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Der Engel.

Illustration: Hutschenreuter/Petersen

»Jedes Mal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel Gottes zur Erde hernieder, nimmt das todte Kind auf seine Arme, breitet die großen, weißen Flügel aus, fliegt hin über alle Plätze, welche das Kind lieb gehabt hat, und pflückt eine Hand voll Blumen, welche er zu Gott hinaufbringt, damit sie dort noch schöner wie auf der Erde blühen. Der liebe Gott drückt alle Blumen an sein Herz, aber derjenigen Blume, welche ihm die liebste ist, giebt er einen Kuß, und dann bekommt sie eine Stimme und kann in der großen Glückseligkeit mitsingen!«

Sieh, alles Dieses erzählte ein Engel Gottes, indem er ein todtes Kind zum Himmel forttrug, und das Kind hörte gleichwie im Traume; und sie fuhren hin über die Stätten in der Heimath, wo der Kleine gespielt hatte, und kamen durch Gärten mit herrlichen Blumen.

»Welche wollen wir nun mitnehmen und in den Himmel pflanzen?« fragte der Engel.

Da stand ein schlanker, herrlicher Rosenstock, aber eine böse Hand hatte den Stamm zerbrochen, so daß alle Zweige, voll großer, halbaufgebrochener Knospen, rund herum vertrocknet, hingen.

»Der arme Rosenstock!« sagte das Kind. »Nimm ihn, damit er dort oben bei Gott zum Blühen kommt!«

Und der Engel nahm ihn, küßte das Kind dafür, und der Kleine öffnete halb seine Augen. Sie pflückten von den reichen Prachtblumen, nahmen aber auch die verachtete Butterblume und das wilde Stiefmütterchen mit.

»Nun haben wir Blumen!« sagte das Kind, und der Engel nickte, aber er flog noch nicht zu Gott empor. Es war Nacht, es war sehr still; sie blieben in der großen Stadt und schwebten in einer der schmalen Gassen, umher, wo Haufen von Stroh, Asche und Auskehricht lagen; es war Umziehtag gewesen. Da lagen Scherben von Tellern, Gypsstücke, Lumpen und alte Hüte, was Alles nicht gut aussah.

Der Engel zeigte in all diesen Wirrwar hinunter auf einige Scherben eines Blumentopfes und auf einen Klumpen Erde, der herausgefallen war und von den Wurzeln einer großen, vertrockneten Feldblume, welche nichts taugte und die man deshalb auf die Gasse geworfen hatte, zusammengehalten wurde.

»Die nehmen wir mit!« sagte der Engel. »Ich werde Dir erzählen warum, während wir weiter fliegen!«

»Dort unten in der schmalen Gasse, in dem niedrigen Keller wohnte ein armer, kranker Knabe; von Kindheit an war er immer bettlägerig gewesen; wenn er am gesundesten war, konnte er auf Krücken in der kleinen Stube ein paar Mal auf und nieder gehen: das war Alles. An einigen Tagen im Sommer drangen die Sonnenstrahlen während einer halben Stunde bis auf den Flur des Kellers; und wenn dann der arme Knabe dasaß und sich von der warmen Sonne bescheinen ließ, und das rothe Blut durch seine feinen Finger sah, die er vor das Antlitz hielt, dann hieß es: »»Heute ist er aus gewesen!«« – Er kannte den Wald mit seinem herrlichen Frühlingsgrün nur dadurch, daß ihm des Nachbars Sohn den ersten Buchenzweig brachte, den hielt er über sein Haupt und träumte dann, unter Buchen zu sein, wo die Sonne schiene und die Vögel sängen. An einem Frühlingstage brachte ihm des Nachbars Knabe auch Feldblumen, unter diesen war zufällig eine mit der Wurzel, und deshalb wurde sie in einen Blumentopf gepflanzt und dicht am Bette an das Fenster gestellt. Die Blume war von einer glücklichen Hand gepflanzt: sie wuchs, trieb neue Schößlinge und trug jedes Jahr ihre Blumen. Sie wurde des kranken Knaben herrlichster Blumengarten, sein kleiner Schatz hier auf Erden; er begoß und pflegte sie, und sorgte dafür, daß sie jeden Sonnenstrahl bis zum letzten, welcher durch das niedrige Fenster hinunter glitt, erhielt; und die Blume selbst verwuchs in seine Träume, denn für ihn blühte sie, verbreitete ihren Duft und erfreute ihm das Auge; zu ihr wendete er sich im Tode, als der Herr ihn rief. – Ein Jahr ist er nun bei Gott gewesen; ein Jahr hat die Blume vergessen im Fenster gestanden und ist verdorrt; sie wurde deshalb beim Umziehen in den Kehricht hinaus auf die Straße geworfen. Und dies ist die Blume, die arme, vertrocknete Blume, welche wir mit in unsern Blumenstrauß genommen haben; denn diese Blume hat mehr Freude gewährt als die reichste Blume im Garten einer Königin!«

»Aber woher weißt Du das Alles?« fragte das Kind, welches der Engel gen Himmel trug.

»Ich weiß es!« sagte der Engel. »Denn ich war selbst der kleine, kranke Knabe, welcher auf Krücken ging! Meine Blume kenne ich wohl!«

Das Kind öffnete seine Augen ganz und sah in des Engels herrliches, frohes Antlitz hinein; und in demselben Augenblicke befanden sie sich in Gottes Himmel, wo Freude und Seligkeit war. Und Gott drückte das tobte Kind an sein Herz, da bekam es Flügel, wie der andere Engel und flog Hand in Hand mit ihm. Und Gott drückte alle Blumen an sein Herz; aber die arme, verdorrte Feldblume küßte er; und sie erhielt eine Stimme und sang mit allen Engeln, welche Gott umschwebten: einige nahe, andere um sie herum in großen Kreisen, immer weiter und weiter, in das Unendliche, aber alle gleich glücklich. Und alle sangen sie, kleine und große, das gute, gesegnete Kind und die arme Feldblume, welche verdorrt dagelegen hatte, hingeworfen in den Kehricht, unter dem Unrathe des Umziehtages, in der schmalen, dunkeln Gasse.


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