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10.

Um dreiviertel zwölf war Murphy in seine Kabine gegangen. Eine jähe Schwäche hatte ihn befallen – jetzt, kurz vor der Entscheidung, wollten seine Nerven versagen. Oder war der Sekt daran schuld? Sicherlich! Er hatte zu rasch getrunken, drei Gläser hintereinander ... Ja, und er war es nicht gewöhnt ... Das war es, nur das!

Die Kabine Murphys, die er mit dem Zweiten Offizier teilte, war eng und unbehaglich: zwei Betten übereinander, ein Waschtisch, ein Kleiderschrank – das war die ganze Einrichtung. Nein, es war kein Raum, in dem man sich nach getaner Arbeit ausruhen mochte; es war eine Zelle, in die man sich nur verkroch, um die müden Glieder zu strecken, bis die nächste Wache kam. Aber es war auch der einzige Raum, in dem man für kurze Zeit vergessen durfte, daß man Offizier war, in dem man für kurze Zeit nur Mensch sein durfte.

Murphy wußte, daß ihn während der nächsten fünfzehn Minuten niemand stören würde: Der Zweite Offizier bewachte das Deck, und sonst verirrte sich selten jemand hierher. Als er die Tür hinter sich sorgfältig abriegelte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Nichts mehr von der steinernen Entschlossenheit und dem unbeugsamen Willen Murphys war darin zu lesen; es war das Gesicht eines von Zweifeln und Ängsten geplagten Menschen, nichts weiter. Und dieser Mann, den alle – Vorgesetzte und Untergebene – für einen der schneidigsten Offiziere hielten, hatte Furcht, ganz einfach Furcht vor der Entscheidung, die in wenigen Minuten fallen würde, und vor dem Entschluß, den er fassen mußte, wenn Erika nein sagte.

Mit fahrigen Fingern riß er die oberen Knöpfe seines Uniformrockes auf, ließ sich auf die harte Matratze fallen und starrte in die Luft. Das Bild, das er sah, war immer das gleiche; seit Monaten verfolgte es ihn, ließ ihn nicht los: er sah Erika Meßner, wie sie damals, als er sie kennenlernte, strahlend, mit lachenden Augen vor ihm gestanden hatte, den Kopf mit dem im Winde flatternden blonden Haar gegen den Hals ihres Reitpferdes gelehnt. In einem einzigen Augenblick hatte sie Besitz von ihm genommen; wie ein Fieber hatte er ihn überfallen, dieser hirnverbrannte Wunsch, die Frau eines anderen zu der seinen zu machen. Ihre Ehe war nicht glücklich – er spürte es bald –, dennoch war seine Liebe zu ihr hoffnungslos, denn Erika beachtete ihn gar nicht; sie merkte nicht einmal, was sie ihm bedeutete.

Trotzdem war er nicht imstande gewesen, abzureisen, hatte abgemustert und war geblieben. Und immer wieder fand er Vorwände, ihren Mann zu besuchen.

Und dann kam jene schreckliche Nacht, als er dahinter kam, daß ihr Mann im geheimen Opiumschmuggel betrieb. Was hatte diese Frau aus ihm gemacht? Wie war es denkbar, daß er, ein Mensch, der immer anständig gewesen war, plötzlich die Feder in der Hand hielt und – eine anonyme Anzeige anfertigte! War es nicht, als flüsterte ihm der Teufel selbst jedes Wort zu, das seine zitternde Hand aufs Papier warf ...?

Der Erfolg der Anzeige übertraf seine kühnsten Hoffnungen. Als ihr Mann sich verloren sah, richtete er sich selbst. Der Weg zu Erika war frei. Aber wo war sie? Im Augenblick, als die Polizei ihren Mann festnehmen wollte, war sie nicht im Hause, und nachher verbarg sie sich, da sie aus den Blättern erfuhr, daß die Polizei zur Überzeugung ihrer Mitschuld gelangt war und daß Murphy, der Mann, der sie retten konnte, schwieg.

Und dann hatte er sie entdeckt, aber er hütete sich, der Polizei davon Mitteilung zu machen. Nicht ihre Verurteilung wollte er; er wollte nur einen Druck auf sie ausüben, sie zwingen, die seine zu werden.

Sie floh. Er hätte es verhindern können, aber er zog vor, als Offizier auf dasselbe Schiff zu gehen, das sie von Ägypten weg aus dem Bereich der englischen Polizei bringen sollte.

Und nun hatte er sie soweit. Sie mußte »ja« sagen. Murphy hatte die Zeitungen verfolgt; er wußte, Erika würde, hatte man sie mal gefaßt, verurteilt werden. Alle Umstände sprachen gegen sie, und solange Murphy schwieg, war ihre Lage hoffnungslos.

Was aber, wenn sie so töricht war und doch »nein« sagte?

Murphys Leben war bisher schlecht und recht im Bürgerlichen verlaufen. Er war kein Abenteurer, und ihm graute beim Gedanken an eine Meuterei, die er mitmachen sollte. Sobald er sich aber vorstellte, daß irgendein anderer, vielleicht dieser Diersch, Erika gewinnen könnte, spürte er, daß er zu allem fähig sein würde, nur um das zu verhindern.

Es klopfte, und Murphy sprang auf. Zwei Minuten vor zwölf ... Wer konnte das sein? ... Er schloß die Tür auf und starrte erschrocken Erika an. An die Möglichkeit, daß sie ihn hier aufsuchen könnte, hatte er nicht im entferntesten gedacht.

»Die Uhr ... die Uhr ist ... zwei Minuten vor zwölf«, stotterte er verwirrt. Dann fiel ihm ein, wie lächerlich unwichtig diese Tatsache sei, verglichen mit dem, was sich jetzt entscheiden mußte.

»Oben zeigte die Uhr genau zwölf«, versetzte Erika und trat ein. Sie sprach unsicher, und diese Unsicherheit gab Murphy seine Ruhe wieder. Mehr und mehr veränderte sich sein Gesicht, und als seine Finger den letzten Knopf des Rockes geschlossen hatten, war diesem Gesicht nichts mehr von Ängsten und Zweifeln anzumerken.

»Ein bißchen eng hier«, meinte er halb fragend. »Wollen wir nicht ins Rauchzimmer gehen? Nein? Sie haben recht ... Die vielen Menschen ... Ja, und wir haben doch etwas Wichtiges zu besprechen ... Ich würde Ihnen gern einen Stuhl anbieten, aber leider gibt es hier keinen ...«

»Das macht nichts ...«, wehrte sie ab. »Hier auf dem Bett kann man sehr bequem sitzen ... Ja ... Ein bißchen eng wohnen Sie hier wirklich ...«

Sie saß auf dem Bettrand und sah ängstlich zu Murphy empor, der zwei Schritte entfernt in bewußt nachlässiger Haltung am Schrank lehnte. Er sah die Angst in ihren Augen und etwas wie Mitleid wollte ihn beschleichen. Es drängte ihn, ihr ein paar gute Worte zu sagen, ihr zuzureden, aber er wußte nicht, was er sagen sollte.

»Ja oder nein?« fragte er kalt.

Sie schrak vor der Frage zurück, und in ihren Augen wurde der Ausdruck von Angst noch deutlicher.

»Herr Murphy«, sprach sie, »ich bin gekommen, um Sie zu bitten ...«

»Ja oder nein?« wiederholte er.

Sie verstummte. Die Frage klang so grausam nüchtern, daß die schwache Hoffnung erlosch, die – Erika kaum bewußt – in der letzten Stunde gleich einem kleinen Flämmchen in ihr aufgeflackert war.

Sekunden verstrichen, und keiner von beiden sprach ein Wort. Dann hob Erika langsam den Kopf und sah den Mann, der da mit eisiger Miene am Schrank lehnte, lange an.

»Nein«, sagte sie leise. Dann stand sie hastig auf und wollte zur Tür.

Aufatmend vertrat er ihr den Weg.

»Einen Augenblick, bitte«, sagte er. »Sie ziehen es also vor, ins Gefängnis gesteckt zu werden? Das ist Ihnen lieber, als die Frau eines tüchtigen Seeoffiziers zu werden ...?«

Sie schien zu schwanken, ob sie gehen oder erst die Frage beantworten sollte. Doch dann entschloß sie sich zur Antwort.

»Nein«, erwiderte sie und schüttelte den Kopf. »Ich wollte doch ... vor zwei Stunden wollte ich noch ja sagen ... Ich fürchte mich vor dem Gefängnis ... ja ... und ich wäre doch nicht die einzige Frau gewesen, die einen Mann heiratet, den sie nicht ... liebt. Und vielleicht wären Sie gut zu mir gewesen, und vielleicht ...«

Er faßte schnell nach ihren Händen.

»Vor zwei Stunden wollten Sie mir das sagen? Erika? Und warum sagen Sie mir jetzt etwas anderes? Oh, es kann nicht Ihr letztes Wort sein ... Ich ...«

»Doch, es ist bestimmt mein letztes Wort«, unterbrach sie ihn.

Das Leuchten in seinen Augen, jäh aufgeflammt, erlosch ebenso plötzlich. Er ließ ihre Hände los.

»Und was ist seitdem geschehen? Es muß doch etwas außerordentlich Wichtiges sein, nicht wahr? Etwas ...«

»Ich liebe Wolfgang Diersch«, sagte sie einfach.

»Ach?« rief er. »Seit zwei Stunden?«

Sie bewegte verneinend den Kopf.

»Nein, aber jetzt weiß ich, daß auch er ... Sie verstehen?«

»Nicht ganz«, versetzte er. »Meines Wissens werden Sie von dieser Liebe sehr wenig haben, wenn Sie ins Gefängnis kommen ...«

»Herr Murphy«, sagte sie ernst. »Sie behaupten doch, mich zu lieben? Wären Sie denn nicht bereit, sich nachher einsperren zu lassen, wenn Sie vorher vier oder fünf wunderschöne Tage mit mir verbringen dürften?«

»Gewiß, ich ...« Er unterbrach sich, denn erst jetzt begriff er, was sie meinte. »Sie wollen also vier oder fünf Tage lang – solange unsere Reise noch dauert – mit ... mit ihm sein ... Und nachher ist alles gleich! Was?«

»Es muß ja nachher alles gleich sein.«

Er lachte heiser auf, verstummte aber sofort, und es schien fast, als lausche er selbst verwundert dem ungewohnten Klang dieses Lachens nach. Sofort war er wieder die Beherrschtheit selbst.

»Gnädige Frau, Sie selbst geben mir den Beweis, daß meine Auffassung der Liebe die richtige ist«, sagte er. »Sie sind zu einem großen Opfer bereit, um wenigstens einige Tage glücklich zu sein. Also lieben Sie den Mann wirklich. Gut. Ich aber liebe Sie wirklich. Es scheint nun darauf anzukommen, wer von uns das größere Opfer bringt.«

»Ein Opfer? Sie?« fragte sie ungläubig.

»Gewiß ...«

Auf einmal kam Glanz in ihre Augen.

»Herr Murphy? Also doch!« rief sie atemlos. »Sie wollen endlich die Wahrheit sagen, wollen erklären, daß ich unmöglich in der bestimmten Nacht auf dem Flugplatz gewesen sein kann ...«

Er lächelte böse.

»Sie haben mich falsch verstanden«, unterbrach er sie. »Gewiß werde ich von jetzt an alles tun, um zu verhindern, daß Inspektor Leith Sie festnimmt und nach England oder Ägypten bringt. Aber ... diesem Diersch werden Sie nie gehören. Nie! Und auch die fünf Tage schenke ich Ihnen nicht. Sie gehören zu mir, denken Sie daran! Fünf Tage? Nicht eine Stunde länger dürfen Sie bei jenem Mann sein ...«

Sie sah ihn fassungslos an. Nie hatte sie solche Worte gehört, doch die Worte waren noch etwas, das man begreifen konnte; was aber unbegreiflich und unheimlich war, das war der Ton – dieser blecherne, einförmige Ton, der so gar nicht zu den leidenschaftlichen Worten paßte. Sie hatte das schreckliche Gefühl, als spräche ein Toter zu ihr, als strecke ein Toter seine Hand nach ihr aus. Blitzschnell, ohne noch ein Wort zu sagen, drehte sie sich um, riß die Tür auf und lief hinaus. Es war ihr, als höre sie hinter sich ein Lachen.

Aber sie irrte sich. Murphy lachte nicht. Den Blick fest an das Zifferblatt der Uhr geheftet, dachte er nach. Halb eins? Eine halbe Stunde Zeit! Eine halbe Stunde lang konnte er es nicht verhindern, daß ein anderer Mann seinen Arm um diese Frau legte, daß er sie an sich zog, daß er sie vielleicht küßte ... In einer halben Stunde aber würde er, Murphy, Herr des Schiffes sein, und dann ...

Im Blickfeld Murphys tauchte plötzlich eine behaarte braune Hand auf, die sich durch die halboffene Tür geschoben hatte und langsam an der inneren Türleiste emporkletterte. Da, jetzt war sie dicht neben dem Lichtschalter, jetzt hatte sie ihn erreicht ...

Doch Murphy war schneller. Er hatte seinen Revolver aus der Tasche gezogen und feuerte, ohne zu zielen, drei Schüsse gegen die kletternde Hand. Das Licht erlosch, und Murphy hätte nicht sagen können, ob es nach dem ersten oder letzten Schuß geschehen war. Im Nu war er vorwärts gestürzt, und während er den Schrei vernahm, der verriet, daß ein Schuß getroffen hatte, schaltete er das Licht auch schon wieder an. Dann stieß er mit vorgehaltenem Revolver die Tür auf.

Draußen im schmalen Gang wand sich ein Malaie. Seine Hand blutete stark. Neben ihm aber standen Toole und zwei andere Matrosen mit erschrockenen Gesichtern.

»Was soll das?« schrie Murphy auf sie ein.

»Nicht schießen, Tuwan«, warnte einer der Malaien böse. »Tuwan sowieso nicht kann raus ... Oben noch zwei stehen und warten.«

Doch Murphy beachtete die Malaien gar nicht. Er hatte die Jammergestalt des Funkers beim Kragen gepackt und zerrte ihn hoch.

»Was soll das, du Lump?« schrie er auf ihn ein. »Habe ich dir nicht gesagt, es geht um ein Uhr los? Und hast du denen nicht erklärt, daß ich mitmache? He? Du?«

»Ich ... ich dachte ... ich fürchtete, um ein Uhr würden Sie vielleicht wieder alles doppelt bewachen lassen ...«

»Sofort läufst du hin und läßt sagen, daß es um ein Uhr und keine Minute früher losgeht!« befahl Murphy. »Seid ihr denn toll geworden? Das muß ja schief gehen! Um ein Uhr hätte ich die Offiziere alle hübsch beisammen gehabt ... Sofort lauft ihr hin und sagt ...«

»Ich glaube, es hat keinen rechten Zweck mehr, Mr. Murphy«, sagte der Funker und hob die Schultern.

Und jetzt hörte auch Murphy es, Schüsse! Erst vereinzelt, dann mehrere hintereinander, mehrere auf einmal ... Er hörte Kreischen und das Trampeln unzähliger Füße auf Deck ...

Murphy, der an eine Meuterei ohne Blutvergießen gedacht hatte, begriff plötzlich, daß dafür, was da oben vorging, jeder Teilnehmer gehängt werden würde ... Und für eine Sekunde überkam ihn der Wunsch, die Augen zu schließen, sich die Ohren zuzustopfen, um nichts zu sehen, um nichts zu hören. Doch er riß sich zusammen. Hier mußte gehandelt werden! Sofort! Diese drei abknallen und nach oben laufen, dem Kapitän helfen ...? Ja! Ja? Damit dann dieser Diersch die Frau nahm, die ihm, Murphy, allein gehörte ...

»Los!« kommandierte er den drei Malaien. Toole hatte er jäh aufs Bett gestoßen. »Los! Folgt mir! Und ohne Rücksicht schießen!«


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