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4.

Prochorows Verstand arbeitete träge. Es waren nicht Gedanken, die ihn beschäftigten; es waren Vorstellungen, sprunghafte, blitzartig wechselnde Bilder. Londons Hafen, drei, vier Polizisten, ein schwarzer Wagen mit vergitterten Fenstern ... Nein, nein! Es würde nicht so kommen! Noch war nicht alles verloren: Er hatte ja Steine, für weit mehr als zwanzigtausend Pfund Steine ... Wer war Leith? Ein Inspektor Scotland Yards? Aber er war ja auch ein Mensch – ein Mensch, der genau wie dieser Funker bereit sein würde, um der Steine willen alles zu tun, was man von ihm verlangte.

»Wer ist Leith?« fragte Prochorow. Im selben Augenblick begriff er, daß der Funker ihm diese Frage nicht beantworten durfte, wenn er – klug war. Kannte er einmal diesen Leith, so bestand die Möglichkeit, den Funker völlig auszuschalten.

»Sie haben noch nie von Leith gehört?« fragte Toole erstaunt. »Von Leith – dem Kopfjäger, wie man ihn nennt? Von dem Mann, der die meisten Fangprämien erhielt, dem Mann, der ...«

»Nein, nein!« rief Prochorow bestürzt. »Und dieser Mann. – Großer Gott! ...«

»Niemand kennt ihn, niemand weiß, wie er aussieht. Er arbeitet immer unerkannt, und wenn er sich einem Verbrecher zu erkennen gibt, dann hat er ihn bereits festgenommen. Fast immer ist er hinter Leuten her, denen die Todesstrafe sicher ist. Solche Verbrecher schießen schnell. Wohl ein dutzendmal aber hat Leith noch schneller geschossen ...«

»Hören Sie auf, hören Sie auf!« stöhnte Prochorow und hielt sich die Ohren zu. »Aber dieser Kerl ... Wenn er Ihnen die Funknachricht gab, müssen Sie doch wissen, wie er aussieht ...«

»Leith hat mir den Auftrag ja gar nicht gegeben. Er hat das Blatt einfach auf meinen Tisch gelegt ... als ich den Funkraum für einen Augenblick verließ ... Leith ist natürlich unter anderem Namen hier. Er beobachtet die Passagiere, er verfolgt jemanden .. Wie könnte er das, wenn jeder wüßte, wer er ist?«

»Aber irgend jemand wird es doch wissen! Der Kapitän, die Offiziere ...«

Toole schüttelte heftig den Kopf.

»Nein, Sie wissen es bestimmt nicht. Leith fährt oft diese Strecke. Er kommt unerkannt an Bord, geht unerkannt wieder an Land ... Die nächste Reise macht er unter einem anderen Namen mit ... Leith kann einer von den Passagieren sein, es kann auch ein Maschinist oder ein Matrose sein ...«

»Und Sie glauben, es sei unmöglich, festzustellen, wer dieser Leith ist? Ganz unmöglich? Sie müssen ihm doch irgendwie die Antwort aus London übergeben?«

»Dafür ist ein Briefkasten da. Er hängt neben der Kapitänskajüte. Man könnte Leith auflauern, wenn er sich die Nachricht holen will ... Man könnte ... ja ... Aber er wird es merken ... Doch vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit! Es ist nämlich diesmal ein Mensch an Bord, der diesen Leith kennt ..«

»Wer ist es?«

»Maud Kassala. Ich habe neben ihr gestanden, als sie sich von ihrem Vater verabschiedete. Ich hörte den Namen Leith ... Ich glaube aber nicht, daß die Kassala Ihnen den Mann verraten wird ...«

»Unsinn! Verraten! Wieso verraten? Ich will mit dem Mann ein Geschäft machen ... Sie soll ihn mir nennen ...«

»Sie wollen ihm Steine geben? Das wird nicht viel helfen. Die Inspektoren, die sich bestechen lassen, schicken nicht erst solche Funknachrichten nach London. Und dann ... Wenn Sie wüßten, wer Leith ist, hätten Sie es kaum nötig, ihn zu bestechen. Ein Matrose, der ihn nachts über Bord stößt, ist billiger. Das weiß auch Leith.«

Eine heftige Woge schlug gegen die Schiffswand, und durch das immer noch offene Fenster spritzte Wasser herein. Prochorow stand auf und schraubte das Fenster zu.

»Und ... was dachten Sie bei der ganzen Sache zu tun?« fragte er.

»Wenn Sie mir den zehnten Teil Ihrer Steine geben, sorge ich dafür, daß weder diese noch ähnliche Funknachrichten des Inspektors London erreichen.«

Prochorow dachte nach. Nein, es war ihm sofort klar, daß dies allein nicht genügte. Ohne Zweifel gab es einen zweiten Funker, der Toole ablöste. Auch diesen müßte man kaufen. Fürs erste mochte das genügen. Dann würde es schon notwendig sein, dem Inspektor falsche Nachrichten aus London in die Hände zu spielen. Möglich, daß für solche Nachrichten ein Kennwort vereinbart war, von dem sie nichts wußten. Dann half nichts mehr. Der Inspektor konnte ihn jederzeit verhaften lassen, und er würde es bestimmt tun, sobald ihm etwas verdächtig erschien. Nein, nein, es mußte etwas ganz anderes unternommen werden, etwas viel Entscheidenderes.

Aufatmend blieb er vor Toole stehen und sah ihn durchdringend an.

»Ich habe einen Plan«, sagte er langsam. »Wir müssen das ganze Schiff haben, und es dann an die Küste eines neutralen Landes bringen ...«

»Eine Meuterei?« fragte der Funker entsetzt.

»Man kann es auch so nennen. Ja, natürlich: eine Meuterei ... Jeder Matrose, jeder Heizer, kurz: jeder der mitmacht, soll soviel Steine bekommen, daß er für sein Leben ausgesorgt hat ...«

»Vor fünf Monaten meuterte die Mannschaft der ›Aberdeen‹«, sagte Toole leise. »Es war Geld an Bord, und das wollten die Leute haben. Die Meuterei gelang. Der Dampfer war drei Tage lang in den Händen der Meuterer, dann ...«

»Dann?«

»Dann gab es eine zweite Meuterei. Ein Kriminalbeamter, den niemand kannte, hatte im geheimen einen Teil der Meuternden überredet, wieder Ordnung zu schaffen. Er sagte ihnen Straffreiheit zu, und die Leute hatten Angst ... Sie legten die Anführer in Ketten und brachten den Dampfer nach Portsmouth. Die Hauptschuldigen wurden hingerichtet, die übrigen kamen ins Zuchthaus ... Ich glaube nicht, daß Ihre Steine die Mannschaft zum Meutern bringen werden, solange sie nicht weiß, wer dieser Leith ist ...«

Prochorow stöhnte verzweifelt.

»Immer dieser Leith!« rief er. »Aber wir brauchen doch nicht denselben Fehler zu machen, den die Leute auf der ›Aberdeen‹ begingen. Wir werden diesen Inspektor finden. Ich stehe dafür ein. Sobald der Dampfer in unserem Besitz ist, werden wir es feststellen. Und – wenn alle Mittel versagen, bringen wir die Kassala mit Gewalt zum Sprechen ...«

In den Augen des Funkers leuchtete es auf.

»Das ist es!« sagte er. »Richtig. Wenn man Gewalt anwendet, wird sie es sagen. Das werden auch die Leute begreifen ... Ich werde mit ihnen sprechen. Aber ... erst muß ich meine Steine haben ... sonst ...«

»Sie bekommen Ihre Steine«, versetzte Prochorow böse. »Morgen ...« Bis morgen würde er die weniger wertvollen Stücke ausgesucht haben.

»Nein. Heute, sofort.«

»Aber wenn ich Ihnen doch verspreche ..

»Gut. Morgen«, unterbrach ihn Toole. »Von dem Augenblick an, wo ich die Steine habe, können Sie auf mich zählen. Bis dahin tue ich natürlich meine Pflicht. Dazu gehört auch, daß ich diese Funknachricht sofort nach London weitergebe ...«

Prochorow sah den Mann prüfend von der Seite an. War das derselbe Mann, der bei seinem Eintritt vor Aufregung kaum hatte sprechen können? Ah, dieser Mann hatte keine Furcht mehr, wenigstens nicht vor Prochorow. Und je länger der Juwelenhändler in das pockennarbige Gesicht sah, um so mehr begriff er, daß er diesem Mann genau den zehnten Teil seiner Steine geben mußte. Nicht einen Stein weniger. Es war das eigensinnige Gesicht des verschlagenen irischen Bauern, und den irischen Bauern kannte Prochorow gut.

Da öffnete er seufzend den Koffer, und gleich darauf sah er die gierigen Hände dieses Mannes nach den Steinen greifen.

»Halt!« schrie Prochorow wütend. »Wie denken Sie sich das? Ich werde Ihnen den zehnten Teil zurechtlegen ...«

»Nein, nein«, sagte Toole. »Die Steine haben verschiedenen Wert. Sie wissen Bescheid, ich nicht. Darum werde ich teilen ...«

»Damit kann ich mich keinesfalls einverstanden erklären«, jammerte Prochorow.

Toole richtete sich auf.

»Wie Sie wünschen. Die Funknachricht ...«

»Hören Sie auf!« Prochorow hielt sich die Ohren zu. »Also gut, teilen Sie! ...«

Seit fünfundzwanzig Jahren handelte Prochorow mit Juwelen. Nicht immer waren es gestohlene Steine gewesen. Er hatte an Grafen und Fürsten verkauft, die jeden Stein mit jener liebevollen Sorgfalt behandelten, die sofort den Kenner verriet; er hatte aber auch an Neureiche und an Bauern verkauft, die ihre Steine roh und gewalttätig anpackten und ohne viel Umstände in die geräumigen Taschen versinken ließen. Noch nie aber hatte er einen Menschen mit den kostbaren Steinen so umgehen sehen wie diesen Toole. Er hatte alle Steine auf die Bettdecke geschüttet und zählte sie ab wie Kartoffeln oder grüne Äpfel. Neun Steine, ob groß oder klein, flogen aufs Kopfkissen; der zehnte, ob groß oder klein, auf sein daneben ausgebreitetes, schon arg mitgenommenes buntkariertes Taschentuch.

Prochorow war dem Weinen nahe. Er liebte seine Steine. Noch mehr aber liebte er sein Leben und seine Freiheit.


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