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Der Hausschlüssel.

Jeder Schlüssel hat seine Geschichte, und es gibt viele Schlüssel: Kammerherrnschlüssel, Uhrschlüssel und St. Peters Schlüssel. Wir können von allen Schlüsseln erzählen; aber diesmal erzählen wir nur von dem Schlüssel des Kammerrats.

Er wurde von einem Kleinschmied gemacht; aber er hatte Grund zu glauben, daß er bei einem Grobschmied wäre, so packte, hämmerte und feilte man ihn. Für die Hosentasche war er zu groß; deshalb kam er in die Fracktasche. Hier lag er häufig im Dunkeln; aber fürs erste hatte er seinen bestimmten Platz an der Wand neben dem Jugendbildnis des Kammerrats, der sich auf demselben wie ein Kloß in Kalbsgekröse ausnahm.

Man sagt, daß jeder Mensch in Charakter und Betragen etwas von dem Himmelszeichen empfangen hat, unter dem er geboren ist, von Tieren, Jungfrauen, Skorpionen, und wie sie alle im Kalender heißen. Die Kammerrätin nannte davon keins; sie sagte, ihr Mann wäre unter dem Zeichen der Schiebkarre geboren; man hätte ihn stets schieben müssen.

Sein Vater schob ihn in ein Kontor hinein; seine Mutter schob ihn in den Ehestand, und seine Frau schob ihn zum Kammerrat hinauf. Aber davon sprach sie nicht; sie war ein umsichtiges, braves Weib, das zur rechten Zeit schweigen und zur rechten Zeit reden und schieben konnte.

Nun war er in gutem Alter, – »wohlproportioniert,« wie er zu sagen pflegte – ein belesener, gutmütiger Mann und schlüsselklug dazu, wovon wir naher hören werden. Er war stets guter Laune, liebte alle Menschen und sprach gern mit ihnen. Ging er durch die Stadt, so hielt es schwer, ihn wieder nach Hause zu kriegen, wenn »Muttern« nicht mit war und ihn schob. Er mußte mit jedem Bekannten sprechen, dem er begegnete, und er hatte viele Bekannte. Es währte oft über die Mittagszeit hinaus.

Die Kammerrätin stand am Fenster und paßte auf. »Nun kommt er,« sagte sie zu dem Mädchen; »setze den Topf auf! – Nun steht er still und spricht mit jemand; nimm den Topf wieder ab, sonst wird das Essen zu gar! – Nun kommt er doch! Ja, dann setze den Topf nur wieder auf!«

Aber deshalb kam er doch noch nicht.

Er konnte schon unter den Fenstern des Hauses stehen und hinaufnicken, – allein kam dann ein Bekannter vorbei, so konnte er ihn nicht gehen lassen; er mußte ihm ein paar Worte sagen. Kam, während er mit ihm sprach, ein anderer Bekannter, so hielt er den ersten am Knopfloch fest, und nahm den zweiten bei der Hand, indem er einem dritten, der vorbei wollte, zurief.

Es war eine Geduldsprobe für die Kammerrätin. »Kammerrat! Kammerrat!« rief sie dann. »Ja, der Mann ist unter dem Zeichen der Schiebkarre geboren, er kann nicht von der Stelle kommen, wenn er nicht geschoben wird.«

Er liebte es in den Bücherladen zu gehen und Bücher und Zeitschriften einzusehen. Er gab seinem Buchhändler ein Geringes, um bei sich im Hause die neuen Bücher aufschneiden zu dürfen, das heißt: er hatte die Erlaubnis, sie an der Längsseite aufzuschneiden, aber nicht an der Querseite: denn dann konnten sie nicht mehr als neu verkauft werden. Er war eine lebendige Zeitung, aber ohne den Anstand zu verletzen; er wußte alle Verlobungen, Hochzeiten und Begräbnisse; Bücherklatsch und Stadtklatsch; ja er warf geheimnisvolle Andeutungen hin, als wüßte er manches, was niemand wüßte. Er hatte es von dem Hausschlüssel.

Schon als junge Neuvermählte wohnten Kammerrats in ihrem eigenen Hause, und seit der Zeit hatte er stets denselben Hausschlüssel. Aber damals kannte er seine wunderlichen Kräfte noch nicht; die lernte er erst später kennen.

Es war zur Zeit des Königs Friedrichs VI. Kopenhagen hatte damals noch kein Gas, sondern Tranlampen, hatte weder Tivoli noch Kasino, keine Pferdebahn und keine Eisenbahn. Es gab damals gegen heute nur wenig Vergnügungen. Am Sonntag machte man einen Spaziergang aus dem Tore hinaus nach dem Assistentenkirchhof, las die Inschriften auf den Grabsteinen, setzte sich ins Gras und aß aus seinem Eßkorb und trank seinen Schnaps dazu, oder man ging nach Friedrichsberg, wo vor dem Schlosse Regimentsmusik war und viele Leute umher wanderten, um die königliche Familie in den kleinen, engen Kanälen rudern zu sehen. Der alte König steuerte das Boot, und er und die Königin grüßten alle Menschen ohne Ansehen des Standes. Dahin gingen wohlhabende Familien der Stadt und tranken ihren Abendtee. Heißes Wasser konnten sie in einem kleinen Bauernhause vor dem Garten bekommen; aber man mußte sich seine Teemaschine selbst mitbringen.

Dahin zogen Kammerrats an einem schönen Sonntagnachmittag; das Dienstmädchen ging voran mit Teemaschine, einem Korb voll Eßwaaren und einem Strohfläschchen mit Magenbittern.

»Nimm den Hausschlüssel mit,« sagte die Kammerrätin; »damit wir ins Haus können, wenn wir zurückkommen. Du weißt, es wird mit Dunkelwerden geschlossen und der Glockenzug ist heute morgen abgerissen. Wir kommen spät nach Hause. Wir wollen ja, wenn wir in Friedrichsberg gewesen sind, in Corsatis Theater an der Westbrücke und uns die Pantomime von Harlekin ansehen; es kostet zwei Mark die Person.«

Und sie gingen nach Friedrichsberg, hörten die Musik, sahen das königliche Boot mit der wehenden Flagge, sahen den alten König und die weißen Schwäne. Nachdem sie einen guten Tee getrunken hatten, sputeten sie sich; aber sie kamen doch nicht rechtzeitig ins Theater.

Der Reihentanz war vorbei, der Stelzentanz war vorbei, und die Pantomime fing an. Sie kamen wie immer zu spät, und daran war der Kammerrat schuld. Jeden Augenblick stand er auf dem Wege still, um mit Bekannten zu sprechen. Im Theater traf er auch gute Freunde, und als die Vorstellung zu Ende war, mußten er und seine Frau sie notwendig zu einer Familie an der Brücke begleiten, um ein Glas Punsch zu trinken. Es würde sie nur zehn Minuten aufhalten; aber diese dehnten sich richtig zu einer ganzen Stunde aus. Es wurde erzählt und erzählt. Besonders unterhaltend war ein schwedischer Baron, oder war es ein deutscher, das hatte der Kammerrat trotzdem nicht behalten, dagegen die Kunst mit dem Schlüssel, die er von ihm lernte, behielt er für alle Zeiten. Es war außerordentlich interessant! Er konnte den Schlüssel auf alles antworten lassen, was man ihn fragte, selbst auf das Allerheimlichste.

Der Schlüssel des Kammerrats eignete sich vortrefflich dazu; denn er war schwer im Bart, und er mußte herabhängen. Den Griff des Schlüssels ließ der Baron auf dem Zeigefinger seiner rechten Hand ruhen. Lose und leicht hing er dort; jeder Pulsschlag der Fingerspitzen konnte ihn in Bewegung setzen, so daß er sich drehte, und geschah es nicht, so verstand es der Baron, unmerklich sich ihn drehen zu lassen, wie er wollte. Jede Drehung bedeutete einen Buchstaben von A an und so weiter im Alphabet herab, wie man wollte. Wenn der erste Buchstabe gefunden war, drehte sich der Schlüssel nach der entgegengesetzten Seite; dann suchte man den nächsten Buchstaben, und auf diese Weise erhielt man ganze Worte, ja ganze Sätze als Antwort auf die Frage. Lüge war das Ganze, aber immer ein Zeitvertreib, und das war auch so ziemlich der erste Gedanke des Kammerrats; aber er hielt nicht vor, er ging mit ihm ganz in dem Schlüssel auf.

»Mann! Mann!« rief die Kammerrätin. »Das Westtor wird um zwölf Uhr geschlossen! Wir kommen nicht hinein! Wir haben nur noch eine Viertelstunde; wir müssen uns beeilen.«

Und sie beeilten sich; aber mehrere Leute, die auch in die Stadt wollten, kamen ihnen bald vorbei. Endlich näherten sie sich dem äußersten Wachthause, da schlug die Uhr 12, und das Tor schlug schallend zu. Eine große Zahl Menschen war ausgeschlossen, und unter ihnen befanden sich Kammerrats mit Mädchen, Teemaschine und leerem Eßkorb. Einige standen in großem Schrecken da, andere voll Ärger. Jeder nahm es auf seine Weise. Was war nun zu tun?

Glücklicherweise war in der letzten Zeit die Bestimmung getroffen, daß eins der Stadttore, das Nordtor, nicht geschlossen werden sollte. Hier konnten die Fußgänger durch das Wachthaus in die Stadt schlüpfen.

Der Weg dahin war nicht kurz, aber schön, der Himmel klar mit Sternen und Sternschnuppen; die Frösche quakten in Gräben und Sümpfen. Die Gesellschaft fing an zu singen, ein Lied nach dem andern. Aber der Kammerrat sang nicht mit; er sah auch nicht nach den Sternen, ja nicht einmal nach seinen eigenen Beinen. Deshalb fiel er so lang er war am Grabenrand nieder; man konnte glauben, daß er zu viel getrunken hätte. Aber es war nicht der Punsch, es war der Schlüssel, der ihm zu Kopf gestiegen war und sich dort drehte.

Endlich erreichte man das Wachthaus der Nordbrücke und schlüpfte über die Brücke in die Stadt hinein.

»Nun bin ich wieder vergnügt,« sagte die Kammerrätin. »Hier ist unser Haus.«

»Aber wo ist der Hausschlüssel?« sagte der Kammerrat. Er war nicht in der Hintertasche, auch nicht in der Seitentasche.

»Barmherziger Himmel,« rief die Kammerrätin; »hast du den Schlüssel nicht? Du hast ihn sicher bei den Schlüsselkunststückchen mit dem Baron verloren. Wie kommen wir nun hinein. Der Glockenzug – weißt du doch – ist heute morgen abgerissen, und der Wächter hat keinen Schlüssel zum Hause. Es ist zum Verzweifeln!«

Das Dienstmädchen fing an zu heulen; der Kammerrat war der einzige, der seine Fassung behielt.

»Wir müssen beim Fettwarenhändler eine Scheibe einschlagen,« sagte er, »und ihn wecken, damit wir hinein können.«

Er schlug eine Scheibe ein; er schlug zwei ein. »Petersen!« rief er und steckte seine Schirmkrücke durch das Fenster. Da schrie die Tochter des Kellermieters drinnen laut auf. Der Fettwarenhändler riß die Ladentür auf und rief »Wächter!« und ehe er recht die kammerrätliche Familie gesehen, erkannt und eingeschlossen hatte, pfiff der Wächter und aus der nächsten Straße antwortete pfeifend ein anderer Wächter. Die Leute kamen an die Fenster. »Wo ist das Feuer?« »Wo ist der Dieb?« fragten sie, und sie fragten noch, als der Kammerrat bereits in seiner Wohnung war, den Frack abzog und – hier fand er den Hausschlüssel – nicht in der Tasche, sondern im Futter. Er war durch ein Loch, das nicht in der Tasche sein sollte, hindurchgeschlüpft.

Seit diesem Abend erlangte der Hausschlüssel eine besonders große Bedeutung, nicht nur, wenn man abends ausging, sondern auch, wenn man zu Hause saß, und der Kammerrat seine Klugheit zeigte und den Schlüssel auf seine Fragen antworten ließ.

Er dachte sich die wahrscheinlichste Antwort aus und ließ sie dann durch den Schlüssel geben. Zuletzt glaubte er selbst daran; aber der Apotheker glaubte ihm nicht; er war noch jung und ein naher Verwandter des Kammerrats.

Der Apotheker war ein guter Kopf, ein kritischer Kopf; der schon als Schüler Kritiken über Bücher und Theatervorstellungen geliefert hatte, aber ohne seinen Namen zu nennen; das macht viel aus. Er war, was man einen Schöngeist nennt; aber er glaubte trotzdem nicht an Geister, wenigstens nicht an Schlüsselgeister.

»Ja, ich glaube, ich glaube doch,« sagte er; »verehrter Herr Kammerrat, an den Hausschlüssel und alle Schlüsselgeister so fest wie an die neue Wissenschaft, welche das Tischtanzen und die Geister in alten und neuen Möbeln zu erkennen anfängt. Haben Sie davon gehört? Ich habe davon gehört. Ich habe gezweifelt – Sie wissen, ich bin ein Zweifler. Aber ich habe mich bekehrt, als ich in einer glaubhaften ausländischen Zeitung eine fürchterliche Geschichte las. Kammerrat! glauben Sie mir, ich erzähle die Geschichte, wie ich sie gelesen habe. Zwei kluge Kinder hatten ihre Eltern den Geist in einem großen Eßtisch erwecken sehen. Als die Kleinen allein waren, versuchten sie, auf dieselbe Weise Leben in eine alte Kommode zu reiben. Es entstand Leben, der Geist erwachte; aber er duldete die Kinderherrschaft nicht. Er erhob sich – es knackte in der Kommode – er stieß die Schiebladen auf und legte mit seinen Kommodenbeinen die Kinder in dieselben hinein. Und dann lief die Kommode mit ihnen durch die offene Tür, die Treppen hinunter auf die Straße hinaus nach dem Kanal, in den sie sich hineinstürzte und die beiden Kinder ertränkte. Die kleinen Leichen kamen in christliche Erde: aber die Kommode wurde auf das Rathaus gebracht, wegen Kindermordes verurteilt und lebendig auf dem Marktplatz verbrannt. Ich habe es gelesen,« sagte der Apotheker; »es in einem ausländischen Blatt gelesen; auch nicht das geringste ist von mir erfunden worden. Der Schlüssel läßt es mich für wahr halten, darauf schwöre ich einen hohen Eid.«

Der Kammerrat fand, daß diese Erzählung für einen Scherz zu grob wäre; sie könnten niemals wieder über den Schlüssel sprechen. Der Apotheker war schlüsseldumm.

Der Kammerrat schritt in der Schlüsselwissenschaft fort; der Schlüssel war sein Zeitvertreib und seine Klugheit.

Eines Abends – der Kammerrat wollte zu Bett gehen und hatte sich schon halb entkleidet – da klopfte es an die Tür draußen auf dem Gange. Es war der Kellerinhaber, welcher so spät kam. Er war auch nur halb bekleidet; aber ihm sei, sagte er, plötzlich ein Gedanke gekommen, welchen er bange wäre, über Nacht zu vergessen.

»Von meiner Tochter, Lottelene, muß ich ihnen erzählen. Sie ist ein schönes Mädchen und schon konfirmiert; ich möchte sie gern gut angebracht sehen.«

»Ich bin doch kein Witwer,« sagte der Kammerrat und lächelte, »und ich habe auch keinen Sohn, den ich ihr geben kann.«

»Sie Verstehen mich nicht, Herr Kammerrat!« sagte der Kellerinhaber, »Klavierspielen kann sie, singen kann sie; es muß bis hier herauf im Hause gehört werden. Damit wissen sie aber nicht alles, was das junge Mädchen kann; sie kann alle Menschen in Sprache und Bewegung nachahmen. Sie ist für das Theater wie geschaffen, und es ist ein guter Weg für hübsche Mädchen aus guter Familie; sie könnte sich eine Grafschaft erheiraten; doch daran denken ich und Lottelene nicht. Singen kann sie, Klavierspielen kann sie. Deshalb ging ich neulich mit ihr auf die Singschule, Sie sang!; aber sie hat nicht, was ich bei Frauenzimmern Bierbaß nenne, nicht das Kanarienvogelgekreisch oben in den höchsten Tönen, wie man es jetzt von den Sängerinnen verlangt, und deshalb riet man ihr gänzlich von diesem Wege ab. Na, dachte ich, kann sie nicht Sängerin werden, so kann sie immer noch Schauspielerin werden, dazu gehört nur Sprache. Heute sprach ich darüber mit dem Instrukteur, wie sie ihn nennen, »Ist sie belesen?« fragte er. »Nein,« sagte ich, »ganz und gar nicht.« »Belesenheit ist für eine Künstlerin notwendig,« sagte er. »Die kann sie noch bekommen,« meinte ich und ging heim. Sie kann in eine Leihbibliothek gehen und lesen, was da ist, dachte ich. Aber wie ich nun heute abend so dasitze und mich auskleide, fällt mir auf einmal ein: Warum Bücher mieten, wenn man sie geliehen bekommen kann. Der Kammerrat hat eine schwere Menge Bücher. Wenn sie erlauben, daß Lottelene sie lesen darf, so hat sie genügend Belesenheit, und sie kann sie umsonst haben.«

»Lottelene ist ein seltenes Mädchen,« sagte der Kammerrat, »ein schönes Mädchen. Sie soll Bücher zum Lesen haben. Aber hat sie auch, was man den Blick des Geistes nennt, das Geniale – Genie? Und hat sie, was hier ebenso wichtig ist – hat sie Glück?«

»Sie hat zweimal in der Warenlotterie gewonnen,« sagte der Kellermann, »einmal gewann sie einen Kleiderschrank und einmal zwölf Bettücher; das nenne ich Glück und sie hat Glück.«

»Ich will den Schlüssel fragen,« sagte der Kammerrat.

Und er stellte den Schlüssel auf seinen rechten Zeigefinger und auf des Kellermanns rechten Zeigefinger, ließ den Schlüssel sich drehen, und er gab Buchstaben auf Buchstaben.

Der Schlüssel sagte: »Sieg und Glück,« und damit war Lottelenes Zukunft bestimmt.

Der Kammerrat gab ihr sofort zwei Bücher zu lesen: ›Dyveke‹ und ›Knigges Umgang mit Menschen‹.

Von diesem Abend an begann eine Art näherer Bekanntschaft zwischen Lottelene und Kammerrats. Sie kam in die Familie hinauf, und der Kammerrat fand, daß sie ein verständiges Mädchen wäre, sie glaubte an ihn und den Schlüssel. Die Kammerrätin sah in dem Freimut, womit sie jeden Augenblick ihre Unwissenheit zeigte, etwas Kindliches, Unschuldiges. Das Ehepaar glaubte – jedes auf seine Weise – an sie, und sie glaubte auch an sich.

»Es riecht hier oben so reizend,« sagte Lottelene.

Es war ein Duft von Äpfeln auf dem Flur, wo die Kammerrätin eine ganze Tonne Gravensteiner Äpfel hingestellt hatte. Auch war ein Weihrauchduft von Rosen und Lavendel in allen Zimmern.

»Es gibt etwas Feines!« sagte Lottelene. Ihre Augen freuten sich besonders über die schönen Blumen, die die Kammerrätin immer hatte; selbst mitten im Winter blühten hier Syringen und Kirschzweige. Die abgeschnittenen blattlosen Zweige wurden ins Wasser gestellt, und in dem warmen Zimmer trugen sie bald Blüten und Blätter.

»Man sollte meinen, daß das Leben aus den nackten Zweigen fort wäre; aber man sieht sie von dem Tode auferstehen.«

»Es ist mir niemals vorher eingefallen,« sagte Lottelene. »Die Natur ist doch reizend.«

Und der Kammerherr ließ sie sein »Schlüsselbuch« sehen, worin die Dinge, die der Schlüssel gesagt, aufgeschrieben standen; selbst über einen halben Apfelkuchen hatte er ausgesagt, der aus dem Schrank verschwunden war, gerade an dem Abend, als das Dienstmädchen ihren Bräutigam zu Besuch hatte.

Und der Kammerrat fragte seinen Schlüssel: »Wer hat den Apfelkuchen gegessen, die Katze oder der Liebhaber?« und der Haustürschlüssel antwortete: »Der Liebhaber.« Der Kammerrat glaubte es schon, ehe er fragte, und das Dienstmädchen gestand: der verwünschte Schlüssel wüßte auch alles.

»Ja, ist es nicht merkwürdig,« sagte der Kammerrat. »Der Schlüssel, der Schlüssel! und von Lottelene hat er gesagt: Sieg und Glück. Wir werden es schon sehen. Ich stehe dafür.«

»Das ist reizend,« sagte Lottelene.

Die Frau des Kammerrats war nicht so zuversichtlich; aber sie sagte ihre Zweifel nicht, so daß ihr Mann es hörte. Aber sie vertraute später Lottelene, daß der Kammerrat in seinen jungen Jahren auch dem Theater verfallen gewesen wäre. Hätte ihn damals jemand geschoben, so wäre er sicher als Schauspieler aufgetreten; aber die Familie schob ab. Auf die Bühne wollte er dennoch und deshalb schrieb er ein Lustspiel.

»Es ist ein großes Geheimnis, was ich Ihnen anvertraue, liebe Lottelene. Das Lustspiel war nicht schlecht; es wurde vom Königlichen Theater angenommen und ausgepfiffen, so daß man niemals seitdem davon gehört hat, und darüber bin ich froh. Ich bin seine Frau und kenne ihn. Nun wollen Sie denselben Weg gehen! Ich wünsche Ihnen alles Gute; aber ich glaube nicht, daß es geht; ich glaube nicht an den Schlüssel.«

Lottelene glaubte an ihn, und in diesem Glauben begegnete sie sich mit dem Kammerrat.

Ihre Herzen verstanden sich in Zucht und Ehren.

Das junge Mädchen hatte übrigens mehrere Fähigkeiten, die die Kammerrätin sehr schätzte. Lottelene verstand Stärke aus Kartoffeln zu bereiten, seidene Handschuhe aus alten seidenen Strümpfen zu nähen, alte seidene Tanzschuhe neu zu überziehen, trotzdem sie die Mittel hatte, sich alles neu zu kaufen. »Sie hatte,« wie der Fettwarenhändler sagte, »Schillinge in der Schieblade und Banknoten im Geldschrank.« Es wäre eigentlich eine Frau für den Apotheker, dachte die Kammerrätin; aber sie sagte es nicht und ließ es auch den Schlüssel nicht sagen. Der Apotheker würde sich bald niederlassen, eine eigene Apotheke haben, und das in einer der größten und nächsten Provinzstädte.

Lottelene las ständig in ›Dyvecke‹ und ›Knigges Umgang mit Menschen‹. Sie behielt die beiden Bücher zwei Jahre; aber dann konnte sie auch das eine, den Dyveke, auswendig, alle Rollen. Aber sie wollte nur in einer Rolle, als Dyveke, auftreten; doch nicht in der Hauptstadt, wo so viel Mißgunst herrscht und wo man sie nicht haben wollte. Sie wollte ihre Künstlerlaufbahn, wie der Kammerrat es nannte, in einer der großen Provinzstädte des Landes beginnen.

Nun traf es sich ganz sonderbar, daß es gerade derselbe Ort war, wo der junge Apotheker sich niedergelassen hatte als der Stadt jüngster, wenn nicht einziger Apotheker.

Der große verhängnisvolle Abend kam, Lottelene sollte auftreten, Sieg und Glück gewinnen, wie der Schlüssel gesagt hatte. Der Kammerrat war nicht dabei, er lag zu Bett und die Kammerrätin pflegte ihn; er kriegte warme Umschläge und Kamillentee; die Umschläge auf den Leib und den Tee in den Leib.

Das Ehepaar wohnte der Dyveke-Vorstellung nicht bei; aber der Apotheker war dort und schrieb hierüber an seinen Verwandten, den Kammerrat, einen Brief.

»Der Dyvekekragen war das beste,« schrieb er. »Hätte ich den Schlüssel des Kammerrats in meiner Tasche gehabt, ich hätte ihn hervorgenommen und darauf gepfiffen; das verdiente sie und der Schlüssel, der sie so schändlich genasführt hat. »Sieg und Glück.«

Der Kammerrat las den Brief. »Die reine Bosheit,« sagte er, »Schlüsselhaß, der auf das unschuldige Mädchen übergeht.«

Und sobald er aus dem Bett aufstehen konnte und wieder Mensch war, schickte er ein kleines giftspeiendes Schreiben an den Apotheker, der wieder antwortete, als ob die ganze Epistel nicht anders als ein Spatz und der Ausfluß einer guten Laune wäre.

Er dankte für diesen, sowie für jeden zukünftigen, wohlwollenden Beitrag zur Kenntnis von des Schlüssels unvergleichlichem Wert und Bedeutung. Zunächst vertraute er dem Kammerrat, daß er in seinen Mußestunden an einem großen Schlüsselroman schreibe, in welchem alle handelnden Personen Schlüssel, einzig und allein Schlüssel wären. Der Hausschlüssel wäre natürlich die Hauptperson, und sein Vorbild wäre der Hausschlüssel des Kammerrats, der mit Seherblick und Wahrsagungskraft begabt wäre. Um diesen mußten alle anderen Schlüssel sich drehen; der alte Kammerherrnschlüssel, der den Glanz und die Festlichkeiten des Hofes kannte; der Uhrschlüssel, klein, sein und vornehm für vier Schillinge beim Eisenkrämer zu haben; der Schlüssel zum Kirchenstuhl, der sich mit zur Geistlichkeit rechnet, und der, als er eine Nacht in dem Schlüsselloch der Kirche gesteckt, Geister gesehen hatte; Speisekammer-, Holzkammer- und Weinkellerschlüssel, alle treten auf, verneigen sich und drehen sich um den Hausschlüssel. Die Sonnenstrahlen beleuchten ihn daß er ... glänzt wie Silber, der Wind, der Weltgeist, fährt durch ihn hindurch, daß er pfeift. Er ist der Schlüssel aller Schlüssel, er war der Hausschlüssel des Kammerrats; nun ist er der Schlüssel des Himmelstors, der päpstliche Schlüssel, ist unfehlbar.

»Bosheit,« sagte der Kammerrat. »Pyramidale Bosheit.«

Er und der Apotheker sahen sich nicht wieder – ja doch, bei dem Begräbnis der Kammerrätin.

Sie starb zuerst.

Sie wurde betrauert und vermißt im Hause. Selbst die abgeschnittenen Kirschzweige, welche frische Knospen und Blüten angesetzt hatten, trauerten und welkten. Sie standen vergessen; niemand pflegte sie.

Der Kammerrat und der Apotheker gingen hinter ihrem Sarge, Seite an Seite, als die beiden nächsten Verwandten. Hier hatte keiner Zeit noch Lust sich zu streiten.

Lottelene band den Trauerflor um den Hut des Kammerrats. Sie war längst ohne Sieg und Glück von der Künstlerlaufbahn nach Hause zurückgekehrt. Aber es konnte noch kommen; Lottelene hatte eine Zukunft. Der Schlüssel hatte es gesagt, und der Kammerrat hatte es gesagt.

Sie kam zu ihm hinauf. Sie sprachen über die Verstorbene und weinten, Lottelene war weich; sie sprachen über die Kunst und Lottelene war stark.

»Das Theaterleben ist reizend,« sagte sie; »aber es gibt da zu viel Klatsch und Neid, Ich gehe lieber meinen eigenen Weg. Zuerst für mich, dann für die Kunst.«

Knigge hatte in dem Kapitel über die Schauspieler die Wahrheit gesagt, das sah sie ein; der Schlüssel hatte nicht die Wahrheit gesagt; aber davon sprach sie mit dem Kammerrat nicht; sie liebte ihn.

Der Hausschlüssel war während des ganzen Trauerjahres sein Trost und seine Freude. Er gab ihm Fragen, und der Schlüssel gab ihm Antwort. Und als das Jahr um war und er und Lottelene an einem stimmungsvollen Abend beisammensaßen, fragte er den Schlüssel:

»Verheirate ich mich und mit wem verheirate ich mich?«

Es war niemand, der ihn schob, so schob ihn der Schlüssel und der sagte: Lottelene.

Nun war es gesagt; Lottelene wurde Kammerrätin.

 

»Sieg und Glück.«

Die Worte waren gesagt, vorausgesagt – von dem Hausschlüssel.


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