Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3.

Langsam gingen die Tanzenden an ihre Plätze zurück. Der Sprecher kündete durch das Radio den nächsten Tanz an, aber auf einen Wink des Kapitäns stellte der Malaie die Musik ab. Eine erwartungsvolle, gespannte Stille breitete sich aus. Fast aller Augen waren aus Grady gerichtet, der mit zusammengekniffenen Lippen dasaß und düster vor sich hinstarrte. Hin und wieder warf jemand einen Blick auch auf Prochorow, aber dieser Blick wandte sich sogleich wieder Grady zu; Prochorows kühle, fast spöttische Miene verriet nichts. Vielleicht war er ein wenig bleicher als vorher, doch die gesunde Farbe seiner Wangen ließ das nicht mit Sicherheit erkennen.

Grady, im Gefühl, daß alle von ihm etwas erwarteten, räusperte sich böse.

Prochorow beugte sich ein wenig vor.

»Was meinten Sie?« fragte er liebenswürdig.

Grady schwieg. Seine kurzen, dicken Finger trommelten aus dem Tisch.

Prochorow sah sich um. Ein Steward war nicht in der Nähe. Da griff er mit der ringgeschmückten Hand nach dem Mundtuch, umwickelte damit den Hals der Weinflasche und schenkte selbst die Gläser voll. Grady richtete sich mit einem Ruck auf.

»Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen sprechen«, sagte er entschlossen.

»Bitte sehr: später«, erwiderte Prochorow und lächelte. »Erst wollen wir zusammen diese Flasche Wein austrinken. Ich bin doch Ihr Gast? Oder ..?«

»Allerdings ... Ja ... Die Sachlage hat sich aber inzwischen wesentlich verändert ...«

»Wieso?« Prochorow zuckte die Achseln. »Inwiefern?«

»Wenn Sie es genau wissen wollen: Einen steckbrieflich verfolgten Verbrecher pflege ich einzusperren, nicht aber mit ihm Wein zu trinken.«

»Ach so! ...« Prochorow lehnte sich nachlässig in seinem Stuhl zurück. Zwischen den Fingern drehte er eine Zigarette. »Ich finde es etwas überflüssig, auf einem Schiff jemanden einzusperren. Man kann doch nicht aussteigen, nicht wahr? Und dann ... Befinden wir uns hier auf einem deutschen oder auf einem englischen Dampfer?«

»Das hat nichts zu sagen ...«

»Bitte! Das hat sehr viel zu sagen. Ich habe lediglich gegen gewisse deutsche Verordnungen verstoßen. England kann es völlig gleichgültig sein, daß ich deutsches Geld nach Ägypten gebracht habe. Außerdem ...«

Da stand plötzlich Diersch auf.

»Herr Prochorow, ich hoffe. Sie werden den Mut haben, diese Worte auf deutschem Boden zu wiederholen ...«

»Ich werde hoffentlich nicht in die Verlegenheit kommen, mich – wie Sie sagen – auf deutschem Boden über diesen Fall zu unterhalten ...«

»Zu unterhalten? Gewiß nicht. Unterhalten wird sich mit Ihnen ein Deutscher überhaupt nicht mehr. Hier nicht und erst recht nicht in Deutschland ...« Diersch wandte sich ab. Mit einer stummen Aufforderung sah er Erika an, dann drehte er sich um und ging hinaus.

Prochorow hatte den Blick Dierschs sehr genau gesehen, und er konnte über dessen Bedeutung keine Sekunde im Zweifel sein. Unter halbgesenkten Augenlidern hervor beobachtete er das wechselnde Mienenspiel im bleichen Gesicht der jungen Frau. Er wußte genau, was in ihr vorging. Auch sie wollte aufstehen und weggehen. Natürlich! ... Sie war ja eine Deutsche! Würde sie es wagen? Er hatte sie doch gewissermaßen in der Hand ... Würde sie es wirklich wagen?

In dem Augenblick, als Erika die kleine Bewegung machte, die ihren Entschluß, aufzustehen, verriet, griff Prochorow ein:

»Willst du nicht ein wenig frische Luft schöpfen, Erika?« fragte er zuvorkommend. »Du siehst recht angegriffen aus ... Bitte, ich habe nichts dagegen.«

Wortlos stand Erika auf und ging langsam durch den leise auf und nieder schwankenden Saal.

»Und nun, Kapitän, wollen wir in Ruhe noch ein Glas Wein miteinander trinken ...« begann Prochorow, doch dann unterbrach er sich: »Oder glauben Sie immer noch, Veranlassung zu haben, mich einzusperren?«

Grady erhob sich.

»Nein«, sagte er frostig. »Aber ich habe auch keine Veranlassung, länger an diesem Tisch zu sitzen.« Er verneigte sich knapp und stapfte davon.

Prochorow war allein. Vier gefüllte Weingläser standen vor ihm auf dem Tisch. Immer wieder mußte Prochorow diese vier Gläser ansehen. Seine Augen waren klein und böse. Drei Menschen hatten ihn beleidigt, bewußt und mit Absicht. Er würde es nicht vergessen. Nicht oft hatte es jemand gewagt, Ossip Prochorow zu beleidigen, und wer es doch wagte, mußte es bald bereuen. Dafür hatte Ossip Prochorow gesorgt. Was war nur in diese drei Menschen gefahren, daß sie ihn behandelten, als sei er ein Irgendwer? Vaterlandsliebe? Charakter? Für Prochorow waren das Begriffe, die wie jede andere Ware ihren Kurswert hatten, allerdings einen geringen Kurswert! Eine Handvoll, nein, zwei, drei seiner roten, grünen oder blauen Steine genügten, und es gab keine Vaterlandsliebe und keinen Charakter mehr. Schon morgen würde der Kapitän es sich zur Ehre anrechnen, mit ihm hier ein Glas Wein zu trinken, und dieser Diersch ...

Prochorow stand plötzlich auf. Er ließ den Wein unberührt und ging hinaus. Nein, er glaubte nicht, daß dieser Diersch um ein paar Steine morgen seine Ansicht ändern würde. Der war verrückt, völlig verrückt. Hatte kein Geld und auch keine richtige Achtung vor dem Geld. Aber die Steine würden auch hier von Nutzen sein. Auf eine andere Weise, auf Umwegen sozusagen.

Meißner – Meßner – dachte Prochorow, als er draußen an Deck vom ersten kühleren Windzug empfangen wurde. Nur ein Buchstabe war mehr da, und dieser eine Buchstabe hatte drei Rubine gekostet. Aber um dieses Buchstaben willen würde Diersch das tun, was er für zehn Rubine nicht getan hätte ...

Prochorow kletterte die schmale Treppe hinunter, die zu den Schlafräumen führte. Vor Erikas Tür blieb er stehen und klopfte an. Als er keine Antwort erhielt, öffnete er die Tür, machte Licht und überzeugte sich, daß sie nicht in der Kabine war. Gut, dachte er und ging weiter. Also wird sie draußen mit diesem Diersch plaudern. Mochte sie! Er hatte genug für heute, morgen würde man weiter sehen.

Der Dampfer schwankte jetzt stark. Ein paarmal warf es Prochorow gegen die Wand, und manchmal war sein Schritt so schwer, als steige er einen steilen Berg hinauf. Da war seine Tür. Er öffnete sie, streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus.

Da fühlte er, wie sich etwas Warmes auf diese Hand legte, sie mit eisernem Griff zusammenpreßte. Gleich darauf blitzte es blendend weiß vor seinen Augen auf. Ein Schuß? Nein, es war nur eine Blendlaterne, die dicht vor sein Gesicht gehalten wurde.

»Keinen Laut, keine Bewegung«, sagte eine tiefe, offenbar verstellte Männerstimme. »Ich gehe jetzt hinaus, und Sie bleiben drei Minuten lang so stehen – ohne Licht zu machen. Drehen Sie am Schalter oder versuchen Sie, mir zu folgen, so schieße ich Sie über den Haufen.«

Prochorow stöhnte. Vergeblich versuchte er, ein Wort zu sagen – seine Stimme gehorchte ihm nicht. Nur ein krampfhaftes Nicken ließ erkennen, daß er den Fremden verstanden hatte und daß er sich fügte.

Plötzlich ließ der Griff der heißen Hand los, und die Blendlaterne erlosch. Hastige Schritte entfernten sich, dann wurde es still.

Prochorow wartete. Als sich nichts rührte, schloß er die Tür und drehte das Licht an. Da sah er seine Koffer – geöffnet, durchwühlt ... Aber nur um den einen Koffer war es ihm zu tun. Dort stand er ebenfalls geöffnet. Mit zitternden Händen zerrte Prochorow ihn heran, starrte fassungslos hinein. Die Steine waren da! Sie waren nicht gestohlen. Er öffnete die samtgefütterten Kästchen eins nach dem anderen. Er zählte, zählte, aber es wurde immer gewisser, daß nichts, nicht das kleinste Steinchen gestohlen worden war.

Eine halbe Stunde verbrachte Prochorow in dumpfem Nachgrübeln über den Anlaß dieses Einbruchs. Er saß auf dem frischbezogenen Bett, rauchte eine Zigarette nach der anderen und zermarterte sein Hirn. Sollte es möglich sein, daß er gerade im richtigen Augenblick gekommen war und den Einbrecher gestört hatte? Dieser Zufall war sehr unwahrscheinlich. Was aber hatte hier jemand zu suchen, der nicht stehlen wollte?

Prochorow grübelte und grübelte, aber es wollte ihm nichts einfallen. Endlich stand er auf und begann, sich zu entkleiden. Sein Blick fiel dabei in den Spiegel über dem einfachen Waschgestell. Er erschrak über sein Aussehen. Sein Gesicht war grünlich-blaß, und nur auf den Wangen glühten zwei rote Flecke. So sah ein Mensch aus, der wußte, ganz genau wußte, was dieser Einbruch zu bedeuten hatte; der nur sich selbst betrog und krampfhaft nach einer anderen Erklärung suchte.

Mit einem Gefühl, als sei er am Ersticken, schraubte Prochorow das kleine Bullauge auf und atmete in tiefen Zügen die Nachtluft ein. Er starrte hinaus in die Nacht. Wie gleichgültig war es ihm jetzt, daß ihn die deutschen Behörden suchten und daß ihn heute drei Leute beleidigt hatten! Deutschland war noch weit, und diese drei Menschen – was lag schon daran, wenn sie ihn beleidigten! Etwas viel Schlimmeres war geschehen. Sein Gepäck war von Scotland Yard durchsucht worden! In Deutschland drohte ihm für Devisenvergehen eine schwere Zuchthausstrafe, in England drohte ihm dieselbe Strafe wegen Hehlerei von gestohlenen Edelsteinen. Aber da war noch der Totschlag ... man würde es Mord nennen ... Dieser verhängnisvolle Totschlag eines englischen Polizeibeamten ... Wenn Scotland Yard wußte, daß er der Leiter der berüchtigten Hehlerbande war, so mußte Scotland Yard ja auch wissen, daß er den Sergeanten Biltmore erschlagen hatte, den Mann, der unglücklicherweise ein Gespräch belauschte ... Prochorow kannte Scotland Yard und wußte, daß ein Mann, der einen englischen Polizeibeamten erschlug, nirgends in der Welt vor der Verfolgung Scotland Yards mehr sicher war. Und er befand sich auf einem englischen Dampfer, auf englischem Gebiet!

Ein heftiges Klopfen riß Prochorow aus seinen Gedanken. Wollte man ihn schon festnehmen? Wie eine Maus in der Falle begann er plötzlich auf und ab zu laufen. Er hielt sich die Ohren zu, um das andauernde Klopfen nicht zu hören; er stolperte, fiel auf sein Gesicht, stand wieder auf. Dann – mit einem verzweifelten Entschluß – riß er die Tür auf.

Ein Mann in einer abgetragenen Uniform, blaß, im Gesicht zahlreiche Pockennarben, stand vor ihm. Er zwängte sich, ohne zu fragen, durch die Tür und riegelte sie von innen ab. Dann wandte er sich an Prochorow.

»Sie haben für mindestens zwanzigtausend Pfund Juwelen bei sich«, sagte er, und es klang halb wie eine Feststellung, halb wie eine Frage.

Prochorow setzte sich stöhnend auf den Bettrand.

»Ja ... aber ... ja ...«

»Ich ...« begann der Mann stockend aufs neue. »Ich ...«

Prochorow sah auf. Der Mann zitterte ja! Seine Stimme klang unsicher ... Er fürchtete sich. Er hatte genau solche Angst wie Prochorow.

»Was wollen Sie von mir?« preßte Prochorow hervor.

»Steine!« antwortete der Mann fest, aber man spürte, was für eine Anstrengung ihn schon dieses eine Wort kostete. »Mindestens den zehnten Teil Ihrer Steine.«

»Sie sind ... verrückt ...« murmelte Prochorow.

»Nein!« stieß der Mann erregt hervor. »Es ist die Chance meines Lebens, meine einzige Chance .. Man wird mich lebenslänglich einsperren, wenn man erfährt ... Man wird auch Sie verurteilen ...«

Prochorow hob entsetzt die Hand.

»Wer sind Sie? So erklären Sie doch endlich ...«

Der Mann lehnte sich gegen den Waschtisch. Er nahm die Mütze ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»Ich bin der Funker«, sagte er. »Ich heiße Toole. Ja ... Und hier ist die Nachricht, die ich nach London funken soll ... Hier ...«

Prochorow griff nach dem Blatt Papier, das ihm der andere reichte. Er begann zu lesen, aber es wollte ihm nicht gleich gelingen, denn die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Endlich hatte er sich soweit gefaßt, daß er lesen konnte:

 

»Scotland Yard, London. An Bord des ›Cardigan‹ befindet sich Ossip Prochorow, von Deutschland steckbrieflich wegen Devisenverbrechens verfolgt. Durchsuchung seines Gepäcks ergab, daß er für mindestens zwanzigtausend Pfund gestohlene Edelsteine mit sich führt. Vermute, daß er der Mörder Biltmores ist und der langgesuchte Hehler der Dixon-Hehlerbande. Inspektor Leith.«


 << zurück weiter >>