Hans Christian Andersen
O. Z.
Hans Christian Andersen

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37.

Mourir! C'est un instant de supplice ...
mais vivre ... ?
Fréderic Soulié.

Der Arzt aus Nyborg, der einen Kranken auf einem der Nachbargüter besucht hatte, benutzte die Gelegenheit, um sich nach Eva's Befinden zu erkundigen. Man hatte ihn aufgefordert, hier zu übernachten, und die Rückfahrt lieber erst in der Morgenstunde als noch so spät am Abend anzutreten. Er ließ sich überreden. Otto fand bei seiner Rückkunft ihn und die Familie in tiefem Gespräche. Man redete von den Geisterbriefen.

»Wo sind Sie denn gewesen?« fragte Fräulein Sophie, als Otto eintrat.

»Sie sehen so blaß aus!« bemerkte Louise. »Sind Sie krank?«

»Ich fühle mich nicht wohl!« erwiderte Otto. »Deshalb ging ich auf einige Augenblicke in den Garten hinab. Jetzt ist mir aber schon bedeutend besser.« Und er nahm an der Unterhaltung Theil.

Der ihn völlig niederschmetternde Schmerz hatte sich bereits in Thränen aufgelöst, die dumpfe Betäubung war von ihm gewichen, und seine Gedanken suchten einen Lichtpunkt, an den sie sich anklammern könnten. Von Mastrichs umfangreichen Höhlen erzählt man, daß sie sich zu tiefen Gängen und mächtigen Domen ausdehnen, in welchen sich der Laut verliert, und das Licht, das selbst die nächsten Gegenstände nicht zu erreichen vermag, nur wie ein feuriger Punkt erscheint. Um diese Leere und dieses Dunkel auf die Besucher in vollem Maße wirken zu lassen, löscht der Führer seine Fackel aus, und nun ist alles Nacht. Man wird gleichsam von der Dunkelheit durchströmt, die Hand greift unwillkürlich nach einer Mauer, um sich die Gewißheit zu verschaffen, daß man sich wenigstens noch auf einen Sinn verlassen kann. Das Auge sieht nichts, das Ohr hört nichts. Entsetzen ergreift den Stärksten. Dasselbe Dunkel, dasselbe verwandte Gefühl hatten Heinrichs Worte Otto's Seele eingehaucht. Deshalb sank er, wie der Besucher jener Höhlen zu Boden; aber wie sich dessen ganze Seele durch das Auge an den ersten Funken heftet, der plötzlich aufleuchtet, um die Fackel wieder anzuzünden, die ihn aus diesem Grabe hinausleiten soll, so klammerte sich auch Otto an den ersten Gedanken an, der ihm eine Aussicht auf Hilfe zu geben schien. »Wilhelm? Seine Seele ist edel und gut, ihn muß ich in mein schmerzliches Geheimniß einweihen, das ihm fast schon der Zufall einmal enthüllt hätte.« Aber wie der erste Funke erlischt, den der Stahl dem Steine entlockt, so erlosch auch dieser Gedanke bald wieder in ihm. Es war ihm nicht möglich, sich Wilhelm anzuvertrauen; das dadurch zwischen ihnen hervorgerufene Verhältniß hätte sie von einander entfernen müssen; es hätte für ihn nur demüthigend sein können. Aber Sophie? Nein, wie hätte er ihr dann die Liebe seines Herzens aussprechen können? Wie tief würde er dann als ein Sohn der Armuth und Schande unter ihr stehen! Aber der Mutter? Ja, sie war sanft und gut, mit einer mütterlichen Gesinnung reichte sie ihm die Hand und betrachtete ihn wie einen nahen Verwandten. Seine Gedanken erhoben sich, seine Hände falteten sich zum Gebete. »Wer nur den lieben Gott läßt walten!« sprachen unwillkürlich seine bebenden Lippen. Neuer Muth erfüllte erquickend sein Herz. Menschenhilfe glich den Funken, die bald erlöschen, Gott war die ewige Fackel, die ihm ein Licht auf seinem Wege sein und aus dem Dunkel herausführen würde. »Allmächtiger Gott, du allein kannst und willst!« betete er. »Du, der du die Herzen kennst, du allein hilf mir und leite mich!« Sein Entschluß stand fest. Keinem Menschen wollte er sich anvertrauen; allein wollte er die Gefangene befreien und sie Heinrich übergeben. Er dachte an die Zukunft, und noch dunkler und schwerer als sonst zeigte sie sich ihm jetzt. Allein wer Gott vertraut, kann nie verzagen. Jetzt handelte es sich nur darum, sich den Schlüssel zu Sidsels Gefängnisse zu verschaffen. Dann wollte er, wenn sich auf dem Schlosse Alle zur Ruhe begeben hätten, das Wagestück unternehmen.

Jede kräftige Seele gewinnt Muth und Ruhe, wenn sie erst die Möglichkeit sieht, ihr Werk auszuführen. Mit angenommener Lebhaftigkeit mischte sich Otto in die Unterhaltung; Niemand ahnte, welchen Kampf seine Seele gekämpft hatte.

Es ward hin und her gestritten. Wilhelm glänzte durch Beredtsamkeit. Der Doctor räumte den Geisterbriefen den ersten Rang in der dänischen Literatur ein. Einst hatte Sophie diese Ansicht getheilt, jetzt zog sie Coopers Romane diesem wie allen übrigen Büchern vor.

»Man vergißt so leicht das Gute über dem Neuen!« sagte Wilhelm. »Ist nun das Neue noch dazu eine überraschende Leistung, so hält die Menge den Autor leicht für den größten Dichter. Aesthetisch betrachtet, befindet sich die Nation noch in der Entwickelungsperiode. Jeder wirklich Gebildete, der sich zu den Besten seines Zeitalters rechnen kann, bekommt durch die Betrachtung seiner eigenen Fortschritte im Reiche des Geistes, Klarheit über die Entwickelung der Nation. Diese hat, wie er, ihre verschiedenen Perioden; bei ihm vermag ein großer Lebensmoment, bei dieser eine erschütternde Weltbegebenheit bisweilen einen plötzlichen Fortschritt zu bewirken. Das Publikum ist wankelmüthig, heut' streut es Palmen, morgen ruft es: kreuziget ihn! Allein das betrachte ich eben als einen Entwickelungsmoment. Erlauben Sie, daß ich, um mich deutlich zu machen, ein Bild anwende. Der Botaniker durchstreift Wald und Flur, und sammelt Blumen und Pflanzen; jeder einzelnen derselben wendet er, während er sie pflückt, sein ganzes Interesse, sein ganzes Denken zu; aber der Eindruck einer jeden weicht stets der nächsten. Erst nach längerer Zeit ist er im Stande, seinen ganzen Schatz zu genießen und ihn nach Werth und Seltenheit zu ordnen. In ähnlicher Weise greift das Publikum nach Blumen und Gewächsen; wir sind zwar Zeuge seiner emsigen Beschäftigung mit allem Neuen, was auf dem Gebiete der Literatur erscheint, aber noch ist es nicht in den Besitz des Ganzen gelangt. Eine Zeitlang wurde dem Sentimentalen der Vorrang gewährt; der Dichter hieß der größte, der diese Saiten am besten anzuschlagen verstand; dann ging man zum Gepfefferten über und fiel über lauter Räuber- und Rittergeschichten her. Dann wieder erregte das prosaische Leben Gefallen, und Schröder und Iffland wurde die Palme zuerkannt. Uns eröffneten des Nordens Kraft, Helden und Götter einen neuen bedeutungsvollen Schauplatz. In dieser Zeit schwärmten wir für Trauerspiele. Später ging das Gefühl in uns auf, daß diese doch nicht von dem Fleische und Blute der Gegenwart wären. Der kleine flatternde Vogel, das Singspiel, lockte uns aus dem dunkeln Walde, lockte uns in unser eigenes Haus hinein, in welchem es so warm und gemüthlich ist, und in dem man vor Allem lachen darf, was für uns Dänen doch ein offenbares Bedürfniß ist. Man darf nicht, wie die Menge, das, was auf der Woge schwimmt, unbedingt als das Oberste anerkennen, sondern muß das Gute einer jeden Zeit schätzen und später ordnen, wie der Botaniker seine Pflanzen ordnet. Jedes Volk muß während des poetischen Sonnenscheins seine Empfindsamkeitszeit, seine Sturm- und Drangperiode, seine Lust an der Heimat und sein leichtsinniges Hinausflattern in die Fremde haben; es muß sich in Einzelheiten verlieren, bevor es die Schönheit des Ganzen erfaßt. Jeden Dichter verfolgt der unglückliche Gedanke, daß er das Rad der Zeit sei, während er doch nur, wie Menzel sagt, mit seiner ganzen für ihn schwärmenden Partei ein einzelnes Rad in der großen Maschine ist, ein kleines Glied in der unendlichen Schönheitskette!«

»Du sprichst ja wie ein Plato!« sagte Sophie.

»Würden wir auf dem Gebiete der Musik ebenso wie auf dem der Poesie übereinstimmen,« bemerkte Otto, »so würde in unsern Kunstanschauungen die vollste Einigkeit unter uns herrschen. Mir gefällt die Musik am besten, die durch das Ohr zum Herzen dringt und mich mit sich fortreißt. Kann sie dagegen lediglich vom Verstande bewundert werden, so ist sie mir fremd!«

»Das beruht eben auf Ihren falschen Ansichten, theurer Freund!« versetzte Wilhelm. »In der Aesthetik sind Sie auf dem Reinen, allein in der Musik befinden Sie sich noch weit draußen im Vorhofe, in welchem die große Menge mit Cymbeln und Trompeten um das musikalische goldene Kalb tanzt!«

Nun versetzte die ästhetische Einigkeit sie in musikalische Uneinigkeit. Bei ähnlichen Gelegenheiten hatte Otto noch stets das Schlachtfeld behauptet; er hatte stets dem Angreifer durch treffende oder originelle Bemerkungen zu imponiren verstanden. So beweglich, ja exaltirt könnte man sagen, Otto heut' Abend auch war, so zeigte er doch nicht die Ruhe, die Bestimmtheit in seinen Gedanken und Worten, die ihm sonst den Sieg verlieh.

Es verstrich eine lange Stunde, und eine noch längere, noch qualvollere begann mit dem Abendessen. Das Gespräch drehte sich um die Tagesbegebenheiten. Otto betheiligte sich an demselben und suchte Nutzen daraus zu ziehen. Es war für ihn ein wahres Seelenleiden. Sophie lobte laut seinen Erfindungsgeist.

»Ohne Herrn Zostrup,« sagte sie, »wäre die Diebin schwerlich entdeckt worden. Wir haben Herrn Zostrup dafür zu danken, und namentlich für das wirklich ergötzliche Schauspiel!«

Man scherzte darüber und lachte, und Otto mußte mitlachen.

»Jetzt sitzt sie in einer kleinen Bodenkammer gefangen,« bemerkte er. »Sie wird eine unbehagliche Nacht zubringen.«

»O, sie schläft vielleicht besser als irgend Jemand von uns,« entgegnete Wilhelm. »Dergleichen ist nicht im Stande, sie zu geniren.«

»Sitzt sie denn nicht in dem Dachstübchen nach dem Hofe hinaus?« fragte Otto. »Da hat sie ja nicht einmal Mondschein!«

»Ei freilich, den hat sie!« versetzte Sophie. »Sie befindet sich in der rechts gelegenen Mansarde, nach dem Walde hinaus. Wir haben sie dem Monde so nahe gebracht, wie es die Verhältnisse irgend gestatteten. Die Dachstube auf dem obersten Boden dient uns als Gefängnißthurm.«

»Ist sie aber auch fest eingeschlossen?« fragte Otto.

»Die Thür ist durch ein Vorlegeschloß und einen starken Riegel gesichert, die sie nicht aufzubrechen vermag, und ihretwegen thut Keiner hier auf dem Gute auch nur einen einzigen Schritt. Sie sind Alle nicht gut auf sie zu sprechen.«

Erst gegen elf Uhr erhob man sich vom Tische.

Der Arzt bat den Baron, ihnen noch ein kleines Stück vorzuspielen.

»Dann muß uns Herr Zostrup auch noch das hübsche jütländische Lied von Steen-Blicher vorsingen!« rief Louise.

»Darum bitte ich auch,« sagte die Mutter, und klopfte Otto auf die Schulter.

Wilhelm spielte.

Otto entschuldigte sich und bat, ihm den Gesang zu erlassen.

»Singen Sie doch!« sagte Wilhelm, und da Alle nicht aufhörten, ihn zu bitten, so sang er ihnen das jütländische Lied vor.

»Das haben Sie mit rechter Laune gesungen!« rief Sophie und klatschte ihm Beifall. Als sich darauf Alle zum Aufbruch rüsteten, reichte sie ihm die Hand und flüsterte, doch so, daß die Schwester es hören konnte, ihm zu: »Heut' Abend sind Sie recht liebenswürdig gewesen!«

Otto und Wilhelm suchten ihr Schlafzimmer auf.

»Aber mein guter Freund,« begann Wilhelm, »was thaten Sie denn vorhin eigentlich im Garten? Beichten Sie mir einmal gefälligst! Sie befanden sich übrigens gar nicht unwohl! Sie gingen auch nicht blos in den Garten! Sie gingen vielmehr in den Wald und hielten sich lange darin auf. Ich habe es deutlich gesehen. Sie machten doch nicht etwa, während der Musikant hier war, seiner hübschen Frau einen Besuch? Ich traue Ihnen nicht so recht!«

»Sie scherzen!« versetzte Otto.

»Ja, ja,« fuhr Wilhelm fort, »es ist ein niedliches kleines Weibchen. Denken Sie wol noch daran, wie ich ihr voriges Jahr beim Erntefeste Rosen zuwarf? Jetzt ist sie Peer Krüppels Frau! Wenn sie mit ihrem Gatten einherkommt, muß ich immer unwillkürlich an das alte Märchen: »Die Schöne und das Thier,« denken!«

Es war Otto daran gelegen, daß Wilhelm sobald als möglich einschliefe, und aus diesem Grunde wollte er ihm nicht widersprechen. Er gab sogar zu, daß die junge Frau hübsch wäre, fügte jedoch hinzu, als Krüppels Frau käme sie ihm wie eine schöne Blume vor, auf welcher eine Kröte gesessen hätte; es würde ihm Ekel erregen, die Blume an seine Lippen zu drücken.

Bald waren die Freunde zu Bette. Sie sagten einander gute Nacht und schienen nun Beide zu schlafen. Bei Wilhelm war es auch der Fall.

Otto lag wachend; sein Puls ging fieberhaft.

Jetzt schlug die Uhr auf dem Hofe Mitternacht. Alles war still, vollkommen still; aber noch wagte Otto nicht, sich zu erheben. Es schlug ein Viertel auf Eins. Da richtete er sich langsam in die Höhe und blickte nach Wilhelms Bette hinüber. Dieser lag mit ihm zugewandtem Rücken in tiefem Schlafe. Da stand Otto auf und kleidete sich leise an, wobei er kaum zu athmen wagte. Ein Jagdmesser, das an der Wand hing und Wilhelm gehörte, steckte er in die Tasche und hob ganz leise die Ofengabel auf, mit welcher er die eisernen Klammern, die das Vorlegeschloß hielten, loszubrechen gedachte. Noch einmal überzeugte er sich durch einen Blick auf Wilhelm, daß dieser fest schlief. Jetzt öffnete er die Thür und verließ auf bloßen Strümpfen das Zimmer.

Von den Corridorfenstern aus spähte er umher, ob sich noch an irgend einer Stelle Licht zeigte. Alles war still, Alle hatten sich zur Ruhe begeben. Am meisten beunruhigte ihn der Gedanke, daß einer der Hunde auf dem Gange liegen und bellen könnte. Glücklicherweise war keiner da. Er stieg die Treppe hinauf und ging über den Boden.

Nur ein einziges Mal war er früher hier gewesen; jetzt war alles Nacht. Mit den Händen tastete er vor sich her.

Endlich entdeckte er eine schmale Treppe, die auf den obersten Boden führte. Da sie am äußersten Ende durch eine Fallthür geschlossen war, mußte er alle Kraft anwenden, um diese zu öffnen. Endlich gab sie mit einem starken Krache nach. Die Treppe, deren er sich bedient hatte, bildete nicht den eigentlichen Aufgang. Diesen, der sich gerade am entgegengesetzten Ende des Bodens befand, hätte er offen gefunden, während die Fallthür schon seit längerer Zeit nicht geöffnet war.

Nacken und Rücken schmerzten ihm, als wären sie gebrochen. Oben war er jedoch und stand dicht vor der Thür, auf die der Mond durch eine offene Bodenluke hell hinabschien.

Mit dem Jagdmesser und der Ofengabel gelang es ihm, die Thüre bald und ohne bedeutendes Geräusch zu erbrechen. Er sah in ein kleines niedriges Gemach, auf dessen Boden einige schmutzige Bettdecken ausgebreitet lagen.

Sidsel schlief mit offenem Munde tief und fest. Unter der Mütze quoll ein langes Büschel Haar hervor und beschattete die ganze Stirn. Durch eine Glasscheibe im Dache fiel der Mondschein gerade auf ihr Gesicht. Otto beugte sich über sie und betrachtete die rohen häßlichen Züge. Die dicken schwarzen Augenbrauen glichen einem regellosen Striche.

»Sie muß meine Schwester sein,« war der Gedanke, der ihn durchzitterte. »Sie ruhte mit mir unter demselben Herzen! Das Blut, das in diesen Adern rollt, ist mit dem meinigen verwandt! Sie war die Verstoßene, die Zurückgesetzte!« Er bebte vor Schmerz und Angst, allein die Zeit war kurz. »Steh auf!« rief er und schüttelte die Schlafende.

»Um Gottes willen, was gibt's?« rief sie halb erschreckt und richtete ihre boshaft funkelnden Augen wild auf ihn.

»Beeilen Sie sich! Folgen Sie mir augenblicklich!« sagte Otto mit bebender Stimme. »Der deutsche Heinrich wartet in der Allee! Ich will Ihnen hinaushelfen! Sogleich müssen Sie fort von hier, morgen ist es zu spät!«

»Was sagen Sie?« fragte sie und blickte ihn verwirrt an.

Otto wiederholte es.

»Meinen Sie, daß ich wirklich fortkommen kann?« fragte sie und ergriff ihn am Arme, indem sie rasch vom Boden emporsprang und sich ankleidete.

»Nur leise und vorsichtig!« warnte Otto.

»Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut!« sagte sie. »Aber erklären Sie mir, aus welchem Grunde Sie mir beispringen?«

Otto bebte; es war ihm unmöglich, ihr den Beweggrund mitzutheilen, ihr zuzurufen: »Du bist meine Schwester!« Seine Lippen schwiegen.

»Gegen manchen Kerl,« sagte sie, »bin ich besser gewesen, als sich paßte. Denkt aber wol einer von ihnen an Sidsel! Und Sie erinnern sich meiner, Sie, der sie ein so feiner und vornehmer Herr sind!«

Otto drückte beim Anhören ihrer Rede die Augen zu; mit einer gewissen Vertraulichkeit, die ihn niederschmettern mußte, vermischte sich die thierischste Rohheit. »Sie muß meine Schwester sein!« tönte es in seiner Seele.

»Kommen Sie doch! Kommen Sie doch!« sagte er und stieg die Treppe hinab. Sie ging leise hinter ihm her.

»Ich kenne einen bessern Weg!« flüsterte sie ihm zu, als sie den untersten Boden erreicht hatten. Sie ergriff ihn am Arme und führte ihn eine andere Treppe hinab. Plötzlich öffnete sich eine Thür, und Louise trat, noch völlig angekleidet, mit einem Lichte in der Hand, heraus. Sie stieß einen schwachen Schrei aus, als ihr Blick auf das Paar fiel, das dicht vor ihr stand.

Aber eine noch schrecklichere und gewaltsamere Wirkung brachte diese Begegnung auf Otto hervor. Seine Füße schwankten, alles bewegte sich einen Augenblick lang in bunten Farben vor seinen Augen. Es war der Gipfelpunkt seines Leidens. Er stürzte auf Louise zu, ergriff ihre Hand, und todtenbleich, mit glanzlosen Augen, flehte er halb kniend mit leiser Stimme: »Um Gottes willen, sagen Sie Niemandem, was Sie gesehen haben; ich muß sie retten, denn sie ist meine Schwester. Verrathen Sie mein Geheimniß, so bin ich für diese Welt verloren, so muß ich sterben! Erst heute Abend habe ich es selber erfahren! Ihnen bekenne ich alles, verrathen Sie mich aber nicht! Suchen Sie morgen zu verhindern, daß man sie verfolgt! – O, Louise, bei Ihrer Seelen Seligkeit, fühlen Sie meine Seelenangst! Ich tödte mich, falls Sie mich verrathen!«

»O Gott!« stammelte Louise. »Alles, alles will ich! Ich bin stumm und verschwiegen! Schaffen Sie sie fort, schnell, damit Sie Niemandem begegnen!« Sie ergriff seine Hand. Als er so vor ihr auf den Knien lag, glich er einem Marmorbilde, das Schönheit und doch auch wieder Schmerz ausdrückte.

Schwesterlich neigte sich Louise über ihn, Thränen flossen ihr über die Wangen hinab, ihre Stimme bebte, allein ihre Worte wirkten beruhigend, wie der Trost eines guten Engels. Mit einem Blicke voll echten Vertrauens riß sich Otto los. Ohne ein Wort zu reden, folgte ihm Sidsel.

Er führte sie in das unterste Stockwerk hinab, wo er leise ein Fenster öffnete. Durch dieses konnte sie in den Garten hinaussteigen und von ihm aus leicht die Allee erreichen, in welcher der deutsche Heinrich auf sie wartete. Selbst sie weiter zu begleiten, war unnöthig; zu einem solchen Wagniß lag kein Grund vor. Als sie schon auf dem Fensterbrett stand, drückte ihr Otto noch einige Geldstücke in die Hand.

»Gott ist über uns!« sagte er mit feierlicher Stimme. »Habe ihn stets vor Augen und werde rechtschaffen, führe einen bessern Wandel –! Alles kann noch gut werden!« Unwillkürlich drückte er ihre Hand in der seinigen. »Gedenke stets deines himmlischen Vaters!« fügte er hinzu.

»Ich werde mich schon durchschlagen!« versetzte sie und stand draußen im Garten; sie nickte und verschwand hinter der Hecke.

Lange blieb Otto noch stehen und lauschte, ob sich kein Geräusch vernehmen ließe, ob keiner der Hunde anschlüge. Er war für ihre Sicherheit besorgt. Aber alles war stille.

Wie oft eine alte Melodie plötzlich in unserer Erinnerung wach werden und vor unserm Ohr ertönen kann, so erklang mit einem Male eine Bibelstelle in seinem Herzen: »Nähme ich Flügel der Morgenröthe und bliebe am äußersten Meere, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten! – Du bist uns nahe! Du kannst und willst unser Wohl. Du allein hilfst!« Betend erhoben sich seine Gedanken zu Gott.

Ruhiger kehrte er nach seinem Zimmer zurück. Wilhelm schien zu schlafen; als sich Otto jedoch seinem Bette näherte, hob er plötzlich den Kopf in die Höhe und schaute forschend um sich.

»Was hat das zu bedeuten?« rief er. »Sie sind schon wieder in den Kleidern! Wo haben Sie gesteckt?« und immer neugieriger wiederholte er seine Fragen.

Otto schützte eine scherzhafte Ursache vor.

»Reichen Sie mir einmal Ihre Hand!« verlangte Wilhelm. Als sie ihm dieser gab, untersuchte er seinen Puls. »Völlig richtig!« sagte er. »Ihr Blut hat sich noch nicht beruhigt. Ein neuer Beweis, daß man auf Niemanden schwören darf! Während ich hier in aller Unschuld schlafe, läuft er auf Abenteuer aus. Sie sind mir ein lockerer Vogel!«

Viele Gedanken durchkreuzten in diesem Augenblicke Otto's Seele. Sobald nur Louise Schweigen beobachtete, konnte Niemand auf die Möglichkeit verfallen, daß er Sidsel zur Flucht verholfen hätte. Wilhelms Scherze mußte er geduldig über sich ergehen lassen.

»Habe ich nicht Recht?« fragte Wilhelm.

»Wenn es sich nun in der That so verhielte,« erwiderte Otto, »würden Sie mich dann verrathen?«

»Trauen Sie mir das im Ernste zu!« entgegnete Wilhelm. »Als ob ich nicht wüßte, daß wir Alle schwache Geschöpfe sind!«

Otto ergriff seine Hand. »So seien Sie denn verschwiegen!«

»Gewiß!« versicherte Wilhelm und schwor es ihm gegen seine Gewohnheit feierlich zu. »Nun habe ich einen Schwur darauf abgelegt; allein gelegentlich müssen Sie mir von Ihrer Angebeteten ein wenig erzählen!«

»Ei freilich!« bestätigte Otto mit einem tiefen Seufzer. Vor dem Freunde stand er nicht mehr rein und unschuldig da.

Sie schliefen. Häßliche Träume schreckten Otto fortwährend aus dem Schlafe auf.


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