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Erstes Capitel.
April 1805 bis September 1819.

Geburt in Odense. – Beschreibung des Geburtszimmers. – Mein Vater. – Ein Familienfest im Zuchthause. – Odense's Aussehen. – Die Spanier auf Fyen. – Meine Großmutter. – Das Irrenhaus. – Mein Großvater. – Besuch der A-B-C- Schule. – Mein Lehrer Carstens. – Aehrenlesen auf den Stoppeln. – Erster Besuch des Theaters. – Meines Vaters Erklärungen. – Sein Eintritt in die Armee. – Sein Tod. – Meine Einführung bei der Wittwe Benkeflod. – Meine erste dramatische Arbeit. – Mein Eintritt in eine Fabrik. – Die zweite Verheirathung meiner Mutter. – Unser Haus in der Mimkegade – Meine Neigung zu Gesang und dramatischen Vorträgen. – Meine Vorstellung beim Prinzen Christian. – Meine Confirmation. – »Cendrillon.« – Ich will mein Glück versuchen. – Buchdrucker Iversen giebt mir Briefe an hervorragende Personen in Kopenhagen mit. – Ich verlasse Odense.


 

Andersen's Geburtshaus in Odense.

Mein Leben ist ein schönes Märchen, so reich, so überaus glücklich! Wäre mir, als ich, ein Knabe noch, arm und allein in die Welt hinausging, eine mächtige Fee begegnet und hätte sie mir gesagt: »wähle Deine Bahn und Dein Ziel, und je nach Deiner geistigen Entwickelung und wie es vernünftigerweise in dieser Welt zugehen muß, will ich Dich schützen und führen!« – mein Geschick hätte nicht glücklicher, klüger und besser geleitet werden können, als dies geschehen ist. Die Geschichte meines Lebens wird der Welt das Nämliche sagen, was sie mir sagt: es giebt einen liebevollen Gott, der Alles zum Besten führt.

Im Jahre 1805 lebte in der Stadt Odense Siehe Band II. Seite 211. Der Uebers. auf der dänischen Insel Fyen (Fühnen) in einer kleinen ärmlichen Stube ein jüngst vermähltes Pärchen, welches sich unendlich lieb hatte: es war ein junger Schuhmacher und dessen Frau; er kaum zweiundzwanzig Jahr, ein wunderbar begabter Mensch und eine echt poetische Natur, sie, einige Jahre älter, ohne Kenntniß von Welt und Leben, aber mit reichem Herzen. Der Mann war kürzlich Meister geworden und hatte seine Werkstatt und sein Ehebett selbst zusammengezimmert; zum letzteren hatte er das hölzerne Gestell verwendet, welches kurz vorher den Sarg eines verstorbenen Grafen Trampe im Parade-Bette getragen hatte; die schwarzen Tuchleisten, die an der Bettstelle sitzen geblieben, erinnerten noch daran. Anstatt der gräflichen Leiche, umgeben von Flor und Candelabern, lag hier am zweiten April 1805 ein lebendes, weinendes Kind, nämlich ich, Hans Christian Andersen.

Mein Vater soll die ersten Tage nach meiner Geburt am Bette bei meiner Mutter gesessen und ihr aus Holberg's Komödien Wegen des Dichters Holberg sehe man die Note in Band I. Seite 206. Der Uebers. vorgelesen haben, während ich laut schrie. »Willst Du schlafen, Junge, oder hübsch zuhören!« soll er, wie man mir nachmals erzählte, im Scherz gesagt haben; allein ich blieb ein Schreihals, und als solcher soll ich mich namentlich in der Kirche bei der Taufe gezeigt haben, weßhalb der Prediger, den mir später meine Mutter als einen sehr »ärgerlichen Mann« schilderte, sagte: »der Junge schreit ja wie eine Katze!« eine Aeußerung, die ihm meine Mutter nie hat vergessen können. Ein armer französischer Emigrant, Namens Gomard, welcher als mein Gevatter in der Kirche zugegen war, tröstete sie indeß, je lauter ich als Kind schreie, um so schöner würde ich singen, wenn ich älter wäre.

Ein einziges Stübchen, fast ganz ausgefüllt von der Schuhmacher-Werkstatt, dem Bett und der Kiste oder der Schlafbank, in welcher ich schlief, war meiner Kindheit Heim; die Wände waren mit Bildern behangen, auf der großen Commode standen hübsche Tassen, Gläser und Nippessachen und in der Ecke über der Werkstatt am Fenster befand sich ein Brett mit Büchern und Liedern. In der kleinen Küche hing über dem Speiseschrank ein Regal voll Tellern, die kleine Räumlichkeit schien mir groß und reich ausgestattet, selbst die Thür, in deren Füllung eine Landschaft gemalt war, hatte damals für mich dieselbe Bedeutung wie jetzt eine ganze Bildergallerie!

Von der Küche aus führte eine Leiter auf den Boden und hier oben, in der Dachrinne zwischen unserm und des Nachbars Hause stand ein Kasten mit Erde gefüllt, aus welcher Schnittlauch und Petersilie herauswuchsen, der ganze Garten meiner Mutter; in meinem Märchen » die Schneekönigin« Siehe Band III. Seite 369-406. Der Uebers. blüht er noch.

Ich war einziges Kind und wurde im hohen Grade verhätschelt, aber ich bekam es auch oft von meiner Mutter zu hören, daß ich es viel glücklicher habe, als ihr beschieden gewesen, wurde ich doch wie ein Grafenkind gehalten! – sie sei als Kind von ihren Eltern hinausgejagt worden, um zu betteln, und als sie das Betteln nicht zu Stande brachte, habe sie einen ganzen Tag unter einer Brücke des Odense-Flusses gesessen und geweint; in meiner kindlichen Phantasie sah ich dies so deutlich, und ich weinte darüber; in der alten Domenicaim » Improvisator« und als die Mutter des Geigers in » Nur ein Geiger« habe ich meiner Mutter Persönlichkeit in zwei verschiedenen Auffassungen geschildert.

Mein Vater, Hans Andersen, ließ mir in Allem meinen Willen; denn ich besaß seine ganze Liebe; für mich lebte er, und deshalb verwendete er seine ganze freie Zeit, den Sonntag, dazu, mir Spielzeug und Bilder zu machen; Abends las er uns oft aus Lafontaine's »Fabeln«, aus Holberg's »Komödien« und aus » Tausend und Eine Nacht« vor; nur dann, wenn er so las, entsinne ich mich, ihn lächeln gesehen zu haben; denn in seinem Lebensziel und als Handwerker fühlte er sich durchaus nicht glücklich.

Seine Eltern waren wohlhabende Bauersleute gewesen, die aber das Unglück verfolgte, das Vieh starb, der Hof brannte ab und zuletzt verlor der Mann den Verstand; nun zog die Frau mit ihm nach Odense, und hier brachte sie den aufgeweckten Knaben in die Lehre bei einem Schuhmacher; es ging nicht anders, ungeachtet sein innigster Wunsch dahin ging, in die Gelehrten-Schule aufgenommen zu werden, und diese Enttäuschung seiner Hoffnungen verschmerzte er nie.

Selten kam er mit Seinesgleichen zusammen; seine Verwandten und Bekannten kamen zu uns; die Winter-Abende zu Hause las er, wie schon erwähnt, uns laut vor oder machte mir Spielzeug; des Sommers ging er fast jeden Sonntag in den Wald hinaus und nahm mich mit; er sprach draußen nicht viel, er saß still in Gedanken versunken, während ich umhersprang, Erdbeeren pflückte und sie auf einen Strohhalm steckte, oder Kränze wand; nur ein Mal im Jahre und zwar im Mai, wenn der Buchenwald sich eben in seiner vollen Lenzespracht zeigte, begleitete meine Mutter uns. Alsdann trug sie ein braunes, geblümtes Kattun-Kleid, das sie nur an diesem Tage, und wenn sie das heilige Abendmahl genoß, anzog, und welches somit die ganzen Jahre hindurch, deren ich mich erinnere, als ihr Festkleid galt. Wenn wir dann aus dem Walde heimkehrten, brachte sie stets eine ganze Menge frischer Birkenzweige mit, die hinter den blanken Ofen aufgepflanzt wurden. Unter die Balken der Zimmerdecke steckten wir St. Johanneskräuter, und je nachdem sie wuchsen, sagten sie uns, ob wir ein langes oder kurzes Leben zu erwarten hatten.

Eine meiner ersten Erinnerungen, an sich gar geringfügig, aber für mich von Bedeutung durch die Kraft, mit welcher die kindliche Phantasie dieselbe in meine Seele gleichsam eingebrannt hat, ist ein Familienfest, und wo? – An der Stätte in Odense, in dem Gebäude, an welches ich von außen mit demselben Schrecken und Angst hinaufsah, wie der Pariser Knabe, denke ich mir, zu der Bastille, – es war das Zuchthaus in Odense. Meine Eltern kannten den Pförtner und wurden von diesem zu einem Familienfest eingeladen, auch ich sollte dabei sein. Ich war damals noch so klein, daß ich, als wir das Fest wieder verließen, nach Hause getragen wurde.

Ich kam also mit meinen Eltern zum Feste des Pförtners; das große eisenbeschlagene Thor wurde mit dem Schlüssel in dem raschelnden Schlüsselbund aufgeschlossen und wieder verschlossen; wir stiegen eine steile Treppe hinan; – es wurde gegessen und getrunken, zwei der Gefangenen bedienten uns bei Tische, – aber ich war nicht dazu zu bewegen, irgend Etwas zu kosten, selbst die süßesten Sachen schob ich zurück – meine Mutter meinte, ich sei krank, und man legte mich infolge dessen auf ein Bett, aber ich hörte das Spulrad, welches die Gefangenen trieben, dicht neben mir schnurren und lustige Lieder erklingen, ob es nur in meiner Phantasie oder in Wirklichkeit war, vermag ich jetzt nicht zu sagen, allein das weiß ich, daß ich mich in einer Angst, in einer Spannung und doch angenehmen Stimmung befand, als sei ich in ein Schloß eingetreten, in dem Räuber hausten. Spät Abends kehrten meine Eltern heim, ich wurde getragen; es war ein rauhes Wetter, der Regen peitschte mir in's Gesicht.

Die Stadt Odense selbst, war in meiner frühesten Kindheit ein ganz andrer Ort als jetzt. Damals war man dort, glaube ich, um etwa hundert Jahre zurück und es herrschten eine Menge Sitten und Gebräuche, die schon längst aus der Hauptstadt Kopenhagen verschwunden waren. Wenn die Zünfte ihre Herbergs-Schilder von einem Hause der einen Straße in das einer anderen versetzten, geschah dies in Procession mit flatternden Fahnen, mit Citronen und seidenen Bändern an den blank gezogenen Degen. Ein Harlequin mit Schellen behangen, die Pritsche in der Hand lief in lustigen Sprüngen der Procession voran Eine solche Procession hat Andersen in dem Märchen: » Der Sturm versetzt die Schilder« (siehe Band II, S. 1) beschrieben. Der Uebers..

Am Fastnachtmontag führten die Fleischer einen fetten Ochsen mit Guirlanden geschmückt durch die Straßen der Stadt; ein Knabe in ein weißes Hemd gehüllt und mit Flügeln angethan, ritt auf demselben. Die Seeleute zogen um dieselbe Fastenzeit durch die Straßen mit Musik und ihren Fahnen und ließen zum Schluß ihre beiden kecksten Leute auf einem Brett zwischen zwei Böten, ein Kampfspiel aufführen, das gewöhnlich mit einem unfreiwilligen Bade endete. Allein das, was namentlich in mein Gedächtniß hineinwuchs und durch spätere wiederholte Erzählung immer wieder aufgefrischt wurde, war der Aufenthalt der Spanier auf der Insel Fyen im Jahre 1808. Dänemark hatte sich an Napoleon angeschlossen, dem Schweden den Krieg erklärt hatte, und ehe man sich's versah, standen ein französisches Heer und spanische Hülfstruppen auf Fyen, um unter Führung des Marschalls Bernadotte, Prinzen von Pontecorvo Der spätere König Carl XIV. Johan von Schweden, der Stammvater der jetzigen Dynastie in Schweden, geboren zu Pau in Frankreich, Sohn eines Advokaten, am 26. Januar 1764, gestorben am 8. März 1844 in Stockholm nach 26jähriger Regierung. Der Uebers. nach Schweden hinüber zu gehen. Ich war um diese Zeit erst drei Jahre alt, aber ich entsinne mich doch noch ganz gut der fast schwarzbraunen Menschen, die in den Straßen lärmten, auch der Kanonen, die auf dem Marktplatz und vor dem Bischofshof abgefeuert wurden. Das Schloß zu Kolding Das Schloß zu Kolding in Jütland – Koldinghus genannt – wurde 1248 von Herzog Abel von Schleswig während seines Kampfes gegen seinen Bruder Erik erbaut und hieß später »die Adlerburg.« Die Polen unter Czarnetzki sprengten den 76 Fuß hohen Thurm, der von den Schweden besetzt war, als sie denselben erstürmten. Restaurirt, brannte das schöne, große Schloß am 29. März 1808 durch eine Feuersbrunst nieder, während Bernadotte dort als Chef der französisch-spanischen Hülfstruppen wohnte. Die Ueberreste der alten Herrlichkeit bildet eine großartige Ruine, die die Stadt hoch überragt. Der Uebers. brannte nieder und Bernadotte kam nach Odense, woselbst seine Gemalin Desideria und sein Sohn Oscar Der spätere König Oscar I. von Schweden, geb. zu Paris 4. Juli 1790, gestorben am 8. Juli 1859. – sich aufhielten. Ringsum im Lande waren die Schulen zu Wachtstuben eingerichtet worden; unter dem Schatten der großen Bäume, auf den Feldern und Landstraßen wurden Messen gelesen. Die französischen Soldaten werden als übermüthig und befehlend, die spanischen als gutmüthig und freundlich geschildert; zwischen beiden waltete ein blutiger Haß; die armen Spanier erweckten die meiste Theilnahme. Eines Tages hob ein spanischer Soldat mich auf seinen Arm und drückte ein silbernes Bild an meine Lippen, welches er an seiner Brust trug. Ich entsinne mich, daß meine Mutter sich darüber erboste, denn das sei etwas Katholisches, sagte sie, aber mir gefiel das Bild und der fremde Mann, der mich küßte und dabei weinte, er mochte wol selbst Kinder zu Hanse in Spanien haben. Ich sah einen seiner Kameraden nach dem Richtplatz führen, er hatte einen Franzosen ermordet; viele Jahre später, als die Erinnerung hieran auftauchte, schrieb ich mein kleines Gedicht » der Soldat«, welches von Chamisso übersetzt, in Deutschland volksthümlich und den deutschen »Soldaten-Liedern« als deutsches Original einverleibt wurde.

Gleich lebhaft wie der Eindruck von den Spaniern bei mir als dreijährigem Kinde war, ist eine spätere Begebenheit in meinem sechsten Jahre geworden, nämlich der große Komet von 1811; meine Mutter hatte mir gesagt, der Komet würde die Erde in Stücke schlagen oder doch entsetzliche Dinge anrichten, von welchen in den Sybillitischen Prophetien zu lesen sei. Mit meiner Mutter und einigen Nachbarsfrauen stand ich also auf dem Platz vor dem St. Knudskirchhofe und betrachtete die gefürchtete, wichtige Feuerkugel mit ihrem großen flammenden Schweif. Alle sprachen sie von der bösen Vorbedeutung und dem jüngsten Tage. Mein Vater trat zu uns, er war durchaus anderer Ansicht und gab gewiß eine gesunde, richtige Auseinandersetzung, aber meine Mutter seufzte, die Nachbarn schüttelten den Kopf, mein Vater lachte und ging seines Weges. Da entstand bei mir ein tiefer Schrecken, weil er nicht unseren Glauben theilte. Abends sprach meine Mutter mit der alten Großmutter darüber; ich weiß nicht, wie sie es auslegte, aber ich saß auf ihrem Schoß, schaute ihr in die milden Augen und erwartete, der Komet werde jetzt niederschlagen und dann breche der jüngste Tag an.

Täglich, wenn auch nur auf einige Augenblicke, kam die Großmutter in das Haus meiner Eltern, und sie kam namentlich, um ihren Enkel, den kleinen Hans Christian zu sehen, denn ich war ihr Glück und ihre Freude. Sie wohnte mit ihrem gemüthskranken Mann in einem kleinen Hause, welches sie sich für den letzten Rest ihres Vermögens gekauft hatten. Ich sah sie jedoch niemals weinen, aber es machte deshalb einen um so tiefern Eindruck auf mich, wenn sie still seufzte und von der Mutter ihrer Mutter sprach und erzählte, daß diese eine adelige Dame in einer großen deutschen Stadt, in Cassel, gewesen sei und dort einen »Comödiantenspieler«, wie sie sich ausdrückte, geheiratet habe, dann von Eltern und Heimat davongelaufen sei, was nun Alles über die Familie gekommen. Ich habe meines Wissens sie niemals den Familiennamen ihrer Urgroßmutter nennen hören, sie selbst war eine geborene Nommesen. Am Hospital hatte sie einen Garten zu besorgen, und aus diesem brachte sie jeden Sonnabend Abend einige Blumen. Dieselben schmückten die große Commode meiner Mutter, aber sie gehörten mir, ich durfte sie in's Wasserglas setzen; eine wie reiche Freude war dies nicht!

Die Irren, die keinen Schaden anrichteten und deshalb im Hospitalshofe frei umhergehen durften, kamen öfter zu uns, und neugierig und ängstlich lauschte ich ihrem Singen und Reden; oft begleitete ich sie auch eine kleine Strecke in den Hof hinein, unter die Bäume, ja, ich wagte es sogar, wenn die Wärter dabei waren, in's Haus zu gehen, wo die Tobsüchtigen sich aufhielten. Zwischen den Zellen befand sich ein langer Gang; in diesem lag ich eines Tages und guckte durch eine Thürspalte; drinnen in der Zelle saß ein nacktes Frauenzimmer auf einem Bündel Stroh, ihr Haar wallte über ihre Schultern herab und sie sang mit ganz hinreißender Stimme; plötzlich schnellte sie empor, stürzte mit einem Schrei auf die Thür zu, vor welcher ich lag; der Wärter war fortgegangen, ich ganz allein; sie schlug mit solcher Gewalt an die Thür, daß gerade über mir die kleine Luke, durch welche ihr das Essen gereicht wurde, aufsprang, sie blickte hindurch, auf mich hinab, streckte einen Arm nach mir aus; ich schrie vor Entsetzen und legte mich glatt auf den Fußboden, bis der Wärter kam. Noch jetzt, wo ich älter bin, ist dieser Anblick und dieser Eindruck nicht aus meiner Seele gewichen.

Oft ging ich auch in die Spinnstube zu den alten, armen Frauen, und wurde ich bald ihr Liebling, denn ich entfaltete in diesem Kreise eine Beredsamkeit, die, wie man sagte, darauf deutete, daß »ein so kluges Kind nicht lange leben würde«, was mir im hohen Grade schmeichelte. Ich galt für ein merkwürdig kluges Kind, und meine Redseligkeit wurde damit belohnt, daß man mir Märchen erzählte; eine Welt, reich wie die in »Tausend und Eine Nacht« entrollte sich mir. Die Geschichten, welche mir die alten Frauen erzählten, die Gestalten der Gemüthskranken, die ich im Hospital rings um mich gewahrte, Alles was ich von dort an Eindrücken empfing, wirkte in dem Grade auf mich, der ich ganz voll Aberglauben steckte, daß ich, wenn es dunkelte, mich kaum außerhalb des Hauses meiner Eltern wagte; in der Regel wurde es mir auch erlaubt, bei Sonnenuntergang zu Bett zu gehen, freilich zunächst in das große Bett meiner Eltern. Die geblümten Kattun-Vorhänge hingen dicht herab, in der Stube brannte das Licht, ich konnte Alles hören, was in der Stube gesprochen wurde und war doch so allein mit meinen Gedanken und Träumereien, als sei die wirkliche Welt gar nicht vorhanden. »Er liegt so schön still, das liebe Kind!« sagte meine Mutter.

Vor dem gemüthskranken Großvater hatte ich nicht wenig Angst; er schnitzte in Holz gar seltsame Bilder, Menschen mit Thierköpfen, Thiere mit Flügeln und wunderliche Vögel; diese that er in einen Korb und begab sich mit demselben auf's Land, wo die Bauersfrauen überall ihn tractirten, ja, ihm Schinken und Mehl mit heim gaben, weil er ihnen und ihren Kindern das curiose Spielzeug geschenkt hatte.

Mit anderen Knaben kam ich so gut wie gar nicht zusammen; selbst auf dem Schulhofe nahm ich nicht Theil an ihren Spielen, sondern blieb in der Schulstube sitzen; zu Hause hatte ich vollauf Spielzeug, welches mein Vater mir machte, Bilder, die sich verwandeln konnten, wenn man einen daran befestigten Draht anzog, eine Stampf- oder Walkmühle, vor welcher, wenn sie in Gang gesetzt wurde, der Müller tanzte; ich hatte auch eine Perspective und putzige Wackelpuppen. Im Uebrigen war es meine größte Freude, Puppenkleider zu nähen, auch im Hofe neben dem einzigen Stachelbeerbusch zu sitzen und über mir die Schürze meiner Mutter, durch Hülfe eines Besenstiels und der Hauswand, ausgespannt zu haben; die Schürze war mein Zelt beim Regen und beim Sonnenschein, unter demselben saß ich und schaute in das Laub des Stachelbeerbusches hinein und verfolgte täglich das Wachsthum der Blätter in ihrer ganzen Entwickelung. Ich war ein wunderliches, träumerisches Kind, und wenn ich so umherging, hatte ich die Gewohnheit, oft die Augen zu schließen, so daß man zuletzt in den Wahn gerieth, ich habe ein schwaches Gesicht, obschon gerade dies bei mir merkwürdig scharf war und ist.

Eine alte »Lehrmutter«, die eine Klippschule hielt, lehrte mich die Buchstaben kennen, buchstabiren und ordentlich lesen. Sie saß da in einem Stuhl mit hoher Rückenlehne, dicht an der Uhr, an welcher sich bei jedem Stundenschlag einige Kunststücke von beweglichen Figuren zeigten; sie führte eine große Ruthe bei sich, und dieselbe wurde ringsum im Kreise, der meist aus kleinen Mädchen bestand, zur Anwendung gebracht. Es gehörte zum Usus dieser Schule, daß wir Alle zu gleicher Zeit mit lauter Stimme buchstabirten. Mich durfte die »Lehrmutter« nicht schlagen, so hatte es meine Mutter, als ich in die Schule gegeben wurde, ausdrücklich ausbedungen, und als ich nun eines Tages auch einen Ruthenstreich erhielt, erhob ich mich augenblicklich, nahm mein Buch und ging ohne weiteres nach Hause zu meiner Mutter, von der ich in eine andere Schule gebracht zu werden verlangte, was denn auch geschah. Meine Mutter brachte mich in die Knabenschule eines Herrn Carstens, in welcher jedoch auch ein Mädchen, ein ganz kleines Mädchen sich befand, die aber doch schon etwas älter war als ich; wir Beide schlossen uns gleich aneinander, die Kleine sprach von Nutz und Frommen und davon, daß sie einen guten Dienst haben wolle, und sagte, sie besuche namentlich die Schule, damit sie gut rechnen lerne, denn, wenn sie das könne, würde sie Meierin auf einem großen Herrenhof werden können. »Das sollst Du auf meinem Schloße werden, wenn ich erst vornehm sein werde!« sagte ich, und sie lachte mich aus und meinte, ich sei ein armer Junge. Eines Tages hatte ich Etwas gezeichnet, was ich mein Schloß nannte, und versicherte sie bei der Gelegenheit, das ich ein vertauschtes, sehr vornehmes Kind sei, und daß die lieben Engel Gottes zu mir kämen und mit mir sprächen; ich wollte sie in Erstaunen versetzen, wie ich es bei den alten Frauen im Spittel that, allein sie nahm das nicht wie diese auf, sie sah mich ganz verwundert an und sagte zu einem der anderen Knaben, der in der Nähe stand: »Er ist verrückt wie sein Großvater!« – und es durchschauerte mich; ich hatte das Alles gesagt, um so recht für etwas Großes zu gelten, und nun schlug das gerade in seinen Gegensatz um, und man meinte, ich sei geistesschwach, wie mein Großvater, Ich war der Kleinste in der Schule, weshalb der Lehrer, Herr Carstens, stets, wenn die anderen Knaben spielten, mich an der Hand führte, damit ich von ihnen nicht umgerannt werden sollte. Er hatte mich sehr lieb, schenkte mir Kuchen und Blumen und streichelte mir die Wangen. Der liebe, alte Lehrer wurde später Telegraphenverwalter auf der Insel Thorseng; dort lebte er noch vor einigen Jahren, und man hat mir erzählt, daß der alte Mann, wenn er dort Fremdenbesuch hatte und denselben umherführte, mit vergnügtem Lächeln sagte: »ja, ja, das glauben Sie wol kaum, daß ich alter, armer Mann, der erste Lehrer eines unserer bekanntesten Dichter gewesen bin! Bei mir ging H. C. Andersen in die Schule.«

An einzelnen Tagen des Herbstes ging meine Mutter auf's Feld hinaus, um Aehren aufzulesen; ich war dann stets bei ihr, und kam mir vor wie Ruth auf dem reichen Acker des Boas. Eines Tages gelangten wir auf die Felder eines Gutes, wo ein bekannter böser Inspector die Aufsicht führte; wir sahen ihn herankommen, eine große Hundepeitsche in der Hand; meine Mutter und die Anderen alle, die mit ihr waren liefen davon; ich steckte mit nackten Füßen in Holzschuhen und verlor diese; die Stoppeln stachen mich, und ich vermochte nicht schnell genug von dannen zu eilen; ich blieb allein zurück; schon hob er die Peitsche, ich schaute ihm in's Gesicht und sagte unwillkürlich: »wie darfst Du mich schlagen, da Gott es sieht!« und der strenge Mann wurde plötzlich ganz mild, streichelte mir die Wange, fragte wie ich hieße und gab mir Geld; als ich meiner Mutter das Geld zeigte, sagte sie zu den anderen Leuten: »mein Hans Christian ist ein merkwürdiges Kind, alle Menschen sind ihm gut und selbst der böse Mann hat ihm Geld gegeben.«

Fromm und abergläubisch wuchs ich empor; ich hatte keine Ahnung von Entbehrung oder Noth; zwar hatten meine Eltern nur von der Hand in den Mund, wie es heißt, allein für mich war das Ueberfluß und Reichthum; was die Kleidung betrifft, hatte es fast den Anschein, als sei ich geputzt und zierlich; eine alte Frau veränderte die abgelegten Kleidungsstücke meines Vaters für mich; drei, vier große Reste von Seidenzeug, welche meine Mutter besaß, wurden mir wechselweise mittelst Stecknadeln quer über die Brust geheftet und stellten Westen vor, ein großes Tuch wurde mir mit einer mächtigen Schleife um den Hals gebunden, mein Kopf mit Seifenwasser gewaschen und das Haar gescheitelt, und damit war ich im Staate; so ausgeputzt, kam ich zum ersten Male mit meinen Eltern in's Theater; die Stadt Odense hatte schon damals ihr wohlgebautes Theater, einst, glaube ich, für die Truppe des Grafen Trampe oder Grafen Hahn errichtet. Die ersten Vorstellungen, denen ich beiwohnte, wurden in deutscher Sprache gegeben, der Direktor hieß Franck. » Das Donauweibchen« war das Lieblingsstück der Stadt; die erste Vorstellung, die ich sah, war indeß Holberg's » politischer Kannengießer«, als Oper bearbeitet. Ich habe später nicht ermitteln können, von wem wol die Musik componirt sein könnte, aber gewiß ist es, daß dieser Text in deutscher Sprache als Singspiel behandelt war. Der erste Eindruck, den ein Theater und dies Publikum dort auf mich machte, berechtigte schwerlich zu der Schlußfolgerung, daß ein Poet in mir stecke. Mein erster Ausspruch, als ich das Theater und die vielen Zuschauer in demselben sah, war, wie mir meine Eltern erzählt haben, folgender: »Nun, hätten wir bloß so viele Fäßer Butter, wie hier Leute sind, wie würde ich essen!« – Das Theater wurde indeß bald mein liebster Ort, da ich aber nur ein einziges Mal im Winter hinein konnte, so befreundete ich mich mit dem Zettelträger Peter Junker, und er gab mir täglich die Affiche, wogegen ich mich verpflichtete, täglich einen kleinen Rest der Zettel in dem Stadt-Viertel auszutheilen, in welchem meine Eltern wohnten, was ich auch sehr gewissenhaft that. Konnte ich also nicht in's Theater gelangen, so konnte ich doch nun daheim in einem Winkel mit dem Theaterzettel sitzen, und je nach dem Titel des Stücks und den Personen desselben, dachte ich mir nun eine ganze Komödie zusammen, dies war meine unbewußte erste Dichtung.

Es waren nicht nur Komödien und Erzählungen, die mein Vater gern las, sondern auch Märchen und die heilige Schrift; in seinem stillen Sinn dachte er über das Gelesene nach; wenn er sich aber zu meiner Mutter darüber aussprach, verstand sie ihn nicht, und er wurde deshalb immer mehr in sich verschlossen. Eines Tages machte er die Bibel mit den Worten zu: »Christus ist ein Mensch wie wir gewesen, aber ein außergewöhnlicher Mensch!« – meine Mutter entsetzte sich über diese Worte und brach in Thränen aus; ich, in meinem Schreck betete zu Gott, daß er meinem Vater diese entsetzliche Lästerung verzeihen möge. –

»Es giebt keinen andern Teufel, als den wir in unserm eigenen Herzen haben!« hörte ich meinen Vater sagen und mich beschlich eine Angst um ihn und seine Seele; als er dann eines Morgens drei tiefe, geritzte Wunden in dem einen Arm hatte, die er wahrscheinlich an einem am Bette befindlichen Nagel sich gerissen hatte, da war ich ganz der Meinung meiner Mutter und der Nachbarfrauen, daß der Teufel ihn in der Nacht besucht habe, um ihm sein Dasein zu beweisen. Mein Vater hatte wenig Umgang, er verbrachte seine Zeit am liebsten allein und mit mir im Walde; sein höchster Wunsch war, auf dem Lande leben zu können, und als nun auf einem der Herrenhöfe der Insel Fyen gerade ein Schuhmacher gewünscht wurde, der im Dorfe ganz nahe am Herrenhofe sich niederlassen und dort freies Haus, einen kleinen Garten und freie Weide für eine Kuh bekommen sollte, da waren mein Vater und meine Mutter von dieser Aussicht ganz bezaubert; mein Vater erhielt eine Probearbeit, man sandte ihm vom Herrenhause aus ein Stück Seidenzeug, er selbst hatte das Leder zu liefern und ein Paar Tanzschuhe zu fertigen; um diese drehten sich einige Tage alle unsere Gedanken, all' unsere Reden; ich freute mich unaussprechlich auf den kleinen Garten mit Blumen und Gebüsch, den wir haben sollten, in dem konnte ich im Sonnenschein sitzen und den Kuckuck hören; ich betete inbrünstig zu Gott, um Erfüllung meines und meiner Eltern Wunsch, es war dies das höchste Glück, welches uns bescheert werden konnte. – Endlich waren die Schuhe fertig; wir beschauten sie daheim mit einem gewissen feierlichen Gefühle, sollten sie doch über unsere ganze Zukunft entscheiden. Mein Vater wickelte sie in sein Taschentuch und ging nach dem Herrenhofe, wir saßen und harrten seiner Rückkehr mit freudestrahlenden Gesichtern; er kam blaß und erbittert zurück; die gnädige Frau, sagte er, habe nicht einmal die Schuhe anprobirt, sondern sie nur oberflächlich angesehen, und sogleich voll Zorn gesagt, daß das Seidenzeug verdorben sei, und daß er nicht angenommen werden könne; »haben Sie ihr Seidenzeug dazu hergegeben«, antwortete mein Vater, »so kann ich auch mein Leder draufgehen lassen!« indem hatte er sein Messer hervorgeholt und die Sohlen abgeschnitten. –

Die Wanderungen meines Vaters in den Wald hinaus wurden bald häufiger; er hatte keine Ruhe. Die Kriegsbegebenheiten in Deutschland, die er in den Zeitungen eifrig verfolgte, begeisterten ihn. Napoleon war sein Held, dessen Emporsteigen ihm als das schönste Beispiel zur Nachahmung erschien. Dänemark alliirte sich damals mit Frankreich, es war nur von Krieg die Rede, und mein Vater wurde Soldat, und zwar in der Hoffnung, als Lieutenant zurückzukehren; meine Mutter weinte, die Nachbarn zuckten die Achseln, und sagten, es sei Tollheit so hinauszugehen, um sich todtschießen zu lassen, wenn man es nicht nöthig habe. Die Soldaten gehörten damals zu den Paria, erst in späteren Tagen, während des Krieges mit den Aufständigen in den Herzogtümern Schleswig und Holstein 1848., gelangte man zu einer richtigeren Auffassung; es ist der rechte Arm, der das Schwert führt.

Den Morgen, an welchem die Compagnie aufbrach, bei der mein Vater stand, hörte ich ihn singen und heiteren Sinnes sprechen, allein sein Herz war in starker Aufregung, das begriff ich an der wilden Heftigkeit, mit welcher er mich beim Abschied küßte. Ich lag damals an den Masern erkrankt, lag allein in der Stube, als die Trommeln wirbelten und meine Mutter weinend ihn zum Städtchen hinaus begleitete. Nachdem die Soldaten abmarschirt waren, kam meine alte Großmutter hinein zu mir und blickte mich mit ihren milden Augen an und sagte, es wäre gut, wenn ich nun stürbe, daß aber Gottes Wille immer der beste sei. Dieser Morgen war der erste schmerzvolle, dessen ich mich entsinne.

Das Regiment, bei welchem mein Vater stand, kam indeß nicht weiter als bis Holstein; es wurde Frieden geschlossen, und nun saß der freiwillige Krieger wieder in seiner Werkstatt; Alles schien zum Alten zurückzukehren.

Ich spielte mit meinen Puppen, spielte Komödie und zwar stets deutsche, denn nur in der deutschen Sprache kannte ich dergleichen; allein mein Deutsch war ein Kauderwelsch, welches ich selbst erfand, und in welchem nur ein einziges deutsches Wort, das Wort » Besen« vorkam, das ich aus den verschiedenen Benennungen aufgeschnappt, die mein Vater aus Holstein mitgebracht hatte. »Du hast ja Vortheil von meiner Reise!« sagte er scherzend. »Gott weiß, ob Du so weit hinauskommst, aber das mußt Du, gedenke dessen, Hans Christian!« – Aber meine Mutter sagte, daß ich, so lange sie über mir etwas zu sagen hätte, schon zu Hause bleiben solle, damit ich nicht wie er meine Gesundheit zusetze.

Mit seiner Gesundheit war es aus, sie hatte durch die ihm ungewohnten Märsche und durch das Kriegsleben gelitten. Eines Morgens erwachte er in wilden Phantasien, sprach von Feldzügen und von Napoleon; er glaubte Befehle von ihm zu empfangen und selbst zu commandiren. Meine Mutter sandte mich sofort nach Hülfe aus, aber nicht bei dem Arzt, nein, bei einer »klugen Frau«, die eine halbe Meile von Odense wohnte. Ich gelangte zu ihr, sie legte mir mehrere Fragen vor, nahm darauf einen wollenen Faden zur Hand, maß mit demselben meine Arme, machte wunderliche Zeichen über mir, legte zuletzt einen grünen Zweig auf meine Brust, indem sie sagte, derselbe sei ein Stück von jener Art von Holz, an welchem Christus gekreuzigt worden sei, und fügte hinzu: »Gehe nun zurück längs des Flusses! Soll Dein Vater dieses Mal sterben, so wirst Du seinem Gespenst begegnen!«

Man denke sich meine Angst, ich, der ich von Aberglauben so erfüllt war und mich in der Gewalt der Phantasie befand. »Und Dir ist Nichts begegnet?« fragte meine Mutter mich, als ich wieder heimgekehrt war; klopfenden Herzes versicherte ich, »Nein!« Am dritten Abend darauf starb mein Vater. Seine Leiche blieb im Bette; ich lag mit meiner Mutter vor demselben, und die ganze Nacht zirpte eine Grille. »Er ist todt!« sagte meine Mutter zu der Grille, » Du brauchst ihm nicht nachzusingen, die Eisjungfrau hat ihn umarmt!« und ich verstand, was sie damit meinte; ich erinnerte mich von dem Winter her, als unsere Fenster gefroren waren, dass mein Vater uns gezeigt hatte, es sei an einer der Scheiben gleichsam die Figur einer Jungfrau, die beide Arme ausstrecke. »Sie will mich wol haben!« hatte er im Scherz gesagt; jetzt, wo er entseelt im Bette lag, kam dies meiner Mutter in den Sinn, und was er gesprochen hatte, beschäftigte meine Gedanken.

Auf dem St. Knud's Kirchhof, der linken Seitenthür, vom Altar aus, gegenüber, wurde er begraben, Großmutter pflanzte Rosen auf das Grab; in späteren Jahren sind andere Leichen an derselben Stelle gebettet worden, jetzt wächst das Gras auch über diese hoch empor.

Vom Tode meines Vaters ab war ich so gut wie ganz mir selbst überlassen; meine Mutter wusch für fremde Leute außer dem Hause; ich saß allein daheim mit dem kleinen Theater, welches mir mein Vater gemacht hatte; ich nähte Puppenkleider und las Komödienbücher. – Man hat mir erzählt, daß ich damals ein lang aufgeschossener Knabe war, starkes, hellgelbes Haar hatte, baarhaupt und in der Regel mit Holzschuhen an den Füßen einherging.

In unserer Nachbarschaft wohnten eine Pfarrerswittwe, Frau Bunkeflod und die Schwester ihres verstorbenen Mannes; sie ließen mich öfter in ihre Wohnung kommen und gewannen mich lieb; dies war die erste gebildete Familie, in welcher ich wie zu Hause war. Der verstorbene Prediger hatte Gedichte geschrieben und damals einen Namen in der dänischen Literatur, seine Spinnlieder waren im Munde des Volkes; in meinen » Vignetten zu dänischen Dichtern« sang ich später von ihm, den meine Zeitgenossen vergessen hatten:

Der Faden reißt, das Rädchen stockt,
Verstummen thut das Spinnenlied;
Zu alten Melodien wird
Das frohe Lied der Jugend.

Hier hörte ich zum ersten Male den Namen »Dichter« aussprechen und mit einer Hochachtung, als etwas Heiliges. Holberg's Komödien hatte mein Vater mir vorgelesen, hier sprach man aber nicht von diesen, sondern von Versen und Poesie. »Mein Bruder, der Dichter!« sagte Bunkeflod's alte Schwester, und ihre Augen strahlten bei diesen Worten. Von ihr lernte ich, daß es etwas Herrliches, etwas Glückliches sei, ein Dichter zu sein, hier las ich auch zuerst Shakespeare, freilich in einer schlechten Uebersetzung, allein die kecken Schilderungen, die blutigen Begebenheiten, die Hexen und Gespenster, welche auftraten, waren gerade nach meinem Geschmack; ich spielte sofort die Shakespeare'schen Tragödien auf meinem Puppentheater; ich sah in Gedanken lebhaft Hamlet's Geist und den wahnsinnigen Lear auf der Haide. Je mehr Personen in meinem Stück starben, desto interessanter erschien es mir. Um diese Zeit schrieb ich mein erstes Theaterstück, es war nichts Geringeres als eine Tragödie, in welchem alle Personen starben. Den Inhalt hatte ich einem alten Liede von Pyramus und Thisbe entnommen, allein ich hatte die Begebenheit mit einem Eremit und dessen Sohn vergrößert, welche Beide die Thisbe liebten und Beide sich das Leben nahmen, als sie starb; zu der Mehrzahl der Repliken des Eremiten hatte ich die Worte der Bibel entlehnt, Bibelstellen aus dem kleinen Lehrbuch des Bischofs Balle eingeschrieben, namentlich diejenigen, welche die Pflichten gegen den Nächsten behandeln; der Titel des Stückes war: » Abor und Elwira.« Er müßte »Aborre og Torsk« (Barsch und Dorsch) heißen, sagte die Nachbarsfrau witzig, als ich, nachdem ich es mit großem Glück und Zufriedenheit allen Bekannten vorgelesen hatte, nun auch zu ihr kam. Ich wurde ganz niedergeschlagen durch ihre Worte, ich fühlte, daß sie mich und mein Gedicht verhöhnte, welches alle Anderen gelobt hatten; betrübt erzählte ich dies meiner Mutter. »Das sagt sie nur, weil ihr Sohn es nicht gemacht hat!« tröstete meine Mutter, und ich war auch getröstet und begann ein neues Stück zu schreiben; dieses sollte in einem höheren Styl sein, es sollten ein König und eine Prinzessin darin auftreten; ich sah nun wol bei Shakespeare, daß diese Menschen so sprachen wie andere Menschen, allein dies schien mir nicht ganz richtig zu sein. Ich fragte meine Mutter und mehrere Leute in der Nachbarschaft, wie ein König eigentlich spräche, allein sie wußten mir nicht Bescheid zu geben; sie sagten, es seien so viele Jahre her, daß ein König in der Stadt gewesen sei, daß er aber wol fremde Sprachen spreche. Ich stöberte nun eine Art Wörterbuch auf, in welchem deutsche, französische und englische Wörter mit beigefügter dänischer Uebersetzung standen, und nun war mir geholfen. Ich nahm einige Wörter der verschiedenen Sprachen und legte sie in jeden Satz hinein, den der König und die Prinzessin zu sprechen hatten. »Guten Morgen, mon père! haben Sie gut sleeping?« lautete eine der Repliken; es wurde eine ganz babylonische Mundart, die ich aber als die einzig richtige für so hohe Personen ansah.

Der Sohn der Nachbarsfrau war in einer Tuchfabrik angebracht und verdiente dort wöchentlich eine kleine Summe Geldes; ich dagegen triebe mich umher und thue gar nichts, wie man sagte; meine Mutter bestimmte deshalb, daß auch ich in die Fabrik gehen sollte; »es ist nicht des Verdienstes wegen«, sagte sie, »aber es ist, weil ich dann weiß, wo er ist.« Die alte Großmutter führte mich dahin, und sie schien darüber sehr betrübt zu sein; sie habe nicht gedacht, das zu erleben, daß ich so mit allen den armseligen Knaben zusammen sein sollte. In der Fabrik arbeiteten eine Menge deutscher Gesellen, sie sangen und plauderten lustig; mancher rohe Spaß erweckte großen Jubel, ich hörte ihn mit an, und habe daraus gelernt, daß ein Kind dergleichen mit unschuldigem Ohr anhören kann, es reichte nicht bis in's Herz hinein. Ich hatte damals eine merkwürdig schöne und hohe Sopranstimme, die ich bis in mein fünfzehntes Jahr behielt; ich wußte, daß die Leute mich gern singen hörten, und als man mich einst in der Fabrik fragte, ob ich einige Lieder singen könnte, begann ich sofort zu singen, und mein Gesang machte großes Glück; es wurde den anderen Knaben übertragen, meine Arbeit zu machen. Nachdem ich gesungen hatte, erzählte ich, daß ich auch Komödie spielen könnte, ich wußte ganze Scenen von Holberg und Shakespeare auswendig und diese sang ich den Leuten vor. Gesellen und Frauen nickten mir freundlich zu, lachten und klatschten in die Hände. In solcher Weise fand ich die ersten Tage in der Fabrik sehr vergnüglich; allein eines Tages, während ich im besten Singen begriffen war und man von der Klarheit und der merkwürdigen Höhe meiner Stimme sprach, sagte plötzlich einer der Gesellen: »es ist gewiß kein Knabe, sondern ein kleines Mädel!« er faßte mich an, ich schrie und jammerte, die anderen Gesellen fanden den rohen Spaß vergnüglich, sie hielten mich fest an Armen und Beinen, ich kreischte laut auf, und spröde wie ein Mädchen stürzte ich aus der Fabrik nach Hause zu meiner Mutter, die mir sofort versprach, daß ich nie mehr dorthin zu gehen brauchte.

Ich fand mich nun wieder bei der Frau Pastorin Bunkeflod ein, hörte dort laut vorlesen, las selbst und übte mich zugleich im – Nähen; dies war mir von großer Wichtigkeit für mein Puppentheater. Ich nähte auch als Festgeschenk zum Geburtstag der Frau ein weiß seidenes Nadelkissen, und ich habe viele Jahre später, als älterer Mann, dieses Kissen dort noch wol erhalten wieder gesehen. Mit einer andern Predigerswittwe in der Nachbarschaft machte ich gleichfalls Bekanntschaft, sie ließ mich vorlesen und zwar Romane aus der Leihbibliothek; einer derselben begann ungefähr folgendermaßen: »Es war eine stürmische Nacht, der Regen schlug an die Fensterscheiben.« – »Das ist ein vortreffliches Buch«, sagte sie, und ich fragte naiverweise, woher sie das wisse. »Das höre ich gleich an dem Anfang!« antwortete sie, »dieses wird ausgezeichnet!« und ich schaute mit einer Art Ehrerbietung zu ihr hinauf, die so klug war.

Meine Mutter verheirathete sich wieder mit einem jungen Schuhmacher; dessen Familie, die auch dem Handwerksstande angehörte, fand jedoch, daß er eine gar zu geringe Partie machte, und weder meine Mutter noch ich durften zu derselben in's Haus kommen. Mein Stiefvater war ein junger, stiller Mann mit lebhaften braunen Augen und fast stets guter Laune; in meine Erziehung wollte er sich gar nicht mischen, sagte er, und ließ mich auch sein und werden wie und was ich selbst wollte. – Ich lebte deshalb ganz für meinen Perspectivkasten und mein kleines Puppentheater; mein größtes Glück bestand darin, recht viele bunte Lappen zusammen zu tragen, die ich dann zuschnitt und zu Trachten nähte; meine Mutter betrachtete dies als eine gute Uebung, um Schneider zu werden, denn dazu, meinte sie, sei ich geboren; ich dagegen sagte, daß ich zur Komödie gehen wollte, was meine Mutter auf's Bestimmteste ablehnte, da sie unter Komödie nur Seiltänzer und umherreisende Schauspieler verstand, die sie in eine Categorie stellte.

Meine Eltern hatten die Wohnung gewechselt, waren außerhalb des Thores gezogen; wir hatten einen Garten bekommen; derselbe war sehr klein und schmal, war eigentlich nur ein langes Beet mit Johannis- und Stachelbeerhecken und ein Gang, der ebenso viel Platz einnahm als das Beet, aber der Gang führte hinab zum Flusse, – an die Odense-Aa – gerade hinter der Mühle, der sogenannten » Mönchsmühle«; drei große Mühlräder drehten sich hier durch das herabstürzende Wasser und standen plötzlich still, wenn die Schleusenthore geschlossen wurden; alles Wasser lief dann aus dem Fluß, der Grund wurde trocken gelegt und in den Wasserpfützen lagen die Fische und zappelten, ich konnte sie mit den bloßen Händen ergreifen, und unter den großen Mühlrädern kamen fette Wasserratten hervor, um zu trinken; plötzlich wurden die Schleusenthore geöffnet, das Wasser stürzte schäumend und brausend hervor, es waren keine Ratten mehr zu sehen, das Flußbett füllte sich, und ich, der ich draußen stand, lief plätschernd durch das Wasser dem Ufer zu, erschreckt wie der Bernsteinsammler an der jütischen Küste der Nordsee, wenn er weit draußen im Meere ist und die Flut kommt. Auf einem der großen Steine im Flusse, über welche meine Mutter ein Brett legte, wenn sie dort Wäsche spülte, stand ich und sang laut in die Luft hinaus alle die Lieder, die ich wußte, und oft war weder Sinn noch Melodie in denselben, sondern meinen eigenen, selbstgemachten Singsang, wie er mir eben aus der Kehle drang. Der Nachbargarten gehörte einem Beamten, dem Etatrath Falbe, dessen Frau Adam Oehlenschlaeger in seiner Lebensbeschreibung Erwähnung gethan hat; sie war Schauspielerin und eine reizende Darstellerin der » Ida Münster« in dem Drama » Hermann von Unna« gewesen, damals hieß sie Fräulein Beck. Ich wußte, wenn im Nachbargarten Fremde waren, lauschten sie stets meinem Gesange. Alle Leute sagten mir, daß ich eine prächtige Stimme habe, und daß ich gewiß durch dieselbe mein Glück machen würde. Oft dachte ich darüber nach, auf welche Weise wol dieses Glück sich mir nähern würde, und da mir das Abenteuerliche Wahrheit war, so harrte ich der sonderbarsten Dinge. Ich hatte von einer alten Frau, die Wäsche im Flusse spülte, sagen hören, daß das Kaiserreich China gerade unter dem Odense-Fluß liege, und mir schien es nun durchaus nicht unmöglich, daß an einem mondhellen Abend, wenn ich gerade am Flusse säße, ein chinesischer Prinz sich durch die Erde zu uns hinaus wühlen könne, mich singen hören und mich dann mit in sein Königreich hinab nehmen und mich reich und vornehm machen, aber mir darauf erlauben würde, Odense wieder zu besuchen, wo ich dann wohnen und ein Schloß bauen würde.

Meine Lust zum Lesen, die in eine förmliche Lesewuth ausartete, die vielen dramatischen Scenen, die ich auswendig wußte und meine sehr klangvolle, hohe Stimme, Alles dies zusammen erregte eine Art Aufmerksamkeit bei mehreren vornehmen Familien in Odense; ich wurde zu ihnen beschieden, meine ganze besondere Persönlichkeit erweckte Interesse, und unter den Vielen, zu welchen ich Zutritt hatte, waren Oberst Hoegh-Guldberg und dessen Familienkreis diejenigen, die mir eine wirklich wahre Theilnahme erzeigten; ja, der Oberst sprach sogar von mir mit dem Prinzen Christian, dem späteren König Christian dem Achten, welcher zu der Zeit auf dem Schloße zu Odense wohnte, und er nahm mich eines Tages mit zu dem Prinzen hinaus.

»Wenn der Prinz Sie fragt, wozu Sie Lust haben«, sagte er, »dann antworten Sie, daß es Ihr höchster Wunsch ist, in die Gelehrten-Schule zu kommen!« und dies sagte ich denn auch sofort, als der Prinz mir in der That jene Frage stellte; allein er antwortete, daß singen und die Worte eines Dichters lebhaft sprechen können, sehr gut, aber daß es kein Beweis von Genie sei, und daß ich eingedenk sein möchte, daß der Weg des Studirens ein sehr langer und kostspieliger sei, daß er sich indeß meiner annehmen würde, wenn ich mich einer hübschen Profession befleißige, zum Beispiel Drechsler werden würde. Dazu verspürte ich aber nun durchaus keine Lust und verließ nicht gerade sehr erfreut den Prinzen, obwol der edle Fürst ganz natürlich und richtig gesprochen hatte; später als die Zeit meine Befähigung entwickelte, war er, wie wir sehen werden, voll Güte und Liebe zu mir bis zu seinem Tode; mit der innigsten Empfindung ist mein Gedanke durch die Erinnerung an ihn gefesselt.

Ich trieb mich nun daheim umher, schoß in die Höhe und wurde ein langer Knabe, den meine Mutter, wie sie sagte, nicht gut länger sich so umhertreiben lassen könne; ich besuchte die Armenschule im »Armenhause«, lernte dort nur Religion, Schreiben und Rechnen, und dieses letztere schlecht genug.

Jedesmal, wenn der Geburtstag des Lehrers war, wand ich ihm einen Kranz und schrieb ein Gedicht an ihn, welches mit dem Kranze folgte; in der Regel empfing er es mit einem Lächeln, aber ein paar Mal schalt er darüber. Er war ein geborener Norweger, Namens Welhaven; er war gewiß eine edle, aber heftige Natur und nicht glücklich.

Ich erzählte meinen Schulkameraden curiose Geschichten, in welchen ich natürlicherweise nicht vergaß, mich selbst zur Hauptperson zu machen, zuweilen lachten sie mich aus. Die Straßenjungen hatten durch ihre Eltern von meinem sonderbaren Wesen und daß ich in »vornehmen Familien« verkehrte, erfahren und deshalb wurde ich eines Tages von einer ganzen wilden Schaar verfolgt, welche mir höhnend nachriefen: »da läuft der Komödiant!« Ich verbarg mich zu Hause in einem Winkel, weinte und betete zu Gott.

So ging es bis zu meinem vierzehnten Jahre; meine Mutter dachte daran, mich confirmiren zu lassen, damit ich in die Schneiderlehre käme und »etwas Vernünftiges thäte.« Sie hatte mich von Herzen lieb, begriff aber mein Sehnen und Trachten nicht, wie ich es denn selbst auch nicht begriff.

Wir gehörten zur St. Knud's Gemeinde, und die Confirmanden konnten sich nach Belieben beim Propste oder beim Kapellan zur Confirmation einschreiben lassen; zu dem Ersteren gingen nur die Kinder der sogenannten vornehmen Familien und die Eleven der Gelehrtenschule, zu dem Letzteren gingen die ärmeren Kinder. Ich meldete mich beim Propste, welcher mich annehmen mußte, aber gewiß nur Eitelkeit darin erblickte, daß ich unter seinen Confirmanden sein wollte. Ich darf indeß der Meinung sein, daß es nicht ganz und gar Eitelkeit war, die mich trieb, ich fühlte stets einen inneren Trieb, mich den Eleven der Gelehrtenschule zu nähern, die ich damals für viel besser als die anderen armen Knaben hielt; wenn sie auf dem Kirchhof spielten, stand ich oft draußen am Gitter, guckte hinein und wünschte, ich wäre unter den Glücklichen, nicht des Spiels halber, sondern der vielen Bücher wegen, die sie hatten und um dessenwillen, was aus ihnen selbst werden könnte. Bei dem Propste konnte ich also mit ihnen zusammenkommen, wie sie sein; – aber ich entsinne mich nicht eines Einzigen aus der Zeit, so gar wenig mögen sie sich dort mit mir abgegeben haben; ich hatte täglich das Gefühl, daß ich mich an einen Ort eingedrängt hatte, an, welchen ich nicht hingehörte; auch der Propst selbst ließ mich das fühlen, und als ich einmal bei einigen Leuten seiner Bekanntschaft Scenen aus einer Komödie declamirt hatte, ließ er mich zu sich rufen, hielt mir das Unpassende vor, dergleichen zu einer Zeit zu thun, wo ich mich zur Confirmation vorbereitete, und sagte, daß wenn er dergleichen von mir wieder erführe, er mich zurückweisen würde. Ich fühlte mich darüber sehr beängstigt und gedrückt, und ich fühlte dies im hohen Grade wie ein verirrter Vogel in der fremden Stube; doch ein Wesen dieses Kreises war freundlich und gut zu mir, es war ein junges Mädchen unter den Confirmanden, ein Fräulein Tönder-Lund, die man als die Vornehmste von Allen betrachtete, – ich komme später auf sie zurück –, sie allein blickte mich freundlich an, sagte mir freundlich »Guten Tag« und schenkte mir gar einmal eine Rose; ich ging heim, glückselig darüber, daß es doch ein Wesen gab, das mich nicht übersah, mich nicht verstieß.

Das Innere der St. Knud's-Kirche in Odense.

Eine alte Schneiderin veränderte den Oberrock meines verstorbenen Vaters in einen Confirmations-Anzug für mich; mir schien es, als hätte ich noch nie einen so stattlichen Rock getragen, und zum ersten Male in meinem Leben bekam ich Stiefeln; meine Freude über diese war eine außerordentliche, nur befürchtete ich, es würde nicht Jedermann bemerken, daß es Stiefeln seien, und deshalb zog ich die Schäfte über die Beinkleider hinauf und schritt solchergestalt den Kirchengang hinan; die Stiefeln knarrten und es freute mich bis in mein Innerstes, daß nun die Gemeinde hören konnte, daß sie auch neu seien; allein, meine Andacht war gestört, ich fühlte es und hatte zugleich eine entsetzliche Gewissensqual darüber, daß mein Gedanke ebenso sehr bei meinen Stiefeln sei, als bei dem guten Gott; ich bat ihn so sehr aus Herzens Grund um Verzeihung, dachte aber schon im nächsten Augenblick wieder an meine neuen Stiefeln.

Während der letzten Jahre hatte ich alle die Schillinge, die ich bei verschiedenen Gelegenheiten erhielt, zu einer Summe zusammengespart, und als ich sie nachzählte, hatte ich dreizehn Reichsthaler Gleich 29 Mark 25 Pfennig jetziger deutscher Währung. Der Uebers., ich fühlte mich überwältigt durch den Besitz eines so großen Reichthums, und da meine Mutter nun auf's Bestimmteste daran festhielt, daß ich in die Schneiderlehre gegeben werden sollte, so bat und quälte ich sie, mich doch lieber mein Glück versuchen und nach Kopenhagen reisen zu lassen, welches mir damals die größte Stadt der Welt schien.

»Was soll dort aus Dir werden?« fragte meine Mutter.

»Ich will berühmt werden!« antwortete ich, und erzählte ihr, was ich von großen Männern gelesen hatte, die in Armuth geboren waren. »Man hat erst so entsetzlich viel Leid durchzumachen«, sagte ich, – »und dann wird man berühmt!« Es war ein ganz unerklärlicher Trieb, der sich meiner bemächtigt hatte. Ich weinte, ich bat, und endlich gab meine Mutter nach, ließ aber doch erst eine alte, sogenannte » Kluge Frau« aus dem Spittel herbeiholen und diese das Schicksal meiner Zukunft aus Karten und Kaffee wahrsagen.

»Euer Sohn wird ein großer Mann!« sagte die Alte; »ihm zu Ehren wird einst die Stadt Odense illuminirt werden!« Meine Mutter weinte, als sie das hörte, und hatte nun nichts dagegen, dass ich nach Kopenhagen reiste.

Während des Sommers vor meiner Confirmation war ein Theil des Gesangs- und Schauspiel-Personals des königlichen Theaters zu Kopenhagen in Odense gewesen und hatte dort eine Reihe von Opern und Tragödien zur Aufführung gebracht; die ganze Stadt war noch von diesen Vorstellungen erfüllt. Ich, der ich mit dem Zettelträger mich gut stand, hatte nicht nur von den Coulissen aus sämmtliche Vorstellungen gesehen, sondern war auch selbst als pageund als Hirt aufgetreten, ja, ich hatte sogar einige Repliken in » Cendrillon« gesprochen; mein Eifer war so groß, daß, wenn die Spielenden vor der Vorstellung in die Garderobe eintraten, ich bereits angekleidet dastand; dadurch wurden sie auf mich aufmerksam; meine Kindlichkeit und Begeisterung amüsirten sie; sie sprachen freundlich mit mir, namentlich zwei der Künstler Namens Haack und Enholm, und ich schaute zu ihnen auf wie zu irdischen Göttern. Alles, was ich über meine Singstimme und meine Vorträge von Versen und Monologen hatte äußern hören, brachte nun bei mir den Gedanken zur Klarheit, daß es das Theater wäre, für welches ich geboren sei, und daß ich auf demselben ein berühmter Mann werden würde, und deshalb war das Theater zu Kopenhagen das Ziel meines Strebens. Der Aufenthalt der Schauspieler in Odense war bei Vielen, und besonders bei mir ein Lebensereigniß geworden; es wurde mit wahrer Schwärmerei davon gesprochen, und das Reden endete stets mit dem Ausspruch: »wer doch in Kopenhagen wäre und dort in's Theater gehen könnte!« Einige waren wirklich so glücklich gewesen und diese sprachen von Etwas, was sie Ballet nannten, was noch Oper und Komödie übertreffen sollte; beim Ballet, sagten sie, sei die Tänzerin, Frau Schall, die erste und hervorragendste; mir erschien sie deshalb als die Königin des Ganzen, und meiner Phantasie schwebte sie als Diejenige vor, welche, wenn ich ihre Güte und ihren Schutz gewinne, mir zu Ehren und zum Glück emporhelfen könnte.

Erfüllt von diesen Gedanken begab ich mich zu dem alten Buchdrucker Iversen, einem der angesehensten Bürger der Stadt Odense, den, wie ich wußte, die Schauspieler während ihres Aufenthaltes in Odense täglich besucht hatten; er kannte sie Alle und würde gewiß auch die Tänzerin kennen, ich wollte ihn um einen Brief an sie bitten, und Gott würde wol dann das Uebrige thun.

Der alte Mann sah mich zum ersten Male, hörte mein Anliegen mit großer Freundlichkeit an, rieth mir aber auf's Bestimmteste von dem Wagniß einer solchen Reise ab. Ich solle ein Handwerk erlernen, sagte er. »Das würde wirklich eine große Sünde sein!« antwortete ich und er stutzte über die Art und Weise, wie ich dies gesagt haben soll, und das nahm ihn für mich ein, wie die Familie mir später erzählt hat. Er kenne zwar die Tänzerin persönlich nicht, sagte er, aber er würde mir dessen ungeachtet ein Schreiben an sie mitgeben. Ich bekam ein solches und mir schien nun schon Thor und Thür des Glücks geöffnet zu sein.

Meine Mutter packte ein kleines Bündel Kleider zusammen und sprach mit dem Postillon und fragte ihn, ob er mich als »blinden Passagier« mit nach Kopenhagen nehmen könne. Es ließe sich schon machen, meinte er, ich hätte nur drei Reichsthaler für die ganze Reise zu zahlen. Der Nachmittag, an welchem ich abreisen sollte, kam endlich heran; betrübt begleitete meine Mutter mich zum Thore hinaus; hier stand die alte Großmutter; in der letzten Zeit war ihr schönes Haar ergraut; sie umarmte mich, weinte, ohne ein Wort sagen zu können; ich selbst war inniglich betrübt, – dann trennten wir uns; ich sah sie niemals wieder; sie starb ein Jahr später, – ich kenne ihr Grab nicht; sie fand auf dem Friedhof der Armen ihre letzte Ruhestätte.

Der Postillon blies, es war ein herrlicher, sonniger Nachmittag, und bald strahlte die Sonne in mein lichtes kindliches Gemüth hinein; ich freute mich über all' das Neue, was ich sah, und ich reiste ja dem Ziel meiner Sehnsucht entgegen. Als ich aber bei der Stadt Nyborg Die Reise von Odense nach Kopenhagen mit der Postkutsche, die einzige Beförderung jener Zeit, hat der Dichter in der reizenden Geschichte »Ein Stück Perlenschnur« im II. Bande Seite 406-417 geschildert. Der Uebers. auf den großen Belt hinausgelangte und das Schiff von meiner Geburtsinsel absegelte, empfand ich, wie allein und verlassen ich dastand, und daß ich mich an niemand Anders zu halten hatte, als an den lieben Gott im Himmel. –

Sobald ich auf der Insel Seeland wieder die Erde betrat, begab ich mich hinter einen Schuppen, der am Meeresufer stand, kniete nieder und betete zu Gott, daß er mir helfe und mich begleite; ich fühlte mich dadurch getröstet, baute nun fest auf Gott und mein Glück – und nun fuhr ich den ganzen Tag und die darauffolgende Nacht durch Städte und Dörfer; einsam stand ich am Wagen und verspeiste mein Stückchen Brod, während umgeladen wurde; Alles war mir so fremd, es schien mir, als wäre ich weit hinaus in die große Welt gerathen.

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