Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Geschichte von einer Mutter.

Eine Mutter saß bei ihrem kleinen Kinde: sie war sehr betrübt und fürchtete, daß es sterben möchte. Sein Gesichtchen war bleich, die kleinen Augen hatten sich geschlossen. Das Kind holte schwer und zuweilen so tief Athem, als wenn es seufzte; und die Mutter sah noch trauriger auf das kleine Wesen.

Da klopfte es an die Thüre, und ein armer, alter Mann trat ein, der in eine große Pferdedecke gehüllt war, denn die hält warm, und das hatte er nöthig; es war ja kalter Winter. Draußen war Alles mit Eis und Schnee bedeckt, und der Wind blies so scharf, daß er in's Gesicht schnitt.

Da der alte Mann vor Kälte zitterte und das kleine Kind einen Augenblick schlief, ging die Mutter und setzte Bier in einem kleinen Topfe in den Ofen, um es für ihn zu wärmen. Der alte Mann setzte sich und wiegte, und die Mutter setzte sich auf einen alten Stuhl neben ihn, sah auf ihr krankes Kind, das so tief Athem holte, und erfaßte die kleine Hand.

»Nicht wahr, Du glaubst doch auch, daß ich es behalten werde?« fragte sie. »Der liebe Gott wird es nicht von mir nehmen!«

Der alte Mann – er war der Tod – nickte so sonderbar, daß es ebenso gut Ja, wie Nein bedeuten konnte. Die Mutter aber schlug die Augen nieder, und Thränen rollten ihr die Wangen herab. – Der Kopf wurde ihr schwer; in drei Tagen und drei Nächten hatte sie kein Auge geschlossen; und nun schlief sie, aber nur eine Minute; dann fuhr sie auf und bebte vor Kälte. Was ist das? fragte sie und sah sich nach allen Seiten um: Aber der alte Mann war fort, und ihr kleines Kind war fort: er hatte es mit sich genommen. Dort in der Ecke schnurrte und surrte die alte Uhr; das schwere Bleigewicht lief bis auf den Fußboden herab – plumps! – da stand die Uhr still.

Die arme Mutter stürzte zum Hause hinaus und rief nach ihrem Kinde.

Draußen, mitten im Schnee, saß eine Frau in langen, schwarzen Kleidern und sprach: »Der Tod ist bei Dir in Deiner Stube gewesen; ich sah ihn mit Deinem kleinen Kinde davon eilen; er schreitet schneller als der Wind, und bringt niemals zurück, was er genommen hat!«

»Sage mir blos, welchen Weg er gegangen ist!« sagte die Mutter. »Sage mir den Weg, und ich werde ihn finden.«

»Ich kenne ihn,« sagte die Frau in den schwarzen Kleidern; »aber bevor ich ihn Dir sage, mußt Du mir erst alle die Lieder vorsingen, die Du Deinem Kinde vorgesungen hast. Ich liebe diese Lieder; ich habe sie früher gehört; ich bin die Nacht und sah Deine Thränen, als Du sie sangst.«

»Ich will sie alle, alle singen!« sagte die Mutter. »Aber halte mich nicht auf, damit ich ihn einholen, damit ich mein Kind wiederfinden kann!«

Aber die Nacht saß stumm und still. Da rang die Mutter die Hände, sang und weinte. Und es gab viele Lieder, aber noch mehr Thränen! Dann sagte die Nacht: »Geh' rechts in den düstern Fichtenwald hinein; dahin sah ich den Tod mit dem kleinen Kinde den Weg nehmen.«

Tief drinnen im Walde kreuzte sich der Weg, und sie wußte nicht mehr, welche Richtung sie einschlagen sollte. Da stand ein Schwarzdornbusch, der hatte weder Blätter noch Blumen; aber es war ja auch um die kalte Winterzeit, und Eiszapfen hingen an den Zweigen.

»Hast Du den Tod mit meinem kleinen Kinde vorbeigehen sehen?«

»Ja!« sagte der Schwarzdornbusch; »aber ich sage Dir nicht, welchen Weg er genommen hat, wenn Du mich nicht zuvor an Deinem Busen erwärmen willst! Ich friere hier todt, ich werde zu lauter Eis!«

Und sie drückte den Schwarzdornbusch fest an ihre Brust, damit er recht aufthauen könne. Die Dornen drangen in ihr Fleisch ein und ihr Blut floß in großen Tropfen. Aber der Schwarzdornbusch schoß frische, grüne Blätter und bekam Blüthen in der kalten Winternacht; so warm ist es an dem Herzen einer betrübten Mutter! Der Schwarzdornbusch sagte ihr darauf den Weg, den sie gehen sollte.

Da kam sie an einen großen See, auf dem sich weder Schiff noch Kahn befand. Der See war nicht genug gefroren, um sie tragen, und auch nicht offen und flach genug, um durchwatet werden zu können – und doch mußte sie über denselben, wollte sie ihr Kind finden. Da legte sie sich nieder, um den See auszutrinken; das war ja unmöglich für einen Menschen. Aber die betrübte Mutter dachte, daß vielleicht ein Wunder geschehen könnte.

»Nein, das wird niemals gehen!« sagte der See. »Laß uns Beide lieber sehen, daß wir einig werden! Ich liebe es, Perlen zu sammeln, und Deine Augen sind zwei der klarsten, die ich je gesehen: willst Du sie in mich ausweinen, dann will ich Dich nach dem großen Treibhause hinüber tragen, wo der Tod wohnt und Blumen und Bäume pflegt; jeder von diesen ist ein Menschenleben.«

»O, was gebe ich nicht, um zu meinem Kinde zu kommen!« sagte die verweinte Mutter. Sie weinte noch mehr, und ihre Augen fielen auf den Grund des Sees hinab und wurden zwei kostbare Perlen. Aber der See hob sie in die Höhe, als säße sie in einer Schaukel, und in einer Schwingung flog sie an das jenseitige Ufer, wo ein meilenlanges wunderbares Haus stand. Man wußte nicht, ob es ein Berg mit Wäldern und Höhlen, oder ob es gezimmert war. Aber die arme Mutter konnte es nicht sehen: sie hatte ja ihre Augen ausgeweint.

»Wo werde ich den Tod finden, der mit meinem kleinen Kinde davon ging?« fragte sie.

»Hier ist er noch nicht angekommen!« sagte ein altes graues Weib, das dort umherging und auf das Treibhaus des Todes Achtung geben mußte. »Wie hast Du Dich denn hierher gefunden, und wer hat Dir geholfen?«

»Der liebe Gott hat mir geholfen!« antwortete sie. »Er ist barmherzig, und das wirst Du auch sein. Wo werde ich mein kleines Kind finden?«

»Ich kenne es nicht,« sagte das alte Weib, »und Du kannst ja nicht sehen! – Viele Blumen und Bäume sind diese Nacht verwelkt, der Tod wird bald kommen, um sie umzupflanzen. Du weißt es wohl, daß jeder Mensch seinen Lebensbaum oder seine Lebensblume hat, wie gerade ein jeder eingerichtet ist. Sie sehen aus, wie andere Gewächse, aber ihre Herzen schlagen. Kinderherzen können auch schlagen! Darnach richte Dich, vielleicht erkennst Du den Herzschlag Deines Kindes. Aber was giebst Du mir, wenn ich Dir sage, was Du noch mehr thun mußt?«

»Ich habe nichts zu geben,« sagte die betrübte Mutter. »Aber ich will für Dich bis ans Ende der Welt gehen.«

»Da habe ich nichts zu besorgen,« sagte das alte Weib; »aber Du kannst mir Dein langes, schwarzes Haar geben; Du weißt wohl selbst, daß es schon ist; das gefällt mir! Du kannst mein weißes dafür bekommen; das ist doch immer etwas!«

»Verlangst Du weiter nichts!« sagte sie. »Das gebe ich Dir mit. Freuden!« Und sie gab ihr ihr schönes Haar und erhielt dafür das schneeweiße des alten Weibes.

Dann gingen sie in das große Treibhaus des Todes, wo Blumen und Bäume wunderbar durcheinander wuchsen. Da standen seine Hyacinthen unter Glasglocken, und große, baumstarke Pfingstrosen. Da wuchsen Wasserpflanzen, einige ganz frisch, andere halb krank; Wasserschlangen legten sich auf sie, und schwarze Krebse klemmten sich am Stengel fest. Da standen prächtige Palmenbäume, Eichen und Platanen, Petersilie und blühender Thymian. Alle Bäume und Blumen hatten ihre Namen; sie waren Jeder ein Menschenleben; die Menschen lebten noch, der eine in China, der andere in Grönland, rund umher in der Welt. Da waren große Bäume in kleinen Töpfen, sodaß sie beengt dastanden und nahe daran waren, den Topf zu sprengen; es war auch manche kleine schwächliche Blume da in fetter Erde, mit Moos ringsum, und gewartet und gepflegt. Aber die betrübte Mutter beugte sich über alle die kleinsten Pflanzen hin, sie hörte in jeder das Menschenherz schlagen, und aus Millionen erkannte sie das ihres Kindes heraus.

»Da ist es!« rief sie und streckte die Hand über eine kleine Krokusblume aus, die krank nach einer Seite hinüber hing.

»Rühre die Blume nicht an!« sagte das alte Weib. »Aber stelle Dich hierher, und wenn dann der Tod kommt – ich erwarte ihn jeden Augenblick – da laß ihn die Pflanze nicht herausreißen, sondern drohe ihm, daß Du dasselbe mit den andern Blumen thun würdest: dann wird ihm bange! Er muß dem lieben Gotte dafür einstehen; keine darf herausgerissen werden, bevor der die Erlaubniß dazu giebt!«

Da sauste es mit einem Male eiskalt durch den Saal, und die blinde Mutter fühlte, daß es der Tod war, der nun ankam.

»Wie hast Du den Weg hierher finden können?« fragte er. »Wie hast Du schneller hierher kommen können, wie ich?«

»Ich bin eine Mutter!« antwortete sie.

Der Tod streckte seine lange Hand nach der kleinen feinen Blume aus; aber sie hielt ihre Hände fest um dieselbe, hielt sie dicht umschlossen, und dennoch voll ängstlicher Sorgfalt, daß sie keins der Blätter berühre. Da hauchte der Tod auf ihre Hände, und sie fühlte, daß dies kälter war, als der kalte Wind; da sanken ihre Hände matt herab.

»Gegen mich kannst Du doch nichts ausrichten!« sagte der Tod.

»Aber der liebe Gott kann es!« sagte sie.

»Ich thue nur, was er will!« sagte der Tod. »Ich bin sein Gärtner. Ich nehme alle seine Blumen und Bäume und verpflanze sie in den großen Paradiesgarten, in das unbekannte Land. Wie sie aber dort gedeihen, und wie es dort ist: das darf ich Dir nicht sagen!«

»Gieb mir mein Kind zurück!« sagte die Mutter und weinte und flehte. Mit einem Male faßte sie mit den Händen zwei hübsche Blumen fest an und rief dem Tod zu: »Ich reiße alle Deine Blumen ab, denn ich bin in Verzweiflung!«

»Rühre sie nicht an!« sagte der Tod. »Du sagst, daß Du so unglücklich bist, und nun wolltest Du eine andere Mutter ebenso unglücklich machen?«

»Eine andere Mutter!« sagte die arme Frau und ließ sogleich beide Blumen los.

»Da hast Du Deine Augen,« sagte der Tod. »Ich habe sie aus dem See aufgefischt; sie glänzten hell herauf; ich wußte nicht, daß es die Deinigen waren. Nimm sie zurück, sie sind jetzt noch, klarer, wie früher; dann sieh hinab in den tiefen Brunnen hier nebenan. Ich will die Namen der zwei Blumen nennen, die Du ausreißen wolltest, und Du wirst sehen, was Du zerstören und zu Grunde richten wolltest!«

Und sie sah in den Brunnen hinab; und es war eine Glückseligkeit zu sehen, wie die Eine ein Segen für die Welt ward, zu sehen, wie viel Glück und Freude sich um dieselbe verbreitete; sie sah das Leben der Andern, das bestand aus Sorgen und Noth, Jammer und Elend.

»Beides ist Gottes Wille!« sagte der Tod.

»Welche von ihnen ist die Blume des Unglücks und welche die Gesegnete?« fragte sie.

»Das sage ich Dir nicht,« antwortete der Tod: »aber das sollst Du von mir erfahren, daß eine der Blumen die Deines eigenen Kindes ist. Es war das Schicksal Deines Kindes, was Du sahst, die Zukunft Deines eigenen Kindes!«

Da schrie die Mutter vor Schrecken laut auf. »Welche von ihnen ist die meines Kindes? Sag mir das! Befreie das unschuldige Kind! Erlöse mein Kind von allem Elende! Trag' es lieber fort! Trag' es in Gottes Reich! Vergiß meine Thränen, vergiß mein Flehen und Alles, was ich gethan habe!«

»Ich verstehe Dich nicht,« sagte der Tod. »Willst Du Dein Kind zurück haben, oder soll ich mit ihm nach jenem Orte gehen, den Du nicht kennst?«

Da rang die Mutter die Hände, fiel auf die Kniee und bat den lieben Gott: »Erhöre mich nicht, wenn ich gegen Deinen Willen bitte, der allezeit der beste ist! Erhöre mich nicht! Erhöre mich nicht!«

Da ließ sie ihr Haupt auf die Brust hinabsinken.

Und der Tod ging mit ihrem Kinde nach dem unbekannten Lande.


 << zurück weiter >>