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Hühnergretes Familie.

Hühnergrete wohnte als einziges Menschenkind in dem neuen stattlichen Hause, das auf dem Herrenhofe für die Hühner und Enten erbaut worden war. Es stand dort, wo die alte Ritterburg mit Turm, zackigem Giebel, Wallgraben und Zugbrücke gestanden hatte. In der Nähe war eine Wildnis von Bäumen und Büschen. Hier war einst der Garten gewesen, der sich bis an den großen See erstreckte. Aber der See war zum Sumpf geworden; Raben, Krähen und Dohlen flogen in dichten Scharen schreiend und krächzend über die alten Bäume. Sie nahmen nicht ab, obgleich man unter sie schoß; sie nahmen eher zu. Man hörte ihr Geschrei noch im Hühnerhause, wo Hühnergrete saß und ihr die jungen Entlein über die Holzschuhe liefen. Sie kannte jedes Huhn, jede Ente, die aus dem Ei gekrochen war; sie war stolz auf ihre Hühner und ihre Enten, stolz auf das stattliche Haus, das man für sie gebaut hatte. Reinlich und nett war ihre kleine Stube; das verlangte die gnädige Frau, der das Hühnerhaus gehörte. Sie kam oft mit seinen und vornehmen Gästen hierher und zeigte ihnen die »Hühner- und Entenkaserne,« wie sie es zu nennen pflegte.

Kleiderschrank und Lehnstuhl waren vorhanden, ja auch eine Kommode, und auf ihr stand eine blank gescheuerte Messingplatte, in welcher das Wort: »Grubbe« eingraviert war. Das war gerade der Name des alten hochadligen Geschlechts, welches hier in der Ritterburg gewohnt hatte. Die Messingplatte hatte man beim Graben gefunden, und der Küster hatte gesagt, daß sie nur den Wert einer alten Erinnerung besäße. Der Küster wußte über die Stätte und die alte Zeit gut Bescheid; er bezog seine Gelehrsamkeit aus Büchern, und in seiner Tischschieblade lag manches, was er aufgeschrieben hatte. Er besaß gute Kenntnisse von der alten Zeit; doch die älteste Krähe wußte vielleicht noch mehr von derselben in ihrer Sprache zu erzählen. Aber es war die Krähensprache, und die verstand der Küster nicht, wie klug er auch war.

Der Sumpf konnte nach einem warmen Sommertage Dünste aufsteigen lassen, die sich vor den alten Bäumen, wo die Raben, Krähen und Dohlen flogen, wie ein See ausbreiteten. So hatte es damals ausgesehen, als Ritter Grubbe noch lebte und die alte Burg mit den dicken roten Mauern noch stand. Die Hundekette reichte weit über das Tor hinaus; durch den Turm gelangte man über den gepflasterten Gang zu den Wohnräumen. Die Fenster waren schmal und die Scheiben klein, selbst in dem großen Saal, wo getanzt wurde. Aber seit Menschengedenken war in der Zeit der letzten Grubbe nicht getanzt worden, und doch lag dort noch eine alte Kesseltrommel, die zur Musik gebraucht worden war. Hier stand ein kunstvoll geschnitzter Schrank, in dem seltene Blumenzwiebeln verwahrt wurden; denn Frau Grubbe liebte die Blumen und zog Bäume und Kräuter mit eigener Hand. Ihr Gemahl ritt lieber aus und schoß Wölfe und Wildschweine, und auf diesen Wegen folgte ihm stets seine kleine Tochter Marie. In einem Alter von fünf Jahren saß sie schon stolz zu Roß und sah mit großen schwarzen Augen keck umher. Es war ihre Lust, mit der Peitsche unter die Jagdhunde zu schlagen; der Vater hätte lieber gesehen, daß sie unter die Bauernjungen schlug, die gekommen waren, um die Herrschaft zu sehen.

Der Bauer in der Lehmhütte am See hatte einen Sohn Sören, von gleichem Alter mit dem kleinen hochadligen Fräulein. Er verstand zu klettern und mußte jederzeit hinauf und die Vogelnester für sie ausnehmen. Die Vögel schrien, was sie schreien konnten, und einer der größten hackte ihm seinen Schnabel gerade über dem Auge hinein, so daß das Blut herausströmte. Man glaubte, daß das Auge verloren wäre; aber es hatte keinen Schaden gelitten. Marie Grubbe nannte ihn auch ihren Sören. Das war eine große Gunst, und die kam seinem Vater, dem schwächlichen Jon, zugute. Er hatte eines Tages etwas versehen und sollte bestraft werden, auf dem hölzernen Esel reiten. Er stand auch im Hofe mit vier Pfählen als Beinen und einem einzigen schmalen Brett als Rücken. Auf ihm mußte Jon reiten, und man hängte an seine Beine ein paar schwere Mauersteine, damit er nicht zu leicht säße. Er schnitt schreckliche Gesichter, Sören weinte und flehte die kleine Marie um Hilfe an. Sofort gebot sie, Sörens Vater herunter zu lassen, und da man ihr nicht gehorchte, stampfte sie mit den Füßen und faßte den Vater an den Arm, daß der Rock zerriß. Sie wollte, was sie wollte und bekam ihren Willen. Sörens Vater wurde befreit.

Frau Grubbe, welche hinzukam, strich ihrer kleinen Tochter über das Haar und sah sie mit sanften Augen an; aber Marie wußte nicht warum.

Zu den Jagdhunden wollte sie und nicht mit ihrer Mutter, welche nach dem Garten an dem See hinunterging, wo Wasserrosen und Froschkraut blühten, wo Rohrkolbe und Schlangenkraut zwischen dem Schilf schwankten. Sie sah ihre Üppigkeit und Schönheit und sagte: »Wie herrlich.« In dem Garten stand damals ein seltener Baum; sie hatte ihn selbst gepflanzt, Blutbuche nannte man ihn; er war eine Art Mohr unter den andern Bäumen, so dunkelbraun waren seine Blätter. Er mußte viel Sonne habe, im Schatten würde er bald seine Eigentümlichkeit verlieren und grün wie die andern Bäume werden. In den hohen Kastanienbäumen befanden sich viele Vogelnester, auch in den Büschen und dem dichten Nasen. Es war als ob die Vögel wüßten, daß sie hier Schutz hätten. Hier durfte niemand mit der Büchse unter sie knallen.

Dahin ging die kleine Marie mit Sören, der zu klettern verstand, und er holte Eier und daunenbedeckte Junge herab. In Angst und Schrecken flogen die Vögel hin und her, die großen und die kleinen. Die Kiebitze aus den Sümpfen, Raben, Krähen und Dohlen aus den hohen Bäumen schrien und schrien. Es war ein Geschrei, wie diese Sippschaft noch heutzutage schreit.

»Was macht ihr hier, Kinder,« rief die sanfte Frau; »das ist ja ruchlos.«

Sören stand zerknirscht; das hochadlige kleine Fräulein sah verlegen zur Seite; aber dann antwortete sie kurz und trotzig: »Ich will zum Vater!«

»Fort! fort!« schrien die großen schwarzen Vögel und flogen davon; aber am nächsten Tage kamen sie doch wieder; denn hier waren sie daheim.

Die stille, sanfte Frau blieb hingegen nicht lange hier heimisch; Gott rief sie zu sich; bei ihm war sie auch mehr zu Hause, als hier auf der Ritterburg. Feierlich ertönten die Glocken, als ihre Leiche zur Kirche gefahren wurde; die Augen der armen Leute wurden naß; denn sie war gut gegen sie gewesen.

Als sie gestorben war, nahm niemand sich ihrer Pflanzungen an, und der Garten verfiel.

»Herr Grubbe ist ein harter Mann,« sagten die Leute; aber seine Tochter, wie jung sie auch war, wußte ihn zu nehmen. Er mußte lachen, und sie bekam ihren Willen. Nun war sie 12 Jahre alt und von kräftigem Wuchs. Sie sah mit ihren schwarzen Augen den Leuten ins Herz, ritt ihr Pferd wie ein Mann und schoß mit der Büchse gleich einem geübten Jäger.

Da kam in die Gegend hoher Besuch, der allerhöchste, der junge König und sein Halbbruder und Kamerad Herr Ulrich Friedrich Gyldenlöve. Sie wollten Wildschweine jagen und blieben einen Tag auf Herrn Grubbes Burg.

Gyldenlöve saß bei Tisch neben Marie Grubbe, er nahm sie beim Kopfe und küßte sie, als ob sie aus einer Familie wären. Aber sie schlug ihn auf den Mund und sagte, daß sie ihn nicht ausstehen könne, und es wurde herzlich darüber gelacht, als wäre es sehr lustig.

Das muß es auch wohl gewesen sein; denn fünf Jahre später – Marie hatte ihr siebzehntes Jahr vollendet – kam ein Bote mit einem Brief. Herr Gyldenlöve warb um die Hand der hochadligen Jungfrau; das war schon etwas.

»Er ist der vornehmste und galanteste Kavalier im ganzen Reich,« sagte Herr Grubbe. »Du darfst ihn nicht verschmähen.«

»Viel mache ich mir nicht aus ihm,« sagte Marie Grubbe; aber sie verschmähte den vornehmsten Mann des Landes, der an des Königs Seite saß, doch nicht.

Silbergerät, Woll- und Leinenzeug gingen mit einem Schiff nach Kopenhagen ab. Sie machte die Reise zu Lande in 10 Tagen. Widrige Winde und Windstille hielten die Aussteuer zurück und es vergingen Monate, ehe sie ankam. Aber als sie ankam, war Frau Gyldenlöve nicht mehr dort.

»Ich will lieber auf Stroh liegen als in seinem seidenen Bette,« sagte sie, »lieber barfuß gehen als mit ihm in der Kutsche fahren.«

An einem späten Novembertage ritten zwei Frauen in Aarhuus ein; es war Frau Gyldenlöve, Marie Grubbe, mit ihrem Kammermädchen. Sie kamen von Veile: dahin waren sie zu Schiff von Kopenhagen gefahren. Sie ritten nach der steinernen Burg des Herrn Grubbe. Er war von diesem Besuche nicht erfreut. Sie erhielt grobe Worte, aber doch eine Kammer zum Schlafen. Biersuppe gab es am Morgen; aber keine vertraute Unterredung; der Zorn ihres Vaters kehrte sich nun gegen sie; das war sie nicht gewöhnt. Milden Sinnes war sie nicht; wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus. Sie blieb ihrem Vater keine Antwort schuldig und sprach mit Abscheu und Haß von ihrem Ehegemahl. Mit ihm wollte sie nie wieder zusammenleben; dazu wäre sie zu sittsam und ehrbar.

So verging ein Jahr; es verging nicht freudig. Böse Worte fielen zwischen Vater und Tochter; das soll nicht sein. Böse Worte tragen böse Frucht. Wie würde es enden?

»Wir beide können nicht unter einem Dache wohnen,« sagte eines Tages der Vater. »Ziehe deshalb in den Hof hinüber; aber beiße dir lieber die Zunge ab, als Lügen in die Welt zu setzen.«

Damit trennten sie sich. Sie zog mit ihrem Mädchen auf den alten Hof, wo sie geboren und erzogen war, wo ihre Mutter, die stille fromme Frau, in der Grabkammer der Kirche lag. Ein alter Viehhirte wohnte auf dem Hofe; das war ihr ganzer Schutz. In den Stuben hingen die Spinngewebe, schwer und schwarz von Staub. Der Garten wuchs, wie er wollte. Hopfenranken und Winden schlangen Netze zwischen Bäumen und Büschen; Schierling und Nessel gediehen in üppiger Fülle. Die Blutbuche war überwachsen und stand im Schatten; sie war nun so grün wie die anderen gewöhnlichen Buchen; es war mit ihrer Herrlichkeit vorbei. Raben, Krähen und Dohlen flogen in dichten Scharen über die alten Kastanienbäume; es war ein Schreien und Krächzen, als ob sie sich wichtige Neuigkeiten zu erzählen hätten. Nun war sie wieder hier, die Kleine, die einst ihre Eier und Jungen hatte stehlen lassen. Der Dieb aber, der sie damals holte, kletterte nun am blattlosen Stamm; er saß in dem hohen Mast und erhielt mit dem Tauende seine Schläge, wenn er sich nicht schickte.

Das alles erzählte in unserer Zeit der Küster; er hatte es aus Büchern und Aufzeichnungen gesammelt und zusammengestellt. In der Tischschieblade lag es nebst anderm geschrieben und verwahrt.

»Auf und ab ist der Lauf der Welt,« sagte er; »es ist wunderbar zu hören.« – Und wir wollen hören, wie es Marie Grubbe erging. Aber deshalb vergessen wir Hühnergrete doch nicht. Sie sitzt heute in ihrem stattlichen Hühnerhause, wo Marie Grubbe zu ihrer Zeit gesessen hat, aber mit andern Gedanken als die alte Hühnergrete.

Der Winter verging, Frühling und Sommer vergingen, und wiederum kam der stürmende Herbst mit kalten Regengüssen. Es war ein einsames Leben, ein einförmiges Leben auf dem Hofe.

Da nahm Marie Grubbe ihre Büchse, ging auf die Heide hinaus und schoß Hasen und Füchse und Vögel, was sie nur treffen konnte. Draußen traf sie mehr als einmal den adeligen Herrn Palle Dyre von Norrebäck. Auch er jagte mit Büchse und Hunden. Er war groß und stark; dessen rühmte er sich, wenn sie zusammen sprachen. Er konnte sich mit dem seligen Herrn Brockenhuus zu Egeskoo auf Fühnen messen, von dessen Stärke noch heute die Sage erzählt. Palle Dyre hatte nach dessen Beispiel an dem Tor seiner Burg ein Jagdhorn an einer eisernen Kette aufhängen lassen, und wenn er heimritt, ergriff er die Kette, hob sich samt dem Pferde in die Höhe und stieß ins Horn.

»Kommt mit, Frau Marie und seht es Euch an,« sagte er. »Ein frischer Wind weht auf Norrebäck.«

Wann sie auf seine Burg kam, steht nicht geschrieben; aber auf den Altarleuchtern der Kirche zu Norrebäck war zu lesen, daß sie von Palle Dyre und Marie Grubbe auf Norrebäck geschenkt waren.

Einen kräftigen Körper hatte Palle Dyre; er trank wie ein Schwamm; er glich einer Tonne, die nicht gefüllt werden konnte, sah rot und aufgeschwemmt aus und schnarchte wie ein ganzer Schweinestall.

»Bauernschlau und ein Freund derber Spaße wäre er,« sagte Frau Palle Dyre, Grubbes Tochter. Bald war sie dieses Lebens müde; aber deshalb wurde es doch nicht besser.

Eines Tages war der Tisch gedeckt; aber die Speisen wurden kalt. Palle Dyre war auf der Fuchsjagd und die Frau war nirgends zu finden. Um Mitternacht kam Palle Dyre heim; aber Frau Dyre kam weder um Mitternacht noch am Morgen heim. Sie hatte Norrebäck den Rücken gekehrt, war ohne Gruß und Lebewohl fortgeritten.

Es war graues nasses Wetter; der Wind blies kalt. Eine Schar schwarzer schreiender Vögel flog über sie hin; die waren nicht so heimatlos wie sie.

Anfangs zog sie nach Süden, geradeswegs nach Deutschland. Ein paar goldene Ringe mit kostbaren Steinen hatte sie in Geld umgewandelt. Dann ging es nach Osten, und dann wandte sie sich wieder dem Westen zu; sie hatte kein Ziel vor Augen und war zornig auf alles, selbst auf Gott – so elend war ihr's im Herzen. Bald wurde auch ihr Körper elend; sie konnte sich kaum noch fortschleppen. Der Kiebitz flog aus seinem Erdnest auf, als sie über dasselbe fiel. Der Vogel schrie, wie er immer schreit: »Du Dieb! Du Dieb!« Niemals hatte sie ihres Nächsten Gut gestohlen, aber Vogeleier und Vogeljunge hatte sie als kleines Mädchen von Bäumen und aus Erdnestern holen lassen. Daran dachte sie jetzt.

Dort, wo sie lag, konnte sie die Dünen am Strande sehen. Dort wohnten Fischer; aber sie konnte sie nicht erreichen, so krank war sie. Die großen weißen Möven flogen über sie hin und schrien wie die Raben, Krähen und Dohlen daheim in dem Garten des Hofes schrien. Die Vögel flogen dicht über sie hin, zuletzt schien es ihr, als wären sie kohlrabenschwarz. Aber dann wurde es Nacht vor ihren Augen.

Als sie die Augen wieder aufschlug, wurde sie hochgehoben und davongetragen. Ein großer kräftiger Bursche hatte sie in seine Arme genommen, Sie sah in sein bärtiges Gesicht; es hatte eine Narbe über dem Auge, die die Augenbraue in zwei Teile teilte. Er trug sie – so elend war sie – auf ein Schiff, weshalb er von dem Schiffer grobe Worte zu hören kriegte.

Am folgenden Tage segelte das Schiff ab. Marie Grubbe kam nicht ans Land; sie fuhr also mit. Aber kam sie wieder zurück? Ja, aber wann und wo?

Auch das wußte der Küster zu erzählen, und es war nichts, was er selbst erfunden hatte. Er hatte den ganzen seltsamen Verlauf einem alten glaubwürdigen Buche entnommen; wir selbst können es dort nachlesen. Der dänische Geschichtschreiber Ludwig Holberg, der gar lesenswerte Bücher und lustige Komödien geschrieben hat, aus welchen wir seine Zeit und die Menschen der Zeit so recht kennen lernen, erzählt in seinen Briefen von Marie Grubbe, wo und wie er sie in der Welt traf. Es ist schon wert gehört zu werden. Deshalb vergessen wir doch nicht die alte Hühnergrete, die froh und wohlgemut in dem stattlichen Hühnerhause sitzt.

Das Schiff segelte mit Marie Grubbe fort; so weit waren wir gekommen.

Jahr auf Jahr ist seitdem vergangen.

Die Pest wütete in Kopenhagen; es war im Jahre 1711. Die Königin von Dänemark zog in ihre deutsche Heimat; der König verließ die Hauptstadt des Landes. Jeder, der es konnte, beeilte sich fortzukommen. Die Studenten, selbst diejenigen, die Kost und Wohnung frei hatten, suchten die Stadt zu verlassen. Einer von ihnen, der letzte, der noch auf dem sogenannten Borchs-Kollegium geblieben war, ging endlich auch fort. Es war um die zweite Morgenstunde, als er mit seinem Ränzel, das mehr voll Bücher und Schriften als voll Kleidungsstücke war, von dannen zog. Ein nasser kalter Nebel hing über der Stadt; nicht ein Mensch war auf der ganzen Straße zu sehen, durch die er ging. Ringsum an Türen und Toren waren Kreuze gemacht zum Zeichen, daß drinnen die Seuche herrschte oder die Leute gestorben waren. Auch in der breiteren, krummen »Kjödmagergade,« wie die Straße vom runden Turm bis zum königlichen Schloß genannt wird, war kein Mensch zu sehen. Nun rasselte ein großer Sammelwagen vorbei; der Kutscher schwang die Peitsche, die Pferde rannten im Galopp dahin; der Wagen war voller Toter. Der junge Student hielt eine Hand vors Gesicht und roch an einem Schwamm, der, mit starkem Spiritus getränkt, in einer kleinen Messingdose lag. Aus einer Kneipe in einer der Gassen ertönte lärmender Sang und unseliges Gelächter von Leuten, die die Nacht hindurch tranken, um zu vergessen, daß die Pest vor der Tür stand und sie zu den Toten in den Sammelwagen holen wollte. Der Student ging auf die Schloßbrücke zu. Dort lagen einige kleine Schiffe; eins lichtete gerade die Anker, um aus der verseuchten Stadt fortzukommen.

»Wenn Gott uns am Leben läßt und guten Wind gibt gehen wir nach Grönsund bei Falster,« sagte der Schiffer und fragte den Studenten, der mitfahren wollte, nach seinem Namen.

»Ludwig Holberg,« fügte der Student, und der Name klang wie jeder andere Name, nun klingt er wie einer der stolzesten Dänemarks. Damals war er noch ein junger unbekannter Student.

Das Schiff glitt am Schloß vorüber, und es war noch nicht lichter Morgen, als sie die offene See erreichten. Eine leichte Brise kam auf; die Segel blähten sich. Der junge Student setzte sich mit dem Gesicht gegen die frische Brise und fiel in Schlaf, und das war gerade nicht das ratsamste.

Schon am dritten Morgen lag das Schiff vor Falster.

»Kennt Ihr jemand hier am Ort, wo ich billig unterkommen kann?« fragte Holberg den Kapitän.

»Ich glaube, daß Ihr gut tut, zur Fährfrau von Borrehuus zu gehen,« fügte er, »Wollt Ihr recht artig sein, so nennt sie: Mutter Sören Sörensen Moller. Doch kann es auch sein, daß sie wild wird, wenn Ihr zu höflich gegen sie seid. Der Mann sitzt wegen eines Verbrechens im Gefängnis; sie führt das Fährboot selbst; Fäuste hat sie dazu.«

Der Student nahm seinen Ranzen und ging nach dem Fährhaus. Die Haustür war nicht verschlossen: er klinkte sie auf und trat in die mit Ziegelsteinen gepflasterte Stube, wo die Schlafbank mit einer großen ledernen Decke das auffallendste war. Eine weiße Henne war mit ihren Küchlein an die Bank gebunden und hatte den Wassernapf umgestoßen, sodaß das Wasser über die Steine floß. Niemand war hier, und in der Kammer nebenan stand eine Wiege mit einem Kinde. Das Fährboot kam zurück; nur ein Mensch saß darin, ob Mann oder Frau war schwer zu sagen. Er hatte einen großen Mantel umgeworfen und hatte eine Kapuze gleich einem Zuckerhute auf dem Kopfe. Das Boot legte an.

Es war eine Frau, welche ausstieg und in die Stube trat. Sie sah recht stattlich aus, wenn sie sich aufrichtete. Zwei stolze Augen sahen unter den schwarzen Brauen hervor. Es war Mutter Sören, die Fährfrau. Raben, Krähen und Dohlen würden einen andern Namen geschrien haben, den wir besser kennen.

Mürrisch war sie und nicht zum Sprechen aufgelegt. Aber so viel wurde doch gesprochen und abgemacht, daß der Student sich auf unbestimmte Zeit in Kost gab, solange es schlimm um Kopenhagen stände.

Aus der nahen Stadt kam häufig der eine oder der andere ehrbare Bürger in das Fährhaus, wie Franz, der Messerschmied und Sievert der »Sackkieker« Volkstümlicher Spottname für die Steuerbeamten. Sie tranken einen Krug Bier im Fährhaus und diskurierten mit dem Studenten. Er war ein junger Mann, der seine Praktika kannte, wie sie es nannten, der Griechisch und Latein las und von gelehrten Dingen zu erzählen wußte.

»Je weniger man weiß, desto weniger beschwert es einen,« sagte Mutter Sören.

»Ihr habt es schwer,« sagte Holberg eines Tages, als sie selbst ihr Zeug in scharfer Lauge wusch und Holzknorren zu Brennholz spaltete.

»Laßt mich,« antwortete sie.

»Habt Ihr von klein auf stets so schwer arbeiten müssen?«

»Das könnt Ihr an meinen Fäusten lesen,« sagte sie und zeigte ihm zwei kleine, aber harte, kräftige Hände mit abgebissenen Nägeln. »Ihr seid klug genug, um es zu lesen.«

Um die Weihnachtszeit begann ein heftiges Schneegestöber; die Kälte nahm zu, der Wind blies so scharf, als ob er Scheidewasser hätte, um den Leuten das Gesicht zu waschen. Mutter Sören ließ sich's nicht anfechten; sie warf den Mantel über und zog die Kapuze über den Kopf. Schon früh am Nachmittag war es im Zimmer dunkel. Sie legte Holz und Backtorf aufs Feuer, setzte sich nieder und stopfte Strümpfe; es war ja kein anderer da, der es tun konnte. Gegen Abend sprach sie mehr mit dem Studenten, als es sonst ihre Gewohnheit war. Sie sprach von ihrem Mann.

»Er hat aus Unvorsichtigkeit einen Schiffer von Dragör erschlagen und muß deshalb drei Jahre in Ketten auf dem Holm arbeiten. Er ist nur ein gemeiner Matrose, und daher muß das Gesetz seinen Gang gehen.«

»Das Gesetz gilt auch für die höheren Stände,« sagte Holberg.

»Glaubt Ihr?« sagte Mutter Sören und sah ins Feuer; aber dann fing sie von neuem an: »Habt Ihr von Kai-Lyke gehört, der eine seiner Kirchen niederreißen ließ. Als der Priester Matthias deshalb von der Kanzel donnerte, ließ er ihn in Eisen legen. Er setzte ein Gericht ein und das Urteil lautete, daß er seinen Kopf verwirkt habe. Und er wurde enthauptet. Das war keine Tat eines unglücklichen Zufalls, und doch blieb Kai-Lyke damals frank und frei.«

»Er war nach der Ansicht seiner Zeit im Recht,« sagte Holberg. »Wir sind jetzt darüber hinaus.«

»Das mögt Ihr Dummköpfen einreden,« sagte Mutter Suren, erhob sich und ging in die Kammer, wo ihr Kind, das kleine Mädchen, lag. Sie hob es auf, legte es auf die andere Seite und bereitete dem Studenten seine Schlafstelle. Er erhielt die lederne Decke; denn er war gegen die Kälte empfindlicher als sie, und doch war er in Norwegen geboren.

Der Neujahrstag brachte klares sonniges Wetter. Starker Frost hatte sich eingestellt, und der weiche Schnee war so hart gefroren, daß man auf ihm gehen konnte. Die Glocken in der Stadt riefen zur Kirche. Der Student Holberg warf seinen wollenen Mantel über und ging zur Stadt.

Über Borrehuus flogen schreiend und krächzend Raben, Krähen und Dohlen, daß man vor dem Geschrei die Kirchenglocken kaum hörte. Mutter Sören stand draußen und füllte einen Messingkessel mit Schnee, um ihn aufs Feuer zu setzen und Trinkwasser zu erhalten. Sie sah zu den Vogelscharen hinauf und hatte so ihre eigenen Gedanken dabei.

Der Student Holberg ging zur Kirche; auf seinem Wege kam er am Hause des Steuerbeamten Sievert, am Stadttor, vorüber. Auf dem Rückwege wurde er zu einem Glas Warmbier mit Sirup und Ingwer eingeladen. Man kam auf Mutter Sören zu sprechen; aber der Sackkieker wußte nicht viel mehr von ihr, als die andern auch. »Sie stammt aus Falster,« sagte er. »Einige Mittel hat sie sicherlich einst besessen; ihr Mann ist ein gemeiner Matrose von hitzigem Temperament und hat einen Schiffer aus Dragör totgeschlagen. Der Unmensch schlägt sie, und sie nimmt ihn noch in Schutz.«

»Ich würde mir solche Behandlung nicht gefallen lassen,« sagte die Frau des Steuerbeamten, »Ich bin auch aus guter Familie! Mein Vater war königlicher Strumpfwirker.«

»Deshalb seid Ihr auch mit einem königlichen Beamten verheiratet,« sagte Holberg und verneigte sich gegen sie und ihren Mann.

Es war am Heiligen Dreikönigabend. Mutter Sören zündete für Holberg ein Heiligen Dreikönigslicht an, das heißt drei dünne Endchen an einem Stumpf; das hatte sie selbst gemacht.

»Ein Licht für jeden Mann,« sagte Holberg.

»Für jeden Mann?« sagte die Frau und sah ihn fest an.

»Für jeden der Weisen aus dem Morgenlande,« sagte Holberg.

»Ach so, auf die Art,« sagte sie und schwieg lange still. Aber an diesem Abend bekam er doch mehr zu wissen, als er vorher gewußt hatte.

»Ihr zeigt ein liebevolles Herz gegen ihn, mit dem Ihr zusammen lebt,« sagte Holberg. »Die Leute sagen doch, daß er Euch täglich mißhandle.«

»Das ist meine Sache,« sagte sie. »Die Schläge hätten mir als Kind gut getan; nun werde ich um meiner Sünden willen geschlagen. Wieviel Gutes er mir getan hat, weiß ich,« und dabei reckte sie sich voll auf. »Als ich krank in der weiten Heide lag und sich niemand um mich kümmerte, außer Raben und Krähen vielleicht, um mir ins Fleisch zu hacken, trug er mich auf seinen Armen fort und bekam grobe Worte für den Fang, den er auf das Schiff brachte. Ich bin nicht fürs Kranksein geschaffen, und erholte mich bald. Jeder hat seine Weise, Sören auch. Man soll ein Pferd nicht nach dem Sattelzeug beurteilen. Mit ihm habe ich viel glücklicher gelebt als mit jenem, den man den galantesten und vornehmsten aller Untertanen des Königs nannte. Ich bin mit dem Statthalter Gyldenlöve, dem Halbbruder des Königs, verheiratet gewesen. Dann nahm ich Palle Dyre. Der eine war wie der andere, jeder auf seine Weise und ich auf meine. Das war ein langes Geschwätz; aber nun wißt Ihr es.« Und damit ging sie hinaus.

Es war Marie Grubbe! Wie wunderlich hatte sich ihr Glücksrad gedreht! Viele Heiligen Dreikönigabende hat sie nicht mehr erlebt. Holberg hat aufgezeichnet, daß sie im Juni des Jahres 1716 starb. Aber er hat nicht aufgezeichnet – denn er wußte es nicht – daß, als Mutter Sören, wie sie genannt wurde, im Sarg zu Borrehuus lag, eine Menge großer, schwarzer Vögel über die Stätte flog. Sie schrien nicht, als wüßten sie, daß zum Begräbnis Schweigen gehört. Sobald sie aber in der Erde lag, waren die Vögel nicht mehr zu sehen. Aber an demselben Abend wurden in Jütland bei dem alten Hof eine ungeheuere Menge Raben, Krähen und Dohlen gesehen. Sie schrien laut gegeneinander, als hätten sie sich etwas mitzuteilen, vielleicht von ihm, der als kleiner Knabe ihre Eier und daunenbedeckten Jungen nahm, dem Sohn des Bauern, der nun auf des Königs Holm das eiserne Hosenband trägt, und von der hochadeligen Jungfrau, die als Fährfrau bei Grönsund endete. »Bra! bra!« schrien sie.

Und ihre Nachkommen schrien: »Bra! bra! als der alte Hof niedergebrannt wurde. Sie schreien es noch heute, und es ist doch nichts da, worüber sie schreien könnten,« sagte der Künstler, als er davon erzählte. Das Geschlecht ist ausgestorben, der Hof niedergerissen, und wo er stand, da steht nun das stattliche Hühnerhaus mit vergoldeter Wetterfahne und mit der alten Hühnergrete. Sie ist so froh über ihre reizende Wohnung. Wäre sie nicht hierher gekommen, hätte sie ins Armenhaus gehen müssen.

Über ihr girrten die Tauben und ringsumher kollerten die Truthähne und schnatterten die Enten.

»Niemand kennt sie,« sagten sie. »Verwandte hat sie nicht. Es war eine Tat der Barmherzigkeit, sie hierher zu nehmen. Sie hat weder einen Entenvater noch eine Hühnermutter, nicht einen Verwandten!«

Aber Verwandte hatte sie doch. Sie kannte sie nur nicht: der Küster kannte sie auch nicht, wieviel Aufzeichnungen auch in seiner Schieblade lagen. Aber eine der alten Krähen wußte davon, erzählte davon. Sie hatte von ihrer Mutter oder Großmutter über Hühnergretes Mutter und Großmutter gehört, die wir auch kennen, wie sie als Kind über die Zugbrücke ritt und sich so stolz umsah, als ob die ganze Welt mit allen Vogelnestern ihr gehörte. Wir sahen sie auf der Heide bei den Dünen und zuletzt in Borrehuus. Ihr Kindeskind, die letzte ihres Geschlechts, war wieder dahin zurückgekommen, wo der alte Hof gestanden hatte und die schwarzen, wilden Vögel schrien. Aber sie saß zwischen den zahmen Vögeln, von ihnen gekannt und mit ihnen bekannt. Hühnergrete hatte keinen Wunsch mehr; sie freute sich zu sterben, sie war alt genug.

»Grab! grab!« schrien die Vögel.

Und Hühnergrete erhielt ein schönes Grab. Niemand kennt es; nur die alte Krähe kennt es, wenn sie nicht auch schon gestorben ist.

Und nun kennen wir die Geschichte von dem alten Hofe, dem alten Geschlechte und Hühnergretes ganzer Familie.


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