Hans Christian Andersen
Sein oder Nichtsein
Hans Christian Andersen

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Dritter Theil

I.

Die Kriegszeit. Die kleine Karen.

Wie im ganzen Lande so herrschte auch im Pfarrhause auf der Haide Angst und Besorgnis. Wie auf Sturmesflügeln eilten seit dem Ausbruche des Krieges bei Tag und Nacht die erschreckendsten Gerüchte durch Jütland. Man wußte von der Schlacht bei Schleswig, wußte, daß sich die dänische Hauptmacht nach Alsen zurückgezogen hatte und die Halbinsel deshalb vor den vordringenden feindlichen Heeren offen da lag. Das Gerücht ließ es nicht an Schreckbildern fehlen; es hieß, die Sträflinge wären in Rendsburg freigelassen und durchzögen nun Jütland sengend und brennend. Ein Eilbote folgte immer dem andern; die Pferde, die sie ritten, waren mit Schaum bedeckt und ihre Mäuler bluteten. Bald sollten mehrere Städte in Flammen stehen, bald wieder hieß es, daß sich alle, selbst die Frauen waffnen sollten; die Brücken müßten abgebrochen werden, der Feind würde kommen. Flüchtlinge aus dem Süden meldeten, daß die feindlichen Truppen vordrängen. Ein panischer Schrecken ergriff die meisten, doch der alte Japetus fand in der Bibel Trost. Immer wieder las er den 46. Psalm, wo es im 10. Verse heißt: »Der Herr ist's, der den Kriegen steuert in aller Welt, der den Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennet.«

Bodils Gedanken weilten bei ihrem Pflegebruder Niels Bryde, der lange, lange nicht geschrieben hatte. Sie wußte zwar, daß er im Kriege war, kannte aber nicht den Ort seines Aufenthalts. Sicherlich gedachte er ihrer, die nun bald in die Gewalt der Feinde fallen würden. Die Thränen traten ihr in die Augen, auch Mutter weinte und das Gesinde weinte, aber es war das Weinen der Angst, durch die Vorstellung von den Grausamkeiten hervorgerufen, die sich nun bald über sie hinwegwälzen würden. Sagen und alte Erinnerungen ans dem schwedischen Kriege, dessen Schauplatz Jütland vor zweihundert Jahren gewesen war und während dessen die polnischen Hilfstruppen, mit Kalmücken und Türken untermischt, eben so übel hausten wie der Feind, lebten wieder auf. Die Kanzeln wurden als Brennholz benutzt und die Geistlichen an ihren langen Bärten an Bäumen in die Höhe gezogen und todt geprügelt. Aber auch Trost schöpfte Bodil aus der Sagenwelt. Sie erinnerte sich der Geschichte von dem geängstigten kleinen Kreise, ebenfalls in einem Pfarrhause, in welchem man vor Anbruch der Nacht die Ankunft der Feinde erwartete. Sie erzählte sie und fand Beruhigung in den Worten des Liedes:

»Auch eine Mauer kann Gott um uns ziehen!«

Getröstet begaben sich die Bewohner des Pfarrhauses zur Ruhe; kein Laut drang zu ihnen; sie schliefen bis weit in den Tag hinein, der, wie es schien, gar nicht anbrechen wollte. Und doch ging endlich die Sonne auf, und ihre Strahlen fielen auf ein abgebranntes Dorf. Hohe Schneewehen hatten dem verheerenden Feinde den Pfarrhof nicht zu Gesicht kommen lassen. Gott hatte, wie die Worte des Liedes verkündeten, eine Mauer um sie gezogen.

General Wrangel legte den Jütländern eine Brandschatzung von vier Millionen auf. Es war unmöglich sie aufzubringen; ein Wunder hätte geschehen müssen, wenn sich Rettung zeigen sollte. Gott hätte wieder eine Mauer um die Jütländer ziehen müssen.

Die armen Menschen sannen und sannen nach; aber wie schwach sind doch der Menschen Gedanken gegen Gottes Gedanken!

Spät am Abende traf die fast unglaubliche Botschaft ein: »der Feind zieht sich südwärts; die preußischen Truppen sind durch einen unerwarteten Befehl plötzlich aus Jütland abberufen.« Eine neue Botschaft brachte die Bestätigung. – Was für ein Jubel! – »Gott lebt. Gott wacht noch!« Ja, ein Wunder schien geschehen zu sein. Aus aller Augen leuchtete Freude. Die Mädchen sangen und sprangen; nur ein einziges, die kleine Karen, die immer so nachdenklich aussah, sie, die jüngste von allen, war und blieb in ihrer traurigen Stimmung.

»Du mußt ebenfalls fröhlich sein!« sagte Bodil zu ihr. »Der Feind ist wieder aus dem Lande; was in der einen Stunde dunkel aussieht, kann Gott schon in der nächsten erhellen.«

»Ein solcher Glaube ist tröstlich,« entgegnete Karen schwermüthig.

Da ergriff Bodil ihre Hände und schaute ihr mild und theilnahmsvoll in die Augen. »Irgend etwas muß dein Gemüth bedrücken! – Hast du einen Freund, der mit ins Feld gezogen ist?«

»Ich habe keinen,« erwiderte Karen,

»Darf ich deinen Kummer erfahren?« fragte Bodil.

»Ich habe keinen,« antwortete das Mädchen, »ich stand nur da und dachte nach.«

Sonst erfüllte Heiterkeit alle Herzen im Pfarrhofe, aber nur zu bald sollte die Trauer wieder daselbst einkehren. In dem Dorfe Funder war ein Brief eingetroffen; dort wohnten ein Paar alte Leute, deren Sohn mit in das Feld gerückt und zu der Ambulanz abcommandirt worden war. Musikanten-Grethe, die bei dem Vorlesen des Briefes zugegen gewesen war, hatte ihn sich geliehen, um ihn dem Pfarrer mitzutheilen, denn es war darin von Niels Bryde die Rede, der sich ebenfalls im Kriege befände und ja Doctor und zugleich ein muthiger Kerl wäre. Der Brief erzählte den Einmarsch des dänischen Heeres in das Sundewit; dort hätte eine Schlacht stattgefunden, und in ihr wäre Niels Bryde gefallen oder dem Feinde in die Hände gerathen. Der Brief war den Morgen nach der Schlacht geschrieben, und damals stand wenigstens so viel fest, daß Niels Bryde nicht mit zurückgekehrt war. Er, nämlich der Briefschreiber, hätte während des Treffens zwischen der ersten und zweiten Schlachtreihe die Verwundeten verbunden; die Ambulanz hätte fortwährend Sterbende und mit Blut bedeckte Körper gesammelt und hinweggeschafft; bei dem Tumult, der dabei geherrscht, hätte man sich gegenseitig nicht genau im Auge behalten können.

Im ersten Augenblicke wurde Bodil durch diese Nachricht überwältigt, erschüttert und aus das schmerzlichste berührt; doch schon ihr nächster Gedanke war die Hoffnung, er lebe vielleicht noch, wenn er auch in Gefangenschaft gerathen. Jetzt stand ihr jede schöne und liebevolle Erinnerung aus der Zeit ihres Zusammenlebens auf dem Pfarrhofe wieder klar vor der Seele, und ihre Thränen flossen. Die kleine Karen stand neben ihr, und auch ihr Gemüth war nicht leichter; aber sie sagte nichts davon.

Eine Nachricht, wie die, welche der Brief in dieser Drangsalszeit brachte, müßten nach Bodils Ansicht ihre Eltern erfahren. Sonst vermied sie es stets, mit ihnen von Niels zu reden, da Vater dann jedesmal aus seiner Gemüthsruhe kam und Mutter in Thränen ausbrach. Sie gedachten seiner noch immer in Liebe, aber hier hieß es Härte gegen Härte. Er konnte und mußte doch als der Jüngere den ersten Schritt zur Annäherung thun. Jetzt würde er es vielleicht nie mehr können, da er todt oder gefangen war. – Sie brachte die traurige Nachricht. Im ersten Augenblicke fuhr der alte Japetus heftig auf, sein strenges Herz war doch tief erschüttert; aber bald saß er wieder still und in Gedanken versunken da – und sagte nur: »Möge Gott ihm gnädig sein!«

Die Ungewißheit, ob sich Niels noch unter den Lebenden befände oder welches Ende es mit ihm genommen hätte, thürmte sich wie Flugsand auf und wurde allen immer drückender. Seit langer Zeit war im Pfarrhause von dem Pflegesohne nicht so offen gesprochen worden wie jetzt. Seine Bestimmtheit und Tüchtigkeit, sein Wissen und seine Gelehrsamkeit wurde anerkennend hervorgehoben, und zwar im Wohnzimmer der alten Pfarrersleute wie draußen in der Gesindestube; manches Auge wurde feucht.

»Ist man todt, so ist es mit allem zu Ende!« sagte Karen, und auf diese Weise war sie also mit ihrer »Nachdenklichkeit« eben so weit gekommen wie Niels Bryde mit all seinem »Wissen«, als wir ihn ohnmächtig auf dem Schlachtfelde verließen. –

Was man auf dem Pfarrhofe bald in Erfahrung brachte, wollen wir hier mit wenigen Worten berichten; es stand, wie von Gott gesandt, strahlend und wahr auf dem Papiere.

Wir sahen Niels Bryde an jenem Abende, wie er sich zwischen der ersten und zweiten Schlachtreihe der Verwundeten und Gefallenen annahm. Als er an den Zaun getreten war, zog sich gerade das erste Treffen zurück und überließ seine Stelle dem zweiten. Eine feindliche Kugel traf ihn in die Brust, ging aber eine der Rippen entlang und fuhr wieder zum Rücken heraus. Das Anschlagen der Kugel brachte ihn so bedeutend ins Schwanken, daß er zwischen die Brombeerranken im Graben hinabstürzte und unter den dichten Haselnußbüschen liegen blieb. Es war schon finsterer Abend.

Vergessen, wie aus der Welt gestoßen, lag er hier; da geschah es, daß Lustig, dem er einst das Leben rettete, Vergeltung an ihm übte. Durch sein Springen und Heulen wurden in früher Morgenstunde dänische Soldaten daraus aufmerksam, daß hier jemand, lebendig oder todt, liegen müßte; sie eilten herbei, fanden ihn und brachten ihn ins Lazareth. Hier hatte er jetzt bereits länger als eine Woche gelegen und durch viele Gedankenwellen hindurch erhob sich in ihm wie eine frische, aus der Sehnsucht des Herzens hervorgesprudelte, aber abgeschnittene und in Folge zufälliger Stimmungen wieder fortgeworfene Blume die Lust, wieder einmal einige Worte an die Schwester daheim im Pfarrhause zu schreiben. Seit Jahr und Tag hatte sie keinen Brief von ihm erhalten. Jetzt, da er auf dem Krankenbette lag, war sie mit vielen alten Erinnerungen in seiner Seele wieder aufgetaucht; selbst in seinen Traumen trat sie so mild und so herzlich hervor. Sobald er deshalb zum ersten Male aufstehen durfte, schrieb er einige Worte, denen sie wenigstens entnehmen konnte, wo er sich befand und wie es ihm ginge.

Wie viel Sonnenschein vermag nicht ein kleines Stückchen Papier zu verbreiten! Bodil sollte es an sich erfahren. Der Tag der Trauer verwandelte sich in dem stillen einsamen Daheim auf der Haide in einen lichten, reichen Tag. »Brief, Brief!« rief sie laut. »Die Aufschrift ist von seiner Hand.« Sie zitterte, als sie das Siegel erbrach und schnell nach dem Datum und Abgangsorte blickte. Augustenburg stand da geschrieben, und der Brief war erst vor einigen Tagen von dort abgegangen. Schnell durchflog sie ihn und las ihn dann noch einmal, denn das erste Lesen war gleichsam nur ein Umhertappen, ein ungewisses Greifen nach dem Wiedergefundenen gewesen. »Ist es denn so? Ist es denn wirklich so?« Er lebte, wäre außer aller Gefahr und könnte vielleicht schon in wenigen Wochen wieder zu seinem Truppentheile zurückkehren, erzählte er in kurzen Worten.

Dieser Brief glich dem Ölblatte der Taube, glich einem Blatte des Lebens. Die Frau Pfarrer weinte und küßte Bodil, selbst Vater lächelte und nickte freundlich, ohne jedoch etwas zu äußern. Niels hatte vor dem Thore des Todes gestanden, allein es war ihm noch verschlossen geblieben; noch hatte seine Zeit in dieser irdischen Welt nicht ihr Ende erreicht.

»Noch kann er seinen alten Kindessinn, seinen Kinderglauben wieder erlangen!« dachte Bodil fast unwillkürlich und dankte frommen Herzens dem allgütigen Gott für die Freude dieses Tages, für seine Barmherzigkeit gegen ihren Pflegebruder so wie für die freundliche Gesinnung, die dieser ihr bewahrt, so daß er noch auf seinem Schmerzenslager ihrer gedacht hätte. Bodil war so fröhlich, daß alle an ihrer Freude Theil nehmen mußten. Musikanten-Grethe hatte um Niels geweint und getrauert, deshalb sollte sie nun auch in Bodils Jubel einstimmen dürfen.

Die kleine Karen befand sich gerade bei Musikanten-Grethe, als Bodil erschien und ihr die von Niels selbst an demselben Morgen erst erhaltenen Nachrichten mittheilte.

»Habe ich es nicht immer gesagt, daß er noch lebt!« rief Grethe, »und eben so fest glaube ich, daß ich ihn, diesen Herzensmann, der gegen mich altes Weib so gut war, noch mit diesen meinen Augen hier bei uns wieder sehen werde. Meine Harmonika hier erinnert mich unaufhörlich an ihn. Gott weiß, wohin in aller Welt sie ohne Herrn Niels Bryde gekommen wäre! Ach, er heißt ja wie jener Schütze in dem Märchen: Der Tummelplatz des Glücks! Möchte doch auch er eine Königstochter ober doch wenigstens ein Mädchen mit einem kleinen Rittergute bekommen!« Und nun plauderte sie bunt durcheinander von Niels und der Harmonika, von Kriegsgerüchten und Kriegsgefahren.

Bodil versprach, gelegentlich eine neue Harmonika zu kaufen und ihr zu schenken, weil ihrer jetzigen alten, wie Grethe selbst sagte, »der Athem so gut wie ausgegangen wäre,« obgleich sie unaufhörlich an ihr flickte und klebte. »Das verspreche ich dir zur Erinnerung an diesen Freudentag.«

Die alte Frau wurde über alle diese Güte ganz verlegen. Das wäre eine zu kostbare Gabe, sagte sie, und eine neue Harmonika könnte ja auch nie das werden, was ihr die alte wäre, mit der sie so viele Jahre zusammengelebt hatte. »Freilich, zu Festlichkeiten und Tanzvergnügungen ist ihr Klang jetzt nicht mehr laut genug; es ist, als ob sie heiser wäre, sie flüstert nur noch; aber ich, die ich sie kenne, vermag sie ganz gut zu verstehen.«

Sie wollte Bodil die Hand küssen; auch die kleine Karen blickte freundlich dem Auftritte zu, aber zu einem Lächeln kam es bei ihr doch nicht.

»Wie herrlich ist es, leichten und heiteren Sinnes zu sein!« rief Bodil und redete auf dem Rückwege zu Karen von Gottes Gnade gegen uns arme Menschen. Da brach das Mädchen in Thränen aus, ergriff Bodil beim Arme und seufzte laut.

»Gottes Gnade! Gottes Gnade!« wiederholte sie, »ich bin oft so elend, wie es ein Mensch nur immer sein kann!« Und von ihrem Vertrauen zu Bodil hingerissen, schüttete sie derselben ihr ganzes Herz aus. »Eine Sünde beschwert mein Herz,« sagte sie; »ich habe größere Pein erduldet, als Polizei und Strafe zufügen können, und trotzdem kommt es mir bisweilen vor, daß ich doch nicht so große Schuld habe, sondern daß alles ganz anders gegangen ist, als ich mir gedacht hatte, und daß mir Gott die Gnade nicht entziehen wird, von der Ihr vorher sprachet.« Und darauf erzählte sie: »Ich war nur ein Kind, nichts anderes, Kindermädchen, wie sie es nannten, dort drüben bei dem Amtsrichter, der damals eben so wie seine Frau noch jung war. Aus Kopenhagen erhielten sie viele Fremde zum Besuch; einer unter ihnen war ein junger Herr, der zeichnete und große Bilder machte. Alle Schubladen und Behälter ließ er offen stehen; seine Uhr und seine goldenen Ringe ließ er auf dem Tische liegen, während er überall umherlief. Er verstand mit der Scheere so kunstreich Bilder auszuschneiden, daß selbst die junge Frau des Amtsrichters ihre Freude an ihnen hatte. Viele solcher Bilder lagen stets auf seinem Tische, und als ich eines Tages gewahrte, daß die Thüre seines Zimmers weit offen stand, trat ich hinein, blos um mir das Ausgeschnittene und seine Gemälde anzusehen. Da lag allerlei umher und namentlich ein allerliebster Ring. Ich konnte mich dessen nicht enthalten, ihn aufzuprobiren, aber er war zu groß und paßte mir nur auf den Daumen, doch auf ihm blieb er fest sitzen. In demselben Augenblicke kam der Maler herein und ich lief fort, indem ich ihm vorlog, der Zugwind hätte seine ausgeschnittenen Bilder vom Tische hinabgeweht. Er schaute mich mit solch wunderbar süßen Augen an, als ob er mich verführen wollte. Vielleicht thue ich ihm darin Unrecht, aber ich lief fort – und der Ring saß noch immer auf meinem Daumen. Unten hörte ich, es wäre im Hause Geld fortgekommen, sie redeten von Dieben und Diebereien. Angst erfaßte mich, die ich fremdes Gut an mir trug. Ängstlich wartete ich auf die Minute, bis er wieder aus seinem Zimmer herunter kommen würde. Mir war es, als ob er in die nebenan liegende Wohnstube einträte, und ich eilte sofort hinauf, um den Ring wieder hinzulegen. Allein ich hatte mich geirrt, er war noch nicht unten, sondern kam mir oben auf der Treppe entgegen. Aber von dem Treppenabsatz aus gelangte man in eine kleine Kammer, in welcher der arme Flickschneider, der bei uns gerade in Arbeit stand, sein Nachtquartier hatte. Die Thüre stand angelehnt, und ich sprang hinein. Das Kämmerchen gewahrte nur den für das Bett und den Kasten des Schneiders ausreichenden Raum. Der Anblick, des Kopenhagener Herrn und meine Gewissensvorwürfe setzten mich in große Angst, obgleich ich den Ring doch gar nicht in der Absicht, ihn zu behalten, auf den Finger gesteckt hatte. Mitten in der Kammer lagen ein Paar Strümpfe auf dem Fußboden. Ich mußte mir doch etwas in der Kammer zu schaffen machen, und ohne bestimmte Absicht hob ich die Strümpfe auf, steckte die Hand in den einen hinein, wendete ihn um, und der Maler, der mir nachgeschlichen, redete mich in sehr galanten Ausdrucken an. Ich bebte am ganzen Körper und bemerkte, daß er darüber lächelte. In demselben Augenblicke kam die Frau Amtsrichter herein und fragte, was ich dort zu suchen hätte. Ich gab vor aufgeräumt zu haben und eilte zu dem Kinde hinab. Bei dem allen war mir jedoch der Ring vom Finger geglitten und in den Strumpf des Schneiders gefallen. Während ich unten im Kinderzimmer saß, wurde das ganze Haus nach dem verschwundenen Gelde durchsucht. Es war und blieb verschwunden, allein in dem Strumpfe des Schneiders, der wahrscheinlich unmittelbar nach mir in seinem Zimmer aufgeräumt und die Strümpfe in seinen Katen gelegt hatte, wurde der Ring gefunden. Der Schneider wurde deshalb für den Dieb gehalten und verhört, und ich, ich Sünderin wurde von Schrecken ergriffen und wagte nicht zu gestehen, wie sich die Sache verhielt. Ich war ein Kind, ein sündhaftes, unglückseliges Kind. Der arme Schneider verlor darüber den Verstand, kam in die Irrenanstalt, und ich, ich weiß selber nicht, wie es zugeht, ich habe erst jetzt gewagt, meine Sünde und mein Elend auszusprechen.« So war denn endlich, wenn auch zu spät, das Räthsel gelöst! Die Sphinx des Wahnsinnes, die wie ein Alp auf dem armen Flickschneider lagerte, wurde durch das erlösende Wort nicht mehr gebannt.

»Ich nehme mir nicht heraus, dein Richter zu sein,« sagte Bodil; »aber Gott ist gnädig; unsere aufrichtige Reue legt er mit in die Wagschale.« Darauf schwieg sie. Die auflodernde Freude, mit der sie der Brief des Pflegebruders erfüllt hatte, war durch den Kummer und das Bekenntnis der kleinen Karen wie weggeweht. Die rechten Trostworte, die sie ihr hätte sagen sollen und müssen, fielen ihr nicht ein. Beide waren aus dem Wege stehen geblieben; von Kummer überwältigt sank die kleine Karen zu Boden.

»Ach, läge doch mein Kopf auf dem Schaffot!« schluchzte sie, »dann hätte ich meine Sünde gebüßt! Der Tag des Gerichts ist nicht erst am Ende aller Dinge; nein, ich fühle seine Schrecken alle Tage und alle Nächte, wenn ich meiner Sünde gedenke.«

Bodil ergriff sie bei der Hand und tröstete sie mit dem Schriftworte: »Der Herr handelt nicht mit uns nach unseren Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Missethat; denn so hoch der Himmel über der Erde ist, läßt er seine Gnade walten über die, so ihn fürchten.« Psalm 103, 10-11

Still und einsam war es auf der Haide, aber nicht still und einsam war es in den Herzen derer, die dort wohnten.

Und von dem Pfarrhause auf der Haide flog die Brieftaube nach dem Schloß Augustenburg, das ebenfalls ein Schlachtfeld war, auf dem Tod und Leben mit einander kämpften. Doch gesunden Leibes und heitern Sinnes verließ Niels Bryde das Schloß, und bald war der Feldzug des ersten Jahres beendet und Waffenstillstand geschlossen; die dänischen Truppen bezogen Winterquartiere, meistens in Jütland. Dort hinauf kam Niels Bryde, wie Bodil gehofft hatte, jedoch nicht. Vielleicht würde er indessen die fröhliche Weihnachtszeit im Pfarrhause zubringen können, und dann würde sicherlich auch der letzte Groll aus aller Herzen schwinden. Aber leider geschah auch dies nicht, er mußte auf Alsen bleiben. Zum zweiten Male floh die weiße Brieftaube aus, als die Schneeflocken dicht vom Himmel hernieder fielen oder, wie man zu sagen pflegt, die weißen Bienen schwärmten und die Mägde und Burschen dasaßen und wollene Strümpfe strickten. Die Gelehrtesten lasen aus alten Zeitungen die Kriegserlebnisse vor und sangen den »Tapferen Landsoldaten«, oder »Burschen, zu Schiff!« oder »Die Osterglocken läuten«. In diesen Vaterlandsliedern lag der Gedanke eines ganzen Volkes, und schwere, lange Jahre eines ganzen Landes.

Mit sanfterer Trauer und mit dem Lächeln der Wehmuth saß die kleine Karen daneben und hörte zu. Durch ihre Beichte war ihr Herz erleichtert. Der Pfarrer, ja der Amtsrichter selbst kannten ihr Vergehen und ihre Gedanken dabei; strenge Worte, wie sie die Gerechtigkeit verlangte waren gesprochen, aber auch Worte des Trostes und der Gnade. Auch Musikanten-Grete hörte zu mit einer neuen Harmonika in der Hand, welche Bodil ihrem Versprechen gemäß von einem Kaufmann in Aarhuus bezog hatte, und Grete verstand die Melodie jedes Liedes nach dem Gehöre nachzuspielen. Zuerst ging es allerdings langsam, manchmal mußte sie zu Hause erst lange probiren, aber zuletzt lernt das Instrument doch »richtig plaudern«, das heißt reine Töne hervorbringen, und dann erklangen die Melodien im Pfarrhause.

»Ja, drohte mir hier nicht Gefahr,
so blieb ich gern bei dir!«

Wann aber war die Gefahr denn vorbei? Was barg das neue Jahr wohl in seinem Schooße?

Den dritten April 1849 war der Waffenstillstand abgelaufen. Gerüchte der Angst erschienen gleichzeitig mit den Vögeln des Frühlings, mit dem Fluge des Windes – –

Format Von Süden kommt die Lerche angeflogen
Und bringet mit so wunderliche Mär'.

Der Kibitz kommet mit zerzaustem Fittich,
Und traurig sitzt sein Weiblein neben ihm.

In eil'gem Fluge kommt der Storch herbei,
Und seine Beine sind so blutig roth.

»Ach, könnt' ich sagen, was ich hab' gehört,
Ihr säßet nimmer da so stumpf und todt.
Erheb' dich, Bauer, von der vollen Schüssel!
Der Feind setzt schon den Fuß auf deinen Strand.«
Ei ja! ei ja! Hör' nur, so ruft der Storch. Dieses echt dichterische Lied ist, wie wir erfahren, von Henriette Nielsen, der Verfasserin des Lustspiels »Die Verwandten« und der prächtigen Erzählung aus der Kriegszeit »Dorthe«.

Wie in unserer Jugendzeit, in der der elektromagnetische Telegraph noch unbekannt war und nur das Spiel der schwarzen Bretter die schnelle, stumme Sprache des Telegraphen bildete, so erschien auch hier jede Nachricht auf kohlschwarzem Grunde.

In Eckernförde wurde wie ein zwischen Sandbänken gefangener Walfisch das dänische Linienschiff harpunirt. Viele dänische Matrosen begleiteten da den Admiral Hvitfeld auf seinem Wege nach dem Himmel. Auf den Düppeler Höhen fand ein Kampf statt, und bald wurde die offene Stadt Kolding in Brand geschossen. Unter einem Regen von Kugeln und Kartätschen lagen ringsumher Verwundete und Verstümmelte. Schrecken erregend verbreitete sich das Gerücht hiervon so wie die Bestätigung desselben über die sonst so einsame Haide. Die Einsamkeit hatte jetzt aufgehört, die stillen Tage daselbst waren dahin; eine eigenthümliche Unruhe und aufregende Angst hatte alle ergriffen. Eine Botschaft nach der andren traf ein; es wurde gemeldet, daß die Reichsarmee in Jütland vordränge, und General Rye den Rückzug angetreten hätte.

In Dörfern und Gütern, auch hier in der Wald- und Haidegegend, dachte jeder nur daran, sein bestes Eigenthum fortzuschaffen oder zu verstecken. Im Pfarrhause wurde alles Silberzeug zusammengesucht, selbst die bekannte Riechbüchse wurde hinzugefügt; an den knorrigen Weidenbäumen außerhalb des Gartens wurde von Bodil und der kleinen Karen für dasselbe eine große Grube gegraben. In dem Silkeborger Walde zeigten sich bereits feindliche Truppen. Flüchtlinge, die diese Nachricht mitbrachten, eilten an dem Pfarrhofe vorüber; mit Betten und kupfernen Kesseln vor sich auf den Pferden jagten sie immer nach Westen zu.

Schon waren die Bayern in Silkeborg. Von der Tann saß am Frühstückstische in dem unten am Langsee gelegenen neuen Hause des Fabrikherrn Drewsens, und der Feind war bis Aarhuus hinauf vorgedrungen. Bei Nörresnede, dem Dorfe unweit der Hühnengräber des Königs Snio und seiner Gemahlin, hatten die Dänen die Kurhessen überrumpelt. Man wußte von allem und mehr als von allem; es war, als führte die Luft die Nachrichten mit sich, als zwitscherten die Vögel sie aus, als hallten sie in den fallenden Regentropfen wieder. Die Schrecken des Krieges lagen in der Zeit und in den Gedanken; die Erde selbst schien zu erbeben, sie pflanzte den Kanonendonner fort; die Erde sprach dröhnend vom Kampfe, die Luft sprach zitternd von ihm. Kein Brief lief mehr von der Außenwelt ein. Wo war Niels? Wie ging es den Dänen?

»In Gottes Hand steht alles Glück!«

Niels Bryde befand sich ebenfalls in Jütland, nämlich in dem belagerten Fredericia; aber im Pfarrhause war davon nichts bekannt geworden. Der Krieg bildete freilich auch dort den hauptsächlichsten Gesprächsgegenstand; selbst auf der Kanzel wurde in den Gebeten seiner gedacht. Es waren Tage, in denen eben das Herz wieder mit Sehnsucht nach seinem Gotte fragte, in denen nur der Glaube Hoffnung und Rettung gewährte.

Draußen in der großen Natur ging alles seinen gewohnten, fröhlichen Gang. Der kräftig duftende Ginster stand in Blüte und wurde von der fleißigen Biene umschwärmt; förmliche Fischbänke hatten sich in den Bächen gebildet, und die wilde Ente dachte weder an Jäger noch an Schuß. Nur durch des Menschen Herz und Gedanken gingen die schweren Tage der Prüfung. Allein auch sie hätten ihren Segen, sagte der alte Pfarrer und sprach dann davon, wie im ganzen Volke Holger Danske wieder erwacht, alle die kleinen, engherzigen Fäden zerrissen wären, und nur ein Gedanke: Einigkeit in Liebe zum Vaterlande, alle erhöbe. Alles Kleinliche wäre verschwunden; große und schöne Thaten leuchteten weithin, und dem Menschenverstande predigte wieder einmal der Kampf und die Bewegung der Zeit, daß nur Gott allein walte.

In aufrichtiger und zärtlicher Liebe gedachte Bodil des Bruders, wo er auch sein mochte; diese Jahre und Tage betrachtete sie als eine Glaubensschule für ihn. Auf dem Schlachtfelde wie im Lazarethe, überall wo eine Seele in vollem Bewußtsein dahinschied, müßte sich ihm in der größten Stunde des Ernstes der Glaube an ein ewiges Leben in Jesu Christo, unserm Herrn, aufdrängen. Der leichte Sinn der Jugend und ihr Spiel mit dem Heiligen würde verdunsten. Durch diese schweren Tage würde der Bruder zur Erkenntnis kommen; Gott würde seine Gnade über ihm leuchten lassen.

Fredericia hatte eine lange Belagerung ausgehalten; einzelne Häuser und ganze Straßen waren in einen Aschenhaufen gesunken, Menschen waren verstümmelt und getödtet. Mit einem Male erklang die Nachricht von der gewonnenen Schlacht durch das ganze Land.

»Der Siegesengel flog über das Land
Mit Jubelgesang über dänischen Muth;
Er sang von herrlicher Waffenthat,
Doch seine Flügel tropften von Blut.« Ingermann

Im Pfarrhause langte ein Brief von Niels Bryde an; nicht an Bodil, sondern an den Vater selbst war er gerichtet, und die Schwester war darüber aufrichtig froh; es war ja ein Schritt der Annäherung, der erste. In wenigen Worten erzählte er den theuererkauften, herrlichen Sieg; aber General Rye war gefallen; tapfere Männer hatten mit ihrem Leben und Blut den Weg dazu gebahnt, daß Dänemark, durch Muth und Einigkeit gestärkt, wieder festen Fuß auf seinem rechtmäßigen Grund und Boden gefaßt hatte. Bald drang nach dem Pfarrhofe auch das Gerücht von Friedensunterhandlungen; nun konnte man vielleicht auch Niels Bryde erwarten, um, wenn auch nur wenige Tage, wieder in der Heimat zu weilen. Waffenstillstand wurde geschlossen, aber Niels kam nicht; sein Truppentheil bezog auf der Insel Fünen Winterquartiere. Wir folgen ihm dorthin nicht, wir begleiten ihn nicht einmal während des dritten Feldzuges; wir bleiben auf der Haide bei Bodil und vernehmen mit ihr die Ankunft der Schweden, die in Schleswig ein Bollwerk gegen das Vordringen des Feindes bilden sollten; wir vernehmen ihren Wiederabzug und hören von dem Bivouakleben der dänischen Truppen südlich von Flensburg. Herr Schött von Silkeborg erzählt davon; gleich vielen anderen Landsleuten hatte er die Soldaten besucht, mit Niels Bryde gesprochen und in dem lustigen Sommerlager, wie er es nannte, mit ihm zusammen gesessen. Eine ganze Stadt mit Straßen, nach den Kopenhagener Straßen benannt, war aus Erdhütten, die im Schmucke grüner Zweige dastanden, errichtet. Lustig wehte überall der Danebrog, es war eine herrliche Sommerzeit, die Nächte waren hell, und der Gesang wohlgeübter Stimmen erklang im ganzen Lager. Dort hätte sich der Krieg ganz lustig ausgenommen, sagte Herr Schött, und seine Erzählung rief in der alten Pfarrersleute wie in Bodils Herzen freundliche Bilder hervor. Sie erblickte ein Sommerbild vom Kriege, wie sie es sich früher nie vorgestellt hatte. Sie sah, wie der dänische Soldat den frischen Buchenzweig schwang, sah den »Wald von Birnam« vorwärts schreiten, und empfand auf das tiefste, was der greise Dichter Grundtvig von Dänemarks Löwen auf goldenem Grunde sang.

Die Schlacht bei Idstedt war gewonnen; wie ein flammender Scheiterhaufen beleuchtete Friedrichsstadt den Sieg. Das Geläut der Kirchenglocken war der Klang des Friedens. Über das ganze Land schallte es hin:

»Er hielt, der tapfre Landsoldat,
was er versprochen! Hurrah!«

Der Soldat allein war jetzt der jubelnde Gedanke des Volkes, des Augenblicks. Ehrenpforten wurden gebaut; der früher für so unbedeutend angesehene Soldat war mit einem Male in aller Augen zu einem Helden geworden, – er wußte es selbst nicht.

Nach drei prüfungsvollen Lebensjahren kehrte Niels Bryde wieder nach Kopenhagen zurück. Drei verhängnisvolle Jahre hatten sein Innerstes erschüttert, hatten ihn gehoben und entwickelt. Eine Schule des Geistes waren sie ihm gewesen und hatten ihn weiter geführt – wohin wohl?

Wir wollen ihn begleiten, wie Bodils Gedanken ihn drei lange, schwere Jahre lang begleitet hatten, drei Jahre lang, in denen der Ginster und das Haidekraut frisch und lieblich blühte und alle Vögel des Waldes fröhlich sangen, während der Mensch allein bedrückt und überwältigt einherging und sich doch wie Antäns bei jedem Schlag zu Boden wieder mit erneuter und erhöhter Kraft erhob, mit der aus Gott geborenen Kraft.

In der kleinen Dorfkirche hielt der Pfarrer ein Dankgebet für den erfochtenen Sieg und Frieden; noch einmal dankte Bodil in ihrem Kämmerlein Gott, dem Herrn, ihm, dem persönlichen Gotte, der ihr nahe war und ein Auge für sie und ein Ohr für ihr Flehen hatte. Sie betete für jeden, der seine verlorenen Lieben betrauerte, betete für jeden, der auf dem Schmerzenslager stöhnte; sie dachte an Gottes unendliche Gnade und den Segen des Friedens, dachte an Niels Bryde und daran, wie es jetzt wohl in ihm aussehen möchte. Jetzt wäre sicherlich der jugendliche Übermuth, der neckende Scherz, die allzu ernste Verständigkeit geläutert und vernichtet! Ihre Sehnsucht nach ihm war groß; sie weinte in ihrer Freude, sie lächelte in ihrer Trauer, – und wir wollen mit ihren Gedanken ihn in Kopenhagen und in einem neuen Lebensabschnitte aufsuchen.


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