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VIII. Ein Jahr auf dem Lande

In den ersten Tagen kam ich vor eifriger Tätigkeit gar nicht zur Besinnung. Vor allen Dingen besuchte ich meine Tauben und die beiden überwinterten Habichte. Ich lief an allen mir so wohl bekannten, lieben Orten umher, und es waren ihrer nicht wenige. Um das Haus herum, im Garten, auf dem Gemüsefelde und in dem nahen Hain mit den Krähennestern, überall lief meine Schwester, mich fest an der Hand haltend, mit und zeigte mir sogar wie eine Hausfrau dies und das, was in meiner Abwesenheit gemacht war, darunter ein großes, hohes Mistbeet, auf dem Kürbisse und Melonen gepflanzt waren. Ich lief mit ihr auch in die Kammern, wo viele Kostbarkeiten aufbewahrt wurden: kupferne, eiserne und mit Knochenschnitzerei fournierte Kästchen mit allerlei Erzstufen und Versteinerungen, die meiner Mutter einmal von einem hohen Bergbeamten geschenkt worden waren; wir besuchten auch die Schaffnerin Pelageja im Souterrain und wurden von ihr mit kalter dicker Sahne und Schwarzbrot bewirtet. Aber mit mir an den Fluß und über den Fluß zu gehen wurde meiner Schwester nicht erlaubt; dorthin begleitete mich Jewsejitsch. Ich ging mit ihm auf einer kleinen Brücke zur ersten Insel hinüber, wo eine Sommerküche stand und breite Borkenstücke lagen, auf denen gewaschener Weizen getrocknet wurde. Dieses Inselchen wurde auf zwei Seiten von einem alten Flußlauf des Buguruslan umgeben, der auszutrocknen und sich mit Weidengebüsch zu bedecken begann; wir durchschritten ihn auf daliegenden Stangen und gingen sogleich nach einer anderen, etwas größeren Insel hinüber, die ebenfalls auf der einen Seite ein alter Flußlauf umgab, der aber noch tief und mit Wasser gefüllt war. Dies war der Lieblingsort meiner Tante Jewgenja Stepanowna; er war am Ufer des Flusses ganz mit Birken bestanden und in der Mitte von einer Lindenallee durchschnitten. Offenbar hatte dieser Platz schon vor langer Zeit meinem Großvater gefallen, und er hatte ihn lange vor der Geburt seiner jüngsten Tochter Jewgenja mit Bäumen bepflanzt; denn die Bäume waren ungefähr fünfzig Jahre alt und die Tochter fünfunddreißig. Jewgenja Stepanowna hatte zwar, wie alle ihre Schwestern, keine Bildung genossen, besaß aber eine Art von innerlichem Drang zur Bildung und eine große Liebe zur Natur. In ihrem Zimmer befand sich eine Anzahl von Büchern zweifelhaften Wertes: altmodische Romane, die ihr wahrscheinlich ihr Bruder geschenkt hatte, und Theaterstücke. Selbstverständlich hatte ich sie alle durchgelesen, teils mit, teils ohne Erlaubnis; besonders erinnere ich mich an ein Vaudeville mit dem Titel »Tragisches Geschwätz«. Die Tante las gern ein Buch auf der Insel und angelte in dem tiefen alten Flußlaufe. An vielen Birken hatte sie ihren Namen und die betreffenden verschiedenen Jahreszahlen und Monatsangaben eingeschnitten, sogar Verse aus einer Liedersammlung. Wie liebte ich diese Insel! Wie schön war es auf ihr im heißen Sommer! Der kühle Schatten und ringsumher das Wasser! Auf der einen Seite umgab die Insel der neue Graben, der von der Schleuse herkam und sich mit dem schnellfließenden Wasser aus der Mühle vereinigte, auf der anderen das frühere, noch tiefe und mit Wasser angefüllte Flußbett des Buguruslan. Noch bis auf den heutigen Tag kann ich nicht an die Sommermittage auf dieser Insel zurückdenken, ohne daß mir das Herz zu zittern und unregelmäßig zu klopfen anfängt. Jetzt ist dort alles verändert. Das alte Flußbett ist fast ausgetrocknet; ein anderer, neuer Graben führt das Wasser von der Schleuse nach einer anderen Seite; überall sind Weidengebüsch und Erlen gewachsen, und die Insel führt ihren Namen schon mit Unrecht. Wenn man übrigens die ganze Landstrecke bis zum Damm zusammenfaßt, so kann sie zur Not noch mit dem früheren Namen bezeichnet werden. Nachdem ich die Insel sattsam betrachtet und bewundert, mir jeden einzelnen Baum angesehen, alle Inschriften meiner Tante gelesen, die Weißfische und Karpfen revidiert und in dem alten Flußbette umhergelaufen war oder regungslos dagestanden hatte, begab ich mich mit Jewsejitsch nach der Mühle, lief aber vorher noch zu den Antonsbrücken heran, wo ich oft Gründlinge gefangen hatte, und zu der Schmiede, wo ich stets mit Vergnügen gesehen hatte, wie die Funken unter dem Hammer hervorsprangen, der das glühende Eisen schmiedete. Als ich aber auf den Damm gelaufen kam und der weite Teich sich vor mir ausbreitete, mit seinem grünen Schilf und seinen Wasserrosen, mit dem langen Damm, der mit jungen Erlen bewachsen war, mit der ganzen Welt seiner Vogel- und Fischbevölkerung, mit der Schleuse, dem Staukasten und der Mühle: da war ich ganz starr vor Entzücken und stand mehrere Minuten lang wie angewurzelt da. Der Müller, der den Spitznamen Boltunenok d. i. Schwatzmichel. (Anmerkung des Übersetzers H. R.) führte und mich sehr gern hatte, hatte für mich ein unerwartetes Amüsement vorbereitet: er hatte in dem überschwemmten Grase mehrere Hechtangeln gelegt und sie absichtlich vor meiner Ankunft nicht revidiert; er wußte, daß ich bestimmt kommen würde; er ließ mich und Jewsejitsch in einen Kahn steigen und fuhr uns durch das ausgetretene Wasser nach der betreffenden Stelle hin; das Wasser war sehr flach, und ich hatte hier keine Furcht. Ich nahm selbst jede einzelne Angel heraus, und an einer von ihnen saß ein großer Hecht, den ich mit Jewsejitschs Hilfe herauszog und triumphierend auf meinen Armen bis ganz nach Hause trug. Zwei Tage darauf fuhr mein Vater mit mir zum Angeln nach dem Kleinen und dem Großen Gestrüpp; er fuhr mit mir auch nach der Antonsschlucht, wo ganz oben eine starke Quelle war und als Staub und Schaum herunterfiel, und nach den sogenannten Rinnen, wo diese Quelle durch dazu hergestellte Rinnen von Lindenholz lief, und nach der Mordwinenschlucht, wo eine Quelle aus einer Steinspalte am Fuße des Berges hervorbrach, und nach dem Lindenhaine und dem Verborgenen Haine und nach dem dazwischen befindlichen Bienengarten, der aus einer Menge von Stöcken bestand. Dort wohnte beständig, im Sommer und im Winter, ein alter Bienenwärter in einer Erdhütte, ebenfalls ein guter Freund von mir, der einen Kater Timoschka und eine Katze Maschka hatte, die meinem Vater Timofei und meiner Mutter Marja zu Ehren so benannt waren.

Unter solchen angenehmen, eifrigen Beschäftigungen vergingen die ersten beiden Wochen nach unserer Ankunft in Aksakowo. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, wie glücklich meine Mutter darüber war, mich heiter, lebenslustig und anscheinend gesund zu sehen. Sie hatte schon in Kasan die nötigen Maßregeln getroffen, damit die Zeit meines Aufenthaltes auf dem Lande nicht in völligem Müßiggänge vergehe, und die am Gymnasium eingeführten Lehrbücher angeschafft. Da sie der Ansicht war, daß ich, wenn meine Gesundheit mit Gottes Hilfe, vielleicht in einem Jahre wiederhergestellt sein würde, wieder aufs Gymnasium gebracht werden müsse, so setzte sie mir zwei oder drei Stunden täglich an, in denen ich alles Gelernte wiederholen, mich im Schönschreiben üben und ihr verschiedene für mein Alter passende Bücher vorlesen mußte. Ich erfüllte diesen Befehl sehr gern, und die ländlichen Vergnügungen machten mir nach der Arbeit noch mehr Freude. Ich begann auch wieder meine liebe Schülerin, meine kleine Schwester, zu unterrichten, und diesmal mit vollständigem Erfolge.

Ich habe schon gesagt, daß ich auf den ersten Blick gesund zu sein schien; aber in Wirklichkeit stand es doch nicht ganz so. Allerdings hatte ich beim Austritte aus dem Gymnasium keinen Anfall gehabt; unterwegs waren sogar die Beklemmungen und das Herzklopfen vergangen und hatten sich auf dem Lande nicht erneuert; aber ich fing an, jede Nacht im Schlafe zu phantasieren, mehr und stärker als gewöhnlich. Anfangs legte meine Mutter diesem Phantasieren keine Bedeutung bei und schrieb alles dem übermäßigen Umherlaufen und der Lebhaftigkeit kindlichen Empfindens zu, um so mehr da ich vor dem Eintritte ins Gymnasium oft geträumt hatte, was ja bei vielen Kindern vorkommt. Aber jetzt nahm dies allmählich einen anderen Charakter an. Erstens: ich begann ausnahmslos jede Nacht zu phantasieren, und zwar sehr stark, mitunter mehrere Male. Zweitens: ich begann nicht nur im Schlafe zu reden, sondern sprang auch vom Bette auf, weinte, schluchzte und lief in andere Zimmer. Ich schlief mit meinem Vater und meiner Mutter zusammen in ihrer Schlafstube, und mein Bett stand neben dem ihrigen; sie trafen nun die Einrichtung, die Tür von innen mit dem Haken zuzumachen, und ließen hinter ihr auf dem Korridor die Schaffnerin Pelageja schlafen, damit ich keine Möglichkeit hätte, im Schlafe davonzulaufen. Das nächtliche Phantasieren, das von Tag zu Tag oder, richtiger gesagt, von Nacht zu Nacht ärger wurde, gewann endlich eine offenbare Ähnlichkeit mit den Anfällen, denen ich auf dem Gymnasium nur bei Tage ausgesetzt gewesen war: ich weinte und schluchzte ebenso und fiel ebenso in eine Ohnmacht, die in einen gewöhnlichen, festen Schlaf überging. Aber diese neuen, nächtlichen Anfälle waren weit stärker und schrecklicher als die früheren Anfälle bei Tage und traten in sehr mannigfaltigen Formen auf. Manchmal war es ein stilles Weinen und Schluchzen, wobei ich immer die Hände gegen die Brust drückte, mit undeutlichem Flüstern gewisser Worte, und das dauerte ganze Stunden lang und ging in Raserei und krampfhafte Bewegungen über, wenn man mich zu wecken suchte, was man in der Folge nie mehr tat; ermüdet vom Weinen und Schluchzen versank ich dann in einen ruhigen Schlaf; aber sehr schwer wurde es, namentlich anfänglich, denen, die mich umgaben, ein so klägliches Schauspiel mit anzusehen, ohne den Versuch zu machen, mich aufzuwecken und mir irgendwie zu helfen. Man erzählte mir nachher, daß nicht nur meine Mutter, die bei meinem Anblick ganz fassungslos wurde, sondern auch mein Vater, meine Tante und alle, die bei mir waren, selbst in Tränen ausgebrochen seien, wenn sie mich so qualvoll weinen und schluchzen sahen. Manchmal aber sprang ich plötzlich mit einem durchdringenden Schrei auf die Beine, blickte allen wild ins Gesicht und wiederholte unaufhörlich: »Laßt mich … weiter … fort … ich muß … ich kann nicht … wo ist er … wo soll ich hin?« und ähnliche abgebrochene, sinnlose Worte; ich stürzte zur Tür, zum Fenster oder in die Ecken des Zimmers und versuchte, irgendwo herauszukommen, indem ich mit Händen und Füßen gegen die Wand stieß. In derartigen Augenblicken hatte ich eine solche Kraft, daß mich zwei, drei Menschen nicht halten konnten und ich, von Schweiß überströmt, sie durchs Zimmer schleppte. Ein solcher Anfall endete immer mit einer starken Ohnmacht, während deren es schwer war, festzustellen, ob ich atmete; die Ohnmacht ging allmählich in Schlaf über, der anfangs etwas unruhig war, aber dann tief und ruhig wurde und manchmal bis neun Uhr morgens dauerte. Nach leisem Weinen und Schluchzen erwachte ich munter und lebhaft, als ob ich die ganze Nacht über ruhig geschlafen hätte; aber nach einem rasenden Aufspringen und einem Wutanfall pflegte ich etwas schwach und blaß zu sein, wie von Ermüdung; indessen ging das alles schnell vorüber, und ich war den ganzen Tag vergnügt, lernte, lief umher und gab mich meinen Liebhabereien hin. Nach dem Aufwachen konnte ich mich an nichts deutlich erinnern: mitunter hatte ich die dunkle Vorstellung, daß ich von etwas geträumt hätte, das mich erdrücken und ersticken wollte, oder im Schlafe Schreckbilder gesehen hätte, die mich verfolgten; es kam auch vor, daß die Anstrengungen der Menschen, die mich festhielten und unwillkürlich freundliche Worte wiederholten, mit denen sie mir zuredeten, mich wieder ins Bett zu legen und mich zu beruhigen, – es kam vor, daß diese Anstrengungen mich einigermaßen wach machten und in die Wirklichkeit zurückriefen, und wenn ich dann am Morgen ganz aufgewacht war, erinnerte ich mich, daß ich in der Nacht von irgend etwas wach geworden war, daß meine Mutter, mein Vater und andere Leute um mich herumgestanden hatten, daß in den Büschen vor dem Fenster die Nachtigallen gesungen und jenseits des Flusses die Riedhühner gerufen hatten. Meine Mutter wußte nicht, was sie anfangen sollte; besonders erschreckte sie der Umstand, daß während der Ohnmacht auf meinem Gesichte krampfhafte Zuckungen sichtbar wurden und mir Schaum auf die Lippen trat, was ein übles Symptom war. Der Gedanke, es könne am Ende wirklich Epilepsie sein, wie Jewsejitsch das schon längst in seinem Briefe prophezeit hatte, dieser Gedanke versetzte sie in Angst. Die Tropfen, die mir Dr. Benis verschrieben hatte, gab sie mir nicht mehr; das blutreinigende Dekokt, das mir aus der staatlichen Apotheke geliefert war, hatte sie überhaupt nicht in Gebrauch genommen, obgleich Dr. Benis empfohlen hatte, daß ich es trinken möchte, weil er mich für skrophulös hielt, was ich nie gewesen war. Meine Mutter erlaubte mir im Flusse zu baden, weil sie meinte, das Baden könne mich kräftigen; es gefiel mir sehr, brachte mir aber keinen Nutzen. Meine Mutter wendete sich an Dr. Benis und entwarf eine so meisterhafte Beschreibung meiner Krankheit, daß der Doktor davon ganz entzückt war, sich dafür bedankte, mir einen Tee und Pillen schickte und eine bestimmte Diät vorschrieb. Alles wurde mit der größten Gewissenhaftigkeit befolgt; aber eine Abnahme der Krankheit trat nicht ein, im Gegenteil wurden die Anfälle hartnäckiger und ich selbst schwächer. Der Tee und die Pillen wurden wieder aufgegeben und volkstümliche Heilkundige, sogenannte kluge Männer und kluge Frauen, zu Rate gezogen. Alle sagten sie, es sei mir etwas angetan; sie nahmen Waschungen, Übergießungen und Beräucherungen mit mir vor, – alles ohne Erfolg. Ich bin durchaus kein Gegner der Volksmedizin und schenke ihr Vertrauen, besonders im Verein mit Magnetismus; ich habe mich längst von der Geringschätzung abgewandt, mit welcher viele von der Höhe ihrer Aufklärung und Gelehrsamkeit auf sie herabblicken; ich habe so viele überraschende und überzeugende Fälle mitangesehen, daß ich an der Wirksamkeit vieler volkstümlicher Mittel nicht zweifeln kann; aber sie halfen mir damals nicht, vielleicht weil sie nicht auf meine Krankheit paßten, vielleicht auch weil meine Mutter sich nicht entschließen konnte, mir innerliche Mittel zu geben. Ich erinnere mich jedoch, daß ich lange Zeit auf Rat einer Nachbarin Farnkraut in Pulverform einnahm; es wurden dazu die jüngsten Triebe gebraucht, die kammartig unmittelbar aus den Wurzeln zwischen den großen durchbrochenen Blättern oder Zweigen dieser Pflanzen hervorkommen. Das Farnkraut half gleichfalls nicht. Endlich griff man zu dem bekanntesten Mittel, das bei uns zu Hause schon zu den Zeiten des Großvaters und der Großmutter viel gebraucht wurde, auf das aber meine Mutter mit Verachtung hinblickte, und von dem sie bis dahin nichts hatte hören wollen, obwohl die Tante es schon längst in Vorschlag gebracht hatte. Dieses Mittel hieß: »Benzoe-Tropfen gegen Epilepsie,« weil das Benzoe-Harz seinen Hauptbestandteil bildete; es wurden zehn Tropfen in ein halbes Glas Wasser gegossen, und das Wasser wurde weiß wie Milch. Die Zahl der Tropfen wurde täglich um zwei vermehrt und bis auf fünfundzwanzig für eine Dosis gesteigert, die immer zur Nacht genommen wurde. Man begann, sie mir zu geben, und von der ersten Dosis an wurde mir besser; nach einem Monat war die Krankheit vollständig vergangen und kehrte niemals wieder. Nachdem die Zahl von fünfundzwanzig Tropfen erreicht war, fing man an, sie immer um zwei Tropfen zu verringern, und endete mit zehn Tropfen; ich hörte nicht auf zu baden und hielt nicht die geringste Diät. Was wäre für ein Geschrei erhoben worden, wenn mich irgendein berühmter Arzt so wunderbar geheilt hätte! Meine arme Mutter atmete wieder auf, ebenso mein Vater und meine ganze Umgebung, besonders die Schaffnerin Pelageja, die sich in der Zeit der Anfälle beständig mit mir abgemüht, mir abends Märchen erzählt und dies selbst dann fortgesetzt hatte, wenn ich bereits schlief; meine Mutter war so erfreut, wie wenn sie mich zum zweitenmal aus dem Gymnasium losgemacht hätte. Da sieht man, wie wir oft ein Heilmittel in der Ferne suchen, während wir es doch längst in der Hand haben. – Ich kehre nun ein wenig zurück.

Trotz des furchtbaren Charakters meiner Krankheit erlitten doch während der ganzen Dauer derselben weder mein Lernen noch meine ländlichen Vergnügungen eine Unterbrechung; nur beschäftigte ich mich mit dem einen wie mit dem anderen, als die Anfälle schlimmer wurden, maßvoller, und meine Mutter beobachtete mich mit der größten Aufmerksamkeit und ließ mich nicht auf lange und nicht weit von sich weg. Jeden Tag ging ich vormittags, solange es noch nicht so heiß war, mit Jewsejitsch angeln. Der beste Angelplatz war bei uns im Garten, fast vor den Fenstern, weil unterhalb von Aksakowo in dem Mordwinendorfe Kiwazkoje eine Mühle und ein gewaltiger Teich war, so daß das Stauwasser fast bis zu unserm Garten reichte; hier konnte der Buguruslan der obere Zufluß des Teich es von Kiwazkoje genannt werden, und allen Angelfreunden ist es bekannt, daß dies zum Angeln sehr vorteilhaft ist. Zum ersten Male lernte ich damals die höchste Freude des Anglers kennen, den Fang großer Fische; bis dahin hatte ich immer nur Plötze, Barsche und Gründlinge gefangen; allerdings erreichen die beiden ersten Arten ebenfalls eine beträchtliche Größe; aber eigentümlicherweise kamen mir sehr große Exemplare nicht vor, und wenn sie mir auch vorkamen, so konnte ich sie nicht herausziehen, weil ich mit dünnen Schnüren und kleinen Haken angelte. Jewsejitsch hatte mir nun zwei Schnüre gedreht, jede aus zwanzig Haaren, hatte dicke Haken daran befestigt, die Schnüre an starke Angelruten gebunden und führte mich, indem er auch seine eigene Angel mitnahm, in den Garten zu seinem geheimen Platze, den er das goldene Plätzchen nannte. Nachdem er ein Stück zusammengedrücktes Schwarzbrot von der Größe einer tüchtigen Haselnuß auf den Haken gesteckt hatte, warf er meine Angel unmittelbar unter einem Busche aus und legte die seinige am Ufer zwischen Gras und Schilf aus. Ich saß still da und wagte nicht, die Augen von meinem Schwimmer abzuwenden, der sachte vorwärts und rückwärts ging, weil das Wasser sich hier am Ufer drehte. Nach kurzer Zeit sprang Jewsejitsch plötzlich auf, schrie: »Da ist einer, junger Herr!« und begann, sich mit einem großen Fische abzumühen, indem er seine Angelrute mit beiden Händen festhielt. Jewsejitsch hatte kein rechtes Verständnis vom Angeln und zog aus Leibeskräften; der Fisch hatte sich wahrscheinlich im Grase oder Schilfe verfangen, die Angelrute war ein einfacher Stock, und die Schnur riß: so bekamen wir nicht einmal zu sehen, was es für eine Art Fisch war. Jewsejitsch geriet in gewaltigen Zorn; auch ich zitterte beinahe bei seinem Anblicke. Jewsejitsch schwur und beteuerte, es sei ein so großer Fisch gewesen, wie er in seinem Leben noch keinen gefangen habe; aber wahrscheinlich hatte sich ein gewöhnlicher Karpfen oder Döbel im Grase verwickelt und kam ihm daher so schwer vor. Nachdem mein Hüter meine zweite Angel losgewickelt hatte, warf er sie so schnell wie möglich an derselben Stelle aus, wo der Fisch bei ihm angebissen hatte, mit den Worten: »Ich bin offenbar ein bißchen zu hitzig gewesen; jetzt werde ich ganz sachte ziehen,« und setzte sich auf das Gras, um auf eine neue Beute zu warten, aber vergebens. Nun kam ich an die Reihe, und das Schicksal wollte mir eine Freude bereiten: mein Schwimmer begann sich sachte aufzurichten und wieder seitwärts zu legen; dann richtete er sich endgültig auf und verschwand unter dem Wasser; ich zog, und ein gewaltiger Fisch begann langsam zu kommen, wie wenn er sich im Wasser dagegen stemmte. Jewsejitsch eilte mir zu Hilfe und faßte meine Angelrute; aber ich, in Erinnerung an das, was er vor kurzem gesagt hatte, wiederholte unaufhörlich, er solle recht sachte ziehen. Dank der neuen, starken Schnur und der nicht sehr biegsamen Angelrute, die ich nicht aus den Händen ließ Zum erfolgreichen Angeln großer Fische ist im allgemeinen eine biegsame Angelrute nützlich und eine steife sehr schädlich; aber da hier der Karpfen gegen alle Regeln der Angelkunst herausgezogen wurde, nämlich mit Gewalt, so erwies sich die steife Angelrute, die sich wenig bog, als nützlich; denn die Schnur konnte vermöge ihrer Stärke den Fisch festhalten. (Anmerkung des Verfassers.), zogen wir endlich mühsam mit vereinten Kräften einen sehr tüchtigen Karpfen heraus, auf den Jewsejitsch sich sofort mit dem ganzen Leibe warf, wobei er rief: »Da ist er, der liebe Kerl! Jetzt soll er nicht entwischen!« Ich zitterte vor Freude wie im Fieber, was mir übrigens auch später begegnete, sooft ich einen großen Fisch fing; ich konnte mich lange Zeit nicht beruhigen und lief unaufhörlich hin, um den Karpfen zu besehen, der im Grase am Ufer an einem gefahrlosen Orte lag. Wir warfen die Angel wieder aus; aber es biß kein Fisch mehr an. Nach einer halben Stunde gingen wir nach Hause, weil ich nur für kurze Zeit Erlaubnis erhalten hatte. Dieser erste glückliche Anfang machte mich endgültig zum passionierten Angler. Den Karpfen steckten wir auf einen Stock, und ich brachte ihn dem Vater, der auch selbst manchmal gern angelte. Damals bestand bei uns noch nicht die Gewohnheit, einen großen Fisch zu wiegen; aber ich glaube, daß ich auch später nie einen Karpfen von solcher Größe gefangen habe, und daß er mindestens sieben Pfund wog.

Mein Vater nahm mich manchmal mit auf die Jagd, auf die er übrigens nur selten fuhr. Ich hatte für sie großes Interesse, und solche Fahrten waren für mich Feste, obwohl mein Anteil an der Jagd sich damals auf die Ausübung der Obliegenheiten eines Hühnerhundes beschränkte, d. h. ich lief hin, um den geschossenen Vogel zu holen, und brachte ihn dem Vater. Ein Gewehr gab man mir nicht in die Hand. Drei Jahre später jedoch, in den Sommerferien (ich werde davon an seiner Stelle erzählen), entschied ein erster Schuß aus einem Gewehr mein Schicksal: alle anderen Arten der Jagd, sogar das Angeln, verloren in meinen Augen ihren Reiz, und ich wurde für mein ganzes Leben ein leidenschaftlicher Jäger mit der Büchse.

Als meine Krankheit ganz vergangen war, ging der August schon zu Ende; die Karpfen und Döbel hatten längst aufgehört zu beißen; aber ich hatte das Glück gehabt, mehrere Exemplare von beträchtlicher Größe zu fangen; selbstverständlich hatte ich noch einmal soviel entwischen lassen. Dafür stand das Angeln von Plötzen und besonders von Barschen noch auf voller Höhe. Übrigens hatte ich damals meine große Freude an den Habichten; mit den vorjährigen hatte man schon im Juli Wachteln zu jagen angefangen; die jungen Nestlinge waren ebenfalls schon längst abgerichtet, und die Jagd ging sehr glücklich vonstatten. Die alten Habichte waren bei Nikanor Tanaitschenok und bei Wanka Masan, die jungen bei Fjodor und bei meinem Hüter Jewsejitsch. Ich hatte auch meinen eigenen kleinen Lerchenfalken, der sehr gut abgerichtet war, und mit dem ich Sperlinge und andere kleine Vögel jagte. Nicht selten fuhr ich mit einem der genannten Jäger, am häufigsten mit Jewsejitsch, auf einem langen Jagdwagen aufs Feld, und es machte mir viel Vergnügen zuzusehen, wie sie die fetten Herbstwachteln und Wiesenschnarrer jagten. So verging der Sommer und der Anfang des Herbstes, voll mannigfacher, ländlicher Vergnügungen, zu denen ich auch die Expeditionen zum Sammeln von Beeren und später von Pilzen Ich hatte damals keine Ahnung davon, daß die Pilze mir in meinem höheren Alter dauernd so viel Freude machen würden. Zum Danke dafür ist in mir schon lange der Gedanke rege geworden (und ich verzichte noch nicht auf seine Ausführung), ein Büchelchen über die Pilze und über die Freude, die ihr Einsammeln gewährt, zu schreiben. (Anmerkung des Verfassers.) rechnen kann.

Meine Mutter machte auf dem Lande nicht gern Ausflüge. Nur selten gelang es uns, sie zu überreden, mit mir und meinem Vater aufs Feld oder in den Wald zu fahren. Ich erinnere mich jedoch, daß die wundervollen Erdbeeren, die in jenem Jahre in reicher Fülle wuchsen, meine Mutter manchmal auf ein nahegelegenes Brachfeld lockten, weil sie diese Beeren sehr liebte und meinte, sie seien ihrer Gesundheit zuträglich. Auch fuhren wir ab und zu nach den malerischen Bergquellen, um dort mit der ganzen Familie unter den schattigen Birken Tee zu trinken; aber das Pilzesammeln fand meine Mutter unerträglich langweilig; meinem Vater dagegen und meiner Tante machte es immer große Freude, »in die Pilze zu fahren«, und ich teilte ihre Neigung. Das Allerschlimmste war, daß meine Mutter auch unser liebes Aksakowo nicht leiden konnte. Sie fand seine Lage zu niedrig und zu feucht (was zum Teil richtig war), den Geruch des Teiches und des Dammes abscheulich, das Quellwasser kalkhaltig und hart und alles zusammen entschieden gesundheitsschädlich. Darin lag viel Wahrheit, aber auch viel Voreingenommenheit und Übertreibung. Man muß sich erinnern, daß meine Mutter in einer Stadt geboren und aufgewachsen war und ihr der Aufenthalt auf dem Lande an schlechthin jeder Stelle langweilig vorgekommen wäre. Mit Entrüstung hörten wir Kinder und der Vater ihre häufigen, redegewandten Angriffe auf Aksakowa, und obgleich wir nicht wagten, es zu verteidigen, so stimmten wir ihr doch im Herzen nicht bei. Obwohl meine Mutter auf dem Lande lebte, führte sie doch kein ländliches Leben. Sie beschäftigte sich mit ihren Kindern, mit der Lektüre von Büchern und korrespondierte eifrig mit früheren Bekannten, größtenteils namhaften Persönlichkeiten, die, obwohl sie nur zeitweilige Bewohner oder gar nur Besucher von Ufa gewesen waren, dennoch gegen meine Mutter für alle Zeit ein Gefühl respektvoller Freundschaft bewahrten. Sie las auch gern medizinische Bücher, und Buchans »Heilkunde für das Haus« galt ihr als Autorität. An die Lektüre medizinischer Bücher hatte sie sich gewöhnt, weil sie mehrere Jahre an dem Bette ihres kranken Vaters zugebracht hatte; sie hatte eine Hausapotheke und kurierte selbst Kranke, nicht nur ihre Angehörigen, sondern auch Fremde, und daher kamen nicht wenige Kranke aus den umliegenden Dörfern bei uns zusammen; mein Vater war bei diesem guten Werke ihr tätiger Gehilfe. Mit der Hauswirtschaft gab sie sich fast gar nicht ab.

Es kam der Herbst; ein Vergnügen verschwand nach dem anderen; die Tage wurden kurz und dämmerig; Regen und Kälte trieben einen jeden in die Stuben; ich verbrachte nun mehr Zeit bei meiner Mutter und beschäftigte mich mehr mit dem Lernen, d. h. ich schrieb und las vor. Übrigens las an den langen Abenden auch der Vater vor und sogar die Mutter selbst, und zwar las diese außerordentlich gut. Obgleich mein Vater in seiner Familie nicht von klein auf an das Lesen gewöhnt worden war (bei dem Großvater und der Großmutter waren nur Kalender vorhanden und ein paar traurige Broschüren über »Harlemer Tropfen« und über ein »Elixier zum langen Leben«), so besaß er doch eine natürliche Neigung zum Lesen; zum Beweise dient eine gewaltige Sammlung von allerlei damaligen Liedern und Gedichten, die er aus Drucksachen eigenhändig abgeschrieben hatte; ich bewahre diese Sammlung noch jetzt auf. Meine Mutter hatte diese Neigung bei ihm noch weiter entwickelt, und so ging denn das allabendliche Vorlesen unter allgemeiner eifriger Teilnahme vor sich. Ich erinnere mich mit dem lebhaftesten Vergnügen an diese Abende, bei denen auch Tante Jewgenja Stepanowna immer anwesend war. Das literarische Vergnügen wurde verstärkt durch Zedernüsse und im Ofen getrocknete Haselnüsse, die meiner Mutter sehr schädlich waren, die sie aber sehr liebte; es erschien auf dem Tische ein kupfernes Kästchen mit diesem Naschwerk, und es wurde eine kleine Zange und eine kleine Keule zum Aufdrücken und Aufschlagen der Nüsse gebracht Das Schicksal dieses Kästchens ist bemerkenswert. Meine Mutter brachte es im Jahre 1788 unter ihrer Mitgift mit, gefüllt mit Bändern, Borten und Spitzen; in den neunziger Jahren und noch im Jahre 1801 war es mit getrockneten Nüssen angefüllt; im Jahre 1807 lagen in ihm mehr als hunderttausend Rubel Bargeld und Wechsel, sowie Brillanten und Perlen von hohem Werte; und jetzt steht es unter dem Schreibtische meines Sohnes, vollgestopft mit alten Urkunden. (Anmerkung des Verfassers.). Sobald mich die Lektüre lebhaft interessierte, wurde mir dieses Nebenvergnügen sehr unangenehm, weil es mich zerstreute und am Zuhören hinderte. Wenn meine Mutter sich besser fühlte als gewöhnlich und sich in guter Stimmung befand, war sie von einer hinreißenden Lustigkeit, lachte viel und brachte die anderen zum Lachen. Besonders erweckten die Romane »Francisco Petroccio« und »Elias Bendels Abenteuer« sowohl durch ihren dummen Inhalt als auch durch die ungeschickte sprachwidrige Übersetzung ins Russische starkes Gelächter, das, durch die lebhaften, witzigen Bemerkungen meiner Mutter gesteigert, die Zuhörer dermaßen in seinen Bann schlug, daß alle sich buchstäblich vor Lachen wälzten und das Vorlesen für längere Zeit unterbrochen werden mußte; manchmal aber kamen auch Bücher vor, die lebhafte Teilnahme, reges Interesse und sogar Tränen bei ihren Zuhörern hervorriefen.

Der Eintritt des Winters mit seinem ersten Schnee und leichten Frost gab mir für einige Zeit wieder die Möglichkeit, mich meinem Vergnügen zu widmen. Im Schnee wurden Hasen ausgespürt, Grauhasen und Weißhasen. Mein Vater nahm mich mit, und in Begleitung eines Haufens von allerlei Volk umstellten wir den in seinem Lager liegenden Hasen fast von allen Seiten mit Netzen; von der gegenüberliegenden Seite her stürmte der ganze Haufe mit Geschrei und Geheul vor; der erschrockene Hase sprang auf und rannte in die aufgestellten Netze. Ich lief auch mit und lärmte, schrie und ereiferte mich natürlich noch mehr als alle anderen. Ich liebte dieses Amüsement sehr und redete gern darüber mit meinem Vater. Wenn meine Mutter mit irgend etwas beschäftigt war und ich sie durch meine Fragen und Belästigungen störte, oder wenn sie nicht wohl war, dann schickte sie mich gewöhnlich zum Vater mit dem Hinzufügen: »Rede mit ihm von den Hasen!« und dann führten der Vater und ich über dieses Thema endlose Gespräche. Außer der Hasenjagd machte es mir ein großes Vergnügen, Fallen für kleines Raubgetier aufzustellen: für Iltisse, Hermeline und Wiesel. Die abgezogenen glatten, schönen Felle der gefangenen Tiere hingen als Trophäen an meinem Bette. Aber bald fing der Schnee an, die Erde mit tiefer Schicht zu bedecken; Schneestürme wüteten, und alle meine Vergnügungen hörten vollständig auf. Ein furchtbares, trauriges Schauspiel ist so ein Schneesturm, nicht nur in der Steppe, sondern auch in der warmen Wohnung! Er verklebt die Fenster, treibt den Schnee sogar in den Hausflur, verschüttet alle Steige vom Gutshause zu den Gesindewohnungen, so daß sie mit Schaufeln frei gemacht werden müssen; auf wenige Schritte ist ein Mensch nicht mehr zu sehen! Schließlich häuft er solche Schneemassen auf, daß es scheint, sie würden nie wieder wegtauen, – und Kleinmut befällt unwillkürlich die Seele! In den Hauptstädten kann man sich davon keinen Begriff machen; aber die Bewohner des flachen Landes werden mich verstehen und meine Gefühle teilen. Ich war ganz und gar m die Wände des Hauses eingeschlossen und konnte meine Mutter auf keine Weise bewegen, mich mit dem Vater wegzulassen, der manchmal nach den Fischzäunen fuhr, d. h. nach solchen Stellen, wo der Fluß auf Sandbänken durch ein Flechtwerk oder dichtstehende Pfähle abgesperrt ist, zwischen denen Reusen angebracht sind. In der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, mitunter auch schon früher, begannen sich in ihnen Quappen zu fangen, manchmal sehr stattliche Tiere. Wenn sie nach Hause gebracht wurden, waren sie bisweilen von der starken Kälte ganz starr geworden; sie wurden dann in einen großen Kübel mit Wasser geworfen, und die marmorierten, dunkelgrünen, dickbäuchigen Quappen tauten dann allmählich auf und begannen ihre weichen Schwänze und ihre gefiederten, weichen Flossen zu bewegen und damit zu plätschern. Lange war ich von dem Kübel gar nicht wegzubekommen, betrachtete ihre Bewegungen und sprang jedesmal zurück, wenn von dem Geplätscher ihrer Schwänze das Wasser umherspritzte. Mein Vater hatte in seinen großen geflochtenen Fischbehältern immer eine Menge Quappen, und eine wohlschmeckende Quappensuppe und noch wohlschmeckendere Pasteten mit Quappenleber erschienen bei uns fast täglich auf dem Tische, bis alle sie sich so übergegessen hatten, daß niemand sie mehr mochte. Dann wurden nur noch ab und zu Quappengerichte bereitet, und der Rest dieser Fische erst im Laufe der großen Fasten verzehrt.

Weil meine Mutter, wie ich schon gesagt habe, Städterin war, und auch weil sie ihre Kindheit und frühe Mädchenzeit in drückenden, trüben Verhältnissen verlebt hatte und dann durch Lektüre von Büchern und durch Bekanntschaft mit klugen, gebildeten Leuten sozusagen in äußerliche Berührung mit der Kultur gekommen war, eine Berührung, die häufig eine Art von Stolz und Nichtachtung gegen schlichtes, einfaches Wesen hervorruft: aus allen diesen Ursachen zusammen erklärt sich die Stellung, die meine Mutter zu den Reigentänzen, den Wahrsageliedern und den Christwochen-Aufführungen einnahm: sie hatte kein Verständnis für sie, mochte sie nicht leiden und kannte sie nicht einmal ordentlich. Im Gegensatze zu ihr liebte meine Tante, da sie auf dem Lande groß geworden war, all dergleichen sehr; sie veranstaltete bisweilen Christwochen-Aufführungen und -Lieder bei sich in ihrer Stube, und die süßen, bezaubernden Klänge der Volksmelodien drangen von dem dritten Zimmer her an mein Ohr, versetzten mein Herz in Aufregung und versenkten mich in eine Art von unverständlicher Wehmut. Ich war sehr ungehalten darüber, daß mir nicht erlaubt wurde, bei diesen Aufführungen zugegen zu sein, geschweige denn selbst an ihnen teilzunehmen, und infolge dieses strengen Verbotes ließ ich mich schließlich dazu verlocken, meine verständige, so heiß geliebte Mutter zu täuschen. Selbstverständlich hatte ich zuerst meine Mutter mit Bitten und Fragen bestürmt, warum sie mich denn nicht zu den Aufführungen hinließe. Meine Mutter antwortete mir in bestimmtem, strengem Tone, es komme dabei viel Dummes, Häßliches und Unpassendes vor, was ich weder anhören noch ansehen dürfe, da ich noch ein Kind sei und gut und böse noch nicht zu unterscheiden verstehe. Aber da ich noch nichts Böses gesehen oder, wenn ja, nicht verstanden hatte, worin es bestehe, so gehorchte ich nur ungern, ohne innere Überzeugung, sogar mißvergnügt. Meine Tante dagegen und die Dienstmädchen redeten ganz anders; sie setzten mir auseinander, meine Mutter habe nun einmal einen solchen Charakter, daß sie mit allem unzufrieden sei und ihr auf dem Lande nichts gefalle; davon sei sie denn auch krank; weil sie selbst nicht lustig sei, wolle sie, daß auch die anderen es nicht sein sollten. Solche Reden wirkten heimlich auf meinen kindlichen Verstand, und die Folge davon war, daß mich die Tante einmal überredete, die Spiele verstohlen mit anzusehen; und das geschah folgendermaßen. In der ganzen Christwoche fühlte sich meine Mutter nicht recht wohl oder nicht recht bei guter Laune; gemeinsames Lesen fand nicht statt; aber der Vater las der Mutter irgendein langweiliges oder ihr bereits bekanntes Buch vor, nur um sie einzuschläfern, und sie pflegte nach dem Tee, der immer um sechs Uhr abends getrunken wurde, etwa zwei Stunden oder mehr zu schlafen. Ich ging während dieser Zeit zur Tante. In einer solchen geeigneten Stunde überredete sie mich, die Aufführungen mit anzusehen, wickelte mich vom Kopfe bis zu den Füßen in einen Pelz, legte mich ihrem robusten Dienstmädchen Matrona auf die Arme und begab sich mit mir nach der Tischlerei, wo uns, in Bären, Truthähne, Kraniche, alte Männer und alte Frauen verkleidet, die ganze männliche und weibliche Jugend des Hofgesindes erwartete. Trotz der übelriechenden Talglichte, ja sogar eines rauchenden Leuchtspans, wodurch der weite Raum nur mangelhaft erhellt wurde, trotz der drückenden, mephitischen Luft, wieviel echte Lustigkeit steckte doch in diesen ländlichen Aufführungen! Die wunderlichen Klänge der Christwochen-Lieder, diese aus dem höchsten Altertum stammenden Melodien, gleichsam ein Widerhall aus einer unbekannten Welt, sie bewahrten noch eine lebendige Zauberkraft und übten ihre Macht über die Herzen einer unermeßlich fernen Nachkommenschaft aus! Alle waren wie berauscht von Lustigkeit, wie trunken von Freude. Lautes, gemeinsames Gelächter übertönte oft die Lieder und Reden. Das waren nicht Schauspieler und Schauspielerinnen, die irgend jemanden zum Vergnügen anderer vorstellen; nein, die begeisterten Sängerinnen und Tänzerinnen gaben sich selbst; sich selbst vergnügten sie aus der Überfülle ihrer Herzen, und jeder Zuschauer war eine entzückte mitwirkende Person. Alles sang, tanzte, redete, lachte, – und mitten in dem Getümmel, in dem Dunst und Qualm der lärmenden, allgemeinen Lustigkeit wickelten mich dieselben starken Hände wieder in den Pelz und trugen mich ungestüm hinweg aus der zauberhaften Märchenwelt. Lange konnte ich in dieser Nacht nicht einschlafen, und lange tanzten und sangen seltsame Gestalten um mich herum und verließen mich sogar im Traume nicht Ich erinnere mich an eine dramatische Christwochen-Aufführung mit einem besonderen Liede und Tanze, die, wie ich jetzt höre, der Bevölkerung jenes Gouvernements, wo ich sie mit angesehen habe, bereits aus dem Gedächtnisse geschwunden ist: in der Mitte der Stube sitzt auf einer Bank oder einem Klotz ein alter Mann (selbstverständlich ein verkleideter); seine junge Frau, mit ländlichem Kopfputz und seidenem Brusttuch, geht tanzend um ihn herum und singt dabei ein Klagelied über die Gebrechlichkeit ihres Mannes; der Chor akkompagniert sie. Unter Absingung dieses nach meiner Erinnerung aus acht Strophen bestehenden Liedes, von dem ich nur die beiden Anfangszeilen jeder Strophe im Gedächtnis habe:
»Ach, du Mann, du alter dummer,
Machst mir nichts als Leid und Kummer,«
tritt die Frau an den Mann heran und heißt ihn hingehen, den Sommeracker pflügen. Der Alte hustet, stöhnt und antwortet mit zitternder Stimme: »Dazu bin ich zu schwach.« Die Zuschauer lachen. Die junge Frau singt wieder mit dem Chor zusammen eine neue Strophe, indem sie wieder um den Alten herumgeht und herumtanzt. Auf diese Art werden alle ländlichen Arbeiten durchgenommen, und auf alle Aufforderungen, zu pflügen, zu säen, zu heuen, zu ernten usw., antwortet der Alte mit den Worten: »Dazu bin ich zu schwach,« indem er, diese abschlägige Antwort durch spaßhafte Zusätze und Interjektionen variiert. Endlich singt die Frau die letzte Strophe, in der sie ihm mitteilt, alle Leute seien nach Beendigung der Arbeiten von den Feldern heimgekehrt und brauten Bier; dann geht sie zu ihrem Manne heran und fordert ihn auf, zum Nachbar zu kommen, um Bier zu trinken. Der Alte springt behende auf und antwortet munter: »Komm, Mütterchen, komm!« und läuft, seine junge Frau an der Hand mitziehend, in greisenhaftem Trabe davon. Lautes, fröhliches Gelächter der Zuschauer bildet den Schluß. (Anmerkung des Verfassers.)
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Das erstemal hatte ich mich zu dieser Täuschung ganz plötzlich, beinah durch Gewalt gezwungen, verleiten lassen und konnte, als ich nach Hause zurückgekehrt war, lange Zeit meiner Mutter nicht gerade in die Augen sehen; aber das entzückende Schauspiel hatte mich so gefesselt, daß ich das nächste Mal gern einwilligte und später selbst meiner Tante mit Bitten zusetzte, mich zu den Aufführungen mitzunehmen.

Endlich wurde die grausame Macht des Winters gebrochen, und die schreckliche Kälte nahm ab. Wir besaßen damals kein Thermometer, und ich kann daher nicht sagen, auf wieviel Grad die Kälte stieg; aber ich erinnere mich, daß Vögel davon starben und mir Sperlinge und Dohlen gebracht wurden, die im Fluge wie tot niedergefallen und augenblicklich erstarrt waren; einige kamen durch Erwärmung wieder zum Leben. Überhaupt muß ich bemerken, daß die Winter in der Zeit meiner Kindheit und meines frühen Jünglingsalters weit kälter waren als die jetzigen. Und dies ist nicht etwa eine Einbildung von der Art, wie sie in höherem Alter leicht vorkommen; als ich in Kasan wohnte, gefror vor Beginn des Jahres 1807 zweimal das Quecksilber, und wir schmiedeten es wie heißes Eisen. Jetzt ist das in Kasan schon lediglich eine Überlieferung aus alter Zeit.

Die Sonne begann zu wärmen; die Wege wurden glatt; es kam die Butterwoche, und das Herunterfahren von Eisbergen nahm seinen Anfang. An den gemeinsamen Vergnügungen dieser Art mich zu beteiligen, erlaubte mir zu meinem Bedauern die Mutter ebenfalls nicht; ich durfte nur mit meiner Schwester und manchmal mit meinem kleinen Bruder Schlitten fahren und blickte im Vorbeifahren voll Neid auf den Schwarm von Bauernjungen und Bauernmädchen, die, von der Bewegung und der Kälte ganz rot im Gesicht, kühn von dem hohen Berge, unmittelbar von der Tenne an, auf kleinen Handschlitten und Schlittschuhen hinuntersausten; manche benutzten dazu auch einfach alte Siebe oder runde Bastkörbe, die sie auf der unteren Seite nach Art von Schlittschuhen hatten gefrieren lassen. Lärmendes Gespräch und Gelächter erscholl in dem munteren, lustigen Haufen der oft in phantastischen Kostümen steckenden Kinder, namentlich wenn Schlittschuhläufer mit den Beinen nach oben hinabflogen, oder wenn so ein Korb mit einem kleinen Mädchen darin in schnelle Drehung geriet und umkippte, wobei dann die Insassin schon lange vor der Katastrophe ihrer Equipage loskreischte. Wie verlangte es mich dorthin, zu diesem Lärm, Geschrei und Gelächter, und wie langweilig erschien mir nach diesem Schauspiel das einsame Schlittenfahren von dem kleinen Eisberge herab, der im Garten vor den Fenstern unseres Salons errichtet war, und nur das eine tröstete mich, daß meine liebe Schwester mit mir zusammen fuhr.

Mit dem Beginn der Großen Fasten endeten all diese nicht sehr zahlreichen Wintervergnügungen. Ich kann nicht sagen, daß die Großen Fasten bei uns unter Fasten und Gebet vergangen wären. Meine Mutter hielt wegen ihrer Kränklichkeit die Fasten nicht inne, und ich fastete natürlich ebenfalls nicht; mein Vater aber aß zwar an Mariä Himmelfahrt und in den Großen Fasten keine Fleischspeisen; indes bei dem reichen Vorrat an Uralstör, gefrorenem Sterlet, frischem Kaviar und lebenden Quappen war sein Fastentisch weit leckerer bestellt, als wenn Fleischspeisen darauf gestanden hätten. Eine Kirche war bei uns nicht, und die nächste war neun Werst entfernt in dem Dorfe Mordwinisch-Buguruslan. Der Geistliche war uns nicht besonders zugetan, und wir fuhren nur an den höchsten Festtagen dorthin. Überhaupt muß ich sagen, daß unsere Familie, wenn auch nicht eigentlich unreligiös, so doch an kirchliches Leben wenig gewöhnt war, wie das bei weiter Entfernung von der Kirche fast immer der Fall ist. Und so verlebte ich die Großen Fasten in meiner gewöhnlichen, noch ein wenig erhöhten Unterrichtstätigkeit. Meine Schülerin machte mir keinen Kummer mehr, sondern erfreute mich durch ihre Fortschritte. Wir spielten zusammen mit ihren Puppen, und ich baute ihr Städte aus Klötzchen und las ihr manchmal Kindermärchen vor, die ich ihr zugleich erläuterte.

Meine Mutter hatte beständig diese und jene Sorge und war mitunter sogar verstimmt; sie beschäftigte sich etwas weniger mit mir, und ich, der ich mich nunmehr meinem ruhigen Nachdenken überließ, durch das Leben im Gymnasium aus meiner kindlichen Unbekümmertheit aufgerüttelt war und auch bei der Rückkehr zum Landleben die neuen Eindrücke nicht vergessen hatte, ich fand in mir nicht mehr die frühere Sorglosigkeit, das frühere Vergnügen an meinen Liebhabereien; ich begann alles, was mich umgab, mit großer Aufmerksamkeit zu betrachten und dies und jenes, was ich vorher nicht beachtet hatte, zu verstehen, – und manche Dinge erschienen mir nicht mehr so reizvoll und freudenreich. Ein Gefühl einer mir bisher unbekannten, eigenartigen Traurigkeit mischte sich nun in all meine Lieblingsbeschäftigungen und Amüsements. Ich will mich über diese betrübliche Tatsache nicht des weiteren auslassen; aber ich mußte sie erwähnen, weil man sonst nicht verstehen würde, woher es kam, daß nach einigen Monaten das Leben in Aksakowo mir nicht mehr als das frühere glückselige Paradies erschien und ein zweiter Eintritt in das Gymnasium, besonders als zahlender Schüler, für mich nichts Schreckliches mehr hatte.

Der Winter war langdauernd und hartnäckig. Nur langsam trat der Frühling in seine Rechte ein, und erst Ende April nahmen die Wärme in der Luft, der Regen und der Wind gemeinschaftlich die furchtbaren Schneehaufen in Angriff und zerstörten sie in Zeit von einer Woche. Um Ostern waren die Wege völlig unpassierbar, und wir fuhren nicht einmal am ersten Feiertage zur Frühmesse. Die ganze Osterwoche verlebte ich wenig vergnügt: meine Mutter war kränklich und traurig, mein Vater schweigsam; er saß beständig über den Akten eines Erbschaftsprozesses, den er mit der Familie Bogdanow führte; diesen Prozeß gewann er später. Der Vater ging jeden Tag nach der Mühle, um das Steigen des Wassers zu beobachten. Einmal kehrte er ungewöhnlich früh nach Hause zurück und sagte zu mir: »Bitte die Mutter um Ausgeherlaubnis, Sergei; wir wollen gleich das Wasser ablassen.« Ich lief hin, um die Mutter zu bitten, und hatte diesmal mehr Glück als sonst; meine Mutter ließ mich fort, nachdem sie einige Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte, damit ich mir nicht die Füße naß machte und mich nicht erkältete. Auf einem langen Bauernwagen fuhren wir zur Mühle; auf dem Damme erwarteten uns die Bauern mit allerlei Gerätschaften. Das russische Volk hat seine Freude daran, der Bewegung des Wassers zuzusehen, und die ganze Bevölkerung von Aksakowo war zusammengelaufen, um zu beobachten, wie der Teich abgelassen würde. Schleusen mit Holzverschluß gab es bei uns noch nicht, und eine im Damm zum Ablassen des hochgelegenen Wassers gemachte Öffnung (das war die Schleuse) wurde in jedem Jahre wieder dicht verstopft. Der Teich war angeschwollen und ganz bläulich geworden; das Eis hatte sich gehoben, Risse bekommen und von den Ufern losgelöst; der Flußlauf war schon längst eisfrei, und das Wasser fand in dem Stauraum kaum Platz. Mit Beilen, Brechstangen und eisernen Schaufeln wurde der gefrorene Damm an beiden Rändern der vorjährigen Schleuse zerstört, und kaum war die oberste Schicht eine Elle tief weggeräumt, als das Wasser durchbrach und, ohne weiter der menschlichen Hilfe zu bedürfen, sich so eilig ans Werk machte, daß es sich in Zeit von einer halben Stunde einen Weg bis auf den Untergrund freilegte. Grimmig stürzten die trüben Fluten dahin, und in einem Augenblick hatte sich ein starker Fluß gebildet, der in dem neuen Graben nicht Platz fand und die Umgegend überschwemmte. Mit freudigen Ausrufen begrüßte das Volk das von ihm so geliebte Element, das aus der winterlichen Gefangenschaft sich den Weg zur Freiheit bahnte; besonders schrien und kreischten die Weiber; und dieser Lärm vermischte sich mit dem Getöse des massenhaft herabstürzenden Wassers, mit dem Krachen des Eises, das sich senkte und zerbrach. Das war ein Bild voller Leben, und wenn nicht jemand von Hause geschickt worden wäre, um uns zu sagen, daß es längst Zeit zum Mittagessen sei, so hätten der Vater und ich wahrscheinlich bis zum Abend da gestanden.

Am Vormittage des folgenden Tages fuhren wir wieder nach dem Damme und fanden nun dort ein anderes, ebenfalls geräuschvolles, lustiges Schauspiel. Der erste stürmische Ausbruch des Wassers war etwas friedlicher geworden; der Teich hatte sich bedeutend zusammengezogen,; die kleineren Eisschollen waren an den Pfählen zerbrochen und fortgeschwemmt; aber die größeren hatten sich an seichten Stellen auf dem Grunde festgesetzt. An einer sonst fast trockenen Stelle, wo jetzt ein ganzer Strom von der Schleuse herabfloß, waren schon früher kurze, dicke Pfähle eingerammt worden; nun gingen die Bauern bis an den Gürtel ins Wasser und banden an diesen Pfählen Reusen fest oder hängten sie mit Schlingen daran; die Fische, die, von der Strömung mitgerissen, herunterkollerten, und noch mehr solche, die im Flusse bis dicht an die Schleuse aufwärts geschwommen kamen und durch die Wucht des herabstürzenden Wassers zurückgeschleudert wurden, gerieten in die Reusen hinein. Fortwährend schleppten die Bauern, durchnäßt und vor Kälte zitternd, aber gleichzeitig miteinander Scherzworte und laute Zurufe wechselnd, ihre Beute an das Ufer, und Weiber, alte Männer, Knaben und Mädchen trugen sie in Spankörben und Sieben, manchmal auch einfach im Schoße des Hemdes nach Hause. Nachdem wir uns einige tüchtige Fische ausgesucht hatten, begaben wir uns heim. Meine Mutter war unzufrieden, daß wir uns so verspäteten, und ich erhielt nicht so bald wieder die Erlaubnis, nach der Mühle mitzukommen.

In kurzer Zeit verschwanden alle Anzeichen des Winters; Bäume und Sträucher bedeckten sich mit grünem Laube; das junge Gras sproß, und der Frühling erschien in seiner ganzen Schönheit. Wie früher bevölkerte sich unser Garten mit allerlei kleinen Singvögeln, Blaukehlchen und Grasmücken, die besonders alte Johannisbeer- und Berberitzensträucher lieben; wieder sangen die Nachtigallen, und wieder ahmten die Spottvögel deren Gesang nach. Da ich den vorjährigen Frühling in Gefängnishaft, in einer engen Krankenstube verlebt hatte, so hätte ich, sollte man meinen, den Frühling auf dem Lande mit einem besonderen Wonnegefühl begrüßen müssen; aber ich empfand dauernd einen dumpfen Schmerz im Herzen, und obwohl ich nicht recht verstand, wovon dieser herrührte, so wurden doch nichtsdestoweniger alle meine Vergnügungen, denen ich mich anscheinend wie früher hingab, von einem Gefühle der Trauer vergiftet.

Schon im Winter hatte mein Vater daran gedacht, auf dem Damm eine sogenannte Verschlußschleuse anzulegen und eine gute Mühle zu bauen. Er nahm sich dazu einen Mühleningenieur namens Krasnow an, einen großen Scharlatan und Schwindler, wie es sich in der Folgezeit herausstellte. Während der ganzen Großen Fasten machten unsere Bauern Bauholz zurecht: große und kleine Balken, Latten und Dielen, Schwellen und Pfähle, deren zu irgend welchem Zwecke eine große Menge erforderlich sein sollte, und sogleich nach dem Abflusse des Hochwassers machten sie sich daran, den Damm an einer anderen Stelle aufzureißen und dort eine neue Schleuse zu zimmern; gleichzeitig begannen angenommene Zimmerleute Pfähle einzuschlagen und dann, ebenfalls an einer anderen Stelle, ein gewaltig großes Mühlengebäude zu errichten, in welchem sechs Mahlgänge Platz finden sollten; die Stampfmühle befand sich in einem besonderen Bau. Die Arbeiten dauerten fast den ganzen Sommer. Mein Vater vertraute diesem Krasnow blind. Der alte Müller Boltunenok und einige Bauern, die sich ein wenig auf den Mühlenbau verstanden, lächelten zwar im stillen und schüttelten die Köpfe; aber auf meines Vaters Fragen, was sie von Krasnow hielten, ob er seine Sache verstehe, er habe den ganzen Plan auf dem Papier entworfen und schlage die Pfähle nach dem bloßen Augenmaße ein, und alle ständen am richtigen Platze, antworteten sie immer mit der naiven Schlauheit der Russen: »Ein gewandter Mensch, Väterchen, ein gewandter Mensch! Das muß man sagen, ein Meister in seinem Fache! Alles berechnet er im Kopfe, und alles stimmt, wie es sein muß. Man weiß bloß nicht, wie die Mühle mahlen wird: das Wasser fließt im Graben sehr sachte, gar nicht direkt aus dem Flußlauf, und wie sollte es im Winter nicht durchfrieren?« Aber Krasnow lächelte über die Bemerkungen der Bauern und widerlegte sie mit solchem Selbstvertrauen, daß meinem Vater auch nicht der leiseste Zweifel an dem guten Erfolge in den Sinn kam. Auch ich hörte Krasnows schöne Reden andachtsvoll mit an. Inzwischen verlangte der Bau, daß der Teich abgelassen werde, und in dem Teiche zeigte sich nun eine so schöne Angelgelegenheit, wie ich sie weder vorher noch nach her jemals gesehen habe. Alle Fische im Teiche drängten sich in dem Flußbette zusammen. Die Menge der Fische erinnerte an eine Kasserolle mit guter Fischsuppe. Nun begann ein fabelhaftes Angeln. Ich und Jewsejitsch wichen nicht von dem Teiche, und ich habe in meinem Leben nirgends so viel gefangen; sogar mein Vater, der sonst aus Mangel an Zeit nur sehr selten angelte, konnte jetzt vom Morgen bis zum Abend angeln, weil er den größten Teil des Tages bei der Mühle zubringen mußte, um die verschiedenen Arbeiten zu beaufsichtigen; er hatte jetzt vollständig die Möglichkeit zu angeln, ohne daß er die sämtlichen Bauten aus den Augen zu lassen brauchte; diese konnte er von Zeit zu Zeit inspizieren. Döbel, Karpfen, Schleie, Barsche, Hechte und mächtige Rotaugen (im Gewichte von drei Pfund und mehr) bissen fortwährend und zu jeder Tageszeit. Die Größe der Fische hing von der Größe des Köders ab; wer große Köder auf den Haken steckte, bei dem bissen große Fische. Ich erinnere mich, daß mein Vater, der besonders gern Barsche und Hechte angelte, zwei Haken an eine Schnur band, sie mit kleinen Fischen besteckte und jedesmal zwei Barsche zugleich herauszog und sogar einmal einen Barsch und einen Hecht. Übrigens wurden die Hechte meist mit Hechtangeln gefangen, die mit tüchtigen Barschen und Plötzen besteckt waren, und es kamen dabei nicht selten Hechte im Gewichte von sechzehn Pfund vor. Es versteht sich von selbst, daß trotz der dicken Schnüre und Haken, wenn man sich nicht auf das Angeln verstand und kein Handnetz zu Hilfe nahm, die größten Fische häufig entkamen, indem sie die Angelruten und Haken zerbrachen und die Schnüre zerrissen. Mein Jewsejitsch, der mich auch, als er schon ein alter Mann war, oft durch sein hitziges Wesen beim Angeln zum Lachen brachte, war mehr als andere Leute solchen bedauerlichen Verlusten ausgesetzt, und durch seine Schuld verlor auch ich oft einen tüchtigen Fisch, weil ich ihn ohne seine Hilfe nicht herausziehen konnte, seine Hilfe aber fast immer schädlich war. Der stärkste Fang dauerte vom Frühling bis Mitte Juli; dann hörten die großen Fische auf zu beißen, ich meine damit Karpfen, Döbel und Schleie; alle übrigen aber bissen noch vorzüglich, und wahrscheinlich hätten auch jene gebissen, wenn man damals schon das Ködern mit ganzen, ausgebleichten Krebsen gekannt hätte.

Im Laufe dieses ganzen Jahres korrespondierte meine Mutter allmonatlich mit Wasili Petrowitsch Upadyschewski. In diesem Jahre waren am Kasaner Gymnasium viele Veränderungen erfolgt: der Direktor Peken und der Oberinspektor Kamaschew hatten sich pensionieren lassen; das Direktorat verwaltete der Oberlehrer der russischen Geschichte Ilja Fjodorowitsch Jakowkin und das Amt des Oberinspektors mein Freund Upadyschewski. Nach Rücksprache mit dem neuen Direktor teilte Wasili Petrowitsch meiner Mutter mit, daß ich jetzt, wenn es meinen Eltern recht sei, zwar nicht als Staatsalumnus, wohl aber als zahlender Schüler eintreten und bei einem der Lehrer wohnen könne; es wären zwei vortreffliche junge Männer da: Iwan Ipatowitsch Sapolski und Grigori Iwanowitsch Kartaschewski, beide von der Moskauer Universität; sie hätten gemeinsam ein großes Haus gemietet, in dem sie zusammen wohnten, nähmen Pensionäre auf, sorgten auf das beste für deren leibliches Wohl und seien mit mäßiger Bezahlung zufrieden. Mein Vater und meine Mutter waren über diese Nachricht sehr erfreut, besonders darüber, daß Kamaschew abgegangen war, und obwohl es ihnen sehr schwer fiel, für mich dreihundert Rubel jährlich zu bezahlen und ungefähr zweihundert Rubel jährlich für meine Kleidung, meine Bücher und meinen Hüter auszugeben, so entschlossen sie sich doch im Interesse meiner Bildung dazu, Schulden zu machen; Schulden hatten sie übrigens ohnedies schon zweitausend Rubel (das betrachtete man damals schon als erhebliche Schulden!), und nur in der Erwartung, daß ihnen von Nadeschda Iwanowna Kurojedowa etwas zufallen werde, wagten sie es, ein neues Darlehen aufzunehmen. Der Unterrichtskursus begann am Gymnasium am 15. August, die Aufnahme am 1. August. So wurde also beschlossen, Ende Juli nach Kasan zu fahren. Diesen Beschluß nahm ich beinahe ruhig auf, da mein innerer Seelenzustand immer bedrückter und krankhafter wurde. Aber als die Vorbereitungen beendet, der Tag der Abreise festgesetzt war, da wurde mir der Abschied von Aksakowo so schwer, daß auf einmal alles, was dort war, in meinen Augen den früheren Reiz und Wert wiedergewann; ja vielleicht einen noch größeren. Es schien mir, daß ich es niemals wiedersehen würde, und ich nahm daher Abschied von jedem Gebäude, von jedem Platze, von jedem Baume und Strauche, und es ging dabei nicht ohne Tränen ab. Ich verschenkte alle meine Reichtümer: meine Tauben gab ich unserm Koch Stepan und seinem Sohne; meine Katze bekam Sergejewna, die Frau unseres blinden Anwalts Pantelei Grigorjewitsch, eines außerordentlich geschäftstüchtigen Mannes und guten Gesetzkundigen; mein Angelgerät und meine Fallen verteilte ich unter die Hofjungen, und meine Lesebücher, getrockneten Blumen, Bilder und dergleichen gab ich meiner Schwester, mit der ich in diesem Jahre so befreundet geworden war, wie es ein elfjähriger Bruder mit einer neunjährigen Schwester nur sein kann. Die Trennung von ihr war für mich sehr schmerzlich, und ich bat meine Mutter, die Schwester mit auf die Reise zu nehmen. Meine Mutter wollte anfangs auf meine Bitten nicht eingehen, gab aber schließlich doch nach.

Ich muß erwähnen, daß eine Woche vor unserer Abreise die neue Mühle in Gang gesetzt wurde. O weh, die Zweifel Boltunenoks und der anderen erwiesen sich als begründet: das Wasser floß in dem bogenförmigen Graben zu sachte und setzte die sechs Mahlgänge nicht in Bewegung; selbst bei zwei Mahlgängen mahlte es viel langsamer als früher. Mein Vater, der sich in seinem Vertrauen auf Krasnows Sachkunde arg getäuscht sah, jagte ihn weg und beauftragte den alten Müller, die Sache wenigstens einigermaßen wieder in Ordnung zu bringen.

Endlich, am 26. Juli, hielt an der Freitreppe jene selbe geräumige Kutsche, mit denselben sechs Pferden bespannt, mit demselben Kutscher und demselben Vorreiter; derselbe Schwarm von Gutsleuten und Bauern versammelte sich, um der Herrschaft Lebewohl zu sagen; mein Vater und meine Mutter, ich und meine Schwester sowie Parascha nahmen im Wagen Platz, Jewsejitsch setzte sich auf den Bock, Fjodor auf das hintere Trittbrett, und langsam fuhr der Wagen von der Freitreppe weg, auf welcher meine Tante Jewgenja Stepanowna, die Kinderfrau mit meinem Bruder und die Amme mit meiner kleinen Schwester auf dem Arme standen. Der Haufe der Bauern und Gutsleute gab uns das Geleite bis zur Einfriedigung, indem er uns mit Abschiedsgrüßen und Segenswünschen überschüttete. Der Weg ging bis Krutez am Teiche entlang, wo schon ein Schwarm weißer und bunter Möwen kreiste. Wie beneidete ich jeden Dorfjungen, der nirgendshin wegzufahren, von niemand und nichts Abschied zu nehmen brauchte, der zu Hause blieb und sich jetzt mit seiner Angel irgendwo auf dem Damm im dichten Schatten einer Erle hinsetzen und sorglos Barsche und Plötze fangen konnte! Er blieb als völliger, ruhiger Besitzer des weiten Teiches zurück, der in diesem Jahre nicht mit Schilf und Gras verwachsen war, weil er vom Frühjahr an lange abgelassen gewesen war. Die Pferde, die lange im Stalle gestanden hatten, schnaubten und wurden hitzig; aber die starken, geübten Hände des Kutschers hielten sie zurück und zwangen sie, längere Zeit im Schritt zu gehen. Im Wagen schienen alle traurig zu sein und schwiegen. Ich steckte den Kopf aus dem Fenster und sah nach meinem lieben Aksakowo zurück, bis es meinen Augen verdeckt wurde, und stille Tränen strömten über meine Backen.


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