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22.

Es war Nacht. Seit drei Stunden kämpfte der »Cardigan« einen verzweifelten und aussichtslosen Kampf. Der beim Aufprallen auf eine Klippe entstandene Maschinendefekt war zum Teil behoben worden, und die Maschine arbeitete wieder, aber mit halber Kraft. Ab und zu setzte sie ganz aus, und dann hielten alle Menschen den Atem an und lauschten angstvoll, ob die Maschine, das Herz des Schiffes, für immer verstummt sei.

Im Lagerraum stand Wasser; durch die Schotten, die nicht dicht waren, drang das Wasser in die Kabinen, in den Maschinenraum. Das schlimmste aber war, daß der Kesselraum vollief. Die Maschinenpumpe arbeitete, sämtliche Handpumpen waren eingesetzt, aber das Wasser im Kesselraum blieb. Kaum merkbar, aber stetig stieg es. Es war nur eine Frage der Zeit, wann es die Feuer erreichte und damit die Maschine lahmlegte. Dann war der Kampf zu Ende. Das Herz des Dampfers stand still. Das Schiff war nicht mehr manövrierfähig, war ein Spielball der Wellen.

Kapitän Grady stand auf der Kommandobrücke und gab seine Befehle. Er wußte, daß der Dampfer sich höchstens bis zum Morgengrauen halten konnte – dann erreichte das Wasser die Feuer –, aber er gab seine Befehle mit zuversichtlicher Stimme, wie ein Kapitän, der sein Schiff schon durch unzählige Stürme durchgebracht und der die Überzeugung hat, es auch diesmal zu schaffen.

Der Kapitän hatte keine Hoffnung. Er war ein Mann, der mit Tatsachen rechnete und an Wunder nicht glaubte. Und nur ein Wunder konnte Mannschaft und Passagiere des »Cardigan« retten. Die meuternde Mannschaft gehorchte ihrem Kapitän. Jeder Befehl wurde sofort und mit letzter Anstrengung ausgeführt – bis auf einen: Kein Hilferuf drang hinaus in die Ätherwellen, kein Funkspruch gab anderen Schiffen Nachrichten vom Untergang dieses Dampfers. Der »Cardigan« starb schweigend.

Vor der Funkkabine hielt Toole mit zwei Matrosen Wache. Sie waren unbesorgt, denn die meuternden Matrosen und Heizer hatten begriffen, daß ihrer schwere Zuchthausstrafen harrten, wenn ein anderer Dampfer sie aufnahm. Die Passagiere aber waren unbewaffnet. Sie waren machtlos und dem Verderben ausgeliefert. Und sie wußten, daß Kapitän Gradys letzter Befehl für sie den Tod bedeuten würde, hieß es: »Die Rettungsboote ausschwenken«, so war für die Passagiere kein Platz darin. Nicht einer von ihnen durfte dann mit, denn dieser eine hätte später gegen die Mannschaft Zeugnis abgelegt.

Alles das wußte Kapitän Grady und blieb doch auf seinem Posten. Er hielt Kurs Nord-Nordwest. Er hoffte auf nichts, aber er befolgte die Weisung des sterbenden Offiziers. Gewiß, es war ein Offizier, der sich zu den Meuterern geschlagen hatte; aber ein bestimmtes Gefühl sagte Grady, daß er dieser letzten Weisung Murphys vertrauen dürfe. Und schließlich war es auch völlig gleichgültig, wohin der »Cardigan« fuhr. Also hielt Grady Kurs Nord-Nordwest. Mit halber Kraft nach Nord-Nordwest!

Stunde um Stunde verstrich. Im Rauchzimmer, wo die Tür wieder eingehängt und die Wände und Fenster notdürftig ausgebessert waren, saßen in Mänteln und Decken vereinzelte Passagiere. Sie hatten die Füße hochgezogen und starrten mutlos in das am Boden hin und her plätschernde Wasser. Neben ihnen lagen Rettungsringe. Die Lichtleitung war durchnäßt, und wie überall auf dem Schiff, brannten auch hier trübe Notlampen.

Auf dem Sofa lag mit geschlossenen Augen der Dritte Offizier. Dr. Pembroke und Erika waren unermüdlich um ihn bemüht. Er war von zwei Schüssen getroffen. Der eine war ein Durchschuß des Oberarms und bereitete dem Arzt wenig Sorge; die zweite Kugel aber steckte in der Brust, und es war fraglich, ob Murphy am Leben bleiben würde, wenn es nicht bald gelang, die Kugel zu entfernen. Das aber war bei dem Hinundherschlingern des Schiffes jetzt nicht möglich.

In der Ecke gegenüber hockte Prochorow. Man sah von ihm nicht viel, denn er steckte in einem dicken Mantel, dessen hoher Kragen sogar sein Gesicht verdeckte. Er saß mit angezogenen Beinen da und wimmerte. Nur wenn ein anderer Passagier ihn wütend anfuhr, brach das Wimmern ab; aber nach einer Weile – erst leise, dann lauter – begann es aufs neue. Unweit von ihm saß Frau Kaufmann. Sie hatte die Arme über den Tisch geworfen, die Hände gefaltet und betete. Seit Stunden saß sie so regungslos da, während ihr Mann unten an den Pumpen arbeitete. Maud Kassala hatte sich auf den Tisch gesetzt und rauchte mit gleichgültiger Miene eine Zigarette nach der anderen. Ihr Gesicht war wachsbleich, und ab und zu, wenn das Schiff sich bedenklich auf die Seite neigte, überlief sie ein Zittern; aber irgendein ererbtes Gesetz zwang sie, vor diesem Häuflein verzweifelter Menschen die Rolle der Frau zu spielen, die gleichmütig den Tod erwartet.

Murphy fieberte.

»Ich will nicht! Ich kann nicht!« schrie er und versuchte, sich aufzurichten. Nur den gemeinsamen Anstrengungen des Arztes und Erikas gelang es, ihn wieder auf sein Lager zu zwingen. »Sie schießen – sie schießen alle zusammen. Hilfe! Hilfe!«

»Er soll schweigen!« schrie Prochorow auf. »Halten Sie ihm doch den Mund zu! Das ist ja nicht mehr schön.«

Maud Kassala verfiel plötzlich in ein nervöses Lachen. Sie lachte, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen, in ihr Gesicht trat ein irrer Ausdruck, und dann sank sie, immer noch lachend, vom Tisch auf das Sofa. Dr. Pembroke war aufgesprungen und watete durch das Wasser auf sie zu. Er nahm sie in die Arme, legte ihren Kopf an seine Schulter und sprach auf sie ein. Aus ihrem Lachen wurde plötzlich ein krampfhaftes Weinen, erst laut, dann immer leiser, bis es schließlich verstummte.

Alle atmeten auf, wie von einem Alpdruck erlöst. Erika, deren Blick Dr. Pembroke gefolgt war, sah wieder Murphy an. Seine Augen waren jetzt weit geöffnet, und es war darin ein klarer, ruhiger Ausdruck.

»Werde ich sterben?« fragte er leise.

Erikas Hand fuhr ihm vorsichtig über die Stirn.

»Vielleicht werden wir alle heute nacht ... sterben«, antwortete sie ausweichend.

»Nein, ich meine, ob ich – ob die Wunden –«

»Nein«, sagte sie ruhig. »Ihre Wunden sind nicht tödlich. Wenn wir gerettet werden, dann werden auch Sie am Leben bleiben.«

Er dankte ihr mit einem Kopfnicken und sagte eine Weile nichts. Plötzlich berührte er ihre Hand.

»Ich – möchte wissen – ob Sie – ich meine, wenn wir gerettet werden – ob Sie – Ihr Wort –«

Sie senkte den Kopf.

»Sie haben mein Wort, daß ich Ihre Frau werde.«

»Aber Sie gaben es in – der Aufregung. Macht das – nichts?«

»Nein, das macht nichts. Sie haben Wolfgang Diersch das Leben gerettet, und ich gab Ihnen mein Wort.«

Er sah sie mit einem langen, stummen Blick an, und in seinen Augen war ein Leuchten, wie sie es nie an ihm gesehen hatte.

»Das ist – sehr gut – von Ihnen«, murmelte er. »Und – und –.« Er würgte an den Worten. »Ich gebe Ihnen – Ihr Wort – zurück. Sie brauchen nicht – meine Frau zu werden.«

»Ich verstehe Sie nicht! Sie haben alles getan, um mich zu zwingen und jetzt?«

»Wissen Sie noch, wie Sie mir sagten, was ein Opfer sei?« fragte er, plötzlich lebhafter werdend. »Ich hatte geglaubt – weil ich die Meuterei um Ihretwillen mitmachte – hatte gedacht, es sei ein Opfer.«

»Ein Opfer ist, wenn man damit dem Menschen, den man lieb hat, etwas Gutes tut.«

Er nickte.

»Als der Funker mich niederschoß, wußte ich es plötzlich: Sie wollten alles opfern, wenn nur Diersch am Leben blieb. Das taten Sie für ihn. Und ich habe noch nie etwas für Sie getan, nur für mich.«

Durch die Tür stapfte Diersch herein. Er hatte hohe Wasserstiefel an, und sein Gesicht war fettig und voll Ruß. Er kam von den Pumpen.

»Wie steht es?« fragte Murphy leise, als Diersch neben ihm stand.

»Sehr böse«, sagte Diersch stirnrunzelnd. »Ich komme aus dem Kesselraum. Das Wasser steigt und steigt. Die Feuer sind bei dem Schwanken des Schiffes schon jetzt gefährdet. Zwei Stunden, schätze ich, dann ist es aus.«

Murphy versuchte, sich aufzurichten, aber Erika winkte warnend, und da blieb er liegen.

»Welchen Kurs hält der Kapitän?« forschte er.

»Keine Ahnung. Ist ja auch ganz gleich.«

»Nein, nein. In meiner Tasche ist ein Kompaß. Ja, dort. Nun?«

»Nord«, las Diersch ab.

»Also Nord-Nordwest«, sagte Murphy und schloß ermattet die Augen.

Wieder öffnete sich die Tür, und herein stolperten Scott und Professor Kaufmann. Sie sahen genau so aus wie Diersch, nur viel abgespannter. Scott stützte den schmächtigen Gelehrten, der vor Müdigkeit umzusinken drohte. Der ehemals weiße Verbandsstoff um seine Hände war schwarz. Mit Hilfe des Engländers wankte er an den Tisch, an dem seine Frau saß; Scott dagegen ging auf Diersch zu.

»Bete, Gustav, bete!« rief Frau Kaufmann händeringend.

»Gustav hat wie ein Held Wasser gepumpt!« rief Scott zornig. »Soweit ich den lieben Gott kenne, ist ihm so ein Mann lieber als einer, der nur auf den Knien herumrutscht. Und jetzt braucht Gustav Ruhe. Punkt.«

»Es gibt gar keinen Gott!« schrie Prochorow. »Es gibt gar keinen! Und wir ersaufen! Alle, alle!«

»Mensch, wenn Sie nicht still sind!« rief Scott und machte drohend zwei Schritte auf Prochorow zu. »Es ist jedes Menschen eigene Sache, ob er Gott zum Leben braucht oder nicht; zum Sterben brauchen wir ihn alle!«

Prochorow schwieg und verfiel wieder in sein Wimmern. Da machte Scott kehrt und trat zu Diersch.

»Was sagen Sie?« fragte er. »Habe den Eindruck, daß der Kahn bald absackt.«

»Vielleicht noch zwei Stunden«, versetzte Diersch achselzuckend.

»Und dann setzen sich diese Schweine vergnügt in die Boote und fahren davon.«

Dr. Pembroke bemühte sich wieder um Murphy, der aufs neue bewußtlos geworden war. Plötzlich beugte sich Diersch vor und griff in die Rocktasche des Offiziers.

»Hier!« rief er triumphierend. »Ein Revolver! Daß auch niemand von uns daran dachte.«

»Sein Revolver lag doch auf dem Boden, als der Zusammenstoß erfolgte.«

»Aber er konnte doch einen zweiten in der Tasche haben! Und er hatte ihn in der Tasche. Jetzt –«

Scott packte Diersch hart beim Arm.

»Was wollen Sie tun?«

»Ich will in den Funkraum und SOS funken!«

»Sie sind wahnsinnig! Drei Mann – alle bewaffnet – bewachen die Funkkabine.«

»Lassen Sie, Mr. Scott«, sagte Diersch ernst. »In spätestens zwei Stunden ist es mit uns allen aus. Was wage ich denn? Zwei Stunden Leben! Wenn es aber glückt –«

»Ich gehe mit«, erklärte Scott.

»Ich auch«, sagte Dr. Pembroke.

Erika hatte Dierschs Hand ergriffen und preßte sie heftig.

»Muß es sein?« fragte sie flehend. »Gibt es gar kein anderes Mittel?«

»Es muß sein«, antwortete Diersch entschlossen. »Keine Sekunde mehr ist zu verlieren.«

»Herr Diersch!« sagte Murphy mit schwacher Stimme.

»Ja, Herr Murphy?«

»Geben Sie mir den Revolver zurück.«

»Ich denke nicht daran. Es muß sofort SOS gefunkt werden.«

»Ja, gewiß«, sagte Murphy. »Aber Sie kommen nicht in die Kabine hinein. Sie nicht. Aber ich.«

»Sie?« rief Diersch überrascht. »Sie wollen.– Man wird Sie dafür kaltblütig über den Haufen schießen.«

»Wohl möglich. Aber erst, nachdem ich gefunkt habe. Sie aber würde man niederknallen, bevor Sie gefunkt haben. Und das ist ein Unterschied.«

Diersch stand da und kaute nachdenklich an der Unterlippe.

»Woher soll ich wissen, ob Sie nicht sonst was unternehmen, statt zu funken? Ihr Wort – mit Verlaub gesagt, Herr Murphy –«

»Beleidigen Sie mich nicht, Herr Diersch. Sie werden es bald bereuen.«

»Mr. Murphy«, mischte sich Scott ein. »Sie müssen begreifen, daß dies unsere letzte Chance ist. Wir können dazu nur einen Menschen wählen, der unbedingt zuverlässig ist.«

»Herr Murphy ist unbedingt zuverlässig«, sagte Erika plötzlich.

»Wieso?« rief Diersch verwundert.

»Tue, was Herr Murphy sagt«, antwortete sie ausweichend. »Er ist der einzige, der uns helfen kann.«

»Weißt du so bestimmt, daß er uns nicht verraten wird?«

»Ich weiß es.«

Diersch reichte Murphy stumm den Revolver.

»Ich danke«, sagte Murphy und sah dabei Erika an. »Jetzt bitte ich die Herren, mir beim Aufstehen zu helfen und mir den Rock zuzuknöpfen.«

»Ich als Arzt kann das nicht zulassen«, widersprach Dr. Pembroke.

»Ich als Offizier erteile Ihnen den dienstlichen Befehl: knöpfen Sie mir, so vorsichtig es geht, den Rock zu.«

»Es wird schmerzen.«

»Macht nichts, wenn ich nur auf den Beinen bleibe.«

Eine Weile hantierte der Arzt an Murphys Uniform herum, aber es wollte ihm nicht gelingen, den Rock über dem Verband zu schließen. Sobald er heftiger zog, wurde Murphy weiß im Gesicht.

»Halt!« sagte der Offizier plötzlich und setzte sich. »Schneiden Sie mir den Rock hinten auf. Unter dem Ölmantel ist der Rock doch nicht zu sehen. Und dann – ist ja auch gleich.«

Dr. Pembroke nickte. Er nahm eine Schere aus seiner Verbandtasche und schnitt den Rock hinten von unten bis oben auf. Seine Hand zitterte dabei ein wenig. Vor zwanzig Jahren hatte er als junger Staatsarzt neben einem zum Tode Verurteilten gestanden, als man ihn für seinen letzten Gang zurechtmachte. Als sei es gestern gewesen, erinnerte er sich des Blickes des Verurteilten und der ratlosen Frage: »Wozu das?« als man ihm ein neues Hemd anzog.

Der Arzt schnaufte hörbar und preßte die Lippen fest aufeinander. So, jetzt konnte er den Rock mühelos zuknöpfen.

Alle vier halfen dem Offizier in seinen Mantel, und dann versuchte Murphy, ein paar Schritte zu gehen. Er taumelte aber sofort und wäre gestürzt, hätte Diersch ihn nicht gehalten.

»Es geht nicht«, sagte Scott und hob verzweifelt die Schultern.

»Es muß gehen«, widersprach Murphy. »Sie werden mich führen – bis dicht vor die Funkkabine. Es ist dunkel, und man wird es nicht sehen. Zwei, drei Schritte werde ich allein gehen. Es muß möglich sein!«

In der Tür, gestützt von Diersch und Scott, blieb Murphy stehen und wandte sich um. Er sah Erika mit einem nachdenklichen Blick an, dann war es, als lächelte er. Und in diesem Augenblick wußte Erika, daß sie ihn zum letztenmal sah.


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