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Tante.

Du hättest Tante kennen sollen! Sie war reizend! Ja, das heißt, sie war nicht reizend, wie man es gewöhnlich versteht, aber sie war lieb und gut und auf ihre Weise lustig. Sie war so recht eine Person, über die geredet werden konnte, wenn man über jemand reden und sich lustig machen will. Sie könnte ohne weiteres in eine Komödie gesetzt werden, und das einzig und allein deshalb, weil sie für das Theater lebte und für alles, was sich darinnen bewegte. Sie war höchst ehrenwert: aber Agent Flab, den Tante Flaps nannte, nannte sie theatertoll.

»Das Theater ist meine Schule,« sagte sie, »der Quell meines Wissens; dort habe ich meine biblische Geschichte aufgefrischt: ›Moses‹, ›Joseph und seine Brüder‹ sind jetzt Opern. Ich habe aus dem Theater meine Weltgeschichte, Geographie und Menschenkenntnis. Ich kenne aus französischen Stücken das Pariser Leben – schlüpfrig, aber höchst interessant! Wie habe ich über die Familie Riquebourg geweint, in der der Mann sich tot trinken mußte, daß die Frau ihren jungen Liebhaber kriegen konnte. Ja, wie viele Tränen habe ich doch in den dreißig Jahren geweint, die ich abonniert bin.«

Tante kannte jedes Theaterstück, jede Kulisse, jede Person, die auftrat oder aufgetreten war. Sie lebte eigentlich nur in den Theatermonaten. Der Sommer ohne Theater war eine Zeit, die sie alt machte; während ein Theaterabend, der sich über Mitternacht hinauszog, eine Verlängerung ihres Lebens bedeutete. Sie sagte nicht, wie andere Menschen: »Nun haben wir Frühjahr, die Störche sind gekommen!« »In der Zeitung steht, die ersten Erdbeeren sind da,« Sie verkündete nur das Kommen des Herbstes: »Haben Sie gelesen, daß das neue Theaterabonnement eröffnet ist und daß die Vorstellungen beginnen?«

Sie rechnete den Wert und die gute Lage einer Wohnung danach, wie nahe sie dem Theater lag. Es war ihr schmerzlich, die kleine Gasse hinter dem Theater zu verlassen und ein wenig weiter in die große Straße zu ziehen, wo sie kein Gegenüber hatte.

»Daheim muß mein Fenster meine Loge sein. Man kann doch nicht dasitzen und in sich selbst aufgehen: man muß doch Menschen sehen. Aber nun wohne ich, als wäre ich aufs Land hinausgezogen. Will ich Menschen sehen, muß ich in die Küche gehen und mich auf den Ausguß sehen: nur dort habe ich ein Gegenüber. Nein, als ich noch in meiner Gasse wohnte, da konnte ich doch zu dem Flachshändler hineinsehen und hatte auch nur dreihundert Schritt zum Theater. Nun habe ich dreitausend Grenadierschritte.«

Tante konnte krank sein: wie schlecht sie sich aber auch fühlte, versäumte sie doch nicht ihr Theater. Ihr Arzt verordnete ihr einst, daß sie sich am Abend Sauerteig unter die Füße legen sollte. Sie tat, was er sagte, aber fuhr doch ins Theater und saß dort mit Sauerteig unter den Füßen. Wäre sie dort gestorben, würde es sie gefreut haben. Thorwaldsen starb im Theater: das nannte sie einen »seligen« Tod.

Sie konnte sich selbst das Himmelreich nicht ohne Theater denken. Es war freilich nicht verheißen; aber es ließ sich doch denken, daß die vielen ausgezeichneten Schauspieler und Schauspielerinnen, die dorthin vorausgegangen waren, einen fortgesetzten Wirkungskreis hätten.

Tante hatte einen elektrischen Draht vom Theater nach ihrer Stube: das Telegramm kam jeden Sonntag zum Kaffee. Ihr elektrischer Draht war »Herr Sievertsen von der Theatermaschinerie.« Er gab das Zeichen zum Auf- und Niederziehen der Vorhänge und zum Hinein- und Herausschieben der Kulissen.

Von ihm erhielt sie im voraus eine kurze und bündige Anzeige der neuen Stücke. Shakespeares Sturm nannte er »verfluchtes Zeug«. Es gab so viel dabei aufzustellen, und dann begann es auch mit Wasser bis zur ersten Kulisse, das heißt, so weit vor gingen die rollenden Wogen. Stand dagegen durch alle fünf Akte eine und dieselbe Zimmerdekoration, so sagte er, es wäre vernünftig und gut geschrieben; es wäre ein Erholungsstück, das sich von selbst ohne Ausstattung spiele.

In früherer Zeit, wie Tante die Zeit vor einigen dreißig Jahren nannte, waren sie und der soeben genannte Herr Sievertsen jünger. Er war damals schon bei der Maschinerie und war ihr Wohltäter, wie sie ihn nannte. Es war nämlich damals Sitte, daß bei den Abendvorstellungen des einzigen und größten Theaters der Stadt auch Zuschauer auf den Schnürboden kamen. Jeder Theaterarbeiter hatte über einen oder zwei Plätze zu verfügen. Dort oben war es oft gedrängt voll, und die feinste Gesellschaft kam dahin. Man sagte, daß sowohl Generalinnen als Kommerzienrätinnen dort gewesen wären: es wäre so interessant, von hinten auf die Kulissen zu sehen und zu wissen, wie die Menschen gehen und stehen, wenn der Vorhang gefallen ist.

Tante war manchmal dort gewesen, sowohl bei Trauerspielen als bei Balletts; denn die Stücke, worin das meiste Personal auftrat, waren vom Boden aus die interessantesten. Man saß dort oben so ziemlich im Dunkeln;, die meisten brachten ihr Abendbrot mit. Einst fielen drei Apfel und ein Butterbrot mit Schlackwurst direkt in Ugolinos Gefängnis hinein, und da er Hungers sterben sollte, entstand im Publikum großes Gelächter, Die Schlackwurst wurde eine der gewichtigsten Gründe, weshalb die hohe Direktion die Zuschauerplätze auf dem Schnürboden ganz eingehen ließ.

»Aber ich war siebenunddreißigmal dort,« sagte Tante, »und das vergesse ich Herrn Sievertsen nie.«

Gerade am letzten Abend, als der Boden für das Publikum geöffnet war, wurde »Salomons Urteil« gespielt. Tante erinnerte es ganz genau. Sie hatte durch ihren Wohltäter, Herrn Sievertsen, dem Agenten Flab Zutritt verschafft, trotzdem er es nicht verdiente, da er beständig Narrenspossen mit dem Theater trieb und seinen Spott über dasselbe ausgoß. Er wollte den Theaterkram einmal von der Kehrseite sehen; das waren seine eigenen Worte, und sie sähen ihm ähnlich, sagte Tante.

Und er sah Salomons Urteil von oben und schlief dabei ein. Man mußte wahrhaftig glauben, daß er von einer großen Mittagsgesellschaft gekommen war, bei der man viele Gesundheiten getrunken hatte. Er schlief und wurde eingeschlossen, saß und schlief in der dunklen Nacht auf dem Theaterboden, und als er erwachte, – so erzählte er, aber Tante glaubte ihm nicht – war Salomons Urteil aus, waren alle Lampen und Lichter aus, waren die Menschen hinaus oben und unten. Aber da begann erst die eigentliche Komödie, das Nachspiel. Es war das artigste, was man nur sehen konnte, sagte der Agent. Da kam Leben auf die Bretter! Es war nicht Salomons Urteil, was gegeben wurde; nein es war das Weltgericht auf dem Theater. Und dies alles hatte der Agent Flab die Frechheit, Tante einreden zu wollen. Das war der Dank, daß sie ihm Zutritt zu dem Boden verschafft hatte.

Was der Agent erzählte, war freilich spaßig genug, aber voll Bosheit und Spott.

»Es war finster da oben,« sagte der Agent; »aber da begann der Spuk, die große Vorstellung: ›Das Weltgericht auf dem Theater.‹ Die Kontrolleure standen an den Türen, und jeder Zuschauer mußte sein geistiges Reifezeugnis vorzeigen, ob er mit freien oder gebundenen Händen, mit oder ohne Maulkorb eintreten durfte. Die Herrschaften, die zu spät kamen, wenn die Vorstellung schon begonnen hatte, und die jungen Leute, die ja unmöglich die richtige Zeit einhalten können, wurden draußen angebunden, kriegten Filzsohlen unter die Füße und dazu einen Maulkorb; aber sie durften erst vor Beginn des nächsten Aktes hineingehen. Und nun begann das Weltgericht auf dem Theater.

»Reine Bosheit, die Ihnen Gott nicht anrechnen möge,« sagte Tante.

Der Maler mußte, wenn er in den Himmel wollte, eine Treppe, die, er selbst gemalt hatte, hinaufgehen, die aber kein Mensch hinaufsteigen konnte. Sie war ja nur eine Versündigung gegen die Perspektive. Mit allen Pflanzen und Gebäuden, welche der Maschinenmeister mit großer Mühe in Länder gestellt hatte, wo sie nicht zu Hause waren, sollte der arme Mensch, wenn er in den Himmel wollte, an den rechten Ort umziehen, und zwar vor dem ersten Hahnenschrei. Herr Flab sollte nur sehen, daß er selbst hineinkäme! – Und was er über das Personal sowohl des Trauerspiels als des Lustspiels, der Oper und des Balletts erzählte, war nun das Schwärzeste von allen, was er Flab, – Flaps, – sagte. Er verdiente nicht auf den Schnürboden zu kommen. Tante mochte seine Worte gar nicht in den Mund nehmen. Er hätte das ganze aufgeschrieben, sagte er, – Flaps –; es sollte gedruckt werden, wenn er gestorben wäre, eher nicht; er wollte nicht geschunden werden. –

Tante hatte nur einmal Angst und Not im Theater, in ihrem Tempel der Glückseligkeit ausgestanden. Es war an einem Wintertage, wo der graue Tag nur zwei Stunden hat. War das eine Kälte und ein Schnee! Aber ins Theater mußte sie doch. Es gab Hermann von Unna, dazu eine kleine Oper und ein Ballett, einen Prolog und einen Epilog; es würde bis in die Nacht dauern. Tante mußte hin; ihre Hauswirtin hatte ihr ein Paar Schlittenstiefel mit Pelzwerk innen und außen geliehen; sie reichten ihr bis zum Knie.

Sie kam ins Theater; sie kam in ihre Loge; die Stiefel waren warm, und sie behielt sie an. Plötzlich wurde Feuer gerufen. Rauch kam aus den Kulissen, Rauch kam vom Boden. Es entstand eine fürchterliche Verwirrung. Die Leute stürmten hinaus; Tante war die letzte in der Loge. – »Links vom zweiten Rang nehmen sich die Dekorationen am besten aus,« sagte sie; »die schönsten würden stets an die Seite der königlichen Loge gestellt.« Tante wollte hinaus; aber die ersten hatten in der Angst und der Übereilung die Tür ins Schloß fallen lassen. Da saß nun Tante, hinaus konnte sie nicht, hinein auch nicht: das heißt in die benachbarte Loge; die Zwischenwand war zu hoch. Sie rief; niemand hörte; sie sah in den ersten Rang hinunter; er war leer, er war niedrig, er war ganz nahe. Tante fühlte sich in ihrer Angst so jung und leicht; sie wollte hinunterspringen; aber sie brachte nur das eine Bein über die Brüstung, das andere blieb auf der Bank. Sie saß wie zu Pferde, schön drapiert in ihrem geblümten Kleid, und eins ihrer Beine, ein Bein mit einem ungeheuren Schlittenstiefel hing lang hinab. Das war ein Anblick! Und da sie gesehen wurde, wurde sie auch gehört und vor dem Verbrennen gerettet; denn das Theater brannte nicht.

Das wäre der denkwürdigste Abend ihres Lebens, sagte sie, und sie wäre froh, daß sie sich nicht hätte sehen können; denn dann wäre sie vor Scham gestorben.

Ihr Wohltäter bei der Maschinerie, Herr Sievertsen, kam jeden Sonntag zu ihr; aber es war eine lange Zeit von Sonntag zu Sonntag. Deshalb hatte sie in der letzten Zeit für die Mitte der Woche ein kleines Mädchen für die Reste, das heißt für die Reste, die des Mittags noch blieben, angenommen. Es war ein kleines Mädchen vom Ballett, das sehr der Nahrung bedurfte. Die Kleine trat als Elfe und Page auf; ihre schwerste Partie war das Hinterbein des Löwen in der Zauberflöte. Aber sie wuchs zum Vorderbein des Löwen heran. Dafür gab es freilich nur drei Mark; für das Hinterbein gab es einen Reichstaler; aber darin mußte sie gebückt gehen und die frische Luft entbehren. Das zu wissen, wäre sehr interessant, meinte Tante.

Sie hätte, so lange das Theater stand, zu leben verdient; aber das hielt sie nicht aus. Auch starb sie dort nicht, sondern schicklich und anständig in ihrem Bette. Ihr letztes Wort war übrigens ganz bedeutungsvoll; sie fragte: »Was wird morgen gegeben?«

Sie hinterließ ungefähr 500 Reichstaler; wir schließen es aus den Zinsen, welche 20 Reichstaler betrugen. Diese hatte Tante zu einem Legat für eine würdige alte Jungfer ohne Familie bestimmt. Sie sollten angewendet werden, um für den Sonnabend auf einen Platz im zweiten Rang links zu abonnieren; denn Sonnabends gäbe es die besten Stücke. Die, welche das Legat genoß, hatte nur die eine Verpflichtung, jeden Sonnabend im Theater an Tante zu denken, die nun im Grabe lag.

Das war Tantes Religion.


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