Hans Christian Andersen
Sein oder Nichtsein
Hans Christian Andersen

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VI.

Julius Arons.

An den Ufern der Eider rührte der Freiheitstaumel die Lärmtrommel; in Jütland und auf den grünen Inseln loderten die Signalfeuer der Begeisterung auf. Ein Wille, Ein Gedanke strahlte durch das ganze Land: »Alles für unsere gerechte Sache!« Und das Bauermädchen zog ihren goldenen Verlobungsring ab und gab ihn her und schweigend gab sie ihren Herzensfreund dazu. Reich und Arm, Bauer und Edelmann stellte sich freiwillig in Reih und Glied. Manch feines Herrchen, das in Glacéhandschuhen im ersten Rang des Theaters gesessen, stellte sich bald freiwillig zum Schanzgraben ein. Julius Arons, der in der letzten Zeit in Folge seiner übertriebenen Lebensgenüsse manches Zeichen von Lebensmüdigkeit gegeben hatte oder, wie es einige seiner Freunde nannten, blasirt war, lebte von neuem auf und wurde in seiner Jugend wieder jung. Das Leben erhielt für ihn neues und wahres Interesse; jetzt, wo es galt, wollte auch er nicht zurückbleiben. Wir müssen allerdings einräumen, daß er, wie viele der jungen Leute, die sich augenblicklich Hingaben, nicht bedachte, was erforderlich war, welchen Anstrengungen, Entbehrungen und Prüfungen sie entgegengingen. Nur sehr Wenigen konnten Nebenabsichten untergeschoben werden; bei den Meisten war der Grundaccord tief und aufrichtig, die Begeisterung wahr.

Im Äußern hatten Julius und Esther, wie wir wissen, große Ähnlichkeit; man sah sofort, daß die Beiden Geschwister waren, und dieses Äußere hatte auch einen inneren seelischen Vereinigungspunkt, obgleich sie, was Begabung und geistige Entwickelung anlangt, sehr verschieden waren. Sie liebten sich innig, und sicherlich fachte Esther seine Begeisterung an und drang in ihn, mit in das Feld zu ziehen. Gern hätte sie es selbst gethan; schön und, beneidenswerth dünkte ihr das Loos der barmherzigen Schwestern, das Heer begleiten, selbst in der Nähe der Schlachtfelder weilen und Trost und Heil bringen zu dürfen. Rebekka und Amalie sprachen mehr von den vielen Vornehmen, die an dem Kriege Theil nahmen und wie schön sich Julius in der Uniform ausnähme. – Niels Bryde war bereits zum Unterarzt ernannt und es traf sich zufällig, daß er in Arons Regiment angestellt wurde.

»Seien Sie meinem Bruder ein treuer Freund!« flüsterte ihm Esther in der Abschiedsstunde zu; »ich weiß, daß Sie es sein wollen!« Und sie drückte Niels Bryde die Hand und schaute mit ihren seelenvollen Augen in die seinigen. Thränen perlten in ihnen um den Bruder, vielleicht auch um ihn, den Freund.

Die Mutter und die Schwestern befanden sich sämmtlich auf der Eisenbahnstation Roskilde; auch der Vater, Herr Arons, war erschienen, von dem wir bisher nichts gehört haben, als daß er das Geld für die Reise bewilligte, welche Julius und Herr Bryde nach Dresden und Prag unternahmen. Er war fast immer in seinem Comptoir, und auf der Börse; aber heute hatte auch er sich auf dem Bahnhofe eingestellt, wo Julius in der rothen Jacke zwischen seinen Kameraden Platz nahm. Des Vaters Augen waren einen Augenblick feucht, – noch eine Umarmung, und dann mußte er noch vor Abgang des Zuges wieder fort, er mußte eiligst auf die Börse.

Es war feierlich wie an einem Sonntage; fröhliche Stimmung und Thränen wechselten mit einander; es lag Poesie in dem Augenblicke. Der Soldat in der rothen Jacke umarmte die feinen Fräulein in seidenen Kleidern. Die Taschentücher wehten, die Locomotive brauste davon und der Soldat sang das berühmte Vaterlandslied: »Ermanne dich, du dän'sches Volk!« Donnernde Hurrahs erschallten, der Gesang wurde durch unaufhörliches Rufen und das Pfeifen der Locomotive übertäubt. Vorwärts ging es, wie der Webstuhl des Lebens geht. Die starken Gefühle, die erregt waren, das Neue und die Ungewißheit des Ausgangs verliehen dem Augenblicke einen Glanz, eine Poesie, durch welche die feuchten Alltagsnebel vergessen, der Druck gemildert wurde.

Turner in wilden, phantastischen Anzügen mit auf die Brust gemalten Todtenköpfen, Freischaaren wie disciplinirte Truppen standen bei Bau den Dänen gegenüber. Tapfer fochten sie, zeigten verzweifelten Muth, wurden aber bald von dem verlassen, der sie in den Kampf führen wollte. Es fehlte ihnen an einem Obercommando, an Einigkeit; sie wurden umzingelt, besiegt und achthundert Gefangene wurden nach Kopenhagen geschickt.

Das ganze Herzogthum Schleswig lag den Dänen offen. Der König, der Alsen besuchte, hielt seinen Einzug in Flensburg, wo überall der Danebrog wehte. Alles dies gehört der Geschichte und unserer Erinnerung an. Das Glück schien auf Seiten der Dänen zu sein; sie zogen auf die Stadt Schleswig zu, manches Herz schlug schwer, der Bruder stritt wider den Bruder. Irrthum, Sympathien erhoben sich gegen Recht und Pflicht. Viele Dänen erfuhren an sich selbst, was der große Gelehrte, der edele Däne Hans Christian Örsted sang:

»Tief fühlen wir, der Feind ist unser Bruder doch,
Jahrhunderte mit uns verbunden.
Doch zwang er selbst uns zum blutigen Strauß,
Jetzt gilt's nur: Verloren – gewonnen!«

In der Abtheilung dänischer Truppen, die zuerst in die Stadt Schleswig einrückte, befanden sich unsere alten Freunde, Julius Arons als Unteroffizier und Niels Bryde als Unterarzt. Über der Stadt ruhte eine unheimliche Stille, dazu waren die Tage düster und regnerisch. Wenige der Bewohner zeigten sich auf der Straße; die meisten Familien hielten sich in ihren Häusern eingeschlossen. Allen Forderungen der Truppen wurde zwar, so weit die Pflicht ihre Erfüllung gebot, unweigerlich nachgekommen, aber man begegnete finstren Gesichtern und allgemeiner Wortkargheit, selbst bei dem Gesinde. Niels Bryde hatte in einem Hause Quartier erhalten, in dem die einzige Person, die sich zeigte, ein junges Fräulein Namens Hibernia war. Sie trug einen so entschiedenen Haß gegen alles Dänische zur Schau, war so unversöhnlich, aber zugleich so muthig und so schön, daß sie Niels Bryde in hohem Grade ansprach.

»Kopenhagen,« sagte dieselbe, »ist ja skandinavisch, lehnt sich an Schweden und Norwegen an, will der Theil eines größeren Ganzen sein; das geschieht aus Sympathie, Nationalität, Sprachverwandtschaft. Aber haben wir nicht dasselbe Recht? Wir lehnen uns an das große Vaterland, welches unsere Sprache redet und das Land ist, von dem wir unsere Bildung, unsere Sympathien haben. Jetzt ist die Zeit, in der die Völker sich sondern und wir schließen uns an unsere Stammverwandten an!«

»Dann müssen Sie aber aus dem dänischen Schleswig hinausziehen,« versetzte Niels Bryde; »südlich von der Stadt erhebt sich noch das fast tausendjährige Dannewirke, der Wall der Königin Thyra, damals schon eine Wehr gegen fremde Übermacht. Die dänische Sprache, die in alten Zeiten hier ringsumher geredet wurde, sank zuletzt zu der Sprache des gemeinen Mannes herab; wollte sich jemand zu den Vornehmen halten, mußte er deutsch lernen; dies zu reden, galt für vornehm, und dadurch wuchs die Zahl der Deutschredenden. Siege, Friedensschlüsse und Verträge müssen doch überdies auch etwas gelten!«

So sprachen sie beide gleich eifrig und gleich überzeugungsvoll, wie noch lange gesprochen werden wird. Niels Bryde schaute ihr in die ernstblickenden, schönen Augen. Seine sonstige Heftigkeit ging in heitere Laune über. »Ich habe eine Idee,« sagte er scherzend. »Die äußerste Rechte des Dänenthums vertritt bei uns der alte Grundtvig, bei Ihnen bildet die äußerste Rechte des Deutschtums der alte Arndt, ein Mann, dem ich wahrlich nicht böse bin. Trotz ihres Gegensatzes sind sie einander sehr ähnlich; beide sind Dichter, beide Extreme. Ginge es nach wir, so müßten sich die Mächte darüber einigen, daß diese beiden Vorkämpfer des Dänenthums und des Deutschthums zu einem nordischen Zweikampfe einander gegenüberträten und aus der Insel Sprogö im großen Belt den Streit um die Sprachen und Nationalitäten auskämpften, und je nach dem Endergebnisse fielen wir andere uns gegenseitig um den Hals. Das würde meiner Treu das Beste sein.«

»Sie sind im Stande, in einer Zeit wie die unserige zu scherzen?« rief Hibernia und wurde glühend roth.

»Ja, Gott sei Dank, daß ich noch scherzen kann!« entgegnete Niels, »und das werde ich allen Feinden gegenüber, die in Weiberröcken einhergehen!«

Mit Blicken, die Blitze schleuderten, schaute ihn Hibernia an, ohne ein Wort zu erwidern, aber in ihren Augen lag Zorn, Ernst und Rachgier, und doch war sie ein edeles, hochherziges deutsches Weib, das nur für das Land athmete,

»Wo Luthers Wege stand und Göthe sang.«

In Hibernias Auftreten, in ihrer Person lag etwas Eigenthümliches, was Niels Brybe wunderbar ergriff und erfüllte. Sie war ihm nicht gleichgiltig; Haß fühlte er nicht, Liebe eben so wenig, aber er fühlte sich in unerklärlicher Weise zu ihr hingezogen, zu ihr, seiner Feindin, seiner erklärten Feindin, die es laut ausgesprochen hatte: »Ich hasse Sie!« Sollten sie sich wohl noch öfter begegnen?

Von der Straße her tönte der Gesang dänischer Soldaten, das Lied von dem Wall der Königin Thyra:

»O Dänemark, soll schöner Au'n und Fluren,
Von blauen Wogen stattlich eingerahmt.«

Hibernias Wangen glühten, ihre schönen Augen wurden immer größer; stolz warf sie den Kopf zurück und verließ das Zimmer.

Die Stärke des Feindes stand bereits in Holstein.

»Die Osterglocken läuteten –«

Die dänischen Truppen waren auf dem Wege nach der Kirche, als plötzlich Generalmarsch geschlagen wurde, und schon eine halbe Stunde später empfing die Avantgarde den Feind in Bußtorf. Bald hatte sich der Kampf bis Schleswig ausgedehnt; aus den nach Süden gelegenen Häusern und Gärten raste das Feuer hervor. Die Giebel stürzten ein, die Flammen loderten hoch empor. Unaufhörlich dröhnte das Donnern von nahen und fernen Geschützen, Kugeln sausten und pfiffen durch die Luft, Wagen rollten, Trommeln wirbelten und Trompeten schmetterten.

Als Niels Bryde im Gefolge seiner Compagnie an seinem alten Quartiere vorüberzog, gewahrte er am offenen Fenster Hibernia. Neben ihr lagen einige Gewehrläufe im Anschlage; sie selbst hielt die schwarzrothgoldene Fahne zum Fenster hinaus und blickte den Abziehenden triumphirend nach. Plötzlich fiel ein Schuß – Niels Bryde glaubte einen Schrei zu hören und sah sie niedersinken oder zurücktreten. Er befand sich auf dem Marsche und wußte deshalb nicht und bekam auch nicht zu wissen, was geschehen war.

Am Tag des Kampfes, der erste für Niels Bryde, war angebrochen. Er bewegte sich gleichsam mitten in einer alles gigantisch zermalmenden Todesmaschine und übte treulich seine Pflicht.

Am Saume eines Waldes lag ein Haus; aus Fenstern und Thüren starrten die schwarzen Gewehrläufe des Todes heraus. Schuß fiel aus Schuß; hinter Zäunen und Hecken ragten des Todes schwarze Röhre hervor. – Mit Kolben und Bajonetten wurde geschlagen und gestoßen. Der schwere, blanke Säbel zerhieb Helm und Schädel; Leichen, Feinde wie Freunde, lagen wie abgebissene, fortgeworfene Patronen umher. Hier wurden bei dem sich dahin wälzenden Kampfe Pferde scheu, dort sanken Kanonen tief in die schlammige Straße ein. Niels Bryde ging mit der Ambulanz mitten in die Schlachtreihen hinein, holte die Verwundeten, amputirte und verband – es war weder Platz noch Zeit übrig. Das Ganze schien ein wilder, seltsamer Traum zu sein, man kam gar nicht zum Denken und Überlegen; der Todesmaschine mächtige Räder drehten sich und zwischen ihren Schaufeln kroch Niels wie ein Wurm umher.

»Schließet den Kreis, steht fest, ihr tapfere dänischen Männer,
Gott lenkt sicher, daß einst wieder der Sieg uns fällt zu.« Plorup

Die Stadt Schleswig nebst dem Schlosse Gottorp, kurz das ganze Schlachtfeld fiel in die Hände der Feinde. Neun Stunden lang war gegen die Übermacht angekämpft worden. Gegen Einbruch der Nacht bezogen die Dänen im Walde von Idstedt und im Katharinenwalde ein Bivouak. Die nicht wenigen Ärzte, die während der Schlacht im Lazareth zu Schleswig beschäftigt gewesen, blieben als Kriegsgefangene daselbst. Niels Bryde, der außerhalb der Stadt beschäftigt gewesen war, saß jetzt mit den Kameraden, wenn auch ein wenig ermattet, so doch mit ungebrochenem Muthe um ein großes, hellloderndes Wachtfeuer, dessen Schein weithin auf die nassen Baumstämme des Waldes fiel. Rings umher lagerten kriegerische Gruppen; die vielen rothen Lagerfeuer und die großartige Gruppirung nahmen sich in der Dunkelheit, die sich auf den Wald hinabgesenkt hatte, höchst eigenthümlich aus. Es regnete die ganze Nacht hindurch. Die Trainwagen fuhren zwischen den Bäumen hindurch, und Proviant wurde ausgetheilt. Was im Laufe des Tages gesehen und geschehen war, wurde nun besprochen. Aus den Mittheilungen der Einzelnen vermochte man sich allmählich ein Bild des ganzen Kampfes zu entwerfen.

Bald jedoch wurde Niels Bryde nach dem Idstedter Wirthshause abberufen, in dem sich der General mit seinem Stabe einquartirt und eine große Anzahl Verwundeter ein Unterkommen gefunden hatte; im strömenden Regen ritt er sofort dahin. Hier saßen in einer niedrigen, dumpfigen Stube, in der auf dem schmutzigen Holztische ein dünnes Talglicht brannte, die Höchstcommandirenden. Neben der Schenkstube lagen die Verwundeten, die verbunden werden sollten und aus ihr drangen manche Schmerzenslaute heraus. Niels Bryde leistete nach besten Kräften Hilfe. Mitternacht war schon vorüber, als er sich endlich ermattet fühlte und nach Ruhe sehnte. Um hierzu ein Plätzchen zu finden, begab er sich in das große Schenkzimmer. Hier wie überall wimmelte es von Menschen, einige schliefen auf dem kahlen Fußboden, einzelne hatten eine Bank in Beschlag genommen, sogar die Kommode hatte ein Nachtlager abgeben müssen, wenigstens lag oder saß vielmehr jemand in tiefem Schlafe auf ihr. Niels Bryde schritt über die auf dem Fußboden ihm zunächst Liegenden hinweg und suchte sich das noch unbesetzte Plätzchen auf der Kommode anzueignen. Er betrachtete den Schläfer, es war ein Freund, ein bekanntes Gesicht, bleich, leidend, abgespannt – es war Julius Arons, der fest schlief. Ihn zu wecken hatte Niels Bryde nicht das Herz. Da er auch selbst viel zu ermattet war, hob er nur die Beine des Freundes ein wenig zur Seite und nahm den dadurch gewonnenen Sitzplatz an der Ecke ein. Nachdem er noch einen tiefen Zug aus seiner Feldflasche gethan hatte, sank er neben Julius ebenfalls in Schlaf. Aber derselbe dauerte nicht lange, schon früh zwei Uhr am zweiten Osterfeiertage brach das Heer aus dem Bivouak auf und bewegte sich still auf Flensburg zu.

Niels schlief fest; einer seiner Kameraden rüttelte ihn; er fuhr empor und als er sich seines Freundes Julius Arons erinnerte, war dieser nirgends zu entdecken. Vielleicht hatte er den neben ihm schlafenden Niels Bryde nicht einmal bemerkt; jetzt war er längst auf dem Marsche. Der Regen strömte beständig hernieder; es war ein mühseliger Rückzug, meist über tiefe sandige Haiden hinfort.

Zur Deckung der sich zurückziehenden Armee, die, wie man wußte, von den Turnern bedroht war, welche die Schlei schon überschritten hatten, erhielt ein Dragonerregiment und ein Jägercorps den Befehl, bei Oversö stehen zu bleiben. Die Artilleriepferde waren gerade abgespannt und wurden gefüttert, als plötzlich ein Bauer meldete, daß der Feind in drei Heersäulen im Anmarsche wäre. Sofort mußte sich ein Theil des zweiten Jägercorps in einen vor der Front liegenden Sumpf werfen; mecklenburgische Dragoner drangen auf die von dem gestrigen Gefechte und von dem Bivouak in kalter Nacht auf dem nassen Boden ermatteten Krieger ein. Trotzdem hielten sie inmitten des Wassers und Feuers Stand. Goslarer Jäger schlossen sich den Mecklenburgern an; zwei Stunden währte der Kampf; Sieg war hier nicht zu gewinnen, Hilfe von den Freunden nicht zu erwarten, hier galt es nur, sich zu opfern, um den heranflutenden Strom zu hemmen, während das Hauptheer Flensburg erreichte. Von einem Baumstumpf zum andern sprang im Sumpfe der dänische Jäger durch den Pulverdampf hindurch; tief versanken mehrere, um das Tageslicht nie wieder zu erblicken. Alle Patronen, selbst die der verwundeten Kameraden, wurden verschossen, und erst da wehte der Hauptmann mit seinem weißen Tuche zum Zeichen der Ergebung. Aber das Hauptheer war gedeckt und hatte die Stadt Flensburg erreicht, deren Bürger ihm mit Erfrischungen weit entgegenkamen, und jetzt harrte der tapferen Soldaten Speise und Ruhe in den ihnen gern gewährten Quartieren. Bryde und Arons trafen sich nicht, suchten sich einander nicht einmal auf, dazu waren sie eben so wie die übrigen Truppen zu durchnäßt und ermüdet; jeder gab sich der Ruhe hin.

Da sprengten Dragoner mit der Nachricht von dem Überfalle bei Oversö in die Stadt hinein und meldeten, daß der Feind vordränge. Die ermüdeten, abgespannten Krieger fuhren auf; die Verwirrung war groß; die Einwohner bestürmten sie aus Furcht vor dem übermächtigen Feinde, eiligst aufzubrechen. Tornister und Mäntel wurden zu den Fenstern hinausgeworfen, der Generalmarsch wirbelte durch die Straßen. »Eilet, eilet! Rettet euch!« hieß es wohlgemeint und nicht wohlgemeint. Mehrere Bataillone rückten in aller Ordnung aus, aber große Haufen blieben in der Finsternis und Verwirrung mitten auf der Landstraße stehen. Der Marsch ging nach Bau. Der Regen strömte nach wie vor vom Himmel hernieder; das Stroh, welches aus den Bauerhöfen zum Nachtlager geholt wurde, war bald durchweicht. Die Hauptmacht war zur Besetzung des Sundewit bestimmt, und jetzt sollten die Truppen schon in der dritten Nacht, in der Regen vom Himmel herabgoß, auf den Düppeler Höhen bivouakiren. Hierdurch wären sie jedoch vollkommen kampfunfähig geworden, wenn es zum Gefechte gekommen wäre, und deshalb wurde angeordnet, daß sie sämmtlich auf Booten und Fähren nach Alsen übergesetzt werden sollten.

Julius Arons war krank; solche Anstrengungen bei Tag wie bei Nacht hatte sein zarter, an ein anderes Leben gewöhnter Körper nicht aushalten können; er wurde in das zu Augustenburg errichtete Lazareth geschickt.

Die feindlichen Schaaren drangen durch das ganze Herzogthum Schleswig vor, und in jeder Stadt, in der sich deutsche Sympathien regten, erklang Jubel, regnete es Blumen und wehten die schwarzrothgoldenen Flaggen. Der, schmale Alsensund war das gezogene Schwert, welches das Meer trennend zwischen die Kämpfenden streckte. Der Feind überschritt die Königsau und drang in Jütland ein; schon in Fünen loderte sein Feuer auf, als Granaten von Fredericia geworfen wurden und das Fährhaus Strib in Brand schossen; auch von Snoghöi aus wurden mehrere Häuser in Middelfart in Brand geschossen.

Die dänische Hauptmacht blieb auf Alsen. Niels Bryde befand sich in Sonderburg und erhielt vom Lazareth zu Augustenburg die Meldung, daß Julius Arons schwer krank wäre; er läge sehr gefährlich am Typhus darnieder. Erst spät am Abend empfing Niels diese Botschaft, warf sich aber sofort auf ein Pferd und ritt nach Augustenburg hinüber, obgleich der Weg dorthin über eine Meile beträgt. Als er sich dem großen Schlosse näherte, waren alle Fenster hell erleuchtet, wie in früherer Zeit, wenn dort ein Fest gefeiert wurde. Jetzt war es das Licht an den Krankenbetten, auf denen die Lebenslichter erloschen. Alles stand in den Gemächern noch unverändert wie damals, als die dänischen Truppen einrückten; aber die reichen Säle des Schlosses waren eine Heimat des Schmerzes geworden.

Julius lag still in seinem Bette da; er war bleich und mager, allein seine Züge zeigten jetzt eine noch größere Ähnlichkeit mit Esther als sonst. Niels Bryde saß an seinem Bette und betrachtete ihn; mit einem Male schlug der Puls des Kranken heftiger, wild öffnete Julius die Augen und fing an, von dem finsteren Walde, dem großen Feuer und von herrlichen Frauen zu reden. Ein Bildhauer hätte die nackten tanzenden Bacchantinnen nicht üppiger aus dem Marmorblock meißeln können, als sie ihm seine Phantasie vorführte; sie glichen den Gedanken, die in Göthes Italienischen Sonetten auf und nieder wogen. Plötzlich bildete sich Julius Arons ein, von der tanzenden Schaar mit in das Feuer hineingerissen zu sein und darin zu verbrennen; er wand sich und schrie laut auf. Kühlendes Eis auf den Kopf bewirkte, daß er wieder ruhig hinsank. Eine halbe Stunde lag er still und schwer athmend da, bis er endlich wieder die Augen öffnete und Niels Bryde anblickte, als ob er ihn erkännte.

»Ich bin zwar sehr krank,« sagte er, »aber ich werde doch nicht sterben! Das Leben ist so schön!« Und er schaute den Freund mit einem Vertrauen, mit einer Zuversicht an, als hinge das Leben von ihm ab.

»Es wird mit dir besser werden,« versetzte Niels Bryde; »schon in diesem Augenblicke ist es ja besser!«

»Besser!« wiederholte Julius und lag wieder still, während seine Hand jedoch fest Niels Brydes Hand umschloß. »Glaubst du,« fragte der Kranke, »daß es ein Leben nach dem Tode giebt?«

Diese Worte wurden so ernst, so wunderbar rührend ausgesprochen, daß sie Niels Bryde, der nicht an ein solches Leben glaubte, eigentümlich ergriffen. Er erwiderte nichts; die Frage berührte ihn peinlich. Er konnte sich nicht überwinden, eine Antwort gegen seine Überzeugung zu geben, und hier in diesem Augenblicke zu sagen: »Nein, ich glaube es nicht,« war ihm eben so wenig möglich.

»Ein Leben nach dem Tode?« wiederholte Julius mit schwacher, fragender Stimme.

»Der Christ glaubt es!« erwiderte Niels Bryde unwillkürlich.

»Ja,« rief der Sterbende, »Esther behauptet es,« und sein Haupt neigte sich, und seine Augen schlossen sich, um sich nicht mehr zu öffnen.

Es war eine lautlose Nacht, nur das leise Stöhnen der Kranken ließ sich vernehmen. Niels Bryde sprang empor, er hatte an einem Sterbebette gesessen – der Freund war entschlummert.

Tief ergriffen ritt er in der kalten Morgendämmerung nach Sonderburg zurück. Er dachte an den Tod, wie er sonst noch nie an ihn gedacht hatte, dachte an ihn als an den Endaugenblick, in dem die Maschine stille steht, der Phosphor im Gehirn erlischt, die Theile auseinander fallen. –

»Sein oder Nichtsein!« dachte er mit Hamlet, fuhr aber nicht wie jener fort: »Schlafen, vielleicht träumen!« – Er wußte, nun war alles vorbei, die Stoffe kehrten zu ihrem Ursprung zurück.

Wie eine Musik, die wir gehört haben und uns tief in die Seele gedrungen ist, durchtönten ihn jetzt die mit dem Freund verlebten Tage, der jetzt nur noch in dem Gedächtnis der Hinterbliebenen fortlebte. Diese Gedanken erhoben gerade nicht die Seele.

»Nichtsein!« das war der Inbegriff seines Wissens.


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