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Was die alte Johanne erzählte.

Der Wind rauscht in dem alten Weidenbaum! Es klingt wie ein altes Lied; der Wind singt es, und der Baum erzählt es. Verstehst du es nicht, so frage die alte Johanne im Armenhause, sie kennt es; sie ist im Dorfe alt geworden. –

Vor vielen Jahren, als die alte Landstraße hier noch vorüberführte, war der Baum schon groß und schön. Er stand, wo er noch jetzt steht, vor des Schneiders getünchter Fachwerkhütte dicht neben dem Wassertümpel, der damals noch so groß war, daß das Vieh hier trank und daß die kleinen Bauernjungen hier an warmen Sommertagen nackend umherliefen und durch das Wasser plantschten. Unter dem Baum erhob sich ein Meilenzeiger aus behauenen Steinen; nun liegt er am Boden, und Brombeeranken wachsen über ihn hin.

Jenseits des großen Bauernhofes wurde die neue Landstraße gebaut; die alte wurde ein Feldweg, der Teich ein Tümpel, von Wasserlinsen überwachsen; sprang einmal ein Frosch hinein, so teilte sich das Grün und das schwarze Wasser sah hervor; rund herum wuchsen, und wachsen noch jetzt, Rohrkolbe, Bitterklee und die goldgelbe Schwertlilie.

Des Schneiders Haus wurde morsch und schief, das Dach eine reiche Pflanzstätte für Moos und Hauslauch; der Taubenschlag verfiel und Stare nisteten in ihm; die Schwalben klebten Nest an Nest unter den Giebel und unter das Dach, als wäre hier ein Ort des Glücks.

So war es einst; nun war es einsam und still geworden. Allein und schwachsinnig wohnt hier der kranke Rasmus, wie er genannt wurde; er war hier geboren, hatte hier gespielt, war über Gräben und Hecken gesprungen, war nackend durch den flachen Teich gelaufen und auf den alten Weidenbaum geklettert.

Prächtig stand er da mit voller, breiter Krone, und noch jetzt war sie schön; allein der Sturm hatte den Stamm ein wenig geneigt und das Alter hatte ihn zerborsten; Wind und Wetter hatten Erde hineingetragen, und Gras und Kräuter wuchsen aus dem Spalt hervor; ja selbst ein kleiner Vogelbeerstrauch hatte sich hier angesiedelt.

Wenn im Frühling die Schwalben kamen, flogen sie um den Baum und um das Dach; sie klebten und flickten an ihren alten Nestern; aber der kranke Rasmus ließ sein Nest stehen und fallen, wie es wollte; er flickte es nicht und stützte es nicht. »Was kann das helfen,« war seine ständige Redensart, und so hatte sein Vater auch gesagt.

Er blieb daheim; die Schwalben flogen fort; allein sie kamen wieder, die treuen Tiere! Die Stare flogen fort; sie kamen wieder und flöteten ihr Lied; einst tat's Rasmus mit ihnen um die Wette; jetzt flötete er nicht und sang er nicht.

Der Wind rauschte in dem alten Weidenbaum; er rauscht noch jetzt; es klingt wie ein altes Lied: der Wind singt es, der Baum erzählt es; verstehst du es nicht, so frage die alte Johanne im Armenhaus; sie kennt es; sie versteht sich auf alte Geschichten; sie gleicht einer Chronik voll alter Erinnerungen. –

Das Haus war neu und schön, als der Dorfschneider Ivar Olsen mit Frau Maren einzog; es waren strebsame, ehrenwerte Leute. Die alte Johanne war damals noch ein Kind; sie war die Tochter des Holzschuhmachers, eines der Ärmsten in der Gemeinde. Manches Stück Brot bekam sie von Frau Maren, die keine Nahrungssorgen kannte. Sie stand sich gut mit der Gutsfrau, lachte immer und war immer froh; sie ließ sich nicht entmutigen; Mund und Hände verstand sie zu rühren; sie brauchte die Nadel so schnell wie den Mund und fand noch Zeit, auf Haus und Kinder zu achten; es waren fast ein Dutzend, volle elf; das zwölfte war ausgeblieben.

»Die Armen haben stets ein Nest voll Junge,« brummte der Gutsherr; »könnte man sie nur wie junge Katzen ersäufen und nur eins oder zwei der kräftigsten behalten, so wäre es noch zu ertragen.«

»Gott behüte mich,« sagte die Schneidersfrau. »Kinder sind ein Segen Gottes; sie bringen Freude ins Haus. Jedes ist ein Vaterunser mehr. Ist es knapp und hat man für viele Mäuler zu sorgen, so spannt man sich stärker an und findet Rat und Tat in allen Ehren. Unser Herrgott läßt uns nicht, wenn wir ihn nicht lassen.«

Die Gutsfrau spendete ihr Beifall, nickte freundlich und streichelte ihr die Backen; das hatte sie so manches Mal getan, einst hatte sie sie sogar geküßt; allein da war die Frau noch ein kleines Kind und Maren ihre Wärterin; die beiden hielten viel voneinander, und die Liebe schlief nicht.

Zur Weihnachtszeit kam jedes Jahr vom Gutshof Wintervorrat in des Schneiders Haus: eine Tonne Mehl, ein Schwein, zwei Gänse, ein Fäßchen Butter, Käse und Äpfel. Das half ihrer Speisekammer auf. Ivar Olsen war jedesmal rot vor Freude: aber bald kam er doch wieder mit seiner Redensart: »Was kann das helfen.«

Rein und freundlich war es im Hause; Gardinen hingen vor den Fenstern und Blumen standen davor, sowohl Nelken als Balsaminen; das Namentuch hing im Rahmen an der Wand und dicht daneben der Verlobungsbrief in Versen; Maren Olsen hatte ihn selbst gedichtet; sie zeigte gern, wie sich die Reime zusammenfügten. Sie war nicht wenig stolz auf den Familiennamen Olsen (Ölse); denn es war das einzige Wort in der dänischen Sprache, das sich auf Wurst (polse) reimte. »Es ist doch gut, wenn man etwas vor andern voraus hat,« sagte sie und lachte. Immer bewahrte sie ihre gute Laune; niemals sagte sie wie ihr Mann: »Was kann das helfen.« Ihre Redensart hieß: »Vertraue auf den lieben Gott.« Das tat sie, und sie hielt das Ganze zusammen. Die Kinder gediehen, entwuchsen dem elterlichen Hause, kamen weit herum und wurden brauchbare Menschen. Rasmus war das kleinste; er war als Kind so schön, daß einer der Maler aus der Stadt ihn für ein Bild benutzte, so nackend wie er zur Welt gekommen war. Das Bild hing nun im Schlosse des Königs; dort hatte die Gutsfrau es gesehen und den kleinen Rasmus gleich erkannt, obgleich er keine Kleider anhatte.

Allein nun kam eine schwere Zeit. Der Schneider bekam die Gicht in beiden Händen; es bildeten sich große Knoten; kein Arzt konnte helfen, auch nicht das Besprechen der klugen Stine.

»Man muß nur nicht verzagen,« sagte Maren. »Das Kopfhängen hilft nicht, und da wir Vaters beide Hände nicht mehr zur Mithilfe haben, so muß ich die meinigen flinker gebrauchen lernen. Der kleine Rasmus kann auch schon die Nadel führen.«

Er saß bereits auf dem Schneidertisch und pfiff und sang; er war ein lustiger Bursche.

»Den ganzen Tag soll er hier nicht sitzen,« sagte die Mutter; »das wäre eine Sünde gegen das Kind; spielen und springen muß es auch.«

Des Holzschuhmachers Johanne war sein bester Spielkamerad; sie war auch jetzt noch ärmer als Rasmus. Schön war sie nicht; sie ging barfuß, die Kleider waren zerrissen; sie hatte niemand, der ihr flicken half, und es selbst zu tun, fiel ihr nicht ein; sie war ein Kind und froh wie ein Vogel in Gottes liebem Sonnenschein.

Bei dem steinernen Meilenzeiger unter dem großen Weidenbaum spielten Rasmus und Johanne.

Er hatte große Pläne; er wollte einmal ein feiner Schneider werden und in der Stadt wohnen, wie der Meister, der zehn Gesellen hatte. Das hatte er von seinem Vater gehört; dort wollte er Geselle sein und dort Meister werden, und dann sollte Johanne kommen und ihn besuchen, und wenn sie zu kochen verstände, sollte sie für alle das Essen bereiten und ihre eigene Stube haben.

Johanne wollte nicht recht daran glauben; allein Rasmus glaubte fest, daß es eintreffen werde.

So saßen sie unter dem alten Baum, und der Wind rauschte in den Zweigen und Blättern; es war, als ob der Wind sänge und der Baum erzählte.

Im Herbst fiel ein Blatt nach dem andern zur Erde, und der Regen tropfte von den nackten Zweigen.

»Die werden wieder grün,« sagte Maren.

»Was kann das helfen,« sagte der Mann. »Neues Jahr, neue Sorge.«

»Die Speisekammer ist gefüllt,« sagte Maren, – das haben wir der gnädigen Frau zu danken, – und ich bin gesund und gut bei Kräften. Es ist unrecht von uns zu klagen.«

Die Weihnachtstage blieb die Herrschaft auf ihrem Hofe; aber am Tage nach Neujahr zog sie in die Stadt, wo sie den Winter in Freude und Lustbarkeit verbrachte; sie hatte auch Zutritt zu den Bällen und Festen am königlichen Hofe.

Die Frau hatte sich zwei kostbare Kleider aus Frankreich schicken lassen; sie waren in Stoff und Schnitt so vortrefflich, daß Schneiders Maren noch niemals etwas Ähnliches gesehen hatte. Sie bat die gnädige Frau um die Erlaubnis, ihren Mann mitbringen zu dürfen, damit er auch die Kleider sähe. »Das hat noch kein Dorfschneider gesehen,« sagte sie.

Er sah sie und sagte kein Wort, bevor er heimkam, und dann sagte er nur, was er immer sagte: »Was kann das helfen.« Aber diesmal wurden seine Worte wahr.

Die Herrschaft war in der Stadt; die Bälle und die Lustbarkeiten nahmen ihren Anfang; aber mitten in all der Herrlichkeit starb der alte Gutsherr, und die Frau kam nicht dazu, die prächtigen Kleider anzuziehen. Sie war in tiefer Trauer und kleidete sich schwarz vom Kopf bis zu den Füßen; nicht einmal eine weiße Spitze duldete sie; die ganze Dienerschaft ging schwarz; selbst die Staatskarosse wurde schwarz überzogen.

Es war eine frostklare Winternacht; der Schnee leuchtete; die Sterne funkelten; der neue Leichenwagen brachte die Leiche aus der Stadt zur Gutskirche, wo sie in der Familiengruft beigesetzt werden sollte. Der Gutsverwalter und der Dorfschulze ritten mit Fackeln voran bis zur Kirchhofspforte. Die Kirche war erleuchtet, und der Prediger stand in der offenen Kirchentür und erwartete den Toten. Der Sarg wurde im Chor aufgebahrt; die ganze Gemeinde folgte. Eine schöne Leichenrede wurde gehalten und ein Psalm gesungen. Die gnädige Frau war auch in der Kirche; sie war in der schwarzbehangenen Staatskutsche dahin gefahren, die war innen und außen schwarz verhängt. Das hatte man nie zuvor in der Gemeinde gesehen.

Von diesem Leichenbegängnis sprach man den ganzen Winter; ja das war einmal prächtig.

»Da sieht man doch, was der Mann bedeutete,« sagten die Dorfbewohner. »Hochgeboren kam er zur Welt und hochgeboren zur Erde.«

»Was kann das helfen,« sagte der Schneider. »Nun hat er weder Leben noch Besitz. Wir haben doch wenigstens eins noch.«

»Sprich nicht so,« sagte Maren, »er hat das ewige Leben drüben im Jenseits.«

»Woher weißt du es, Maren?« sagte der Schneider. »Ein toter Mensch ist ein guter Dünger; aber dieser hier war selbst im Tode zu vornehm, um Nutzen zu stiften; er mußte in der Kapelle begraben werden.«

»Sprich doch nicht so gottlos,« sagte Maren; »ich sage es noch einmal, er hat jetzt das ewige Leben.«

»Woher weißt du es, Maren?« erwiderte der Schneider.

Und Maren warf ihre Schürze über den kleinen Rasmus; er sollte es nicht hören. Sie trug ihn den Torfschuppen hinüber und weinte.

»Was du eben gehört hast, lieber Rasmus, das hat nicht dein Vater gesprochen, es war der Teufel, der durch die Stube ging und deines Vaters Stimme hatte. Sprich ein Vaterunser! Wir wollen zusammen beten!« und sie faltete die Hände des Knaben.

»Nun bin ich wieder froh,« sagte sie. »Vertrau auf dich und den lieben Gott.«

Das Trauerjahr war zu Ende; die Gutsfrau kleidete sich nur noch halb schwarz; die Freude zog wieder in ihr Herz.

Es verlautete, daß ein Freier gekommen wäre und daß man bereits an die Hochzeit dächte. Maren wußte nicht viel darüber, und der Pastor nur wenig mehr.

Am Palmsonntag nach der Predigt sollte das Aufgebot verkündigt werden. Der neue Gutsherr sollte Steinhauer oder Bildhauer sein; man wußte nicht recht, wie man's nennen sollte; denn Thorwaldsen und seine Kunst war damals noch wenig im Volke bekannt. Er wäre nicht vom hohen Adel, aber doch ein recht stattlicher Mann. Es wäre einer, der etwas könnte, was andere nicht verständen, sagte man; »er mache Figuren, wäre tüchtig in seinem Beruf, jung und schön.«

»Was kann das helfen,« sagte der Schneider.

Am Palmsonntag wurde das Aufgebot verkündigt; man sang und ging zum Abendmahl. Der Schneider, Maren und der kleine Rasmus waren auch in der Kirche; die Eltern gingen zum Abendmahl; Rasmus saß indes allein im Kirchenstuhl; er war noch nicht konfirmiert. In der letzten Zeit hatte man sparsam mit den Kleidern im Hause des Schneiders umgehen müssen; ihre alten waren gekehrt und wieder gekehrt, genäht und geflickt worden; nun gingen alle drei in neuen Kleidern; allein sie waren schwarz wie bei einem Begräbnis; sie waren aus dem Überzug der Trauerkutsche gemacht. Der Vater hatte Rock und Hose bekommen. Maren ein hochschließendes Kleid und Rasmus einen ganzen Anzug, in den er bis zur Konfirmation wohl hineinwachsen würde. Sie hatten den äußeren und dem inneren Beschlag der Trauerkutsche gebraucht. Keiner sollte es wissen; aber die Leute kriegten es doch bald heraus; die kluge Stine und ein paar ebenso kluge Frauen, die aber nicht von ihrer Klugheit lebten, sagten, daß die Kleider Krankheit ins Haus bringen würden; man dürfe sich nur in Leichentuch kleiden, wenn man zu Grabe getragen würde.

Des Holzschuhmachers Johanne weinte, als sie diese Worte hörte, und da es sich traf, daß von jenem Tage an der Schneider mehr und mehr kränkelte, so mußte es sich zeigen, ob er sterben oder genesen sollte.

Und es zeigte sich.

Am ersten Sonntage nach Trinitatis starb der Schneider Olsen; nun mußte Maren allein das Ganze zusammenhalten; sie tat es; sie vertraute sich und Gott.

Ein Jahr später wurde Rasmus konfirmiert. Nun sollte er in der Stadt zu einem feinen Schneider in die Lehre; er hatte allerdings nur einen Gesellen und nicht zehn, und der kleine Rasmus konnte höchstens für einen halben gelten; doch war er froh und sah vergnügt drein; allein Johanne weinte; sie hielt mehr von ihm als sie selbst wußte. Maren blieb in dem alten Hause und setzte das Geschäft fort.

Um diese Zeit wurde die neue Landstraße fertiggestellt; die alte bei dem Weidenbaum und dem Hause des Schneiders wurde zum Feldwege; Gras wuchs über sie hin, und die Wasserlinse legte sich über den Wassertümpel; der Meilenstein fiel um; er brauchte ja nicht mehr zu stehen; aber der Baum blieb kräftig und schön, und der Wind rauschte in seinen langen grünen Zweigen und in seinen Blättern.

Die Schwalben flogen fort, die Stare flogen fort; allein sie kamen im Frühjahr wieder, und als sie zum viertenmal zurückkehrten, kam auch Rasmus in das elterliche Haus zurück. Er hatte sein Gesellenstück gemacht; er war ein schöner, aber schmächtiger Bursche; nun wollte er seinen Ranzen schnüren und fremde Länder sehen. Allein seine Mutter hielt ihn fest; daheim sei es doch am besten; seine Geschwister wären fortgegangen; er wäre der Jüngste; er sollte das Haus haben. Arbeit könnte er genug bekommen, wenn er in der Umgegend umherzöge und vierzehn Tage auf dem einen Hofe und vierzehn Tage auf einem andern nähen wollte. Das hieße auch reisen. Und Rasmus folgte dem Rate seiner Mutter.

So schlief er wieder unter dem elterlichen Dache, saß wieder unter dem alten Weidenbaum und hörte die Blätter im Winde rauschen.

Ja, Rasmus sah gut aus; er konnte singen wie ein Vogel und wußte alte und neue Lieder. Man sah ihn gern auf den großen Bauernhöfen, besonders bei Klaus Hansen, dem zweitreichsten Bauern im Dorfe.

Seine Tochter Else war schön wie die Rose im Garten, und immer sah man sie lachen. Es gab freilich Leute, die so schlecht waren, daß sie sagten, sie lache nur, um ihre weißen Zähne zu zeigen. Fröhlich war sie und immer zu Narrenstreichen aufgelegt; aber es stand ihr gut.

Sie verliebte sich in Rasmus, und er verliebte sich in sie; aber keines von ihnen wagte ein Wort zu sagen.

So kam es, daß er schwermütig wurde; er hatte zu viel von seines Vaters Gemütsart. Froh wurde er nur, wenn Else kam; dann lachten die beiden, scherzten miteinander und trieben Narrenspossen; aber trotz der guten Gelegenheit sagte er auch nicht das leiseste Wort von seiner Liebe. »Was kann das helfen,« sprachen seine Gedanken; »ihre Eltern sehen auf Geld, und ich habe nichts; das klügste wäre, fortzugehen;« aber er konnte sich nicht losreißen; es war, als ob Else ihn an einem Faden festhielt; er war wie ein wohlabgerichteter Vogel, der nur zu ihrer Freude und nach ihrem Willen sang und flötete.

Johanne, des Holzschuhmachers Tochter, war Dienstmagd auf demselben Hofe, sie war eine der geringsten. Sie schob den Milchkarren auf das Feld hinaus, wo sie mit andern Mägden die Kühe molk; ja sie mußte auch Mist fahren, wenn es nötig war. Sie kam niemals in die große Stube, und sah Rasmus und Else nur selten; allein sie hörte, daß die beiden sich gut wären wie Brautleute.

»Dann kommt Rasmus zu Wohlstand,« sagte sie. »Das gönne ich ihm.« Und ihre Augen wurden naß, und es war doch nichts, worüber sie weinen mußte.

In der Stadt war Jahrmarkt; Klaus Hansen fuhr hinein und Rasmus war dabei; er saß neben Else auf der Hinfahrt und auf der Rückfahrt. Er war selig vor Liebe; allein er sagte kein Wort.

»Er muß doch das erste Wort sagen,« meinte Else, und darin hatte sie recht. »Wenn er nicht reden will, so will ich ihn schon aufschrecken.«

Und bald erzählte man sich auf dem Hofe, daß der reichste Bauer der Gemeinde um Else gefreit hätte; und das war wahr; aber niemand wußte, welche Antwort sie ihm gegeben hatte.

Die Gedanken surrten in Rasmus' Kopf.

Eines Abends steckte Else einen goldenen Ring auf ihren Finger und fragte Rasmus, was es bedeute.

»Eine Verlobung,« sagte er.

»Und mit wem glaubst du?« fragte sie.

»Mit dem reichen Bauernsohn?« sagte er.

»Du hast es getroffen,« sagte sie, nickte ihm zu und lief davon.

Aber auch er lief fort, kam heim zu seiner Mutter wild vor Zorn und Schmerz und schnürte seinen Ranzen. Er wollte in die weite Welt hinaus; es half nicht, daß die Mutter weinte.

Er schnitt sich einen Stock von dem alten Weidenbaum und pfiff, als wäre er in fröhlicher Stimmung, daß er hinaus sollte und die Herrlichkeit der Welt sehen.

»Für mich ist es ein großer Kummer,« sagte die Mutter. »Allein für dich wird es wohl das beste sein, fortzugehen. Ich werde mich schon drein finden. Vertrau auf dich und den lieben Gott, so sehe ich dich einst froh und glücklich wieder.«

Er ging die neue Landstraße; da sah er Johanne mit einer Fuhre Mist daher kommen; sie hatte ihn nicht bemerkt, und er wollte sie nicht sehen. Er setzte sich hinter die Grabenhecke, dort war er geborgen, und Johanne fuhr vorüber. –

Er ging in die Welt hinaus, keiner wußte wohin. Die Mutter dachte zwar, daß er wieder käme, ehe ein Jahr vergangen sei. Nun gab es Neues zu sehen und Neues zu denken; aber die alten Falten, die konnte kein Eisen wieder glätten. »Er hat viel zu viel von seines Vaters Sinnesart; ich wollte, er hätte die meine, der arme Junge; doch er wird schon wiederkommen; er kann mich und das Haus nicht im Stich lassen.«

Die Mutter wollte Jahr und Tag warten; Else wartete nur einen Monat; dann ging sie heimlich zur klugen Stine. Die wußte mehr als ihr Vaterunser; sie konnte Wunder besprechen und aus den Karten und dem Kaffeesatz wahrsagen. Sie wußte denn auch, wo Rasmus war; das las sie aus dem Kaffeesatz. Er war in einer fremden Stadt; allein ihren Namen konnte sie nicht lesen. Dort gab es Soldaten und schöne Mädchen, und er wollte die Flinte nehmen oder eines der Mädchen.

Das konnte Else nicht ertragen, und sie wollte gern ihre Sparpfennige hergeben, um ihn frei zu machen; aber niemand durfte es wissen, daß sie es wäre.

Und die alte Stine vermaß sich hoch und teuer, daß er zurückkommen würde; sie wüßte ein Mittel, freilich ein gefährliches Mittel für den, dem es galt; allein es gäbe kein anderes. Sie wollte einen Grapen aufs Feuer setzen und ihm nachkochen, und dann mußte er fort, wo er auch wäre; er mußte zur Heimat zurück, wo der Grapen kochte und die Braut ihn erwartete; es könnten zwar Monate vergehen, ehe er käme; aber kommen müßte er, wenn er noch am Leben wäre.

Ohne Ruh und Rast, bei Tag und bei Nacht müßte er wandern, über Seen und Gebirge, über glatte und steinige Wege und wären seine Füße auch noch so müde. Heim sollte er, heim müßte er.

Der Mond stand im ersten Viertel; das wäre gerade die rechte Zeit für dieses Mittel, sagte die alte Stine. Draußen brauste der Sturm und schüttelte den alten Weidenbaum; Stine schnitt einen Zweig ab und schlang ihn in einen Knoten; er sollte mit helfen, Rasmus heim zu seiner Mutter Haus zu ziehen. Moos und Hanslauch wurden vom Dach genommen, in den Grapen geworfen und aufs Feuer gesetzt. Else sollte ein Blatt aus dem Gesangbuch reißen, sie traf zufällig das letzte mit den Druckfehlern. »Das tut nichts,« sagte Stine und warf es ebenfalls hinein.

Mancherlei kam in den Brei, der kochen und ständig kochen mußte, bis Rasmus heimkam. Der schwarze Hahn der alten Stine mußte seinen roten Kamm hergeben; er kam in den Grapen. Elses dicker Goldring kam auch hinein; sie sähe ihn niemals wieder, sagte Stine ihr im voraus. Ja, sie war klug, die alte Stine. Noch viele Dinge, die wir nicht nennen können, kamen in den Grapen; er stand immer auf dem Feuer, auf glühenden Kohlen oder in der heißen Asche. Nur sie und Else wußten es.

Es wurde Neumond und es wurde Vollmond; jedesmal kam Else und fragte: »Siehst du ihn noch nicht kommen?«

»Vieles weiß ich,« sagte Stine, »und vieles sehe ich; aber die Weglänge, die vor ihm liegt, kann ich nicht sehen. Nun ist er über die ersten Berge! Nun ist er auf dem Meere bei bösem Wetter! Sein Weg führt durch große Wälder; er hat Blasen an den Füßen und Fieber in den Gliedern; aber weiter muß er.«

»Nein, nein,« rief Else, »es darf nicht sein.«

»Nun kann er nicht innehalten,« sagte Stine, »und tun wir es, so stürzt er tot auf der Landstraße nieder.«

Jahr und Tag waren vergangen. Der Mond schien rund und voll. Der Wind rauschte in dem alten Weidenbaum; da zeigte sich am nächtlichen Himmel ein Regenbogen.

»Das ist ein Zeichen der Bestätigung,« sagte Stine. »Nun kommt Rasmus.«

Aber er kam doch nicht.

»Die Zeit des Wartens ist lang,« sagte Stine.

»Ich bin es müde,« sagte Else. Sie kam seltener zu Stine und brachte ihr auch keine Geschenke mehr.

Ihre Trauer schwand, und eines schönen Morgens wußten es alle im Dorfe, daß Else sich dem reichsten Bauern versprochen hatte.

Sie ging hinüber, um Hof und Feld, Vieh und Einrichtung zu sehen. Alles war in gutem Stand, und man brauchte nicht mit der Hochzeit zu warten.

Der Hochzeitsschmaus dauerte drei Tage. Es wurde getanzt; Geige und Flöte erklangen. Keiner im Dorf war vergessen. Mutter Olsen war auch da, und als das Fest zu Ende war, die Schaffner den Gästen Dank gesagt und die Musikanten zum Abschied gespielt hatten, ging sie heim mit Resten vom Schmause.

Die Tür hatte sie nur mit einem Holzpflock geschlossen; er war herausgezogen, die Tür stand offen und Rasmus saß in der Stube. Er war heimgekehrt, zu dieser Zeit zurückgekommen.

»Rasmus,« sagte die Mutter, »bist du es wirklich! Du bist krank; aber doch bin ich von Herzen froh, daß ich dich wieder habe.«

Und sie gab ihm von der guten Speise, welche sie mitgebracht hatte, ein Stück Braten und ein Stück Hochzeitskuchen.

Er hatte in den letzten Wochen, sagte er, häufig an seine Mutter denken müssen, an das Haus und an den alten Weidenbaum. Es wäre wunderlich, wie oft er im Traume den Baum und die barfüßige Johanne gesehen hätte.

Else nannte er nicht. Krank war er, und er mußte das Bett hüten; aber sicherlich war der Grapen nicht schuld daran, noch hatte er irgend einen Einfluß auf ihn ausgeübt; nur die alte Stine und Else glaubten es; allein sie sprachen nicht davon.

Rasmus lag im Fieber, es war ansteckend; niemand kam deshalb zu ihm, außer Johanne, des Holzschuhmachers Tochter. Sie weinte, als sie sah, wie krank Rasmus war.

Der Arzt verschrieb ihm ein Mittel aus der Apotheke; doch er wollte die Arznei nicht nehmen. »Was kann das helfen,« sagte er.

»Ja, so wirst du nicht wieder gesund,« sagte die Mutter. »Vertrau auf dich und den lieben Gott. Wenn du nur erst wieder Fleisch auf den Knochen hast, wenn ich dich wieder pfeifen und singen höre, will ich gern sterben.«

Und Rasmus genas von seinem Siechtum; allein seine Mutter kriegte es; Gott rief sie und nicht ihn.

Einsam war es nun im Hause, und die Armut zog hinein. »Er ist aufgebraucht,« sagten die Leute im Dorfe. »Kranker Rasmus!«

Er hatte auf der Reise ein wildes Leben geführt; das, und nicht der schwarze kochende Grapen, hatte an seinem Mark gezehrt und Fieber in seinem Körper entzündet. Sein Haar wurde dünn und grau; arbeiten mochte er nicht mehr. »Was kann das helfen,« sagte er. Er ging lieber ins Wirtshaus als in die Kirche.

An einem Herbstabend wankte er in Sturm und Regen mühsam die kotige Straße vom Wirtshaus nach seinem Hause daher; seine Mutter hatte man schon vor langer Zeit ins Grab gelegt. Die Schwalben und Stare waren fortgeflogen. Die treuen Tiere! Johanne, des Holzschuhmachers Tochter, war nicht fort. Sie holte ihn ein und ging ein Stück des Weges mit ihm.

»Nimm dich zusammen, Rasmus!«

»Was kann das helfen,« sagte er.

»Das ist eine häßliche Redensart,« sagte sie. »Denke an deine Mutter Worte: ›Vertrau auf dich und den lieben Gott.‹ Das tust du nicht, Rasmus! Das soll und muß man! Sage niemals wieder: ›Was kann das helfen,‹ und du reißt die Wurzel deiner Schwachheit aus«

Sie ging mit ihm bis zu seinem Haus; dort ging sie von ihm. Er ging nicht hinein, sondern steuerte auf den alten Weidenbaum zu und setzte sich auf einen Stein des umgefallenen Meilenzeigers.

Der Wind rauschte in den Zweigen des Baumes; es war wie ein Lied, wie eine Geschichte. Rasmus antwortete ihm; er sprach laut; aber niemand hörte es als nur der Baum und der brausende Wind.

»Hm! Mir wird so kalt! Es ist Zeit zu Bett zu gehen! Schlafen! Schlafen!« sagte er.

Und er ging, allein nicht in der Richtung des Hauses, sondern dem Tümpel zu; dort stolperte und fiel er. Der Regen strömte hernieder; der Wind war eisig kalt; er fühlte es nicht; aber als die Sonne aufging und die Krähen über den schilfbewachsenen Teich flogen, erwachte er halberstarrt. Hätte der Kopf gelegen, wo die Füße lagen, er hätte sich niemals wieder erhoben; die grünen Wasserlinsen wären sein Leichentuch geworden.

An diesem Tage kam Johanne in des Schneiders Haus.

Sie war seine Hilfe; sie pflegte ihn wie im Krankenhause.

»Wir kennen uns von Kindheit an,« sagte sie: »deine Mutter hat mir zu essen und zu trinken gegeben; ihr kann ich es niemals vergelten. Und du, Rasmus, wirst wieder gesund, du sollst nicht sterben.«

Und Gott wollte es, daß er leben sollte; aber es dauerte lange bis er genas; noch manchesmal brach er kraftlos zusammen oder redete er in wirren Phantasien.

Die Schwalben und Stare kamen und gingen und kamen wieder; Rasmus wurde alt vor der Zeit. Einsam saß er in seinem Hause, das mehr und mehr verfiel. Arm war er jetzt, ärmer als Johanne.

Du hast keinen Glauben,« sagte sie, »und haben wir Gott nicht, was haben wir dann. Du solltest mit zum Abendmahl gehen; du bist seit deiner Konfirmation nicht hingegangen.«

»Was kann das helfen,« sagte er.

»Ist das dein Glaube, so laß es sein. Unwillige Gäste will der Herr nicht an seinem Tische sehen. Denk' doch an deine Mutter und an deine Kindheit. Du warst einst ein schöner, frommer Knabe. Soll ich dir einen Psalm vorlesen?«

»Was kann das helfen,« sagte er.

»Mich tröstet es immer,« sagte sie.

»Johanne, du bist mir doch am treuesten von allen geblieben,« und er sah sie an mit matten, müden Augen.

Und Johanne sprach einen Psalm; doch las sie nicht aus einem Buche vor; er hatte keins, und sie wußte ihn auswendig.

»Das waren schöne Worte,« sagte er; »allein ich konnte dir nicht ganz folgen. Mir ist so schwer im Kopf.«

Rasmus war ein alter Mann geworden; allein Else war auch nicht mehr jung. Wir müssen sie schon nennen; denn Rasmus nannte sie niemals. Sie war Großmutter; ein kleines, munteres Mädchen war ihre Enkelin. Die lag mit andern Kindern mitten auf der Straße. Rasmus kam des Weges und stützte sich auf seinen Stock. Er hielt an, sah auf die Kinder nieder und lächelte; die alte Zeit schien wieder in seine Gedanken hinein. Aber Elses Enkelin zeigte mit dem Finger auf ihn und rief: »Kranker Rasmus«; die andern Kinder folgten ihrem Beispiel und riefen: »Kranker Rasmus! Kranker Rasmus!« und verfolgten ihn mit ihrem Geschrei.

Es kamen graue, kalte Tage; aber ihnen folgte endlich doch ein Tag voll Sonnenschein.

Es war ein herrlicher Pfingstmorgen; die Kirche war mit grünen Maien geschmückt. Der Duft des Waldes zog durch den Raum und die Sonne leuchtete durch die blanken Fenster. Die großen Altarlichter waren angezündet; es war Abendmahl; Johanne weilte unter den Andächtigen, aber Rasmus war nicht dabei. Gerade diesen Morgen hatte Gott ihn zu sich gerufen.

Bei ihm ist Gnade und Barmherzigkeit. –

Viele Jahre sind seitdem vergangen; des Schneiders Haus steht noch; allein niemand bewohnt es; es kann einstürzen bei dem ersten Sturm. Der Tümpel ist überwachsen mit Schilf und Bitterklee. Der Wind rauscht in dem alten Baum; es klingt wie ein altes Lied: der Wind singt es: der Baum erzählt es; verstehst du es nicht, so frage die alte Johanne im Armenhause.

Sie lebt dort und singt ihren Psalm, den sie Rasmus einst vorsang; sie denkt an ihn und bittet Gott für ihn. Die treue Seele! Sie kann erzählen von Zeiten, die vergangen sind, und von Erinnerungen, die in dem alten Baume rauschen.


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