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13.

Erika hatte im Gegensatz zu Diersch schon in der Nacht erfahren, daß die Meuterei geglückt war. Im stillen bewunderte Diersch ihre gefaßte Ruhe. Sie hatte mehr Grund, sich zu ängstigen, als die anderen, denn Murphy, der jetzige Herr des Schiffes, war ihr nicht wohlgesinnt; doch nichts in ihrem Benehmen verriet, daß sie sich über ihr eigenes Schicksal Gedanken machte. Aufmerksam hörte sie den Männern zu, die ihre Mutmaßungen über das Ziel der Fahrt äußerten und Pläne schmiedeten, wie mit den Meuterern fertig zu werden sei. Ihr fiel auf, daß Grady und Dr. Pembroke dabei hartnäckig schwiegen, denn sie wußte nicht, daß man die beiden nur auf ihr Wort hin, nichts gegen die Meuterer zu unternehmen, in Freiheit gelassen hatte.

»Das hat alles keinen Zweck«, schnitt Mr. Scott die Beratungen mit einem warnenden Seitenblick auf Prochorow ab. »Wir können gar nichts tun. Sobald wir uns rühren, wird man uns einsperren. Abwarten, abwarten! Vielleicht läuft sich die Sache von selbst tot ... Na, ich gehe jetzt an Deck ...«

»Wir auch!« rief Diersch und stand auf. Erika und Professor Berwick schlossen sich den beiden an.

Als sie zur Tür hinaustraten, stießen sie auf einen bärtigen Matrosen, der hier Wache zu stehen schien. Es war einer von den wenigen weißen Matrosen, die die Meuterei mitgemacht hatten.

»Sie dürfen nicht heraus«, sagte er ruhig und rauchte seine Zigarette weiter.

»Ja, warum denn nicht?« fragte Diersch und sah Scott vielsagend an. »Sind wir Gefangene?«

»Nein, aber jetzt dürfen Sie nicht heraus«, beharrte der Matrose. »Später – ja.«

Ein Malaie kam eilig herbei.

»Zurück, zurück!« rief er hastig.

»Ja, aber ...« Diersch vollendete den Satz nicht.

Ein scharfer Knall, der vom Hinterdeck kam, hatte ihn unterbrochen. Unzweifelhaft Gewehrfeuer, dachte Diersch und wurde bleich. Es war nur ein einziger Knall gewesen, aber von mehreren Gewehren gleichzeitig ...

Scott packte den weißen Matrosen bei der Brust.

»Wen habt ihr erschossen?« rief er heftig. »Sofort sagst du es!«

Der Matrose schüttelte langsam den Kopf, und seine Riesenfaust umklammerte die gepflegten Hände Scotts, bis der Engländer mit einem leisen Aufstöhnen seinen Griff lockerte.

»Es ist niemand erschossen worden«, sagte der Matrose leise. »Es war nur eine ... eine Ehrensalve ... Kapitän Murphy wollte es so ... für den Ersten Offizier ... Er starb in der Nacht ... Dr. Pembroke wird es bestätigen ...«

»Woran starb er? Ihr habt ihn auf dem Gewissen ...«

»Er fiel im Kampf«, antwortete der Matrose und wandte sich ab.

»Na, dann wollen wir wieder ins Zimmer«, sagte Diersch abschließend. Schweigend folgten ihm die übrigen.

Dr. Pembroke bestätigte die Aussagen des Matrosen.

»Man darf das nicht zu tragisch nehmen«, sagte er. »Bei einem so tollen Durcheinander – nur ein Toter? Ich hätte mindestens ein halbes Dutzend erwartet ...«

Doch seine Worte wirkten nicht sehr überzeugend. Es war eine gedrückte, ängstliche Stimmung, die hier jetzt herrschte, und es schien fast, als sei trotz der Schrecknisse der Nacht all diesen Leuten erst in diesem Augenblick der Ernst ihrer Lage zum Bewußtsein gekommen.

»Ein Spielchen?« schlug Mr. Scott vor.

»Gemacht!« Grady schien von dem Vorschlag begeistert. »Wer spielt mit?«

»Sehr gern«, meldete sich Prochorow.

»Ich ebenfalls«, sagte Dr. Pembroke.

»Wer noch?« fragte Scott, der schon die Karten mischte.

»Was wollen Sie denn spielen?« rief Prochorow. »Wir sind doch schon vier.«

»Wer noch?« fragte Mr. Scott und mischte weiter.

»Ich würde ja ...« äußerte Professor Kaufmann. »Aber jemand müßte für mich die Karten halten ... Meine Hände ...«

»Ja, natürlich ... Herr Diersch vielleicht? Ja? Also, es spielen Kapitän Grady, Dr. Pembroke, Professor Kaufmann und ich ...«

»Aber ich habe doch zuerst«, begehrte Prochorow auf.

Mr. Scott hörte plötzlich auf zu mischen und sah Prochorow an.

»Sie sind sehr schwer von Begriffen, Mr. Prochorow«, sagte er kühl. »Abgesehen von früheren Vorkommnissen, haben wir den Eindruck, daß Sie als einziger von uns sich auf dem Schiff jetzt wohler fühlen als vorher ... Ich sage nicht mehr. Aber seien Sie überzeugt, daß wir unser Essen nur aus dem Grunde an einem Tisch mit Ihnen einnehmen, weil es im Augenblick zu gefährlich erscheint, Sie einfach hinauszuwerfen ...«

Prochorow sprang auf.

»Ich werde mich beschweren!« stieß er wütend hervor. »Ich werde dafür sorgen, daß man Sie alle einsperrt, Sie ... Sie ... Ich werde Murphy sagen, was Sie hier beraten haben, und dann ...«

Professor Berwick, groß und breit, stand plötzlich vor Prochorow. Mit der linken Hand stützte er sich auf die Tischkante, in der rechten hielt er, den Zeigefinger zwischen die Seiten geklemmt, sein dickes Buch.

»Schurke!« sagte er laut mit seiner tiefen Stimme.

Prochorow, kreideweiß, fuchtelte mit den Armen durch die Luft.

»Was haben Sie gesagt?« kreischte er. »Ich ...«

»Schurke!« wiederholte Berwick mit Nachdruck.

»Es gibt ein Unglück«, flüsterte Erika erschrocken und sah Diersch bittend an.

»Lassen Sie doch die beiden!« rief Maud Kassala laut, als Diersch sich einmischen wollte.

Prochorow stand noch immer auf demselben Fleck, aber seine Augen maßen unruhig die Entfernung bis zur Tür ab. Plötzlich wandte er sich um und versuchte, an Berwick vorbei, die Tür zu gewinnen. Aber er hatte nicht mit der Beweglichkeit des behäbigen Professors gerechnet. Blitzschnell hatte Berwick zwei Schritte rückwärts gemacht, und dann schlug er zweimal zu – mit dem dicken Buch. Es klatschte laut, und Prochorow heulte vor Schmerz und Wut auf. In der nächsten Sekunde war er zur Tür hinaus.

»Jetzt wird er Mr. Murphy holen: das war unklug, Herr Professor«, sagte Mr. Scott und mischte seine Karten weiter.

»Aber notwendig«, antwortete Berwick und setzte sich schnaufend auf seinen Platz. »Als scheinbarer Freund und Leidensgenosse ist der Mann für uns zu gefährlich.«

»Ich bewundere Sie!« rief Professor Kaufmann begeistert aus.

Berwick, der schon wieder sein Buch geöffnet hatte, blickte auf, und zum erstenmal seit Beginn der Reise sah man ihn lächeln.

»Gegen das, was Sie gestern mit der Weinflasche anstellten, ist meine Tat von sehr geringer Bedeutung, Kollege«, sagte er ruhig.

Das Gesicht Professor Kaufmanns strahlte, und er schien nicht übel Lust zu haben, sich auf eine längere vergleichende Unterhaltung über seine und Berwicks Taten einzulassen, doch Mr. Scott drängte ungeduldig, nun endlich mit dem Spiel zu beginnen. Zum Mißvergnügen Scotts erfuhr das Spiel schon nach einigen Minuten eine Unterbrechung.

Durch die Tür stürzte in sichtlicher Aufregung Frau Professor Kaufmann. Sie rief etwas, wobei man aber nur einzelne »Achs!« und »Um Gottes willen!« verstehen konnte, und ließ sich schwer auf das Plüschsofa in der Ecke fallen. Besorgt umdrängten die übrigen Fahrgäste sie.

»Entsetzlich! Entsetzlich ...«, sprudelte sie hervor und wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn. »Ich will aus der Kabine, aber ein Matrose läßt mich nicht hinaus ... Dann höre ich Schüsse ... schrecklich ...«

»Gnädige Frau, beruhigen Sie sich«, bat Diersch. »Das wissen wir schon alles. Und Sie müssen versuchen, genau so gefaßt zu sein wie Sie uns alle sehen ...«

»Sie wissen schon alles?« rief sie aus und starrte Diersch an. »Sie wissen, das gleich das Gericht sein soll, die Untersuchung oder wie das heißt ...«

»Welches Gericht?« fragte Diersch besorgt.

»Sie wissen es also nicht!« rief sie. »Aber ich ... Kaum hatte der Matrose mich hinausgelassen, eilte ich hierher ... Aber ich fürchtete mich, an den Männern vorbeizugehen ... Sie waren so aufgeregt und machten so unheimliche Gesichter ...«

»Was für Männer?« unterbrach Scott sie.

»Dieser Funker und Murphy und noch ein Haufen gelber Matrosen und Heizer – schreckliche Menschen –. Ja, und Murphy wollte nicht, aber die anderen bestanden darauf ... Man müsse alle verhören, man müsse den Inspektor finden, sagten sie. Er sei einer von den Passagieren ... Und wenn sie ihn nicht entdeckten, würden sie lieber alle Passagiere aufhängen ... Gütiger Himmel, das ist ja furchtbar ... Unter uns muß irgendein Inspektor sein, den sie suchen ... Ich sage, wir müssen ihn finden und ausliefern, sonst geschieht etwas Entsetzliches ...«

»Ich glaube, Frau Professor Kaufmann phantasiert«, meinte Diersch. »Das ist doch ganz und gar unglaubhaft ...«

»Nicht so sehr«, äußerte Grady. »Gemeint ist natürlich Inspektor Leith von Scotland Yard, der sich unerkannt auf unserem Schiff befindet. Die Leute fürchten, der Mann könnte im geheimen durch Versprechungen einen Teil der Mannschaft gegen die Meuterer aufwiegeln – wie auf der ›Aberdeen‹ seinerzeit ...«

»Und Sie glauben, dieser Mann, dieser Inspektor, befände sich unter uns?« forschte Scott.

»Er könnte ja auch einer von der Mannschaft sein«, antwortete Grady. »Aber ... Nun, ich kenne jeden von der weißen Mannschaft ... Neue sind diesmal nicht dabei ... Also muß der Inspektor einer von den Passagieren sein ...«

»Und niemand kennt ihn?« fragte Scott. »Niemand?«

»Niemand«, sagte Grady.

»Nein, nein!« rief Frau Kaufmann. »Dieser Funker hat gesagt, das Fräulein Kassala kenne ihn ...«

Aller Blicke wandten sich Maud Kassala zu. Ihre Augen waren groß und erschrocken. Sie hatte sofort begriffen, wie gefährlich ihre Lage geworden war.

»Sie kennen ihn?« fragte Grady bestürzt.

Maud Kassala stand auf und ging zum Fenster.

»Ich kenne ihn«, bestätigte sie langsam und starrte hinaus in den Nebel. »Aber ich werde ihn nicht verraten. Nie!«


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