wie in den Lüften schwebend vorkam; ich vermochte den Gang der Handlung im zweiten Theile nicht herauszufinden. Haben Sie etwa einen gefunden? Ich nicht! Und die Lectüre hat mir nicht das Verlangen eingegeben, das Buch von neuem zu lesen.«

»Dann werde ich Sie freilich auch nicht dazu bewegen können,« sagte Esther; »aber ich vermißte in ihm weder Handlung noch einen vollständigen Abschluß.«

»Was haben Sie demselben denn entnommen? Läßt es sich zusammengedrängt in ein ganzes Bild zusammenfassen? Ich kann es nicht glauben.«

Esther erröthete von neuem, aber in ihrem Blick lag etwas Bestimmtes und Ruhiges. »Ich habe es noch nicht versucht,« sagte sie, »den ganzen Gang der Handlung zu erzählen oder auseinanderzusetzen, aber man muß es doch im Stande sein.«

Sie hatte gegen Niels Bryde von jeher eine Anhänglichkeit und ein Vertrauen zu erkennen gegeben, wie gegen keinen andern aus ihrer nächsten Umgebung. Nur ihm gegenüber war es ihr möglich, in dieser Weise auf das Gelesene einzugehen.

Ihm war es wie den Meisten ergangen und wie er selbst einräumte, hatte er den zweiten Theil des Faust nur durchblättert; von der ersten Abtheilung dagegen, welche sich in der Form dem Drama und der Tragödie sehr nahe anschließt und deshalb auch ihren Platz auf der deutschen Bühne erhalten hat, bewahrte er einen großartigen Eindruck. In diesem Theile des Dichtwerks fand er Streben, Kampf, Liebe und Fall. Fausts und Gretchens Geschichte ist der dramatische Faden, der mit dem Tode der Gefallenen sein Ende erreicht. Selbst der erste Theil erschien als Fragment und entwickelte sich Jahre lang bis zu seiner ganzen gegenwärtigen Fülle der Schönheit. Der zweite Theil folgte noch mehr stückweise, eine Scene krystallisirte sich nach der andern. »Ist fortzusetzen« stand da, aber ob es geschehen würde, ob es überhaupt geschehen konnte, war eine leicht aufgeworfene Frage, auf die man nicht einmal eine Antwort erwartete. – Wenn wir den herrlichen Herkules-Torso im Vatican betrachten, so ist es uns sofort klar, daß er ein vollendetes Kunstwerk gewesen ist; aber anders stehen wir vor einem Dichtwerke, das uns nach und nach nur wie einzelne Stücke einer ganzen Riesenbildsäule gegeben wird. Wissen wir noch dazu, daß der Meister schon in höheren Jahren steht, so fragen wir unwillkürlich: Wird er sein Werk, zu dem ihm die Gedanken in seinen Jünglingsjahren in den Augenblicken der Begeisterung gekommen waren, noch als Greis mit jugendlicher Frische und Genialität vollenden können? Aber es ist gelungen, kühner, tiefer und reicher, als wir es uns vorstellen. Niels Bryde hatte es sich am leichtesten gemacht, hatte, ohne viel zu überlegen, gedacht: es ist nicht gelungen! Sein Gedankenflug hatte sich über die Allegorien und Maskenzüge des ersten Aktes nicht zu erheben vermocht; jetzt dagegen überschaute er gleichsam in dem Spiegel der klaren Kinderseele den ganzen großen Umriß dieser Riesenschöpfung der Genialität, wurde von ihr ergriffen und fühlte den Drang, mit eigenen Augen zu sehen und mehr als nur ein Spiegelbild in sich aufzunehmen.

Es wäre leicht, hier ohne weiteres zu sagen: Esther gab ihm den Faden des Zusammenhangs, die ganze Geschichte, den Umriß der Dichtung in klarer und anschaulicher Weise. Allein solche, die ihren Faust nicht besser als damals Niels Bryde gelesen haben oder sich seiner nicht mehr erinnern, wollen doch hören und vernehmen, wie in ihm durch Esthers Erzählung das Verständnis des Dichtwerkes geweckt wurde. Es sind nicht ihre Worte, sondern der Klang derselben, wie er ihn vernahm, was wir hier hören, und wir werden sein Interesse für sie, diese eigentümlich reich begabte Natur, verstehen, die in ihr stilles, tiefes Gemüth schon so viel von der geistigen Hinterlassenschaft des Denkers und Dichters aufgenommen hatte. Für Niels Bryde wurde diese Stunde und, was hier auf wenigen Blättern enthalten ist, in seiner Lebensgeschichte wenigstens ein Ereignis von Bedeutung.

Göthe's Faust, zweiter Theil.

Der erste Akt zeigt uns »Faust am Hofe des Kaisers«; der Narr ist an demselben verschwunden, aber Mephistopheles nimmt seinen Platz ein und bläst dem Weisen des Hofes, dem Astrologen, Worte der Schlauheit ein. Faust versteht die leere Staatskasse zu füllen, läßt den Hof ein Carnevalsleben in lauter Lustbarkeiten führen, wobei der Kaiser als der große Pan und Faust, sein Gold austheilend, als der Gott des Reichthums auftritt; aber das ist eine böse Saat, die keinen Segen bringt. Der Kaiser verlangt neue und andere Unterhaltung, verlangt, daß Faust durch seine Kunst das Schönheitspaar des Alterthums, Helena und Paris, hervorrufen soll. In diesem Punkte stößt Faust auf Widerstand bei Mephistopheles, der indessen zuletzt nachgiebt und ihm den Schlüssel zum Reiche des Todes einhändigt, in welchem die Mütter in der Leere, dem Grenzenlosen, dem Dahingeschwundenen wohnen. Es soll ein Hofschauspiel werden; hohe, vornehme Gäste werden in das Schloß des Kaisers geladen, wo das Theater errichtet ist und die Zuschauer versammelt sind. Mephistopheles übernimmt die Rolle des Souffleurs. Nur eine gewöhnliche Vorstellung wird erwartet, aber es ist weit mehr. Faust bringt in der romantischen Zeit die antike Schönheit zur Geltung, verliebt sich aber dabei in Helena; als er sie umarmt, explodirt alles, er wird bewußtlos zu Boden geworfen und im Tumult und in der Finsternis ergreift ihn Mephistopheles.

»Da habt ihr's nun! mit Narren sich beladen,
Das kommt zuletzt dem Teufel selbst zu Schaden.«

Der zweite Akt giebt uns Fausts Traumzustand, in den wir durch die Wirklichkeit der ihn umgebenden Welt eingeführt werden. Wir sind wieder mit Mephistopheles in dem Studirzimmer, das noch unverändert, wie wir es im ersten Theile der Dichtung sahen, da steht, nur daß alles mit Staub bedeckt ist. Die Feder, mit der sich Faust dem Teufel verschrieb, liegt auf den Fußboden geschleudert, ein geronnener Blutstropfen klebt an ihr. Mephistopheles wirft Fausts alten Pelz um sich; das Ungeziefer in ihm fährt heraus und heißt ihn in lustigem Chore willkommen. »Der Schüler«, den wir aus dem ersten Theile als demüthig, bescheiden auf die Worte des großen Meisters lauschend kennen, der ihm Lehren ertheilte und sich in sein Stammbuch schrieb, erscheint jetzt als Baccalaureus viel weiter vorgeschritten, als Mephistopheles gedacht. Sein Ziel ist, wie Gott zu werden; er hat in seinem Wissen eine solche Höhe erreicht, daß es ohne seinen Willen keinen Teufel geben darf. Im Laboratorium arbeitet Wagner und durch Zusammensetzung der Stoffe schafft oder krystallisirt er einen Menschen: Homunculus, der gerade beim Eintreten des Teufels Leben erhält. Wie klug, drollig und kenntnisreich ist dieser Kleine, trotzdem er nur ein halber Mensch ist; etwas fehlt noch, deshalb muß er in seinem Glase bleiben, nur dort findet er Gleichgewicht. Er ist nicht einmal ganz körperlich, und das will er sein. Er denkt an sich und sogar an Faust, der im Traumzustande ruht und fordert Mephistopheles auf, seinen Mantel um den Schlafenden zu schlagen. Homunculus fliegt leuchtend voran und führt sie in die antike Welt, in das Land, das Faust als die Heimat des Schönheitsinnes gilt, führt sie zur klassischen Walpurgisnacht. Hier lebt Faust auf und wird von Begeisterung hingerissen, denn hier ist Griechenland, diese Luft hat Helena geathmet. Die Sphinx erinnert an Ödipus, die Sirenen an Ulysses; er erkundigt sich nach Helena, und Chiron hebt ihn auf seinen Rücken, der einst Helenas Sitz war, und trägt ihn zu der Tochter des Äsculap, die ihn in das Reich der Todten führt. Die Erde erbebt, das Erdbeben erhebt sich, die tiefen Gründe aufrüttelnd; Gold und Schätze rollen hervor, es braust, und Pygmäen, Daktyle und die Kraniche des Ibycus stürmen unter einander heraus. Die Lamien des Grabes umwirbeln im Tanze Mephistopheles, das heißt den Teufel des Mittelalters, der sich auf klassischem Boden nicht sofort heimisch weiß, allein bald dahinter kommt, daß sich auch im Schönheitslande all die Fledermaus-Vampyrschaft findet, welche sich in der Zeit seines Daseins überall regt, und er macht nun den widerlichen Lamien und den häßlichen Töchtern des Chaos den Hof. Homunculus eilt hier auf sein Ziel los, mehr verkörpert zu werden. Beim Meeresfeste im Ägeischen Meerbusen sagt ihm Proteus, daß er nur halb zur Welt gekommen wäre, daß er sich aus dem ihn umschließenden Glase in das unendliche Meer stürzen und sich in ihm durch Tausende von Formen immer weiter bis zu dem völligen Menschwerden bewegen müsse. Diesen Rath befolgt er und zerschellt unter dem Jubel des Meeres und der anderen Elemente bei dem Feste der Galathea und der Nereiden an der Muschelschale des Thrones.

Der dritte Akt spielt in Sparta; dort befinden wir uns im Schlosse des Menelaos, in das eben Helena mit einer Schaar gefangener Trojanerinnen zu den Reichthümern, die sie verlassen und ihr Gemahl vermehrt hatte, zurückgekehrt ist. Er hat sie hierher geführt, aber auf dem ganzen Wege kein Wort mit ihr geredet; er zeigt sich auch nicht, sie kennt nur sein Gebot, daß hier alles zu einem Opferfest vorbereitet werden soll. Phorkyas, die alte, graue Schloßverwalterin, tritt heftig gegen ihre Herrin auf, so daß der Zorn des Chors dadurch erregt wird. Phorkyas verkündigt den Willen des Menelaos: das Opfer soll Helena selber sein. Diese erschrickt und fragt nach Rath und Rettungsmitteln; die Alte kennt nur ein einziges. Jenseits des Eurotas hat ein mächtiger Fremdling – es ist Faust – eine Burg erbaut; zu ihm müsse Helena flüchten. Auf Nebelwolken wird sie mit ihrem Gefolge dorthin getragen und als Herrin empfangen. Menelaos stürmt mit seinen Kriegerschaaren heran, wird aber durch Zaubermacht verjagt. Nun schwärmen, lieben und schwelgen im Glücke die Beiden mit einander, Helena und Faust, die antike Schönheit und die mittelalterliche Romantik. In ihrer Umarmung jubelt und singt das schönste Kind: Euphorion. Es macht ihr Glück, ihre Freude und ihre Angst aus, denn es erhebt sich wie Ikarus, und sein irdischer Theil sinkt bald in das Grab, aus dem es der Mutter zuruft, ihm zu folgen. Sie gehorcht; die äußere Hülle ihrer Schönheit bleibt aber zurück und, in Wolken aufgelöst, trägt Faust sie von dannen, während der Chor in Naturtöne und Naturerscheinungen übergeht. Da erhebt sich Phorkyas, oder eigentlich Mephistopheles, riesengroß; seine Gaukelmacht war es, die das Ganze an unsern Blicken vorübergeführt hatte.

Der vierte Akt versetzt uns wieder über den Traum des Faust hinüber, mitten in die Wirklichkeit. Die Wolken tragen ihn in die heimatlichen Berge, in das Land des Kaisers zurück. Er erwacht, kräftig und stark, fühlt den Drang zu handeln, etwas Tüchtiges auszurichten, des Meeres vernichtende Wogen zu hemmen, die starke Macht der Geister in Wirksamkeit treten zu lassen; aber das ganze Reich des Kaisers ist in Anarchie versunken, ein neuer Regent gewählt. Faust schließt sich der Wahrheit und dem Rechte an, und auf sein Gebot müssen durch Mephistopheles die Naturkräfte als dienende Geister im Dienst des Guten und des Wahren wirksam sein. Der Kaiser gewinnt sein Reich wieder, theilt darauf Macht und Würde an die Auserkorenen aus, und zuletzt kommt die Geistlichkeit. Der Erzbischof erklärt, böse Mächte hätten den Sieg erfochten; das müsse gesühnt, und eine Kirche hier an dieser Stelle erbaut werden. Thäler, Wiesen und Felder werden den Dienern der Kirche geschenkt; mehr und mehr verlangen diese und verschlingen schließlich die Geistlichkeit eben so gut wie das ganze Reich. Fünfter Akt. Nach langen Kreuz- und Querfahrten gelangt ein Wanderer in die Heimat, woselbst in der Hütte zwei Greise in Glück und Zufriedenheit wohnen. Sie wollen diese Stätte auch nicht gegen das prächtigste Gut vertauschen, welches ihnen der mächtige Faust angeboten hat, weil ihm ihre Hütte die Aussicht von seinem reichen Schlosse aus versperrt. Hier ist durch seine Klugheit und Macht das Meer eingedämmt, hier sind Wiesen und Wälder angelegt und Städte erbaut worden, kurz, vieles ist ausgerichtet. Faust ist jedoch inzwischen ein alter Mann geworden, mächtig durch Glück und Reichthum und doch unfähig, jene Hütte fortzuschaffen. Mephistopheles gelobt ihm, daß es geschehen soll und er die Greise zwingen werde, sich eine bessere Stätte zu wählen. Die Morgenluft trägt einen brandigen Geruch zu ihm herüber, die Hütte ist abgebrannt, die Greise im Feuer umgekommen. Faust entsetzt sich, denn das hatte er nicht gewollt. »Das kommt auf deine Rechnung!« sagt der Böse zu ihm. Des Nachts nähern sich nun seinem Schlosse vier altersgraue Weiber: Mangel, Schuld, Sorge, Noth. Dort ist freilich keine Stätte für sie; allein die Sorge schlüpft mit ihnen durch das Schlüsselloch und setzt sich in Fausts reichem Hause fest. Er fühlt Schmerz und Unbefriedigtsein; sie haucht ihm auf die Augen, und er erblindet. In seinem Innern wird es dafür jedoch klarer, und er ruft seine Leute zur Arbeit und Thätigkeit. Die giftschwangeren Sümpfe läßt er entwässern und austrocknen, das dem Meere abgewonnene Land urbar machen und in fruchtbare Felder verwandeln. »Mit einem freien Volk auf freiem Boden stehen«, wurde der Wunsch seines Lebens, und in der Erfüllung desselben erreicht das Sterbliche an ihm sein Ende. Mephistopheles will mit seinem höllischen Heere seine entfliehende Seele ergreifen, aber in demselben Augenblicke schweben himmlische Heerschaaren hernieder. Bei diesem Anblicke steigt in Mephistopheles die ganze Lüsternheit der Katze nach den Vögeln empor. Ihm ist »so heimlich-kätzchenhaft begierlich«. Die Engel »sind ihm so hübsch, fürwahr, er möcht' sie küssen«, und von diesem Triebe erfaßt, vergißt er einen Augenblick seine Seelenbeute. Duftende Blumen regnen rings um ihn hernieder; die böse Macht ist außer Stande, diese himmlischen Rosen hinwegzublasen, sie brennen sich tief in Mephistopheles hinein, allein seine Natur ist so echt teuflisch, daß sie sich nicht ausbrennen, nicht läutern läßt; er schüttelt es wie einen Hiobskörper von sich. Während dieses sich Windens und von sich Stoßens haben die Engel inzwischen Faust's unsterblichen Theil mit sich geführt und unter ohnmächtigem Hohn muß der Höllengeist in die Tiefe hinabsinken. Die Gesänge der Anachoreten ertönen, die todtgeborenen Kinder schweben über die Erde dahin, die weltliche Natur wird ihnen gezeigt und erklärt, aber sie sehnen sich nach noch größerer Schönheit und schweben höher dieser entgegen. Geister von Büßerinnen erheben sich und unter diesen befindet sich Gretchen. Sie bittet, ihr Kind erreichen und über diese Welt belehren zu dürfen – »noch blende es der neue Tag«. Und in ihrem Gefolge, im Gefolge der Liebe, wird Faust zur Gnade emporgetragen. Faust hat als Mensch im Streben seines Erdenlebens gefehlt, gesündigt, aber durch das Schöne, Wahre und Gute erhob sich die Seele durch Willenskraft zu immer größerer Klarheit, weshalb sie, von der Liebe getragen, zur Gnade emporsteigen kann und muß.

So zeigte sich Niels Bryde durch Esthers Erzählung der Faust als ein Gesammtbild; sie hatte ihm den Faden, die Verbindung gegeben, hatte einen Einblick in das Ganze an den Tag gelegt, der weit über ihr Alter hinausging. Erstaunt blickte er das junge Mädchen an, dessen Geist so ungewöhnlich entwickelt war und das sich mit andren nicht vergleichen ließ. Wie es in der Welt noch mehr wahre Dichter giebt als jene, die ihre Gedanken und Stimmungen zu Papier bringen, so giebt es auch noch mehr geistvolle Frauen als eine Rahel, eine Stael-Holstein, eine George Sand, aber die Lebensverhältnisse lassen sie in der Welt nicht in gleicher Weise hervortreten. Oft sind es sogar nur einzelne, die einen Einblick in eine solche ungewöhnliche Natur erhalten. Wie verschieden war in diesem reichen Kopenhagener Hause doch Esther von ihren beiden Schwestern! Wie ging das nur zu? Ja, wie geht es in der Pflanzenwelt zu! Im Waldesgrunde gewahrt man oft ein seltenes Gewächs sich unmittelbar neben anderen gewöhnlichen Kräutern entwickeln. Ihre Wurzeln ruhen in den gleichen Erdstoffen, sie athmen die gleiche Luft, den gleichen Sonnenschein ein, und doch steht diese eine Pflanze so selten, so verschieden da!

Von Jerichau besitzen wir eine in Marmor ausgeführte Sklavin in Zeiten; in ihrer Gesichtsform liegt etwas so geistig Reines, daß es gleichsam den Marmor durchstrahlt, eine Schönheit, die eben so sehr im Ausdruck wie in der Form hervortritt. Man hätte glauben sollen, der Künstler hätte Esthers Porträtstatue in eben dem Alter gegeben, in dem sie zu dieser Zeit stand. Hierzu kamen noch die dunkelbraunen, ernsten Augen, die Gedanken und Phantasie ausstrahlten, man fühlte sich von ihnen durchschaut, und würde von ihnen vielleicht ein Bild stiller Trauer in sich zurückbehalten haben, wäre nicht das ganze Antlitz durch ein glückliches Lächeln, welches wunderbar keck um den feinen Mund spielte, gleichsam gehoben gewesen, wozu auch die eben so beredten Augen beitrugen, die zu sagen schienen: »Ich bin unbesorgt, dieses rollende Lebensmeer erfüllt mich nur mit Freude.«

Niels Bryde betrachtete Esther von diesem Augenblicke an mit ganz anderen Gedanken und mit weit höherem Interesse als zuvor.»Noch denselben Abend las er den zweiten Theil des Faust, und der Umriß, den sie ihm von diesem Werke gegeben hatte, wurde kritisch geformt und mit der Gedankenschärfe des Mannes begriffen.

In Faust selbst fand er eine mit seiner eigenen verwandte Natur; auch er strebte und kämpfte ja, auch er hätte sich, selbst den bösen Mächten, hingeben können, wäre es ihm möglich gewesen, durch sie festen Fuß zu fassen und eine Stufe höher zu steigen. Im Kampfe um das Schöne, Wahre und Gute mußte das Irdische straucheln und fehlen, aber der unsterbliche Theil würde zuletzt siegen und leben! Göthe besaß eine christliche Humanität, er gehörte der antiken Schönheitswelt an, war ein von dem Olymp stammender Mensch, der einen Lichtgrad höher gehoben war als die Weisen des klassischen Alterthums, indem er von der Sonne des Christenthums bestrahlt dastand.

Das Interesse, welches die Lectüre des Faust in seiner ganzen Abrundung bei ihm erweckte, hatte zur Folge, daß Göthe eben so wie Shakespeare lange Zeit seine gewöhnliche ästhetische Lectüre wurde. Bei diesen beiden Dichtern ist, wie überall in der Welt, das Weib das veredelnde Princip. Nach einer alten Fabel wollte der Sturm dem Wanderer den Mantel mit Gewalt abreißen, aber dieser hüllte sich nur fester in ihn ein. Da kam die Sonne mit ihren milden Strahlen, die Wärme durchdrang ihn, und der Wanderer löste den Mantel, öffnete ihn und legte ihn endlich willig ab. Hier ist die Sonne die Macht des Weibes, und diese haben alle große Dichter gefühlt und erkannt. Deshalb leuchtet bei Shakespeare das Weib hervor in »König Lear«, in »Coriolan«, in »Viola«, im »Kaufmann von Venedig« und eben so bei Göthe im »Tasso« und im »Egmont«, allein am herrlichsten im »Faust«, in dem ihm das Weib wie die verkörperte Liebe voranzuschweben und sich bis zur Gnade zu erheben schien.

Welche Bedeutung hat doch das Weib! Auch Niels Bryde hatte den Einfluß und die Macht der Frauen schon längst an sich erfahren. Oft gedachte er seiner Mutter, der geringen, armen Frau! Wie lebhaft erinnerte er sich des Ausdruckes ihrer Augen, als sie stumm und gelähmt in der kleinen Stube saß, und er ihr die Bibel, »den Mund Gottes«, wie er als Kind glaubte, an den Mund drückte. Eine Fülle von Liebe, die ganze Fülle mütterlicher Liebesgedanken lag darin! Er verstand, was sie ihm einst gewesen war. Und Bodil, die Schwester auf der Haide, diese treue, ehrliche Seele, fromm und liebevoll, wie lebendig gedachte er ihrer sanften, tröstlichen Worte, als er verkannt, gekränkt und wild aufbrausend draußen im Haidekraute lag! So mancher Zug eines tief fühlenden Herzens gab sich bei ihr zu erkennen; sie hatte seine Augen für die Schönheit der Natur selbst auf der Haide geöffnet. Sie, die theilnehmende Schwester, in guten wie in bösen Tagen, war um seinetwillen gewiß noch oft betrübt, das sah er ein, denn mit dem alten Pfarrer konnte und wollte er sich nicht vereinbaren.

Seine Mutter und Bodil – ja, sie beide machten auf seiner Lebensbahn die ganze Galerie einflußreicher, herrlicher Frauen aus. Die kleine Esther, das Judenmädchen, sproßte hervor, interessant, eine sich erst entfaltende Knospe; zu welcher Blume würde sie sich einst entwickeln? Ihre verständliche Darstellung und Zergliederung des Faust war mehr als ein Gedächtniswerk der Jugend; ihr Leben in der Welt der Bücher inmitten des regen gesellschaftlichen Verkehres im Hause ihrer Eltern, inmitten der Wellenschläge des Alltagsgeschwätzes ließ auf ihre innere Tiefe schließen. Welches Ziel hatte wohl die Strömung ihrer Gedanken? Er war weit davon entfernt, es zu ahnen. Vieler Philosophen und Dichter geistige Hinterlassenschaft hatte sie sich angeeignet und fruchtbar gemacht; aber indem er ihr seine Aufmerksamkeit zuwandte, entschwebte sie ihm, der in der Eitelkeit seines Ichs oft eines festen Lebenshaltes nicht bedurfte, erst recht; der Strom des Materialismus steuerte auf den Ursprung des Ganzen hin. Das kostbare Kleinod des Glaubens, das er fortgeworfen hatte, war ihr des Lebens reichster Schatz; sie, die Jüdin, labte sich an dem Duft der blutenden Kreuzesrose und suchte ihren Trost und ihre Rettung bei dem Messias, bei dem Erlöser, von dem die Propheten und Sänger des Alten Bundes verkündeten, und der geboren wurde, lehrte und starb, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren werde, sondern das ewige Leben habe.

Niels Bryde und Esthers Großvater, der gläubige Israelit, waren übrigens die zwei einzigen, die Esthers Eigenthümlichkeiten richtig einsahen und begriffen. Ihre Schwestern, besonders Rebekka, die im Geschwisterkreise für den eigentlichen guten Kopf galt, der nach dem eigenen geistigen Vermögen des Abschätzenden bestimmt wird, hatten für ihre kleinen Schwächen ein schärferes Auge, wenigstens wußte Rebekka eine bei ihr hervorzuheben. Esther legte nämlich, so oft sie bei Tische saß, das eine Bein unter sich und setzte sich darauf.

Amalie, die dritte Schwester, hatte, weil sie für das Nordische leidenschaftlich schwärmte, in Herrn Bruß einen Bewunderer. Und wer war dieser Herr Bruß? Ein begabter junger Theologe, streng orthodox und gleichwohl leichtfertig. Es klingt allerdings sonderbar, aber es giebt solche Naturen. Er hatte Verständnis für die Größe und Ursprünglichkeit des Nordens. Dieses Nordische bei ihm interessirte Amalia, seine ewigen Ergießungen über das Großartige der nordischen Natur gewannen Esther, und bei Amalien machte ihn die Frische und Unerfahrenheit, die sich in seinem Wesen verrieth, zu einem ausgezeichneten Menschen. Er war genial und trivial, ein seltsames Gemisch von Gegensätzen, süß und herbe, zähe und spröde. Während er sich fanatisch orthodox zeigte und nur für die Duldung hatte, die seinen kirchlichen Standpunkt theilten, brachte ihn seine Erz-Nordischheit dazu, ohne daß er selbst Anstoß daran nahm, Christentum und Heidenthum in einander übergehen zu lassen, Christus und Balder, den Teufel und Loke, das Himmelreich und Gimle, den jüngsten Tag und Ragnarok als ein und dasselbe zu bezeichnen.

Niels Bryde bemerkte oftmals, daß diese Vermischung namentlich Esther Ärgernis bereitete, aber es entging ihm auch nicht, daß sie mit ungeteiltem Interesse zuhörte, wenn Herr Bruß von der Heldenzeit des Nordens mit Leben und Wärme erzählte oder ein Stück aus der Edda vortrug. Das that er vorzüglich. Eines Abends gab er ihnen einen Umriß der Njals Saga, wie ihn kein großer Dichter besser hätte wiedergeben können. Aber trotzdem sagte er Niels Bryde doch nicht zu. Er sah für diesen zu sehr wie Milch und Blut aus und ging zu aufgeputzt wie ein Ladendiener einher. Niels Bryde fand ihn wegen seines hochmüthigen Lächelns unangenehm, fand sein übertrieben nordisches Wesen erkünstelt und ihn wegen seiner furchtbaren Eitelkeit ganz unausstehlich, die ja auch freilich völlig unerträglich ist, wenn man sie selbst in gleich hohem Maße besitzt; diese Bemerkung machte Niels jedoch nicht.

Es kam ihm vor, als bewiese Esther Herrn Bruß ein eben so großes Interesse wie ihm selbst. Jetzt, wo sie für ihn eine Bedeutung erhalten hatte, die leicht in Liebe übergehen konnte, so sehr er auch ein geistiger Narciß war, jetzt wollte ihm das gar nicht gefallen; nein, es gefiel ihm durchaus nicht. Und doch war sie Niels Bryde nicht nur am meisten, sondern eigentlich einzig und allein recht vertrauensvoll ergeben, nur nicht hinsichtlich des Einen, das ihrem Herzen am nächsten lag, hinsichtlich des Glaubens. Es war, als ob sie instinktmäßig fühlte, daß sie auf diesem Gebiete keine Anknüpfungspunkte in ihren Anschauungen hätten.

»Auf dem Nil trug ein Papyrusblatt Moses als Wiege, eine wie reiche Blume und doch wie arm gegen die Frucht, die am Kreuze hing!« so redete die Stimme in ihrem Herzen; Judenthum und Christenthum lagen bei ihr im Widerstreite. Vor ihrem frommgläubigen, liebevollen Großvater, an dem sie stets mit dem Vertrauen eines Kindes hing, sprach sie mit zitternder Stimme die Überzeugung aus, die sie erfüllte, das Licht des neuen Geistes, welches vor ihr aufgegangen war, die wunderbare Sehnsucht, die sie zum Christenthum hinüberzog. Eben so verständig wie herzlich hörte er ihr zu und ging darauf in der stillen Hoffnung ein, daß sich ihre allzu lebhafte Erregtheit bei genauerer Selbstprüfung und bei der Erwägung legen würde, welch einen Zwiespalt ein solcher Schritt in dem Familienleben hervorrufen mußte, ganz abgesehen von der Aufmerksamkeit des Publikums, die sie dadurch auf sich lenken würde. Er wachte seinem Herzen Luft in Freude über das Volk Israels, das sich alle Zeiten hindurch trotz harter Bedrückung als das auserwählte Volk Jehovas, des alleinigen, strengen und doch barmherzigen Gottes erhalten hätte. Mit einer Innigkeit, die fast Trauer genannt werden konnte, blickte der greise Großvater die geliebte Enkelin an, und sie schmiegte sich an seinen Hals und brach in Thränen aus, aber bald erhob sie ihr Haupt wieder frei und faltete ihre Hände. Was mochte die Stimme in ihrem Herzen wohl sprechen? Die Lippen schwiegen darüber.

»Herr Jesus, verlaß mich nicht!«


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