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17.

Toole befiehlt hier! Der Bedeutung dieser Worte wurden sich Diersch und Erika bewußt, als sie das Rauchzimmer betraten. Dort, wo vor einer Stunde nur die etwas gedämpfteren Stimmen der Passagiere und die Zivilkleidung des Kapitäns und des Arztes daran erinnerten, daß Meuterer den Dampfer beherrschten, dort sah man jetzt auf den ersten Blick, was vorgefallen war: Der Raum war gesteckt voll von lärmenden Matrosen und Heizern, aus deren Taschen die Hälse von Whiskyflaschen hervorragten. Einzelne hatten sich Offiziersmützen aufgesetzt, die den rohen gelben Gesichtern etwas Groteskes verliehen; andere rauchten teure Zigarren und blinzelten vergnügt in die Ecke, in die sich – wie eine Herde verängstigter Schafe – die Passagiere gedrängt hatten. Dieses Blinzeln erinnerte an satte Katzen, denen es Vergnügen macht, ihre sichere Beute erst eine Weile spielerisch zu belauern.

Eine dumpfe Angst schnürte Diersch die Kehle zu. Er sah, wie bei ihrem Eintritt einige der Malaien Erika mit aufmerksamen Blicken streiften; er sah, wie sie beifällig nickten und einander etwas zuflüsterten. Und er begriff, daß hier schnell gehandelt werden mußte, wenn man eine Katastrophe verhindern wollte.

Äußerlich gefaßt, führte er Erika in die Ecke zu den Passagieren. Scott stand sofort auf, machte ihr Platz und setzte sich selbst so, daß Erika von der Mannschaft nicht belästigt werden konnte, ohne es erst mit dem Engländer zu tun zu bekommen. Diersch dankte ihm durch einen Blick.

»Das ist ja toll hier«, raunte er Scott zu.

Scott zuckte die Achseln.

»Dieser Toole soll erklärt haben, daß auf dem Schiff jetzt alle gleich seien. Die Passagiere hätten genug das Blut dieser bedauernswerten Mannschaft gesaugt. Dieses Schlagwort ist manchem von uns ja noch recht unliebsam in Erinnerung.«

»Was tun wir, wenn sich die Kerle an uns vergreifen?« unterbrach ihn Diersch, der im Augenblick an nichts anderes denken konnte.

»Wir bleiben ruhig«, sagte Scott ernst. »Nur äußerste Ruhe und Selbstbeherrschung kann uns helfen.«

»Dann können die ja mit uns machen, was ihnen einfällt! Nein, den ersten, der sich hierher wagt, schlage ich krumm und lahm.«

»Das wäre für die übrigen Passagiere gefährlich – ganz abgesehen davon, wie es Ihnen nachher erginge.«

Ein ohnmächtiger Zorn packte Diersch. Es war nur eine Frage der Zeit, wann es diesen betrunkenen Gelben einfallen würde, die Passagiere zu belästigen! Und dann sollte man wehrlos dabeistehen und zusehen, wie diese Kerle ... Nein, nein! Er würde es verhindern! Er mußte das verhindern! Er mußte Prochorows Steine wegbringen, solange die Mannschaft noch nicht halbtoll vor Trunkenheit war. War es erst so weit, so würde nichts mehr helfen – auch das Verschwinden der Steine nicht. Die Tür sprang auf, ein heftiger Windstoß fegte ins Zimmer. Mit den Händen seine Mütze haltend, taumelte Prochorow herein. Er erweckte den Eindruck eines Betrunkenen, doch war nur der Wind daran schuld, der seine Schritte unsicher machte. Ihm folgte Toole, die Mütze in der Hand, über den Kopf die Kapuze seines Regenmantels gezogen.

Es wurde etwas stiller im Zimmer. Ein weißer Matrose, der bis jetzt mit hingebungsvollem Eifer die Tasten des Klaviers bearbeitet hatte, sprang auf und eilte den beiden entgegen. Er schien einer der nüchternsten zu sein. Doch auch in die Augen der übrigen Matrosen und Heizer kam ein nüchterner Ausdruck, als sie bemerkten, wie Toole und der junge Matrose ernsthaft etwas berieten. Prochorow versuchte, sich bei den Passagieren Platz zu verschaffen, aber niemand dachte daran, auch nur um ein Stückchen beiseite zu rücken. So blieb Prochorow nichts anderes übrig, als sich zu den Matrosen zu setzen. Sein Gesicht war vom Zorn gerötet.

Toole winkte. Ein langer schwarzbärtiger Heizer trat, dem Wink folgend, zu ihm. Jetzt sprachen sie zu dritt. Jetzt – es mochten drei Minuten verstrichen sein – schienen sie sich über etwas einig geworden zu sein. Der Heizer ging auf einen kleinen Tisch in der Mitte des Raumes zu, sagte leise etwas zu den dort sitzenden Malaien, die schnell aufstanden und sich andere Sitzgelegenheiten suchten. Mit dem Ellbogen stieß der Heizer Gläser und Flaschen vom Tisch. Mit einer einzigen Armbewegung hatte er den Tisch blankgefegt. Zwei Stühle schob er weg, so daß nur noch drei an dem Tisch blieben.

Die Vorbereitungen waren beendet, und Toole, gefolgt von dem jungen Matrosen, kam auf den Tisch zu und setzte sich. Sein Gesicht hatte jetzt etwas Feierliches. Und ebenso feierlich waren die Mienen des bärtigen Heizers und des jungen Matrosen, als sie sich neben Toole niederließen. Der Funker holte aus der Tasche ein mehrfach gefaltetes Papier, breitete es auseinander und las es durch. Dann zog er einen Bleistiftstumpf aus der Tasche, steckte ihn zwischen die Zähne, und las – emsig kauend – das Papier zum zweitenmal durch. Ob beabsichtigt oder nicht, die Wirkung dieser sonderbaren Vorbereitungen war, daß sich im Raume eine lähmende Stille ausbreitete.

»Wie den anwesenden Herrschaften bekannt sein dürfte«, begann Toole mit näselnder Stimme, »bin ich hier der alleinige und verantwortliche Befehlshaber dieses Dampfers, dieser Mannschaft und auch dieser Passagiere.« Er zögerte und schielte zu den Passagieren hinüber, als erwarte er Beifallsäußerungen. Des Beifalls der Matrosen schien er sicher zu sein, und in der Tat horchten die ihm mit offenen Mündern und staunenden Augen zu. Er schien in ihrer Achtung viel gewonnen zu haben.

»Die Verantwortung, die ich durch die Übernahme der Gesamtleitung dieses Schiffes auf meine Schultern geladen habe, lastet mit Zentnerschwere darauf, aber ich bin gesonnen, das in meine schwachen Kräfte gesetzte Vertrauen voll und ganz zu rechtfertigen und mit Leuten, die Sabotage treiben, in einer Weise zu verfahren, die mir das in mich und auf mich – kurz und gut: die Kerle aufzuhängen! Hier, Mr. Smith« – er deutete auf den bärtigen Heizer – »und Mr. Tain« – er wies auf den jungen Matrosen – »werden mich würdig unterstützen.« Er räusperte sich. »Mr. Prochorow, treten Sie vor.«

Prochorow sprang auf und eilte auf den Tisch zu. Sein Gesicht strahlte, als stehe ihm ein großer Genuß bevor.

»Berichten Sie uns in möglichster Kürze, wie und in welcher Form Mr. Berwick sich in beleidigender Weise an Ihnen vergriffen hat.«

Prochorow, mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen, berichtete ziemlich wahrheitsgetreu, wie der Professor ihn beleidigt und geschlagen habe.

»Ich danke«, erklärte Toole und kaute an seinem Bleistift. »Mr. Berwick, treten Sie näher.«

Leise fluchend kroch der Professor hinter seinem Tisch hervor und stellte sich neben Prochorow. Er überragte den Juwelenhändler fast um Kopfeslänge. Während Prochorow triumphierend lächelte, war das Gesicht Berwicks finster. Dennoch verriet er keinerlei Unruhe. In der Hand hielt er ein Buch, den Zeigefinger zwischen den Seiten, und stand da, wie ein Mensch, der durch eine lästige Frage beim Lesen gestört wurde.

»Was haben Sie zu den Äußerungen Ihres Vorredners zu bemerken?« fragte Toole und verzog mit einem Lächeln die Mundwinkel.

»Nichts«, antwortete Berwick düster.

»Sie verzichten gewissermaßen auf das Recht der Verteidigung? Nun, ich möchte aber von Ihnen selbst hören, wie Sie Mr. Prochorow beleidigt und geschlagen haben.«

»Er hat es ja gesagt«, versetzte der Professor mürrisch. »Es stimmt.«

»Ich wünsche aber Ihr eigenes –«

»Ganz einfach habe ich das gemacht!« unterbrach ihn Berwick jetzt wütend. Ehe jemand ihn daran hindern konnte, hob er die Hand mit dem Buch. »So!« rief er, und das Buch klatschte in Prochorows lächelndes Gesicht. »Und so!« Und das Buch klatschte zum zweitenmal.

Prochorow kreischte wild auf und sprang beiseite. Den Bruchteil einer Sekunde herrschte Stille, dann brach donnerähnlich das begeisterte Gebrüll und Gelächter der Matrosen und Heizer los. Toole mühte sich verzweifelt um Wiederherstellung der Ruhe, aber bald gab er diese Versuche auf, lehnte sich in seinem Sessel zurück und lachte mit. Er lachte so, daß in seinen kleinen Augen Tränen schimmerten. Zwei, drei Matrosen waren aufgesprungen und klopften Berwick wie ihresgleichen gutmütig auf die Schulter. Als der jammernde Prochorow in ihre Nähe kam, bekam er ein paar Püffe ab, die ihm für die nächste Zeit die Lust nahmen, sein Recht auf dem Klagewege zu suchen.

Toole, obwohl nicht ganz von der Gerechtigkeit dieser Maßnahme überzeugt, ordnete an, daß das Verfahren eingestellt würde. Die frohen Gesichter der Matrosen und Heizer bewiesen ihm, daß er auf dem Wege zur Volksbeliebtheit ein großes Stück weitergekommen war.

»Ruhe! Bitte, jetzt Ruhe!« schrie er, und man gehorchte ihm willig. »Eine wichtige Mitteilung!« Er zögerte und wartete ab, bis wieder völlige Stille eingetreten war. Dann verfiel er aufs neue in die geschraubte Ausdrucksweise, die er offenbar irgendeinem Redner abgelauscht hatte: »Auf dem Dampfer befinden sich dreierlei Gattungen von Menschen: die eine, das sind wir, die wir den Umsturz herbeigeführt haben, und die wir uns jetzt mit vollem Recht als die Beherrscher dieses Seefahrzeuges betrachten dürfen. Die zweite – das sind die Offiziere und Matrosen, die sich uns widersetzten und jetzt als unsere Gefangenen angesprochen werden dürfen. Die dritte – das sind die sechsundzwanzig Passagiere, die eine Art Fremdkörper darstellen, und die ich als Neutrale bezeichnen möchte. Weder die Gefangenen noch diese Neutralen sollen Grund zur Klage haben, wenn sie sich in jeder Form und Weise der neuen Ordnung fügen. Die Passagiere sollen unversehrt an Land gebracht werden, nur nicht in Bremen, wie sie dachten, sondern in – Mauretanien.« Er atmete tief auf, wie nach schwerer Arbeit, und schwieg.

»Wo?« rief Grady verblüfft. Dann lehnte er sich weit in seinen Sessel zurück und lachte.

Das Gesicht Tooles verfinsterte sich.

»Ich erwarte von Ihnen, Mr. Grady, ein diszipliniertes Verhalten!« tadelte er streng.

Der ehemalige Kapitän zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf, aber er sagte nichts mehr. Seine Miene verriet jedoch deutlich, daß er den Plan Tooles, nach Mauretanien zu fahren, für undurchführbar hielt.

»Nichts soll uns hindern, unser Ziel zu erreichen«, fuhr der Funker fort. »Unter den Passagieren befindet sich allerdings unerkannt ein Inspektor von Scotland Yard, der sich mit der Absicht trägt, unser Werk zu sabotieren. Wir werden das zu verhindern wissen und werden vor keinem Mittel zurückschrecken, auch nicht vor der Vollstreckung etwa notwendig werdender Todesurteile. Als erster soll der Inspektor selbst aufgehängt werden, es sei denn« – die Stimme Tooles nahm plötzlich einen schmeichelnden Klang an – »er meldet sich jetzt gleich freiwillig. In diesem Falle sichere ich ihm im Namen der ganzen Mannschaft Straffreiheit zu. Wir würden ihn dann behandeln wie die gefangenen Schiffsoffiziere. So! Ich erwarte nun, daß er sich meldet.«

Toole schwieg und kritzelte etwas auf sein Blatt Papier. Die Blicke der Matrosen und Heizer waren finster. Sie sehen starr zu den Passagieren hinüber, von einem zum anderen, als versuchten sie, auf diese Weise herauszubekommen, wer dieser eine war, der ihnen gefährlich werden konnte. Unter allen diesen Matrosen war keiner, der nicht wußte, welche verhängnisvolle Rolle der Inspektor auf der »Aberdeen« gespielt hatte. Sie wußten, daß sie den Verrat jedes ihrer Genossen zu fürchten hatten, solange Inspektor Leith unerkannt blieb. Was sie nicht wußten aber war die Tatsache, daß Toole vor einer halben Stunde ein neues Telegramm aus London erhalten hatte, in dem eine Frist von zwei Stunden für eine befriedigende Antwort gesetzt war.

»Ich sehe, der Inspektor will von der ihm gebotenen Vergünstigung keinen Gebrauch machen«, erklärte Toole nach einer Weile böse. »Miß Kassala, treten Sie vor.«

Die Malaien und weißen Matrosen wurden unruhig, denn sie begriffen die Zusammenhänge noch nicht. Unter den Passagieren machte sich eine Bewegung bemerkbar. Es schien, als wollten die Männer das junge Mädchen nicht durchlassen. Doch Maud Kassala war aufgestanden und verlangte, man solle ihr Platz machen. Unwillig traten einige der Männer beiseite und ließen sie vorbei.

Jetzt stand sie, bleich, aber äußerlich gefaßt, vor dem Funker. Er musterte sie eine Weile, ehe er das Wort an sie richtete.

»Passen Sie gut auf, Miß Kassala«, sagte er endlich und versuchte, einen väterlichen Ton anzuschlagen. »Mir ist bekannt, daß Sie wissen, wer von den Leuten Inspektor Leith ist. Sie werden es uns sagen.«

»Nein«, erwiderte sie ruhig.

»Nicht?« Toole hob langsam, nach und nach, die Schultern. »Dann – werden wir Sie aufhängen müssen.«

»Dafür wird man nachher Sie und alle Beteiligten aufhängen.«

»Wo?« fragte er höhnisch. »In Mauretanien?«

»Nein«, antwortete sie. »In London.«

»Wir fahren aber nach Mauretanien, Miß Kassala!«

»Solange ich Ihnen den Namen des Inspektors nicht nenne, haben Sie nicht die geringste Aussicht, dort anzukommen.«

»Doch«, sagte er gereizt. »Ich lasse jeden fünften der Passagiere aufhängen und die übrigen in Eisen legen. Dann kann uns Ihr Inspektor nicht mehr schaden.«

»Sie scheinen zu vergessen, daß in London das Ausbleiben von Nachrichten des Inspektors auffallen wird und daß von London – –«

Er sprang auf.

»Ich verbiete Ihnen, hier solche verlogenen Behauptungen aufzustellen!« schrie er und fuchtelte wild mit den Armen. »Sie haben Ihr Leben verwirkt.« Er blickte fragend seinen Nebenmann zur Rechten, dann den zur Linken an. Nach einigem Zögern nickten beide. »Ich verurteile Sie hiermit zum Tode durch Erhängen.« Er setzte sich.

»Die Folgen dieser Tat –« begann Maud, aber er fuhr ihr sofort dazwischen.

»Wir wünschen kein Wort mehr von Ihnen zu hören! Jetzt –« Er unterbrach sich, da Smith ihm etwas zuflüsterte. Einige Sekunden lang hörte er mit gefurchter Stirn zu, dann nickte er wütend.

»Mr. Smith wünscht, daß ich Sie noch einmal frage, ob Sie uns den Inspektor jetzt nennen wollen. Das Todesurteil würde dadurch aufgehoben werden.«

Maud schüttelte den Kopf: »Ich verrate den Mann nicht.«

Toole stand hastig auf. Seine Gebärden hatten jetzt etwas Endgültiges.

»Nehmt die Person in eure Mitte und folgt mir«, befahl er Smith und Tain.

Diersch war aufgestanden und stellte sich vor die Tür.

»Das werden wir nicht zulassen«, sagte er hart und ruhig. »Sie müssen dann alle sechsundzwanzig Passagiere aufhängen. Alle oder keinen!«

Es schien, als hätten die Passagiere eine geheime Verabredung getroffen. Ebenso langsam wie Diersch standen einer nach dem anderen die Männer auf und stellten sich neben die Tür.

»Was?« schrie Toole auf. »Offene Auflehnung?« Blitzschnell wandte er sich seinen Matrosen zu. Sein Gesicht war kreideweiß, und seine Lippen zuckten.

»Tain, Smith, Johnsohn, Gonor, Bulum, Dassar – –« Er sprudelte die Namen mit unheimlicher Geschwindigkeit hervor. »Revolver heraus! Angelegt! Und ihr da – weg von der Tür! Sonst gebe ich Befehl zum Feuern!«

Einige Frauen schrien verzweifelt auf, Erika lief auf die Männer an der Tür zu, die mit starren Gesichtern dastanden und sich nicht rührten. Sie stellte sich vor sie, als wolle sie alle diese Männer mit ihrem Körper decken, oder als hoffe sie, die Matrosen würden nicht schießen, wenn in der vordersten Reihe eine Frau stand.

»Weg von der Tür!« kreischte Toole. »Wem sein Leben lieb ist, weg da! Ich gebe den Befehl! Achtung!«

»Halt!« sagte in diesem Augenblick Professor Berwick und machte einen Schritt auf Toole zu. »Ihr seid so verrückt und schießt wirklich. Also Schluß jetzt! Ich bin Inspektor Leith!«


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