Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V. Das Leben in Ufa

In den ersten Augenblicken empfand Sofja Nikolajewna nur den Schmerz der Trennung vom Schwiegervater; sie konnte nur an den guten Alten denken, der sie so herzlich liebgewonnen hatte, und den nun ihre Abreise betrübte; doch bald brachten das gleichmäßige Schaukeln des Wagens, die lustig am Fenster vorbeieilenden Felder und Wäldchen, der schattige Bergrücken, neben dem nun der Weg sich hinzog, eine beruhigende Wirkung hervor, und Sofja Nikolajewna empfand eine lebhafte Freude bei dem Gedanken, daß sie nun Bagrowo nicht mehr sehen werde. Diese Freude steigerte sich bald bis zu einem solchen Grade, daß es der jungen Frau unmöglich wurde, sie ganz zu verbergen, wenn sie auch einsah, daß ein solches Gefühl ihren Mann unangenehm berühren müsse. Alexei Stepanowitsch, so schien es ihr, war trauriger als billig. Vielleicht hätte das zu Erörterungen Gelegenheit gegeben; glücklicherweise wurde es durch Paraschas Gegenwart verhindert. Schnell rollte die Kutsche durch Noikino hindurch, von den freudigen Zurufen der begegnenden Mordwinen begleitet, über die schlechte Brücke hinüber, die die Ufer des Nasjagai beim Einfluß der Bokla verbindet, eilte an Polibino vorüber, und zum zweiten Male über den Nasjagai sehend, gelangte sie nach Korowino, wo die bestellten Pferde der Reisenden harrten. Die Pferde aus Bagrowo mußten gefüttert und am anderen Tage in aller Frühe nach Hause gebracht werden. Sofja Nikolajewna hatte Schreibzeug mitgenommen und schrieb an Schwiegervater und Schwiegermutter einen warmen, dankbaren Brief, der sich freilich der Absicht nach nur auf Stepan Michailowitsch bezog. Dieser verstand es sehr wohl und verwahrte den Brief in einem geheimen Schublädchen seines kleinen Schreibtisches, wo ihn niemand sah, und wo ihn Sofja Nikolajewna acht Jahre später, nach seinem Tode, zufällig wiederfand.

Man hatte die frischen Pferde angespannt, und unsere Reisenden fuhren weiter, nachdem sie von Kutscher und Vorreiter Abschied genommen; letztere Rolle hatte diesmal der langbeinige Tanaitschenok gespielt. Das Schicksal schien Sofja Nikolajewna ganz besonders begünstigen zu wollen: es war unmöglich, den Erlykins die beabsichtigte Visite zu machen. Die Brücke über einen tiefen Fluß, den man passieren mußte, um zu ihrem Gute abzubiegen, war nämlich zusammengestürzt. Auf die Herstellung derselben zu warten, hätte zu viel Zett geraubt, und die Neuvermählten beschlossen, direkt nach Ufa zu reisen. Welche peinlichen und langweiligen Stunden waren auf diese Weise der jungen Frau erspart! Je mehr man sich Ufa näherte, desto lebhafter erwachte in Sofja Nikolajewna die zärtliche, glühende Tochterliebe. Der kranke Vater, der sie schon länger als zwei Wochen hatte entbehren müssen, der sich nach ihr sehnte, nur von nachlässiger Dienerschaft umgeben, erfüllte ganz ihre lebhafte Phantasie. Die Überfahrt über die Bjelaja auf einer schlechten Fähre, die unsere Reisenden mehr als eine Stunde aufhielt, das ebenfalls sehr langsame Hinauffahren auf das steile Bergufer, das alles spannte Sofja Nikolajewnas Nerven aufs höchste an und reizte ihr ungeduldiges Gemüt; endlich zu Hause angekommen, eilte sie mit fieberhafter Angst nach dem Zimmer ihres Vaters und öffnete leise die Tür. Der Alte lag wie gewöhnlich da, und an seinem Bette saß, auf dem Sessel, den Sofja Nikolajewna immer eingenommen hatte, sein Diener, der Kalmücke Nikolai.

Doch von diesem Kalmücken muß ich ausführlich erzählen. In jenen Zeiten war es in der Statthalterschaft Ufa etwas ganz Gewöhnliches, kleine Kalmücken und Kirgisen beiderlei Geschlechts ihren Eltern oder Verwandten abzukaufen; und die so gekauften Kinder wurden zu Leibeigenen der Käufer. Etwa dreißig Jahre vor den von uns erzählten Begebenheiten hatte Nikolai Fjodorowitsch zwei kleine Kalmücken gekauft und laufen lassen, hatte sie liebgewonnen und verwöhnt; als sie heranwuchsen, wurden sie im Lesen und Schreiben unterrichtet und als Leibdiener bei dem alten Herrn angestellt. Beide waren gescheit, gewandt und, wie es schien, voll Diensteifer. Als aber der Pugatschewsche Aufruhr ausbrach, flohen sie zu den Rebellen. Einer von ihnen fand bald den Tod, der andere, Nikolai genannt, früher der Liebling seines Herrn, wurde nun der Liebling des bekannten Aufwieglers Tschika, der in großer Gunst bei Pugatschew stand. Wie bekannt, lagerte ein Haufen aufwieglerischen Gesindels lange Zeit dicht bei Ufa, auf dem anderen Ufer der Bjelaja. Darunter war auch der Kalmücke Nikolai, der bereits eine ziemlich hohe Stellung einnahm. Man erzählte, er habe am meisten in der Umgegend gewütet und immer besonders seinem Herrn und Erzieher Subin gedroht. Es geht die Sage, daß jedesmal, wenn die Rebellen sich anschickten, über die Bjelaja zu setzen, um die wehrlose Stadt einzunehmen, es ihnen vorgekommen sei, als besetze eine große Menge von Truppen das gegenüberliegende steile Ufer, an ihrer Spitze ein Greis auf schneeweißem Rosse reitend, eine Lanze in der Rechten, ein Kreuz in der Linken. Und jedesmal ließen die furchtsamen Vagabundenscharen von ihrem Vorhaben ab, und mitten in ihrem Zögern überraschte sie die Nachricht von der Gefangennahme Pugatschews. Natürlich zerstreute sich der lose Haufen sogleich. Der Pugatschewsche Aufruhr war bezwungen. Das auseinanderfliehende Gesindel wurde zum Teil eingefangen und gerichtet; auch der Kalmücke Nikolai wurde verhaftet und zum Strange verurteilt. Ich bürge nicht für die Wahrheit der Angabe, doch hat man mir versichert, der Kalmücke Nikolai, der in Ufa verurteilt worden war, habe schon den Strick um den Hals gehabt, als Subin, das den Gutsherren verliehene Recht ausübend, seinem früheren Liebling Gnade verkündigte und ihn auf eigene Bürgschaft und Verantwortung wieder in sein Haus nahm. Der Kalmücke schien seine Missetaten zu bereuen und suchte sie durch die eifrigste Dienstfertigkeit wieder gutzumachen. Allmählich wußte er sich aufs neue in das Vertrauen seines Herrn einzuschmeicheln, und als Sofja Nikolajewna nach dem Tode ihrer Stiefmutter die Leitung des Hauses übernahm, fand sie den Kalmücken bereits an der Spitze der Dienerschaft und als den Liebling des Vaters vor, wohl mit aus dem Grunde, weil er bei der Verstorbenen in besonderer Gunst gestanden hatte. Der Kalmücke Nikolai, der dem Fräulein während ihrer Erniedrigung viele Beleidigungen zugefügt hatte, verstand bei seiner Schlauheit sehr wohl die nunmehrige Lage der Dinge und spielte mit Geschick den reuigen Sünder, indem er alle Schuld auf die verstorbene Stiefmutter wälzte und sich nur der Ausführung ihrer strengen Befehle beschuldigte. Die großmütige vierzehnjährige Herrin, der es damals nur ein Wort gekostet hätte, um den Kalmücken für immer aus dem Hause zu entfernen, glaubte an die Aufrichtigkeit seiner Reue und bat selbst ihren Vater, ihm seine Stellung im Hause zu belassen. In der Folge war sie mit ihm vielfach unzufrieden wegen seines eigenwilligen Handelns und der zweideutigen Art, in der er mit dem ihm anvertrauten Gelde umging; sie merkte sogar, daß er insgeheim dem Vater näher stehe, als sie es gewünscht hätte; aber in Anbetracht der eifrigen Pflege, die er seinem kranken Herrn widmete (in dessen Zimmer er immer schlief), und der vortrefflichen Weise, in welcher er seine Funktionen als Aufseher der Dienerschaft erfüllte, begnügte sie sich mit milden Verweisen und ließ den Kalmücken in seiner Stellung immer festeren Fuß fassen. Als Sofja Nikolajewna Braut wurde, mußte sie selbst für ihre Aussteuer sorgen, mußte viel Zeit mit ihrem Bräutigam zubringen, konnte folglich weniger bei ihrem Vater verweilen und sich nur oberflächlich um den Haushalt kümmern. Der Kalmücke wußte die günstigen Umstände zu benutzen und gewann täglich mehr Einfluß auf den kranken Greis. In der Hoffnung, die Herrin bald los zu sein und selbst Herr im Hause zu werden, wurde er immer frecher und suchte seine Macht nicht mehr zu verbergen. Sofja Nikolajewna wußte zwar in solchen Fällen ihn durch ein strenges Wort an seine Stellung zu erinnern; jedoch mußte sie zu ihrem Leidwesen bemerken, daß ihr Vater sich immer mehr an den Kalmücken gewöhnte und sich seinem Einflusse unterwarf. Die letzten Tage vor und die ersten Tage nach der Hochzeit und nun gar die zweiwöchige Abwesenheit des jungen Ehepaares hatten dem Kalmücken reichliche Gelegenheit gegeben, völlige Macht über den schon halbtoten Herrn zu erlangen, und der erste Blick auf den im Sessel sitzenden Lakaien (was früher nie der Fall gewesen war) unterrichtete Sofja Nikolajewna von dem nunmehrigen Stande der Dinge. Sie warf dem Günstling einen solchen Blick zu, daß dieser in Verlegenheit geriet und aus dem Zimmer schlich. Der Alte zeigte beim Anblicke seiner Tochter bei weitem nicht die Freude, die diese erwartet hatte, und beeilte sich, ihr zu versichern, daß er selbst manchmal den Kalmücken nötige, sich neben ihn auf den Lehnstuhl zu setzen. Sofja Nikolajewna erwiderte nur: »Sie tun unrecht, Vater; Sie werden ihn verwöhnen und dann genötigt sein, ihn aus dem Hause zu jagen. Ich kenne ihn besser als Sie,« und eilte, das leidige Gespräch abzubrechen, indem sie ihre innige Freude über den nicht verschlimmerten Zustand des Kranken aussprach. Auch Alexei Stepanowitsch trat ins Zimmer, und der Alte, tief gerührt von der herzlichen Zärtlichkeit seiner Tochter, von der freundlichen Teilnahme des Schwiegersohns, von der gegenseitigen Liebe beider, hörte gerührt ihre Erzählungen an und dankte Gott für ihr Glück. Sofja Nikolajewna ging lebhaft an die Einrichtung ihres nunmehrigen Lebens, wählte sich im Hause drei beiseite liegende Zimmer und richtete in einigen Tagen alles so ein, daß sie Gäste empfangen konnte, ohne daß das Geräusch bis zum Kranken drang. Sie wollte, wie früher, das Regiment im Hause und die Pflege ihres Vaters übernehmen und den Kalmücken auf seine frühere untergeordnete Stellung zurückdrängen; doch dieser, der sie immer gehaßt hatte, fühlte sich bereits stark genug, um einen offenen Kampf mit seiner jungen Herrin zu unternehmen. Seine Aufmerksamkeiten gegen den alten Subin verdoppelnd, verstand er es zugleich mit unglaublicher Gewandtheit, dessen Tochter bei jedem Schritte zu beleidigen, und noch mehr ihren anspruchslosen Gemahl. Gegen letzteren betrug er sich so frech, daß Alexei Stepanowitsch bei all seiner Langmut und Nachgiebigkeit die Geduld verlor und zu seiner Frau sagte, daß ein solcher Zustand nicht auszuhalten sei. Eine Zeitlang schonte Sofja Nikolajewna den kranken Vater und bemühte sich, durch ihren persönlichen Einfluß Nikolai in den Grenzen des Anstandes zu halten. Sie rechnete auf seine Klugheit, auch darauf, daß er ihren festen Charakter kannte und wohl nicht versuchen würde, sie aufs äußerste zu treiben; doch der böse Asiate (wie ihn alle im Hause nannten) war im voraus des Sieges sicher und reizte Sofja Nikolajewna mit Absicht zu einer zornigen Aufwallung auf. Es war ihm schon längst gelungen, den Alten zu überzeugen, daß die junge Herrin ihn, den treuen Kalmücken, nicht leiden könne und beabsichtige, ihn aus dem Hause zu jagen. Bei solchen Reden geriet der Kranke in Angst und schwur hoch und teuer, daß er lieber sterben als sich von ihm trennen wolle. Sofja Nikolajewna versuchte in dem gemäßigtsten Tone ihrem Vater klarzumachen, daß der Kalmücke sich ihr und ihrem Manne gegenüber vergesse und alle ihre Befehle so schlecht erfülle, daß sie darin die böse Absicht sehen müsse, sie zu reizen. Nikolai Fjodorowitsch geriet bei solchen Äußerungen in Aufregung, wollte nichts hören, sagte, daß er mit dem Kalmücken vollkommen zufrieden sei, und bat sie, diesen in Ruhe zu lassen und die Erfüllung ihrer Befehle anderen Dienern anzuvertrauen. Der heißblütigen jungen Frau kostete es viele und schwere Anstrengungen, sich im väterlichen Hause, wo sie gewohnt war, unumschränkt zu herrschen, dem Willen eines »niederträchtigen Sklaven« zu fügen. Doch liebte sie ihren Vater so zärtlich, es war ihr ein so inniges Bedürfnis, um ihn zu sein, ihn zu pflegen und seine Leiden nach Möglichkeit zu lindern, daß es ihr lange nicht in den Sinn kam, das Haus zu verlassen und den Vater auf diese Weise gänzlich dem Einflusse des schändlichen Kalmücken und der übrigen Dienerschaft preiszugeben. Sie bezwang ihren Zorn, ihren beleidigten Stolz; sie übergab von nun an ihre Befehle einem anderen Diener, mußte aber sehen, wie der Kalmücke immer willkürlich in deren Erfüllung eingriff. Sie hatte ihren Vater ersucht, dem Kalmücken zu verbieten, in das Krankenzimmer zu treten, wenn sie bei ihm sei; doch wurde dieses Verbot bald übertreten. Nikolai fand immer neue Vorwände, um sich in das Zimmer des Alten zu schleichen; auch gab der Kranke selbst dazu Anlaß, der seiner jeden Augenblick bedurfte. Dieser peinliche Zustand zog sich einige Monate lang so hin.

Ihr Leben der Ufaer Gesellschaft gegenüber hatte Sofja Nikolajewna ihren Wünschen gemäß eingerichtet; mit den Leuten, die sie gern hatte, kam sie öfters zusammen, indem sie diese bald bei sich empfing, bald sie besuchte. Mit den übrigen unterhielt sie nur ein äußerliches, formelles Verhältnis. Alexei Stepanowitsch halten schon früher alle in Ufa gekannt; nun aber traten ihm die Freunde Sofja Nikolajewnas näher, lernten seine guten Eigenschaften schätzen, und es wurde ihm ganz wohl in seiner neuen Stellung, d. h. in dem auserwählten Gesellschaftskreise seiner Frau.

Unterdessen hatte Sofja Nikolajewna, kurz nach ihrer Rückkehr aus Bagrowo, ein Unwohlsein besonderer Art gefühlt, und die Nachricht davon hatte Stepan Michailowitsch mit der größten Freude erfüllt. Die Fortpflanzung des alten Geschlechts der Bagrows, der Nachkommen des berühmten Schimon Ein sagenhafter Waräger. (Anmerkung des Übersetzers H. R.), war immer der Gegenstand seines Sinnens und Trachtens gewesen und machte ihm insgeheim viele Sorge. Als er die erwünschte Nachricht vom Sohne erhalten hatte, ergab sich Stepan Michailowitsch der freudigen Hoffnung, ja der Überzeugung, daß er einen Enkel bekommen werde. Die Familie erzählte in der Folge, er sei in dieser Zeit bei ganz besonders guter Laune gewesen. Er ließ sogleich in der Kirche ein Gebet verrichten »für die Gesundheit der Edelfrau Sofja«. Den Bauern und den Nachbarn wurden manche Schulden erlassen. Alle mußten ihm ihre Glückwünsche darbringen und bekamen dabei tüchtig zu trinken. Mitten in dieser freudigen Aufregung geriet er auf den Gedanken, seine Tee- und Kaffeeschenkin Aksiutka zu belohnen, die er, der Himmel weiß warum, immer mit besonderer Huld behandelt hatte. Aksiutka war ein verwaistes Bauernkind, und man hatte sie In ihrem siebenten Jahre unter das Hausgesinde aufgenommen, einzig und allein, weil sie nirgends ein Unterkommen fand. Sie war ausnehmend häßlich, rothaarig, das Gesicht voll Sommersprossen, mit Augen von unbestimmter Farbe, dazu unordentlich in ihrem Anzuge und von bösem Charakter. Wodurch konnte eine solche Person anziehen? Und doch hatte Stepan Michailowitsch sie ganz besonders liebgewonnen, und kein Mittagessen verging, ohne daß er seiner Aksiutka etwas vom herrschaftlichen Tische geschickt hätte. Als sie ein erwachsenes Mädchen geworden war, befahl ihr Stepan Michailowitsch, ihm morgens den Tee einzuschenken, und bei dieser Gelegenheit unterhielt er sich stundenlang mit ihr. Jetzt war aber Aksiutka stark in den Dreißigen. Eines Morgens, ein paar Tage nach der freudigen Nachricht aus Ufa, sagte Stepan Michailowitsch zu ihr: »Du dummes Ding, warum gehst du immer in diesem garstigen Kittel umher? Geh, putze dich ordentlich, ziehe deine Festkleider an; ich will dir einen Mann geben.« Aksiutka zeigte grinsend die Zähne und erwiderte in der Meinung, daß der Herr sie zum besten habe: »Wer wird mich arme Waise nehmen wollen? Höchstens der Hirt Kirsanka!« Der Hirt war bekannt wegen seiner Häßlichkeit und Dummheit. Diese Antwort schien Stepan Michailowitsch zu reizen. »Wenn ich dir einen Bräutigam aussuche, wirst du den besten Burschen zum Manne bekommen, der zu haben ist; geh nur und putze dich und sei gleich wieder hier!« In freudigem Staunen entfernte sich Aksiutka, und Stepan Michailowitsch ließ Iwan Malysch zu sich rufen; einigermaßen ist dieser uns schon bekannt. Er war ein vierundzwanzigjähriger, rotbäckiger Bursche, schlank und kräftig von Gestalt, in allen Stücken eine schmucke Figur. Er war ein Sohn des alten treuen Dieners Boris Petrow Chorew, der während des Pugatschewschen Aufstandes gestorben war, wie alle meinten, vor Sorge um die Bauern von Neu-Bagrowo, die in Abwesenheit der nach Astrachan geflohenen Herrschaft seiner Leitung anvertraut waren. Iwan führte den Beinamen Malysch Malysch heißt der Kleine. (Anmerkung des Übersetzers S. R.), weil er einen älteren Bruder hatte, ebenfalls Iwan genannt, der den Spitznamen seines Vaters, Chorew d. h. Iltis. (Anmerkung des Übersetzers H. R.), führte. Iwan Malysch erschien sogleich vor seinem Herrn. Stepan Michailowitsch sah ihn an, hatte sein Wohlgefallen an seinem schmucken Äußeren und sagte mit so huldreicher und freundlicher Stimme, daß dem Malysch vor Freude das Herz pochte: »Malysch, ich will dich verheiraten.« – »Ihr herrschaftlicher Wille geschehe, Väterchen Stepan Michailowitsch!« erwiderte der mit Leib und Seele seinem Herrn ergebene Diener. – »Geh also, putze dich und komm wieder zu mir, aber im Nu!« Malysch sprang hinweg, um den Befehl zu erfüllen. Aksiutka war übrigens zuerst fertig; sie hatte ihre roten Haare geglättet und mit Butter eingeschmiert, hatte ihren Sonntagsrock und ihr Sonntagsmieder angezogen, ihre Füße in Schuhe gezwängt, war aber dadurch nicht hübscher geworden! Sie konnte sich nicht enthalten, den Mund immerwährend zu einem freudigen Lächeln zu verziehen; da sie sich aber dessen schämte, hielt sie die Hand vors Gesicht. Stepan Michailowitsch lachte. »Ja, wie die sich freut, daß sie einen Mann kriegt!« sagte er. Flink kam Malysch herbeigelaufen, und es überlief ihn kalt, als er die geputzte Eule Aksiutka erblickte. »Da ist deine Braut,« sagte Stepan Michailowitsch heiter; »sie dient mir treu; dein Vater hat mir treu gedient: ich werde euch nicht verlassen!« – »Arischa,« sagte er zu seiner eben herantretenden Frau, »der Braut wird aus herrschaftlichem Gute eine Aussteuer verfertigt; sie bekommt auch eine Kuh, und die Hochzeit wird mit herrschaftlichem Bier, Branntwein und Essen gefeiert.« Es gab keinen Widerspruch. Die Hochzeit wurde gefeiert. Aksiutka verliebte sich bis zur Tollheit in ihren schönen Mann; aber Malysch bekam einen ordentlichen Haß auf seine abstoßende Frau, die zehn Jahre älter war als er. Aksiutka verfolgte ihren Mann vom Morgen bis zum Abend mit ihrer Eifersucht, und nicht ohne Grund; Malysch aber prügelte seine Frau von früh bis spät, ebenfalls nicht ohne Grund, da nur der Stock, und auch dieser nur auf kurze Zeit, ihren bösen Reden Einhalt tun konnte. Leider, leider hatte Stepan Michailowitsch einen Mißgriff getan und in der Freude seines Herzens anderen viel Unheil bereitet.

Ich schließe auf diese seine hohe Freude nicht sowohl aus den Erzählungen der Seinigen als aus einem damals geschriebenen Briefe an Sofja Nikolajewna, den ich selbst gelesen habe. Es ist kaum zu glauben, daß dieser rauhe Mensch, der übrigens, wie wir gesehen haben, fähig war, stark und tief zu lieben, seinen Gefühlen einen so anmutigen Ausdruck zu verleihen vermochte; der ganze Brief atmete die zärtlichste Sorgsamkeit und war voll von Bitten und Ermahnungen, daß sie ja ihre Gesundheit schonen möge. Leider kann ich mich nur einiger Worte aus diesem Briefe entsinnen: »Wenn du bei mir wärest,« schrieb der Alte unter anderm, »so würde ich keinem Winde gestatten, dich anzuwehen, keinem Stäubchen, sich auf dich zu setzen.«

Sofja Nikolajewna verstand die Liebe des Schwiegervaters zu würdigen, obgleich sie sehr wohl einsah, daß die Hälfte dieser Liebe dem künftigen Erben galt, und versprach, alle seine Bitten und Vorschriften genau zu erfüllen. Jedoch fiel es ihr schwer, das Versprechen zu halten. Sie gehörte zu den Frauen, die das Glück, Mutter zu werden, mit einem peinlichen Unwohlsein bezahlen, das quälender ist als jede Krankheit; außerdem litt sie moralisch: ihr Verhältnis zu ihrem Vater wurde mit jedem Tage gespannter, die Frechheit des Kalmücken unerträglicher. Alexei Stepanowitsch dagegen hatte unterdessen eingesehen, daß in dem Zustande seiner Frau nichts Gefährliches liege, und von allen gehört, daß es etwas ganz Gewöhnliches, Unbedeutendes sei und bald vergehen müsse. Er bedauerte daher zwar, daß seine Frau so leidend war, machte sich aber darüber nicht viele Sorgen; und dies trug auch dazu bei, Sofja Nikolajewna zu kränken. Was sein Leben bei seinem Schwiegervater betrifft, so hatte er sich daran gewöhnt; er vermied alle Begegnungen mit dem Kalmücken, ging eifrig seinen Amtspflichten beim Oberlandesgerichte nach, wo er bald zum Staatsanwalt befördert zu werden hoffte, und wartete ruhig ab, daß sich die Verhältnisse im Hause besser gestalteten; auch das wollte seiner Frau nicht gefallen. So zog sich dieser Zustand einige Monate hin, auf eine für alle wenig erfreuliche Weise.

Doch der Kalmücke beruhigte sich nicht bei einer solchen Lage der Dinge; er drängte zu einer Entscheidung. Weil er sah, daß Sofja Nikolajewna ihre gerechte Entrüstung geflissentlich zurückhielt, beschloß er, ihre Geduld zu erschöpfen. Er wünschte, daß sie in Zorn geriete und sich mit Klagen an den Vater wendete, dem er schon längst eingeflüstert hatte, er erwarte täglich, daß Sofja Nikolajewna ihn verklagen und seine Entfernung aus dem Hause fordern werde. Ohne auf einen besonderen Anlaß zu warten, erlaubte sich der Kalmücke eines Tages in Gegenwart der Dienerschaft, nur ein paar Schritte weit von seiner jungen Herrin, die bei geöffneter Tür im anstoßenden Zimmer stand, ganz laut und ihr ins Gesicht in solchen Worten von ihr und von ihrem Manne zu sprechen, daß Sofja Nikolajewna anfangs durch diese Frechheit ganz aus der Fassung gebracht wurde; bald aber kam sie zur Besinnung, und ohne zu dem Kalmücken auch nur ein Wort zu sagen, eilte sie in das Zimmer ihres Vaters und berichtete ihm, beinahe atemlos vor Entrüstung, wie sein Liebling sich eben betragen habe. Der Kalmücke folgte ihr auf dem Fuße, und die kläglichsten Gesichter schneidend und sich nach dem Heiligenbilde hin bekreuzend, unterbrach er sie durch die Beteuerungen, daß alles Verleumdung sei, daß er nie etwas Derartiges gesagt habe, und daß Sofja Nikolajewna eine schwere Sünde begehe, indem sie einen armen Menschen zu verderben trachte! »Hörst du, Sonitschka, was er sagt?« erwiderte der Kranke mit aufgeregter Stimme. Sofja Nikolajewna, bis in die Tiefen ihrer Seele gekränkt, vergaß ihren großmütigen Entschluß, vergaß, daß der Schreck ihrem Vater schaden könne, und erhob mit solcher Vehemenz die Stimme gegen seinen Liebling, daß dieser das Zimmer verlassen mußte. Darauf sagte sie dem Alten: »Nach einer solchen Beleidigung, Vater, kann ich nicht in einem Hause mit dem Kalmücken bleiben. Wählen Sie, wen Sie vertreiben wollen, ihn oder mich!« und wie wahnsinnig stürzte sie aus dem Gemache. Der Kranke fiel in Ohnmacht; der Kalmücke eilte, ihm zu helfen. Als er sich nach Anwendung der in solchen Fällen gebräuchlichen medizinischen Mittel erholt hatte, unterhielt er sich lange mit seinem Lieblinge und ließ endlich die Tochter zu sich rufen. »Sonitschka,« sagte er mit aller Ruhe und Festigkeit, deren er fähig war, »ich kann in meinem unglücklichen Zustande mich nicht von Nikolai trennen. Mein Leben hängt an seiner Pflege. Da ist Geld, kaufe das Weselowskische Haus!« Sofja Nikolajewna sank bewußtlos zusammen, und man mußte sie auf ihr Zimmer tragen.

Einen solchen Ausgang also sollte diese beiderseits so zärtliche Liebe zwischen Vater und Tochter nehmen! Diese Liebe, die unerschütterlich befestigt schien durch die von der Stiefmutter angestiftete Entfremdung, durch die Reue und Dankbarkeit des schuldigen Vaters, durch die glühende, grenzenlose Hingebung der schuldlosen Tochter, die alle erlittenen Beleidigungen vergessen hatte, der Tochter, die sich ganz dem kranken Greise gewidmet hatte, die auch bei der Wahl ihres Gatten darauf bedacht gewesen war, sich nicht von dem Vater zu trennen! Und in welchem Augenblicke sollte sie diesen verlassen! Gerade jetzt, da die Ärzte nicht dafür standen, daß er noch einen Monat am Leben bleiben könne! Die Ärzte täuschten sich jedoch in ihrer Prophezeiung, wie es noch heutzutage oft geschieht. Der Kranke blieb noch länger als ein Jahr am Leben.

Als Sofja Nikolajewna zu sich kam und das blasse, erschrockene Gesicht ihres Alexei Stepanowitsch erblickte, fühlte sie, daß es noch in der Welt ein ihr grenzenlos ergebenes Wesen gebe. Sie umarmte ihren betrübten Gemahl, und Tränenströme erleichterten ihr Herz. Sie erzählte ihm das eben Vorgefallene; die Erzählung erneuerte die Bitterkeit der erlittenen Kränkung, machte die Hoffnungslosigkeit der Lage noch deutlicher, und sie wäre gewiß in Verzweiflung verfallen, hätte sie nicht ihr guter Mann aufrechterhalten, der, schwach an Charakter und an Geist ihr bei weitem nachstehend, doch dafür den Vorzug besaß, nie in Extreme zu verfallen und in schweren Augenblicken nicht die Geistesgegenwart zu verlieren. Es kann sonderbar scheinen, daß es Alexei Stepanowitsch war, der seiner Gattin Mut und Fassung einflößte; aber diese bedeutende Frau hatte bei all ihrem Geist und ihrer scheinbaren Charakterstärke die unglückliche Eigenheit, unter unerwarteten Schlägen, die ihr sittliches Gefühl trafen, machtlos zusammenzusinken. Als unparteiischer Aufzeichner mündlicher Mitteilungen muß ich hinzufügen, daß sie außerdem gegen das Urteil der Welt allzu empfindlich war und sich ihm zu sehr fügte, während sie doch viel höher stand als der Kreis, in dem sie sich bewegte. Der Gedanke daran, was die Ufaer Gesellschaft dazu sagen werde, insbesondere aber die vornehmen Damen, ferner, was die Familie ihres Mannes denken und vor allem, was der Schwiegervater dazu sagen werde, daß sie den sterbenden Vater verlasse, dieser Gedanke folterte ihr stolzes Gemüt und quälte sie beinahe ebenso stark wie das Gefühl ihrer gekränkten Tochterliebe. Sie fürchtete in gleichem Grade, daß man ihren Vater der Undankbarkeit gegen seine Tochter beschuldigen, wie daß man sie der Lieblosigkeit gegen den sterbenden Vater anklagen werde. Es war nicht zu umgehen: in der einen oder der anderen Weise mußten die Leute die Sache auffassen und einen von beiden Teilen für schuldig ansehen. Ein tiefes Mitleid, mit Staunen vermischt, empfand Alexei Stepanowitsch beim Anblick solcher Qualen! Es war eine schwere Aufgabe, an Sofja Nikolajewna mit beruhigenden, tröstenden Worten heranzutreten. Ihre lebhafte Einbildungskraft stellte ihr schreckliche Bilder vor Augen, und in lebhafter, sprudelnder Rede malte sie diese Bilder hin. Sie vernichtete zum voraus alle möglichen Auswege aus ihrer traurigen Lage; sie wollte von der Möglichkeit, sich in diese Lage hineinzufinden, nichts wissen. Doch die Liebe und die Einfalt des Gemütes, welcher letzteren Sofja Nikolajewna ermangelte, gaben dem guten Alexei Stepanowitsch ein, was er zu tun habe, und nachdem er den ersten unaufhaltsamen Ausbruch der leidenschaftlichen Klage abgewartet hatte, begann er, seiner Frau in schlichten, aber herzlichen Worten zuzureden, und allmählich kam sie, wenn nicht zur Ruhe, so doch wenigstens zu einer klaren Besinnung. Er sagte ihr, daß sie bis dahin ihre Pflicht als liebende Tochter gewissenhaft erfüllt habe; daß nun dieselbe Pflicht fordere, daß sie sich dem Willen des kranken Vaters füge; daß Nikolai Fjodorowitsch wahrscheinlich schon längst gewünscht und beschlossen habe, daß sie in einem besonderen Hause wohnen möchten; daß es ihm, dem Kranken, dem Sterbenden, freilich schwer gefallen sein würde, sich von dem Kalmücken zu trennen und dessen eifrige, gewandte Pflege zu entbehren; daß man dem Vater Stepan Michailowitsch die ganze Wahrheit eröffnen müsse; den Bekannten könne man sagen, es sei immer Nikolai Fjodorowitschs Wunsch gewesen, seine Tochter und seinen Schwiegersohn noch bei seinen Lebzeiten mit einem eigenen Haushalt versehen zu wissen; Sofja Nikolajewna könne zweimal täglich ihren Vater besuchen und ihn fast ebenso pflegen wie früher; in der Stadt werde man gewiß mit der Zeit die Wahrheit erfahren, da ohne Zweifel bereits einiges davon verlautbart habe; man werde die Schuld dem Kalmücken beimessen und sie selbst bedauern. »Übrigens,« fügte er hinzu, »vielleicht hat dein Vater es nur in der Aufregung geäußert und wird sich am Ende doch nicht von dir trennen wollen; sprich noch einmal mit ihm und teile ihm deine Bedenken mit!« Sofja Nikolajewna erwiderte nichts und schwieg lange, einen fragenden, staunenden Blick auf ihren Mann heftend; sie fühlte sich erfrischt und erquickt von der Einfalt und Wahrhaftigkeit, die in diesen anspruchslosen Worten atmete, und das in einem Grade, daß dieselben ihr neu und weise erschienen. Sie wunderte sich, daß ihr selbst das alles nicht früher in den Sinn gekommen sei, und mit dankbarer Zärtlichkeit umarmte sie ihren Alexei Stepanowitsch. Und so wurde beschlossen, daß Sofja Nikolajewna versuchen solle, Nikolai Fjodorowitsch zu überreden, daß er seinen Entschluß ändere und dem jungen Ehepaare in seinem Hause zu bleiben gestatte, obwohl mit völlig getrenntem Haushalt und ohne jede Berührung mit dem Kalmücken, wenigstens bis zu der Zeit, wo Sofja Nikolajewna nach ihrer Entbindung mit Gottes Hilfe wieder vollständig hergestellt sein werde. Dieser Vorschlag hatte die triftigste Begründung, da es in Sofja Nikolajewnas Zustande entschieden gefährlich für sie war, viel über die schlecht gepflasterten Straßen Ufas zu fahren, und zugleich keine Gefahr sie abhalten konnte, täglich ihren kranken Vater zu besuchen. Doch blieb die Unterredung mit dem Vater ohne Erfolg; der Alte sagte seiner Tochter fest und ruhig, daß er seinen Entschluß nicht infolge einer augenblicklichen Aufwallung, sondern nach reiflicher Überlegung gefaßt habe. »Ich wußte zum voraus, meine liebe Sonitschka,« sagte Nikolai Fjodorowitsch, »daß du nach deiner Heirat es nicht in einem Hause mit Nikolai aushalten würdest. Du hast einen Widerwillen gegen ihn, und ich kann es dir nicht verdenken; er hat dir in früheren Zeiten viel Böses getan; du hast es ihm vergeben, hast es aber nicht vergessen können. Ich weiß, daß er dir auch jetzt bisweilen Anlaß zur Unzufriedenheit gibt; aber du siehst alles in einem zu bösen Lichte.« – »Vater!« unterbrach ihn Sofja Nikolajewna; jedoch der Alte ließ ihr nicht Zeit sich auszusprechen, indem er fortfuhr: »Warte, höre bis zum Ende an, was ich dir zu sagen habe! Angenommen, der Kalmücke habe wirklich in dem Grade unrecht, wie du es meinst; um so unzulässiger ist es, daß du mit ihm unter einem Dache bleibst, und du weißt, daß ich mich von ihm nicht trennen kann. Habe Mitleid mit meinem elenden, hilflosen Zustande! Ich atme kaum, ich bin ein lebendiger Leichnam; du weißt, daß der Kalmücke zwanzigmal täglich mich heben, wenden und zurechtlegen muß. Darin kann ihn niemand ersetzen. Mir ist nur eines nötig: Seelenruhe. Der Tod steht an der Türe. Jeden Augenblick muß ich zum Übergang in die Ewigkeit bereit sein. Der Gedanke, daß der Kalmücke dir das Leben verbittere, raubte mir alle Ruhe. Es geht einmal nicht anders, wir müssen uns trennen, liebes Kind. Wohnt in einem eigenen Hause! Wenn du mich besuchen wirst, sollst du den dir widerwärtigen Menschen nicht sehen; er wird sich gern vor dir verbergen. Jetzt hat er sein Ziel erreicht, hat dich aus dem Hause gedrängt und kann mich nun nach Herzenslust bestehlen. Ich sehe es nur zu gut, daß er dies tut; aber ich verzeihe es ihm wegen seiner unermüdlichen Pflege bei Tag und bei Nacht. Die Mühe, die er sich um mich gibt, übersteigt beinahe die menschlichen Kräfte. Betrübe mich also nicht durch deine Weigerung, nimm das Geld und kaufe dir das Haus in der Golubinaja-Straße!«

Ich werde nicht versuchen, die vielfachen Schwankungen, Zweifel, inneren Kämpfe, Aufwallungen und Tränen zu schildern, die nun bei Sofja Nikolajewna folgten. Kurz, sie mußte das Geld annehmen, das Haus wurde gekauft, und zwei Wochen später zog Alexei Stepanowitsch mit seiner jungen Frau in den neuen Wohnsitz ein. Es war ein eben gebautes, sauberes Häuschen, das noch niemand bewohnt hatte. Sofja Nikolajewna ging anfangs mit dem ihr eigenen lebhaften Eifer an die innere Einrichtung des Hauses. Doch ihre Gesundheit, die von ihrem besonderen Zustande und noch mehr von den erlebten Gemütserschütterungen arg zerrüttet war, unterlag dieser neuen Anstrengung; sie wurde sehr krank, mußte zwei Wochen das Bett hüten und konnte beinahe einen Monat lang ihren Vater nicht besuchen.

Das erste Wiedersehen Sofja Nikolajewnas nach ihrer Krankheit mit dem Vater, der unterdessen noch schwächer geworden war, war wehmütig und rührend anzusehen. Der Alte hatte eine schmerzliche Sehnsucht nach seiner Tochter gehabt, warf sich vor, ihre Krankheit verschuldet zu haben, und hatte qualvoll die Unmöglichkeit empfunden, sie zu sehen. Endlich war man wieder vereint und weinte freudige Tränen. Nikolai Fjodorowitsch war besonders betrübt, sie so auffallend abgemagert und verändert zu sehen, was übrigens weniger der Krankheit und dem Kummer, als ihrem besonderen Zustande zuzuschreiben war. Es gibt Frauen, deren Gesicht in solcher Zeit verändert, sogar entstellt erscheint; und das war auch mit Sofja Nikolajewna der Fall. Nach einigen Tagen kam das ganze Verhältnis in das beste Geleise, und das erfreulichste Einvernehmen war zwischen Vater und Tochter hergestellt. Der Kalmücke vermied es sorgsam, vor Sofja Nikolajewna zu erscheinen. – Stepan Michailowitsch war der einzige, der sich mit der Trennung Sofja Nikolajewnas von ihrem sterbenden Vater nicht zufrieden geben konnte. Sofja Nikolajewna hatte das vorausgesehen und noch vor ihrer Krankheit dem Schwiegervater einen sehr offenherzigen Brief geschrieben, in welchem sie sich bemühte, die Handlungsweise ihres Vaters zu erklären und zu rechtfertigen; doch war das vergebliche Mühe gewesen. Stepan Michailowitsch hielt in dieser Angelegenheit nicht Nikolai Fjodorowitsch, sondern dessen Tochter für schuldig und meinte, sie hätte alles ertragen müssen, ohne auch nur ein Zeichen von Unzufriedenheit zu geben, was auch der schuftige Kalmücke verüben mochte. Er schrieb an Alexei Stepanowitsch und gab ihm einen Verweis, weil er seiner Frau gestattet hatte, »den Vater den Händen eines Knechtes zu überlassen«. – Die Notwendigkeit einer Trennung um der Gemütsruhe des Sterbenden willen konnte Stepan Michailowitsch nicht begreifen, ebensowenig, daß eine Frau auch mitunter ohne Erlaubnis ihres Mannes handeln könne. Übrigens waren im gegenwärtigen Falle Mann und Frau vollkommen einig.

Um mit der Einrichtung ihres neuen Häuschens und ihrer kleinen Wirtschaft schneller fertig zu werden, nahm Sofja Nikolajewna den Beistand einer ihr wohlbekannten Witwe in Anspruch, der Ufaer Bürgerin Katerina Alexejewna Tscheprunowa, einer schlichten und herzensguten Frau, die in einem ihr gehörigen Häuschen in einer entlegenen Vorstadt wohnte und aus ihrem kleinen Fruchtgarten ein unbedeutendes Einkommen bezog. Außerdem beschäftigte sie sich, um sich und ihren einzigen, heißgeliebten, verkrüppelten Sohn Andrei zu ernähren, mit allerhand Kleinhandel und verkaufte sogar Kringel auf dem Markte. Doch den Hauptzweig ihres Geschäftes bildeten bucharische Wollenzeuge, zu deren Ankauf sie alle Jahre nach Orenburg reiste. Katerina Alexejewna war von mütterlicher Seite mit Sofja Nikolajewna verwandt; jedoch hatte Sofja Nikolajewna die Schwäche, daraus ein Geheimnis zu machen, obgleich es jedermann in der Stadt wußte. Katerina Alexejewna war ihrer angesehenen, vornehmen Verwandten grenzenlos ergeben; sie hatte dieselbe trotz dem Verbote der Stiefmutter in den Tagen der Verfolgung und Demütigung heimlich besucht und getröstet, und als sich die Zeiten geändert hatten, war das dankbare Mädchen ihre erklärte Patronin und Wohltäterin geworden. Unter vier Augen überschüttete Sofja Nikolajewna die treue, uneigennützige Verwandte mit Freundlichkeiten und erwies ihr alle Achtung, vor Zeugen aber wurde sie wieder die Tochter des Vizestatthalters und ihre Verwandte die protegierte Kringelverkäuferin. Doch die gutmütige Katerina Alexejewna nahm das nicht nur nicht übel, sondern forderte sogar ein solches Verfahren; sie liebte ihre schöne Verwandte so grenzenlos, daß diese ihr ein höheres, wohltätiges Wesen schien; sie hätte es sich nie verzeihen können, wenn sie irgendwie die glänzende Stellung Sofja Nikolajewnas beeinträchtigt hätte. Natürlich wurde das Geheimnis dem Gatten Alexei Stepanowitsch mitgeteilt, und trotz seines alten Adels, von dem seine Familie so viel Wesen machte, empfing dieser die arme Kleinhändlerin als eine teure Verwandle seiner Frau und erwies ihr auch in der Folge immer Liebe und Achtung; er wollte sogar ihre rauhe Hand küssen; doch sie ließ das um keinen Preis zu. Nur die angelegentlichsten Bitten Sofja Nikolajewnas vermochten ihn, über diese Verwandtschaft nichts gegen seine Familie und seine Bekannten zu äußern. Welche innige Anhänglichkeit erweckte er aber auch durch dieses Benehmen in Katerina Alexejewnas schlichtem Gemüte! Mit welcher Wärme verfocht sie in der Folge bei allen häuslichen Mißverständnissen seine Sache! Mit Hilfe dieser Katerina Alexejewna, die alles zu finden, alles billig zu kaufen verstand, gelang es Sofja Nikolajewna, ihren Haushalt schnell und gut einzurichten.

In der Stadt wurde natürlich viel darüber geredet und gekrittelt, daß die jungen Bagrows sich ein Haus gekauft hatten und für sich allein darin wohnten. Viel Übertriebenes und Falsches wurde in Umlauf gebracht; doch hatte sich Alexei Stepanowitsch nicht geirrt: bald genug wurde der wahre Zusammenhang des Vorfalls bekannt; dazu trug am meisten der Kalmücke selbst bei, indem er in seinem Kreise damit prahlte, daß er die übermütige junge Herrin aus dem Hause vertrieben habe, wobei er es an Schmähungen gegen sie nicht fehlen ließ. Und so hatte das böse Gerede bald ein Ende.

Auf diese Art waren also endlich die Neuvermählten sich selbst überlassen. Morgens pflegte Alexei Stepanowitsch, seiner Amtspflicht gemäß, nach dem Oberlandesgericht zu fahren, dabei brachte er seine Frau zu ihrem Vater, und auf der Rückfahrt kehrte er selbst bei ihm ein, verweilte dort einige Zeit und fuhr dann mit seiner Frau nach Hause zurück. Ein anspruchsloses Mittagessen erwartete sie dort. Das Mittagessen unter vier Augen, im eigenen Hause, mit eigenem Gelde bezahlt, hatte freilich einen besonderen Reiz für die jungen Leute; doch verlor sich derselbe bald; wird doch dergleichen unvermeidlich durch die Gewohnheit abgenutzt. Sofja Nikolajewna hatte trotz ihres kränklichen Zustandes und ihrer geringen Mittel das Häuschen aufs freundlichste herauszuputzen verstanden. Geschmack und Sorgfalt können in einem gewissen Grade das Geld ersetzen, und vielen, die bei Bagrows zu Besuch kamen, schien die Ausstattung sogar prächtig. Am schwierigsten war es, die Verhältnisse der Dienerschaft zu ordnen. Der zu Sofja Nikolajewnas Mitgift gehörige Lakai Fjodor Michejew wurde mit der ebenfalls zur Mitgift gehörigen schwarzäugigen Zofe Parascha verheiratet; dem jungen Diener aus Bagrowo, Jefrem Jewsejitsch, einem biederen, treuen Burschen, der seine junge Herrin von Herzen liebgewonnen hatte (was man von der übrigen Dienerschaft nicht sagen konnte), wurde Sofja Nikolajewnas junge Wäscherin Annuschka zur Frau gegeben. Den wackeren Jefrem hatte auch seine junge Herrin lieb, und mit Recht. Der seltene Mann bewährte ihr durch sein ganzes Leben seine grenzenlose Ergebenheit Jewsejitsch (so wurde er kurzweg genannt) war in der Folge Hüter ihres ältesten Sohnes, den er mit väterlicher Zärtlichkeit pflegte. Ich habe den ehrwürdigen Alten sehr wohl gekannt. Vor etwa fünfzehn Jahren habe ich ihn noch gesehen. Es war auf dem Gute eines Enkels von Stepan Michailowitsch, im Gouvernement Pensa, wo er, ein schon blinder Greis, seine letzten Tage verlebte. Ich brachte auf diesem Gute einen ganzen Sommermonat zu. Jeden Tag ging ich frühmorgens, um zu angeln, zu dem schönen Teiche hinaus, den das Flüßchen Kakarma bei seiner Mündung in die liebliche Insa bildet. Dicht am Wasser stand die Hütte, in der Jewsejitsch wohnte. Jeden Tag, wenn ich mich dem Teiche näherte, sah ich den gebückten, weißhaarigen Greis, an die Ecke seiner Hütte gelehnt, der aufgehenden Sonne gegenüberstehen; die dürren Finger seiner beiden Hände umfaßten einen Stab, den er gegen seine Brust stemmte, indem er seine blinden Augen gen Osten richtete. Er konnte kein Licht mehr sehen; aber er freute sich der Wärme, die in der Kühle des Morgens so wohl tut, und sein Antlitz war zugleich heiter und wehmütig. Sein Gehör war so scharf, daß er von weitem meinen Schritt erkannte, und freundlich begrüßte er mich, wie ein alter Fischer einen jungen, obgleich ich damals schon über fünfzig Jahre alt war. »Ah, du bist es, mein Falke!« (so pflegte er mich zu nennen). »Gott gebe dir einen guten Fang!« – Zwei Jahre später verschied er in den Armen seines Sohnes, seiner Tochter und seiner Frau, die ihn um einige Jahre überlebte..

Unterdessen nahm das Leben in Ufa allmählich einen regelmäßigen, einförmigen Verlauf an. Bei ihrer schlechten Gesundheit und trüben Geistesstimmung entschloß sich Sofja Nikolajewna nur selten, jemanden zu besuchen. Wenn es geschah, so ließ sie sich nur bei intimen Freunden sehen, und in diesem engen Kreise fehlten noch die intimsten, nämlich Tschitschagows, die erst im Spätherbste mit der Mutter in die Stadt kamen. Die Mißstimmung, in der Sofja Nikolajewna sich befand, und die sich wohl auf Nervenzerrüttung zurückführen ließ, betrübte und ängstigte anfangs Alexei Stepanowitsch nicht wenig. Dieser Zustand war ihm unbegreiflich. Leiden ohne bestimmte Krankheit, Trauer ohne bestimmten Grund, oder gar Krankheiten infolge grundloser Melancholie und Melancholie infolge einer nicht vorhandenen oder nicht wahrnehmbaren Krankheit, dergleichen war ihm in seinem Leben noch nicht vorgekommen. Als er sich übrigens überzeugte, daß die Sache weder von Bedeutung noch gefährlich sei, gewöhnte er sich allmählich daran und beruhigte sich. Er blieb bei der Ansicht stehen, daß das alles nur Einbildung sei. Auf diese Weise hatte er sich auch früher manche Gemütsbewegungen und Aufwallungen Sofja Nikolajewnas erklärt, für die er sonst keinen verständlichen Grund zu finden vermochte. Er hörte auf, sich zu ängstigen, spürte dagegen mitunter Langeweile. Die Sache war höchst natürlich. Bei aller seiner Liebe zu seiner Frau, bei allem Mitleid, das ihm ihre immerwährende Schwermut einflößte, war es doch ermüdend, täglich stundenlang Klagen wegen eines Zustandes zu vernehmen, der doch ganz gewöhnlich war, und traurige Ahnungen hinsichtlich der schrecklichen Folgen zu hören, welche diese Schwangerschaft nach sich ziehen müsse. Jeden Tag entdeckte Sofja Nikolajewna an sich selbst neue unheimliche Symptome, die sie mit Hilfe ihrer medizinischen Bücher aufs gewandteste in ihrem Sinne zu deuten wußte. Bald wurde sie die Wirkung gewahr, die ihre Mitteilungen hervorbrachten, und fand darin Anlaß zu neuem Schmerze. Wenn sie ihren Mann überhaupt für unfähig gehalten hätte, tief zu empfinden und innig zu lieben, so hätte sie sich leichter in ihre Lage hineingefunden. »Was Gott einem Menschen versagt hat, kann man von ihm nicht fordern,« pflegte sie selbst zu sagen; unglücklicherweise hatte die leidenschaftliche, enthusiastische Zärtlichkeit Alexei Stepanowitschs, als er noch Bräutigam war, sie überzeugt, daß er einer wahren Liebe fähig sei; sie meinte daher, er müsse wohl jetzt schon gegen sie erkaltet sein. Dieser unglückliche Gedanke bemächtigte sich allmählich ihrer regen Einbildungskraft. Ihr erfinderischer Geist hatte bald tausend Gründe, tausend Beweise zusammengesucht. Als Gründe betrachtete sie die feindlichen Einflüsterungen der Familie, ihren krankhaften Zustand, vor allem aber den Verlust ihrer Schönheit; denn der Spiegel zeigte ihr nur zu deutlich, wie sie sich verändert hatte. Beweise fand sie darin, daß Alexei Stepanowitsch sich ganz gleichgültig bei ihren bangen Ahnungen verhalte, daß er ihrem Zustande nicht die gebührende Aufmerksamkeit zuwende und sich nicht bemühe, sie zu zerstreuen; vor allem aber darin, daß er mehr Vergnügen im Umgange mit andern Frauen zu finden beginne, – und wie Pulver entzündete sich das bis dahin unbewußt in den Tiefen ihrer Seele schlummernde, qualvolle, zugleich allsehende und blinde Gefühl der Eifersucht! Von nun an brachte jeder Tag neue Erörterungen, Vorwürfe und Tränen, Streitigkeiten und Versöhnungen! Und doch war Alexei Stepanowitsch in allen Punkten unschuldig. Den Einflüsterungen der Familie schenkte er nicht im mindesten Gehör,; die einzige Autorität, der er sich beugte, die seines Vaters, hatte mit dazu beigetragen, seine Achtung für Sofja Nikolajewna noch zu erhöhen. Über das Leiden seiner Frau war er innig, wenn auch nicht sehr stark, betrübt. Den Verlust ihrer Schönheit sah er als etwas Vorübergehendes an und freute sich schon darauf, sie bald wieder aufblühen zu sehen. Er konnte nicht heiter sein, da er sie leiden sah, konnte aber auch nicht im Ernste auf ihre Ahnungen und Vorgefühle eingehen, da er alles für leere Einbildungen hielt. Wie die meisten Männer, verstand er sich wenig auf feine Aufmerksamkeiten; es war, nebenbei gesagt, auch eine schwierige und kitzlige Aufgabe, Sofja Nikolajewna zu zerstreuen und zu trösten; wie leicht konnte man da fehlgreifen und die Sache noch schlimmer machen; es war zu einem solchen Beginnen viel Gewandtheit und Kunst erforderlich; und daran fehlte es Alexei Stepanowitsch. Vielleicht war ihm in der Tat in der Gesellschaft anderer Frauen behaglicher und heiterer zumute, weil er da nicht zu befürchten hatte, durch ein arglos hingeworfenes Wort Mißmut und Ärgernis zu erwecken. Doch ganz anders faßte Sofja Nikolajewna die Sache auf; das war eben die notwendige Folge ihres reizbaren, den Extremen nur zu offenen Gemütes. Was soll man machen, wenn der eine gesunde, starke, stumpfe, der andere krankhafte, zarte, reizbare Nerven hat? wenn Sofja Nikolajewnas ganzes Wesen von Eindrücken erschüttert wurde, die Alexei Stepanowitsch nicht einmal spürte? Nur Tschitschagows verstanden die eigentlichen Gründe der traurigen Stimmung, die im Hause des jungen Ehepaars herrschte, und wenn auch Sofja Nikolajewna ihnen nie Eröffnungen über diesen zarten Gegenstand machte und noch viel weniger Alexei Stepanowitsch, so nahmen sie doch an dem Verhältnis den lebhaftesten Anteil und wußten durch liebreiche Aufmerksamkeit, öftere Besuche und kluge, verständige Gespräche das aufgeregte Gemüt der jungen Frau vielfach zu beruhigen, so daß sie sich in dieser Zeit als wahrhafte Freunde Sofja Nikolajewnas und ihres Mannes erwiesen.

So blieb das Verhältnis zwischen dem jungen Ehepaare, bis Sofja Nikolajewna Mutter wurde. Trotz aller Gemütserschütterungen hatte sich ihre Gesundheit in den letzten Monaten einigermaßen gebessert, und sie gebar glücklich eine Tochter. Freilich hatte Sofja Nikolajewna, und noch mehr Alexei Stepanowitsch, einen Sohn zu haben gewünscht. Als aber die Mutter ihr Kind ans Herz drückte, gab es schon für sie keinen Unterschied mehr zwischen Sohn und Tochter. Das Gefühl der Mutterliebe hatte ihre Seele, ihren Geist, ihr ganzes Wesen allmächtig ergriffen. Alexei Stepanowitsch dankte Gott, daß Sofja Nikolajewna am Leben geblieben sei, freute sich, daß sie sich wohlbefinde, und dachte nicht mehr an den gehofften Sohn.

Ganz anders aber wurde die Sache in Bagrowo aufgenommen! Stepan Michailowitsch hatte so fest darauf gehofft, einen Enkel zu bekommen, daß er anfangs an die Geburt einer Enkelin gar nicht glauben wollte; als er aber die Nachricht mit eigenen Augen im Briefe seines Sohnes gelesen und sich überzeugt hatte, daß die Sache keinem Zweifel unterliege, wurde er höchst verstimmt; das für die Bauern vorbereitete Gelage fand nicht statt; er wollte nicht selbst an Sohn und Schwiegertochter schreiben, ließ letzterer nur zu ihrer glücklichen Entbindung gratulieren und befahl, daß man das Kind bei der Taufe Praskowja nenne, seiner lieben Kusine Praskowja Michailowna Kurolesowa zu Ehren. Übrigens hatte man, seinen Wunsch vorhersehend, der Kleinen schon bei dem Gebete am Tage der Niederkunft den Namen Praskowja gegeben. Der Unwille Stepan Michailowitschs war betrübend und komisch zugleich. Sogar die Familie mußte insgeheim darüber lachen. Der Alte war vernünftig genug, um einzusehen, daß es eigentlich töricht sei, sich über die Sache zu ärgern; und doch konnte er sich in den ersten Tagen nicht fassen, so sehr hatte er sich an den süßen Gedanken gewöhnt, bald einen Enkel zu haben und sich über das Fortbestehen des edlen Geschlechts des Schimon beruhigen zu können. Er ließ den Stammbaum fortschaffen und verbergen, der schon seit geraumer Zeit auf seinem Tische ausgebreitet lag, und in den er jeden Tag den Namen des Enkels eintragen zu können gehofft hatte. Er verbot seiner Tochter Aksinja Stepanowna, nach Ufa zu reisen, um als Patin des Mädchens zu fungieren. »Warum nicht gar zur Taufe eines Mädchens hinfahren! Dergleichen kann jedes Jahr kommen, und da müßte man sich jedesmal hinbemühen!« – Übrigens taten Zeit und Überlegung das Ihrige, und nach Verlauf einiger Tage verschwanden die Runzeln auf Stepan Michailowitschs Stirn (die diesmal niemanden erschreckt hatten), und der Gedanke, daß die Schwiegertochter ja künftiges Jahr einen Sohn haben könne, beruhigte den Alten. Er schrieb einen liebreichen Brief an die Schwiegertochter, tadelte sie scherzend wegen der getäuschten Hoffnung und bat sich scherzend fürs nächste Jahr einen Enkel aus.

Sofja Nikolajewna hatte sich so rücksichtslos dem ihr neuen Gefühle hingegeben, war in die neue Welt, die ihr die Mutterliebe eröffnete, so vollkommen versunken, daß sie nichts von der Unzufriedenheit des Schwiegervaters merkte und es ihr nicht einmal auffiel, daß Aksinja Stepanowna nicht zur Taufe kam. Man hatte die größte Mühe, Sofja Nikolajewna zu überreden, die neun ersten Tage nach der Entbindung im Bette zu bleiben. Sie fühlte sich so wohl, daß sie schon am vierten Tage, wie sie behauptete, hätte tanzen können. Aber nicht zu tanzen begehrte sie, sondern immer um ihr Kind zu sein, sich weder Schlaf noch Ruhe zu gönnen, es Tag und Nacht zu pflegen; denn die kleine Praskowja war schwach und schmächtig zur Welt gekommen, wohl infolge des Kummers und der Krankheit, die ihre Mutter während der Schwangerschaft erduldet hatte. Das Kind selbst zu säugen hatten ihr die Ärzte nicht gestattet, oder richtiger der Arzt Andrei Jurjewitsch Avenarius, ein höchst verständiger, gebildeter und liebenswürdiger Mann, der zu den genauesten Freunden des Bagrowschen Hauses gehörte. Sobald es irgend möglich war, brachte Sofja Nikolajewna ihre Kleine zum Großvater, nämlich zu ihrem Vater Nikolai Fjodorowitsch. Sie meinte, der Anblick des kleinen Wesens würde den Alten erfreuen, und er würde eine Ähnlichkeit zwischen dem Kinde und seiner ersten Frau Wjera Iwanowna finden. Wahrscheinlich existierte diese Ähnlichkeit gar nicht, wie denn meiner Ansicht nach eine Ähnlichkeit zwischen einem neugeborenen Kinde und einer erwachsenen Person überhaupt nur eine sehr entfernte sein kann; aber Sofja Nikolajewna hat in der Folge immer versichert, ihre erste Tochter sei der Großmutter so ähnlich gewesen wie ein Wassertropfen dem anderen. Der alte Subin war damals schon seinem Ende nahe; sein Geist und sein Körper gingen einer schnellen Auflösung entgegen. Er sah das Kind gleichgültig an, vermochte kaum, es zu bekreuzen, und sagte nur: »Ich gratuliere dir, Sonitschka.« Sofja Nikolajewna war höchst betrübt, sowohl über den schlimmen Zustand ihres Vaters, den sie seit mehr als einem Monat nicht gesehen hatte, als über seine Kälte gegen ihre engelhafte kleine Praskowja.

Doch bald vergaß die junge Mutter an der Wiege ihrer Tochter die ganze Welt! Alle Interessen, alle übrigen Neigungen verblaßten vor der Mutterliebe, und Sofja Nikolajewna ergab sich dem neuen Gefühle mit leidenschaftlicher Glut. Keine Hand außer der ihrigen durfte das Kind berühren. Sie selbst reichte die Kleine der Amme, sie selbst hielt sie ihr an die Brust, und nicht ohne Neid, nicht ohne Betrübnis sah sie ein fremdes Weib dem Kinde seine Milch geben. Es ist beinahe unglaublich, und doch war dem so: Sofja Nikolajewna gestand selbst in der Folge, es sei ihr unerträglich gewesen, wenn Praskowja lange an der Brust der Amme blieb; ja, nicht selten nahm sie das noch nicht ganz gestillte Kind aus den Armen der Fremden und wiegte und sang es in den Schlaf. Sofja Nikolajewna fand nicht mehr Zeit, irgend jemanden zu sehen, ihre Freundin Katerina Borisowna Tschitschagowa nicht ausgenommen. Natürlich fanden es alle höchst sonderbar und lächerlich; die näheren Freunde ärgerten sich sogar darüber. Nur auf ein Weilchen fuhr sie jeden Tag zum Vater und kam immer in der höchsten Besorgnis mit der Frage nach Hause, ob ihre Tochter auch gesund sei. Ihrem Manne ließ sie die vollkommenste Freiheit, zu tun, was ihm beliebte, und Alexei Stepanowitsch, nachdem er anfangs einige Tage zu Hause zugebracht und sich überzeugt hatte, daß Sofja Nikolajewna nicht die mindeste Notiz von ihm nahm, ja, nachdem er etliche Male aus der kleinen Kinderstube hinausgewiesen worden war, um Luftverderbnis durch das viele Atmen in dem kleinen Räume zu vermeiden, den Sofja Nikolajewna selbst nie verließ, – Alexei Stepanowitsch, sage ich, begann, seine Bekannten allein zu besuchen, zuerst selten, dann immer öfter; zuletzt verließ er täglich das Haus, um irgendwo Rokambole oder Boston zu spielen. Einige Ufaer Damen nahmen sich des verlassenen jungen Gemahls an, scherzten und kokettierten mit ihm unter dem Vorgeben, daß es ein gutes Werk sei, den verwaisten Alexei Stepanowitsch zu trösten, und daß sie auf Sofja Nikolajewnas Dank hofften, wenn sie, von der unerhörten Leidenschaft für ihre Tochter geheilt, endlich wieder in Gesellschaft erscheinen werde. Erst später hörte Sofja Nikolajewna von diesen Scherzen und regte sich darüber sehr auf.

Katerina Alexejewna Tscheprunowa, die täglich ihre Verwandte besuchte, sah mit Staunen, Mitleid und Ärger dem Treiben derselben zu. Sie war selbst eine zärtliche Mutter und liebte innig ihr einziges verwachsenes Söhnchen; aber Sofja Nikolajewnas Mutterliebe, ihr gänzliches Vergessen der übrigen Welt kamen ihr wie eine Art Wahnsinn vor. Sie seufzte, ächzte, schlug sich mit der Faust an die Brust und an den Bauch (das pflegte sie bei heftigen Gemütsbewegungen zu tun) und meinte, eine solche Liebe sei eine Sünde vor dem Herrn, und der Herr werde dafür strafen. Sofja Nikolajewna nahm das übel und untersagte ihr den Eintritt in die Kinderstube. Avenarius war der einzige, der in dieses Heiligtum öfters zugelassen wurde. Sofja Nikolajewna entdeckte täglich an ihrem Kinde die Symptome irgendeiner Krankheit. Dann unternahm sie Kuren nach Buchans Anweisungen, und mit dem Erfolge unzufrieden, wandle sie sich an Avenarius. Dieser wußte nicht mehr, was er mit der armen Mutter anfangen sollte, die sich durchaus nicht von ihrem Glauben abbringen ließ, und verschrieb dem Kinde verschiedene Heilmittel, meistens unschuldiger Art, manchmal auch wirksamere, da die Kleine in der Tat von schwacher Gesundheit war.

Es ist schwer zu sagen, was aus alledem geworden wäre, wenn nicht die Vorsehung Sofja Nikolajewna mit einem unerwarteten Schlage heimgesucht hätte: ihr Engelchen Praskowja starb eines plötzlichen Todes. Es läßt sich nicht bestimmen, ob die übertriebene Pflege, ob die vielen Arzeneien, ob angeborene Körperschwäche die Ursache des Todes gewesen ist. Kurz, das zarte Geschöpf unterlag im vierten Monat seines Lebens einem jener leichten Krämpfe, denen fast alle Säuglinge unterworfen sind. An der Wiege ihrer Praskowja sitzend, sah Sofja Nikolajewna, daß ein leichtes Zucken über ihr Gesichtchen fuhr. Sie nahm das Kind in die Arme: es war tot.

Eine starke, eiserne Gesundheit muß Sofja Nikolajewna gehabt haben, um dieser Erschütterung widerstehen zu können! Die Ärzte mußten abwechselnd bei ihr Wache halten. Sanden, Avenarius, Klauß, die alle ihre Freunde waren, fürchteten einige Tage lang eine Gehirnzerrüttung, weil sie niemanden erkannte. Doch mit Gottes Hilfe behauptete sich ihr junger, kräftiger Organismus gegen die drohende Gefahr. Die unglückliche Mutter kam wieder zu sich, und die Liebe zu ihrem Manne, der ja ebenfalls den tiefsten Schmerz empfand, diese Liebe, die augenblicklich in ihre alten Rechte trat, war ihre Rettung. Als Sofja Nikolajewna in der vierten Nacht zum ersten Male wieder zum Bewußtsein kam und sich von dem, was um sie vorging, Rechenschaft gab; als sie Alexei Stepanowitsch erkannte, der kaum wiederzuerkennen war, so sehr hatte ihn der Gram verändert, und ihre treue Freundin Katerina Alexejewna erblickte: da entrang sich ein herzzereißender Schrei ihrer Brust, und heilsame Tränenströme stürzten au§ ihren Augen; sie hatte bis dahin nicht weinen können. Sie umarmte Alexei Stepanowitsch und schluchzte lange, ohne ein Wort zu sagen, an seiner Brust; er selbst schluchzte wie ein Kind. Die Gefahr einer Geisteszerrüttung war nun vorüber; es drohte aber eine andere: die einer völligen physischen Erschöpfung. Die arme junge Frau hatte vier Tage lang weder Trank noch Speise zu sich genommen, vermochte auch jetzt nicht einen Bissen, ja keine Medizin, keinen Tropfen Wasser herunterzubringen. Der Zustand war ein so gefährlicher, daß die Ärzte nichts gegen den Wunsch der Kranken einzuwenden hatten, zu beichten und das Abendmahl zu nehmen. Die Erfüllung dieser christlichen Pflicht wirkte wohltätig auf Sofja Nikolajewna; sie schlief zum ersten Male ein, erwachte nach Verlauf zweier Stunden und sagte mit freudestrahlendem Gesichte zu ihrem Manne, sie habe im Traume ein Bild der Iberischen Mutter Gottes gesehen, genau wie dasjenige, das sich in ihrer Parochialkirche befinde; sie fügte hinzu, daß, wenn es ihr vergönnt wäre, vor diesem Bilde zu beten und es zu küssen, die Mutter Gottes sich ihrer gewiß erbarmen würde. Das heilige Bild wurde ins Haus gebracht. Der Priester sprach die Gebete »für Heil und Genesung einer Kranken«. Als die Worte gesungen wurden: »Schaue gnädig herab, o vielgepriesene Jungfrau, auf meines Körpers grausame Leiden,« fielen alle Anwesenden auf die Knie, die Worte des Gebetes nachsprechend; Alexei Stepanowitsch schluchzte laut. Die Kranke weinte ebenfalls während des ganzen Gottesdienstes Tränen der innigsten Rührung, küßte das heilige Bildnis und fühlte sich so gestärkt, daß sie alsbald Wasser zu trinken vermochte und dann anfing, Arzeneien und Nahrung zu sich zu nehmen. Katerina Borisowna Tschitschagowa und Katerina Alexejewna Tscheprunowa waren immerwährend bei ihrer Freundin. Die Kranke war bald außer Gefahr. Das abgemarterte Herz Alexei Stepanowitschs konnte sich endlich erholen. Die Ärzte gingen mit erneutem Eifer an die Kur, die mit einer eigenartigen Gefahr verbunden war, da die Herren Doktoren den Zustand der Kranken aus lauter Freundschaft sich zu sehr zu Herzen nahmen; der eine befürchtete die Schwindsucht, der andere die Rückendarre, der dritte vermutete ein Aneurysma. Glücklicherweise wurden sie doch darin einig, daß der Patientin ein Aufenthalt auf dem Lande und namentlich Waldluft zu empfehlen sei, daneben aber zugleich eine Kumyskur. Es war Anfang Juni, die Kräuter standen noch in vollem Wüchse, und die Stutenmilch hatte ihre heilsame Frühlingskraft noch nicht verloren.

Stepan Michailowitsch nahm die Nachricht von dem Tode seiner Enkelin ziemlich gleichgültig auf und meinte, wegen eines Mädchens sich viel Kummer zu machen, sei eine Torheit; dergleichen werde es immer noch genug geben. Als aber kurz darauf die Botschaft kam, Sofja Nikolajewna sei in einem höchst gefährlichen Zustande, beunruhigte sich der Alte heftig. Als er darauf eine dritte Nachricht erhielt, welche lautete, Sofja Nikolajewna sei außer Gefahr, aber sehr krank und die Ärzte wüßten kein anderes Mittel, ihr zu helfen, als eine Kumyskur, geriet Stepan Michailowitsch in großen Zorn gegen die Ärzte, nannte sie Menschenquäler, die nichts verständen und die menschliche Seele durch heidnisches Getränk verunreinigten. »Wenn es einem Rechtgläubigen verboten ist, Pferdefleisch zu genießen,« sagte er, »so ziemt es sich auch nicht, die Milch des unreinen Tieres zu trinken. Ich sehe es kommen,« fügte er mit einem tiefen Seufzer hinzu, »das Schwiegertöchterchen bleibt vielleicht am Leben, wird aber nicht wieder gesund und bekommt keine Kinder mehr.« Stepan Michailowitsch war ernsthaft betrübt und blieb lange in der traurigsten Stimmung.

Neunundzwanzig Werst südwestlich von Ufa, auf dem Wege nach Kasan, lag an der Mündung der kleinen Ufa in die herrliche Djoma, von prächtigem Hochwalde umgeben, das Tatarendörfchen Usytamak, von den Russen gewöhnlich Alkino genannt, nach dem Namen des Gutsherrn. In einem üppigen Tale drängten sich die Hütten in malerischer Unregelmäßigkeit an den Abhang des Bairam-Tau, der sie vor dem Nordwind schützte. Im Westen erhob sich ein anderer Berg, der Sein-Tau Tau bedeutet Berg, Bairam Fest. Dieser Name, berichtet die Überlieferung, wurde dem Berge beigelegt, weil die Baschkiren hier die festlichen Gebete zu begehen pflegten, die die Urasa oder das Fasten beschließen. Sein-Tau bedeutet: der Berg der Versammlung. Das Wort Sein bezeichnet eine Volksversammlung oder ein Volksfest, bei welchem Wettrennen, Wettringen usw. vorgenommen wird. Diesen Namen hat der Berg bei Gelegenheit des Kaufes erhalten, der im Jahre 1791 das Landgebiet an den Ufern der Ufa an den damaligen Besitzer Alkin gebracht hat. Herr Alkin gab nämlich auf diesem Berge, nachdem man über den Kauf einig geworden war, den Baschkiren ein glänzendes Fest. Tamak bedeutet Mündung; darum heißt auch das Dorf beim Einfluß der Ufa in die Djoma Usytamak. Was das Wort Ufa und der bald zu erwähnende Flußname Kurkul-Dauk bedeuten, habe ich nicht ermitteln können.. Südöstlich schlängelte sich das Flüßchen Ufa, von schattigem Gebüsch begleitet, durch blühende Wiesengründe voll saftiger, duftiger Kräuter. Die mächtigen Wälder, aus Eichen, Linden, Ulmen, Ahorn und anderem Laubholz bestehend, verliehen der Luft eine erquickende Reinheit und belebende Kraft. In diese reizende Gegend brachte Alexei Stepanowitsch die schwache, abgemagerte, verwelkte Sofja Nikolajewna, die nur ein Schatten ihrer früheren Gestalt schien; der befreundete Arzt Avenarius war mitgekommen. Mit Mühe überstand die Kranke die kurze Reise. Der gastfreie Besitzer des Dorfes empfing die Angekommenen aufs freundlichste; er hatte ein ansehnliches Haus mit Nebengebäuden; Sofja Nikolajewna wollte aber nicht im Hauptgebäude wohnen und zog in eines der Nebengebäude. Die Familie des Gutsbesitzers war in ihren Aufmerksamkeiten und Freundschaftsbezeigungen so eifrig, daß der Arzt sich genötigt sah, die Kranke vor ihrer Zudringlichkeit zu schützen. Diese guten Leute waren Mohammedaner, sprachen aber ein ziemlich gutes Russisch. Ihre Lebensweise bot ein buntes Gemisch tatarischer und russischer Sitten; aber Kumys war ihr gewöhnliches Getränk vom Morgen bis zum Abend. Für Sofja Nikolajewna wurde das heilsame Getränk auf eine verfeinerte Weise zubereitet, d. h. die Stutenmilch wurde nicht in einem Schlauche, sondern in einem sauberen, neuen Fäßchen aus Lindenholz zur Gärung gebracht. Die Alkins behaupteten zwar, ein solcher Kumys sei weniger wirksam und wohlschmeckend; doch die Kranke empfand den heftigsten Widerwillen gegen die Schläuche aus roher Pferdehaut, und so wurde denn das heilsame Getränk für sie auf die reinlichste Weise bereitet. Der Arzt gab für die Kur die nötigen Anweisungen und kehrte nach Ufa zurück; Alexei Stepanowitsch aber, sowie Parascha und Annuschka, blieben beständig um die Kranke. Die frische Luft, der anfangs in kleinen Dosen genossene Kumys, die täglichen Spazierfahrten mit Alexei Stepanowitsch zusammen durch die herrlichen Wälder der Umgegend, wobei Jefrem, der Sofja Nikolajewnas Liebling geworden war, kutschierte, die lieblichen Waldeinsamkeiten, wo die Kranke stundenlang auf einer ledernen Matratze und auf Kissen ruhte, die aromatische Luft einatmend, eine leichte Lektüre anhörend oder wohl auch in süßen Schlummer verfallend, das alles brachte die erfreulichste Wirkung hervor, und nach Verlauf zweier Wochen verließ Sofja Nikolajewna ihr Lager und vermochte kleine Spaziergänge zu unternehmen. Der Arzt kam wieder zum Besuch, freute sich der vortrefflichen Wirkung der Kur, verstärkte die Gaben des Kumys und verordnete der Patientin, da sie größere Mengen dieses Getränks nicht vertragen konnte, stärkere Bewegung und namentlich das Reiten. So etwas war damals im Leben der Adligen unerhört; das Mittel mißfiel Alexei Stepanowitsch, und auch Sofja Nikolajewna fand es nicht schicklich. Umsonst gaben die Töchter des Hauses das Beispiel, indem sie auf Baschkirenpferden meilenweit die reizenden Umgebungen durchstreiften: Sofja Nikolajewna widerstand lange allem Zureden, sogar den Bitten ihres Mannes, den der Arzt von der Notwendigkeit des Reitens überzeugt hatte. Tschitschagows kamen zum Besuch nach Alkino, und endlich gelang es den vereinten Bemühungen der Freunde, Sofja Nikolajewnas Widerstreben zu besiegen; am meisten trug dazu das Beispiel von Katerina Borisowna Tschitschagowa bei, die als treue Freundin selbst das Vorurteil überwand und zu reiten begann, zuerst allein, bald aber in Gesellschaft der genesenden Freundin. Bei dieser starken Motion war auch eine andere Nahrung vorgeschrieben, nämlich täglicher Genuß fetten Hammelfleisches, das der Patientin ebenfalls zuwider war. Wahrscheinlich richtete sich Avenarius bei Empfehlung einer solchen Diät nach der Lebensweise der Baschkiren, die in der Jahreszeit des Kumys sich beinahe ausschließlich von fettem Hammelfleische ernähren, sogar kein Brot dazu essen, dabei von früh bis spät in ihren weiten Steppen umherreiten, dieses Leben so lange führen, als das Pfriemgras grünt, und damit erst aufhören, wenn seine zarten Federbüschel in wogendem Silber erglänzen. Die Kur fuhr fort, den glücklichsten Erfolg zu haben; es wurde in großer Gesellschaft, mit den Töchtern und Söhnen des Gutsherrn, geritten. Nicht selten besuchte man die Pottaschefabrik, die zwei Werst von Alkino, mitten im Walde, am Ufer des schönen Flüßchens Kurkul-Dauk lag Diese Fabrik ist erst 1848 eingegangen; im Jahre 1791 war die Pottaschebereitung in der Provinz Ufa noch wenig verbreitet. In der Folge hat sie die Vernichtung ungeheuerer Massen von Laubwald veranlaßt; namentlich sind auf diese Weise beträchtliche Linden-, Ulmen- und Ahornwälder zugrunde gerichtet worden. Diese Baumarten wuchsen damals in diesen Gegenden in solcher Fülle, daß anfangs nur sie zur Bereitung der Pottasche benutzt wurden, da ihre Asche am ergiebigsten ist. Zu jener Zeit war die Pottaschebereitung entschieden der vorteilhafteste Erwerbszweig für den von uns geschilderten Landstrich.. Neugierig besah sich Sofja Nikolajewna die gußeisernen Kessel voll kochender Lauge, die hölzernen Bottiche, in denen sich die rohen Kristalle absetzten, die Schmelzöfen, aus denen die Pottasche endlich als ein weißes, poröses Salz hervorkam. Sie betrachtete mit Wohlgefallen das lebhafte, gewandte Arbeiten der Tataren, welche ihr mit ihren spitzen Käppchen und langen Hemden, die übrigens ihre Bewegungen keineswegs hemmten, höchst merkwürdig vorkamen. Die gastlichen Besitzer des Gutes versäumten überhaupt kein Mittel, die Gäste mit angenehmen Zerstreuungen zu unterhalten. Sie veranstalteten zu diesem Zwecke unter ihren mohammedanischen Untertanen auch Tänze, Wettrennen und Ringkämpfe.

Anfangs nahm Alexei Stepanowitsch an allen diesen Ausflügen und Belustigungen teil; als er aber sah, daß der Zustand der Kranken täglich besser wurde, und daß sie Gesellschaft und Pflege genug um sich hatte, begann er die schönen freien Stunden nach seiner Art zu benutzen. Das Landleben, die schöne Witterung, die herrliche Natur regten lebhaft die alten Liebhabereien in ihm an; er machte sich Angelgerät zurecht und begann in den klaren Quellbächen, deren es um Alkino viele gibt, den vorsichtigen Forellen nachzustellen; auch ging er manchmal aus, Wachteln mit dem Netze zu fangen. Fjodor Michejew, der junge Gatte Paraschas, stand ihm bei dieser Jagd bei, die er gleich meisterhaft verstand wie das Verfertigen der Wachtelpfeifen. Die Liebhaber anderer Jagdarten blicken auf diese Art des Vogelfangs mit stolzer Verachtung herab. Ich sehe aber wirklich nicht ein, warum. Im duftigen Wiesengrase zu liegen, das Netz vor sich über die hohen Halme ausgebreitet, mit Hilfe der Pfeife den sanften melodischen Schrei des Wachtelweibchens nachzuahmen, auf die Antwort der getäuschten Männchen zu horchen, zu sehen, wie sie von allen Seiten gelaufen und geflogen kommen, ihr possierliches Treiben zu beobachten, endlich selbst über den geglückten oder mißglückten Fang in Aufregung zu geraten: das alles, ich gestehe es, hat mir zu seiner Zeit viel Vergnügen gemacht, und noch jetzt ist mir die Erinnerung daran erfreulich. Sofja Nikolajewna aber konnte den Reiz einer solchen Beschäftigung nicht begreifen. Übrigens besserte sich ihre Gesundheit sichtlich, und nach Verlauf zweier Monate war ihr Gesicht wieder voll geworden und eine frische Röte auf ihren Wangen erschienen.

Avenarius kam zum dritten Male nach Alkino und war über den Zustand seiner Patientin höchlich erfreut. Er hatte ein volles Recht, auf den Erfolg der Kur stolz zu sein. Er hatte zuerst den Genuß des Kumys empfohlen und alle Anleitungen zu dessen Gebrauch als Heilmittel gegeben. Er hatte auch früher seine Patientin liebgehabt; nun aber, nachdem es ihm gelungen war, ihr die Gesundheit wiederzugeben, empfand er gegen sie die Zärtlichkeit eines Vaters.

Jede Woche sandte Alexei Stepanowitsch seinem Vater einen ausführlichen Bericht über Sofja Nikolajewnas Gesundheitszustand. Stepan Michailowitsch freute sich herzlich über die Genesung seiner Schwiegertochter; natürlich aber wollte er nicht glauben, daß dieselbe durch den Kumys bewirkt worden sei, und war höchst ungehalten über das Reiten, das der Sohn unvorsichtigerweise in einem Briefe erwähnt hatte. Die Familie wußte diese erwünschte Gelegenheit zu benutzen und durch geschickt hingeworfene Stichelreden den Unwillen des Alten in dem Maße zu steigern, daß dieser an Alexei Stepanowitsch einen unzarten Brief schrieb, der Sofja Nikolajewna sehr betrübte. Als es sich übrigens bestätigte, daß Sofja Nikolajewna vollkommen hergestellt und wieder aufgeblüht sei, regten sich von neuem im Kopfe des Alten die süßesten Hoffnungen, und er hörte auf, wegen des Kumys und des Reitens zu zürnen.

Im Herbste kehrten die jungen Eheleute nach Ufa zurück. Der alte Subin war in dem traurigsten Zustande, und die wunderbare Genesung seiner Tochter machte auf ihn keinen Eindruck. Für ihn war auf der Erde alles zu Ende; alle Bande waren gelöst, alle Fäden zerrissen, die ihn noch an das Leben geknüpft hatten. Kaum hielt sich noch die Seele in seinem hinsiechenden Körper.

Die weitere Entwickelung der Verhältnisse im Familienleben der jungen Bagrows war durch die erwähnten vielfachen Ereignisse sozusagen unterbrochen worden: zuerst durch die Geburt der Tochter und die grenzenlose leidenschaftliche Liebe, die ihr die Mutter gewidmet hatte; dann durch den Tod der Kleinen, der die Mutter an den Rand des Wahnsinns, ja des Todes gebracht hatte; endlich durch die langwierige Kur und das Leben im Tatarendorfe. In dieser schweren Zeit der Seelenqual und des körperlichen Leidens hatte sich Alexei Stepanowitschs innige Liebe und Selbstverleugnung unausgesetzt bewährt. Die Konflikte, die im gewöhnlichen Laufe des Lebens zwischen ungleichen Naturen beständig hervortreten, konnten in dieser Zeit nicht aufkommen, auch wenn Anlaß dazu war. Beim Umlauf großer Kapitalien wird auf das Kleingeld nicht geachtet. In besonderen Fällen, bei bedeutenden Vorgängen wird nur mit großen Summen bezahlt, während wir im alltäglichen, ruhigen Laufe des Lebens meistens nur Gelegenheit finden, Kleingeld auszugeben. Alexei Stepanowitsch hatte keinen Mangel an Kapital, wohl aber oft an Kleingeld. Wenn ein Mensch angesichts seelischer Schmerzen oder Gefahren, die die Gesundheit und das Leben eines geliebten Wesens bedrohen, selbst in tiefster Seele leidet, Schlaf, Ruhe und Nahrung darüber vergißt, an sich selbst nicht denkt und mit gespannten Nerven, in gehobener Stimmung nur für den andern lebt, da bleibt kein Raum übrig für kleinliche Ansprüche, für feine Aufmerksamkeiten. Aber die Zeit der erschütternden Ereignisse vergeht. Alles kehrt in sein ruhiges Geleise zurück; der Geist beruhigt sich, die Nerven spannen sich ab; das materielle Leben in seiner schalen Alltäglichkeit behauptet seine Macht; die alten Gewohnheiten kommen wieder zur Geltung, und es ist die Zeit jener Ansprüche gekommen, von denen wir eben sprachen, die Zeit der Aufmerksamkeiten und der Gefälligkeiten, des Zuvorkommens und des Nachgebens, und der tausenderlei unbedeutenden Dinge, aus denen sich die alltägliche Wirklichkeit zusammenfügt. Die Zeiten der schweren Prüfungen, die Zeiten, die große Opfer und hohe Selbstverleugnung fordern, sind selten; dazwischen aber rinnt das Leben immerwährend in seinem alltäglichen Bette, und Kleinigkeiten verleihen ihm die Ruhe, die Heiterkeit, die Schönheit, kurz das, was wir Glück nennen. So kam es denn, daß, als die Genesung Sofja Nikolajewnas fortschritt und Alexei Stepanowitsch aufhörte, für ihre Gesundheit und ihr Leben zu fürchten, allmählich einerseits die früheren Ansprüche, andrerseits die frühere Unfähigkeit, denselben zu genügen, hervortrat. Die sanften Vorwürfe und Erörterungen wurden dem Gatten langweilig, die heftigen Auftritte begannen ihm Furcht einzuflößen; die Furcht schloß alsbald das rückhaltlose Vertrauen aus, und der Verlust des Vertrauens in der Ehe, besonders von seiten des abhängigen, untergebenen Teiles, führt unfehlbar zu einer Zerstörung des Familienglücks. Die Rückkehr nach Ufa, zum einförmigen, müßigen Stadtleben, hätte wahrscheinlich diese Mißstände noch schärfer hervortreten lassen; doch der qualvolle Zustand des nun wirklich dem Tode nahen Vaters nahm alle Seelenkräfte Sofja Nikolajewnas in Anspruch, und ihrer Natur gemäß ergab sie sich ganz und rückhaltlos dem Gefühle der töchterlichen Liebe. Und so war der Entwickelungsgang der inneren Familienverhältnisse wieder aufgehalten. Sofja Nikolajewna blieb Tag und Nacht im Hause ihres Vaters. Der Kalmücke fuhr fort, mit dem größten Eifer, mit gespannter Aufmerksamkeit und mit unermüdlicher Ausdauer den kranken Herrn zu pflegen. Er vermied es sorgfältig, sich den Blicken der Tochter zu zeigen, obgleich es an Gelegenheiten und Anlässen, wo er es ungestraft hätte tun können, nicht fehlte. Sofja Nikolajewna war durch ein solches Betragen gerührt. Sie ließ den Kalmücken zu sich rufen, versöhnte sich mit ihm und erlaubte ihm, mit ihr zusammen den Sterbenden zu pflegen. Nikolai Fjodorowitsch bemerkte trotz seiner scheinbaren Teilnahmlosigkeit gegen alles, was um ihn her vorging, diese Veränderung, versuchte die Hand seiner Tochter zu drücken und lispelte kaum hörbar: »Habe Dank!« Von diesem Augenblicke an verließ Sofja Nikolajewna ihren Vater nicht mehr.

Ich habe erwähnt, daß in Stepan Michailowitschs Kopfe infolge der günstigen Nachrichten über die Gesundheit der Schwiegertochter die freudigsten Hoffnungen aufgetaucht waren. Diese Hoffnungen hatten ihn nicht getäuscht: Sofja Nikolajewna meldete ihm bald eigenhändig, sie hoffe, so es Gott wolle, ihm bald einen Enkel zu gebären, seinem Alter zum Troste. Im ersten Augenblicke zeigte Stepan Michailowitsch die lebhafteste Freude, faßte sich aber bald und ließ seine Familie nichts von seinen Hoffnungen merken. Vielleicht bedachte er auch, daß Sofja Nikolajewna wieder eine Tochter bekommen, daß das Kind wieder der übertriebenen Pflege der Mutter und der Ärzte unterliegen könne. Möglich aber auch, daß, wie manche Leute sich absichtlich einen schlechten Erfolg prophezeien, um das Schicksal gleichsam zum Widerspruch zu reizen, so auch Stepan Michailowitsch sich nur so kalt und ungläubig stellte, als er sagte: »Diesmal wird man mich nicht zum besten haben; ich werde nicht eher der Sache Glauben schenken und mich darüber freuen, als bis sie sich wirklich ereignet!« Die Familie wunderte sich über eine solche Äußerung; aber es antwortete niemand darauf. In der Tat ergab sich jedoch der Alte im Stillen wieder dem Glauben, daß er einen Enkel bekommen werde, ließ den Vater Wasili abermals Gebete »für die Gesundheit der schwangeren Gottesmagd Sofja« sprechen, suchte den aus seinen Augen verbannten Stammbaum wieder hervor und brachte ihn in seinem Zimmer unter.

Unterdessen nahte allmählich Nikolai Fjodorowitschs letzte Stunde. Nach den vieljährigen, schweren Leiden konnte das Ende eines so elenden, freudelosen Lebens, das sich sozusagen nur unnatürlich in dem gänzlich zerrütteten Körper noch hielt, eigentlich niemanden erregen. Selbst Sofja Nikolajewna flehte den Himmel nur um einen sanften, ruhigen Tod für ihren Vater an, und sanft und ruhig, sogar freudig entschlief der Kranke. Im Augenblick des Todes belebte ein verklärtes Lächeln die Züge des Sterbenden, und trotz der geschlossenen Augen behielt die erkaltende Leiche lange diesen Ausdruck. Die Begräbnisfeier war prunkhaft und würdevoll. Der alte Subin war früher in der Stadt allgemein geliebt worden; doch hatte man seine Verdienste allmählich vergessen, sogar das Mitleid war durch sein langes Leiden abgestumpft worden; als aber die Nachricht von seinem Tode sich in Ufa verbreitete, erwachte in allen Gemütern von neuem die frühere Anhänglichkeit und das Mitleid mit seinem bisherigen traurigen Zustande. Die Häuser wurden leer, und die ganze Bevölkerung Ufas drängte sich am Tage der Bestattung auf den Weg zwischen der Kirche zu Mariä Himmelfahrt und dem Friedhofe. Friede sei deiner Asche, guter Mensch! denn mit menschlicher Schwäche vereintest du menschliche Güte!

Nach dem Tode Nikolai Fjodorowitschs wurden für seine Kinder aus beiden Ehen zwei Vormundschaften errichtet. Alexei Stepanowitsch wurde zum Vormunde der Brüder Sofja Nikolajewnas, die mit ihr von derselben Mutter abstammten, ernannt; diese hatten, ohne ihre Studien in der adligen Pension zu Moskau vollendet zu haben, in ein Petersburger Garderegiment eintreten müssen. Ich habe vergessen zu erwähnen, daß Alexei Stepanowitsch kurz vor dem Tode seines Schwiegervaters auf dessen Verwendung zum Staatsanwalt des Unterlandesgerichtes ernannt worden war.

Lange weinte und betete Sofja Nikolajewna, und Alexei Stepanowitsch weinte und betete mit ihr; doch waren es stille Tränen und stille Gebete, die die kaum wieder hergestellte Gesundheit Sofja Nikolajewnas nicht gefährdeten. Die Bitten ihres Mannes, den Rat ihrer Freunde, die Ermahnungen der Ärzte, insbesondere die des klugen Avenarius, verständig beachtend, suchte sie sich vor allen Erschütterungen zu hüten und widmete ihrem Zustande die notwendige Aufmerksamkeit. Man hatte ihr klar gemacht, daß die Gesundheit, ja das Leben ihres Kindes von der Erhaltung ihrer Gesundheit und Gemütsruhe abhängig sei. Eine bittere Erfahrung bestätigte die Aussagen der Freunde und Ärzte, und die junge Frau war fest entschlossen, sich allem zu unterwerfen, was man von ihr fordern würde. Auf einen Brief ihres Schwiegervaters, in welchem dieser in schlichten Worten seinen Anteil an dem Schmerz der Schwiegertochter und seine Befürchtung aussprach, ihre Gesundheit möge wieder darunter leiden, gab sie ihm die beruhigendste Antwort; und in der Tat bemühte sie sich auf das sorgfältigste, ihr Gemüt ruhig und ihren Körper gesund zu erhalten. Die Zeiteinteilung des Ehepaares war zugleich regelmäßig und mannigfaltig. Avenarius und Klauß (auch letzterer war im Bagrowschen Hause intim geworden) hatten Sofja Nikolajewna vorgeschrieben, täglich auszufahren, namentlich aber auch auszugehen. Jeden Abend versammelte sich dann entweder bei Bagrows eine kleine Gesellschaft wohlwollender Freunde, oder das junge Ehepaar begab sich zu einem der letzteren, am häufigsten zu Tschitschagows. Die Brüder der Frau Katerina Borisowna Tschitschagowa waren ebenfalls Freunde des Hauses geworden, besonders der jüngere D. B. Mertwago; derselbe erbat sich zum voraus die Ehre, der Pate des künftigen Kindes zu sein. Beide Brüder kamen oft nach der Golubinajastraße und fühlten sich im Bagrowschen Hause sehr wohl. Es waren edelgesinnte und nach damaligem Maßstabe höchst gebildete Leute. Die beliebteste Abendunterhaltung bei Bagrows bestand im Vorlesen. Da man aber nicht immer und immer lesen und zuhören konnte, so wurde Sofja Nikolajewna im Kartenspielen unterrichtet. Dieses Geschäft hatte Klauß übernommen, und jedesmal, wenn Bagrows abends zu Hause waren, fand er sich ein, um eine Partie zu arrangieren. Avenarius konnte an diesem Vergnügen keinen Anteil nehmen, da er sein Leben lang nicht eine Fünf von einem Aß hatte unterscheiden können.

Ein frühzeitiger üppiger Lenz war eingetreten, die Bjelaja hatte ihr Eis plötzlich gebrochen, und ihre Wasser überschwemmten die Fluren in einer Breite von sieben Werst. Die ganze Pracht des großartigen Schauspiels konnte man aus den Fenstern des Häuschens in der Golubinajastraße genießen. Der Obstgarten am Hause grünte und blühte. Der süße Duft der Apfel- und Faulbaumblüten erfüllte die Luft; der Garten wurde als Salon benutzt, und die wohltuende Wärme stärkte und erquickte Sofja Nikolajewna noch mehr.

Zu dieser Zeit begab sich in Ufa ein Ereignis, das in hohem Grade die Aufmerksamkeit aller Einwohner erregte, und an dem die jungen Bagrows ganz besonders teilnahmen, da der Held des Abenteuers ein genauer Bekannter und, wenn ich nicht irre, sogar ein weitläufiger Vetter Alexei Stepanowitschs war. Sofja Nikolajewna insbesondere interessierte sich bei ihrem lebhaften Temperamente außerordentlich für die romantische Geschichte, die sich folgendermaßen abspielte. Ein junger Mann aus einer der vornehmsten und reichsten Familien der Provinz Ufa oder Orenburg, N. I. Timaschew, hatte sich in ein schönes Tatarenmädchen, die Tochter des reichen Gutsbesitzers Tewkelew, verliebt. Diese Familie hatte, ebenso wie Alkins, damals schon die Äußerlichkeiten der Kultur angenommen und sprach ein gutes Russisch, hielt aber aufs strengste am mohammedanischen Glauben fest. Die schöne Salmé verliebte sich bald ebenfalls in den jungen Russen, der damals als Hauptmann zu einem Regimente gehörte, das in der Umgegend von Ufa stand. Auf die Einwilligung des Vaters und der älteren Brüder zu hoffen wäre töricht gewesen, da Salmé, um einen Christen zu heiraten, selbst hätte Christin werden müssen. Lange kämpfte Salmé mit ihrer Liebe, die in den Herzen asiatischer Frauen viel wilder glüht als im Herzen einer Europäerin. Endlich aber, wie es in dergleichen Fällen zu geschehen pflegt, wurde Mohammed besiegt, und Salmé entschloß sich, mit dem geliebten Hauptmann zu fliehen, die Taufe zu empfangen und ihn zu heiraten. Der Kommandeur des Regiments, der liebenswürdige und allgemein beliebte Generalmajor Mansurow, der sich später unter Suworow in den Alpen beim Übergang über die Teufelsbrücke auszeichnete, hatte sich damals selbst seit kurzem aus Liebe verheiratet, wußte um das Abenteuer des Hauptmanns und hatte den Liebenden seinen Schutz versprochen. In einer dunklen und stürmischen Nacht verließ Salmé das väterliche Haus; im nahen Walde harrte ihrer Timaschew mit Reitpferden; es galt, in der größten Eile die hundert Werst bis nach Ufa zurückzulegen. Salmé war eine wackere Reiterin; in Entfernungen von zehn bis fünfzehn Werst standen frische Pferde bereit, unter der Obhut der ihrem guten Hauptmann von Herzen ergebenen Soldaten, und so eilten die Flüchtlinge von dannen, »auf den Flügeln der Liebe«, wie ein damaliger Poet unfehlbar hinzugefügt hätte. Unterdessen wurde Salmé im Tewkelewschen Hause, wo man ihre Neigung zu Timaschew längst ahnte und das Mädchen streng überwachte, bald vermißt. In einem Augenblicke war ein Haufe bewaffneter Tataren versammelt, und wutentbrannt, unter der Leitung des beleidigten Vaters Eine andere Variante dieser Überlieferung besagt, daß die Mutter mit den Söhnen die entflohene Tochter verfolgte. (Anmerkung des Verfassers.) ritt man mit wildem Rachegeschrei in fliegender Eile dem Entführer nach; man hatte den Weg erraten, den die Flüchtlinge eingeschlagen hatten, und gewiß wären sie nicht entkommen oder hätten wenigstens einen blutigen Kampf bestehen müssen (denn Soldaten und Offiziere, die an der Sache warmen Anteil nahmen, waren auf dem Wege viele aufgestellt), wenn man nicht auf den glücklichen Einfall gekommen wäre, hinter den Fliehenden eine Brücke zu zerstören, die über einen tiefen, reißenden Waldstrom führte. Die Verfolger mußten mit Lebensgefahr hinüberschwimmen, und das hielt sie ein paar Stunden auf. Bei alledem hatte das Boot, in welchem Timaschew mit seiner Salmé dicht vor Ufa über die Bjelaja fuhr, noch nicht die Mitte des Flusses erreicht, als schon der alte Tewkelew mit seinen Söhnen und der Hälfte seiner treuen Schar (die andere Hälfte hatte unterwegs die Pferde totgehetzt) ans Ufer heransprengte. Doch alle Kähne und Fähren fand er, wie zufällig, von einer Kompagnie Soldaten besetzt, die nach der Stadt hinüber wollte. Der unglückliche Vater knirschte mit den Zähnen, rief der Tochter seinen Fluch nach und kehrte heim. Halbtot vor Schrecken und Müdigkeit wurde Salmé in einen Wagen gehoben und in das Haus von Timaschews Mutter gebracht. Die Sache nahm einen offiziellen, gesetzlichen Charakter an: eine Mohammedanerin hatte sich eingestellt und begehrte freiwillig getauft zu werden. Demnach wurde sie sogleich von den Stadtbehörden in Schutz genommen, dem in Ufa residierenden Mufti (den die Leute den Tatarenbischof nannten) das Vorgefallene gemeldet und von ihm gefordert, daß er sowohl der Familie Tewkelew als allen Mohammedanern jeden gewaltsamen Versuch verbiete, den »freiwilligen« Übertritt der Jungfrau Salmé zur christlichen Religion zu verhindern. In wenigen Tagen hatte die Geistlichkeit die Neophytin zum Empfange der Sakramente der Taufe und der heiligen Salbung vorbereitet. Die Zeremonie wurde mit prunkhafter Feierlichkeit in der Kathedrale vollzogen. Salmé wurde Serafima und, nach dem Namen ihres Paten, Iwanowna genannt, und gleich darauf wurden die Liebenden, ohne die Kirche verlassen zu haben, getraut. Die ganze Stadt nahm an diesem merkwürdigen Ereignisse den lebhaftesten Anteil. Natürlich ergriffen die Jugend und alle Männer Partei für Salmé; die Frauen dagegen, unter denen manche durch diesen Vorfall sich in ihren Hoffnungen getäuscht sahen, tadelten ihr Betragen aufs strengste. Aber es fanden sich nur wenige, die mit innigem Wohlwollen der Neubekehrten die Hand reichten, die nun durch ihre Heirat in die vornehmsten Kreise der Ufaer Gesellschaft getreten war. Sofja Nikolajewna und Alexei Stepanowitsch gehörten zu denjenigen, die den Neuvermählten mit wahrer Herzlichkeit entgegenkamen. Mit Hilfe der ebenfalls noch jungen, freundlichen Generalin A. N. Mansurowa gelang es bald den Freunden des jungen Ehepaares, ihm in der Gesellschaft eine feste und geachtete Stellung zu sichern. Man gab sich die größte Mühe, der jungen Frau Hauptmann die fehlende Bildung beizubringen, und bei ihrem lebhaften, empfänglichen Geiste wurde aus ihr bald eine interessante, gewandte Weltdame, die viel Aufsehen und viel Neid erregte, wozu freilich ihre seltene Schönheit und ihre ungewöhnliche Stellung mit beitrug. Sofja Nikolajewna blieb Serafima Iwanownas Freundin bis zu deren Tode, der leider sehr früh erfolgte: drei Jahre nach ihrer Heirat starb sie an der Auszehrung, zwei Söhne und einen trostlosen Gatten hinterlassend. Timaschew war dem Wahnsinn nahe, zog sich vom Kriegsdienste zurück, widmete sich ganz seinen Kindern und verheiratete sich nie wieder. Man erzählte sich, und ich erzähle es unverbürgt wieder, daß Sehnsucht nach der verlassenen Familie und Reue wegen des Religionswechsels die Krankheit und den Tod der jungen Frau verursacht hatten.

Unterdessen eilte die Zeit stetig vorwärts, ohne sich durch die Ereignisse aufhalten zu lassen. Schon durfte Sofja Nikolajewna keine Besuche mehr machen; sogar Spazierfahrten waren ihr untersagt. Bei schönem Wetter lustwandelte sie zweimal täglich eine halbe Stunde lang im Garten; wenn es regnete, ging sie bei offenen Türen in den Zimmern ihres kleinen Häuschens auf und ab. Wahrscheinlich war diese übertriebene Ängstlichkeit, Pünktlichkeit und Strenge unnötig und konnte eher schaden als frommen; jedoch befand sich Sofja Nikolajewna dabei vortrefflich. Alexei Stepanowitsch mußte zu allen diesen strengen ärztlichen Vorschriften die Hand bieten, weil sein Vater in jedem seiner Briefe ihm empfahl, die Gesundheit seiner Frau zu hüten wie seinen Augapfel. Auch die Hausfreunde, Tschitschagows und Mertwagos, vor allem aber die Ärzte, die ihre Patientin so unendlich lieb hatten, überwachten Sofja Nikolajewna so sorgsam, daß dieselbe ohne ihre Erlaubnis keinen Schritt machen, keinen Bissen und keinen Schluck Wasser zu sich nehmen konnte. In Amtsgeschäften mußte Avenarius verreisen, und Klauß, der ebenfalls in Ufa als Geburtshelfer angestellt war, übernahm alle Sorgen für Sofja Nikolajewnas Gesundheit. Klauß war ein herzensguter, gescheiter, gebildeter, dabei aber in seinem äußeren Auftreten höchst komischer Deutscher. Obgleich er noch nicht alt war, trug er eine ganz gelbe Perücke. Man konnte nicht begreifen, wo er sich Menschenhaar von so unerhörter Farbe verschafft hatte. Seine Augenbrauen und die Augäpfel seiner kleinen Augen waren ebenfalls von gelblicher Farbe, sein Gesicht dagegen immer glühendrot Andrei Michailowitsch Klauß siedelte im selbigen Jahre (1791) nach Moskau über, wo er am Findelhause als Professor der Geburtshilfe angestellt wurde. Dreißig Jahre lang wirkte er wacker in dieser Stellung und starb 1821. Die gelbe Perücke blieb sein unveränderliches Attribut. Er war ein eifriger und tüchtiger Münzkundiger. (Anmerkung des Verfassers.). Im Umgange mit seinen Freunden hatte er verschiedene Sonderbarkeiten; er liebte es sehr, den Damen die Hände zu küssen, wollte aber dabei durchaus nicht auf die Wange geküßt werden und behauptete, es sei von seiten eines Mannes unhöflich, dies zu dulden. Er hatte kleine Kinder sehr gern; diese Zuneigung drückte sich dadurch aus, daß er die Kinder auf seinen Schoß nahm, eines ihrer Händchen auf seine Linke legte und stundenlang mit der Rechten streichelte. Der kräftigste Ausdruck seiner Freundschaft war das Wort »Barbar« oder »Barbarin«. Darum mußte Sofja Nikolajewna, der er von Herzen ergeben war, sich immerwährend »Barbarin« nennen hören. Als ein intimer Freund des Bagrowschen Hauses hatte Klauß viel von Stepan Michailowitsch gehört und wußte von seinem heißen Wunsche, einen Enkel zu haben, von seiner wachsenden Ungeduld. Klauß konnte gut Russisch schreiben und schrieb für den Alten in leserlicher Schrift seine Mutmaßungen nieder, nach denen Sofja Nikolajewna zwischen dem 15. und 22. September, und zwar mit einem Sohne, niederkommen mußte. Diese Prophezeiung wurde an Stepan Michailowitsch geschickt, der dazu sagte: »Der Deutsche schwindelt!« doch ihr insgeheim vollen Glauben schenkte: eine gespannte, aber freudige Erwartung sprach sich in seinen Mienen, in seinen Reden aus. Zu dieser Zeit geschah es, daß die uns bereits bekannte Afrosinja Andrejewna, vor der er seine Befürchtungen weniger verbarg, die hauptsächlich darin bestanden, daß Sofja Nikolajewna wieder eine Tochter gebären werde, ihm folgendes erzählte: Bei ihrer Fahrt über Moskau sei sie nach dem Troizko-Kloster gegangen, um den heiligen Sergius anzubeten, und habe da von einer vornehmen Dame gehört, die lange Zeit lauter Töchter gehabt hätte; diese Dame habe endlich das Gelübde getan, falls sie einen Sohn bekäme, ihn Sergei zu nennen, und in der Tat sei sie im folgenden Jahre von einem Sohne entbunden worden, der dem Gelübde gemäß den Namen Sergei bekommen habe. Stepan Michailowitsch schwieg zu dieser Geschichte. Mit der ersten Post aber schrieb er eigenhändig an Sohn und Schwiegertochter, sie möchten dem heiligen Sergius, dem Wundertäter, eine Messe lesen lassen und das Gelübde tun, falls sie einen Sohn bekämen, ihn Sergei zu nennen. Um diesen seinen Willen zu motivieren, fügte er hinzu, es habe bis jetzt in der Familie Bagrow noch keinen Sergei gegeben. Dem Befehle wurde pünktlich gehorcht. Sofja Nikolajewna war rastlos damit beschäftigt, alles vorzubereiten, was nur eine sorgsame Mutter für das Wohlsein Ihres erwarteten Kindes zu ersinnen vermag; auch das Wichtigste war glücklich gefunden, nämlich eine vortreffliche Amme. Marfa Wasiljewna, eine Bäuerin aus dem Subinschen Dorfe Kasimowka, vereinigte alle Eigenschaften, die man in solchen Fällen nur wünschen kann, hatte freudig das Anerbieten ihrer Herrin angenommen und war bereits mit ihrem Säugling nach Ufa gekommen.

Der entscheidende Augenblick nahte. Schon war es Sofja Nikolajewna nicht mehr gestattet, ihr Lager zu verlassen. Katerina Borisowna Tschitschagowa war unpäßlich und konnte nicht ausfahren, und alle übrigen Freunde wurden nicht mehr empfangen. Katerina Alexejewna Tscheprunowa war immer um ihre liebe Verwandte und verließ sie nur, um von Zeit zu Zeit ihr Herzenssöhnchen Andryscha zu sehen. Klauß erschien jeden Morgen zum Frühstück, und jeden Abend um sechs Uhr war er wieder da, trank seinen Tee mit Rum und spielte eine Partie Karten mit seinen Freunden, und da man nur um eine Kleinigkeit spielte, brachte der sparsame Deutsche gebrauchte Karten mit, die er sich irgendwo zu verschaffen wußte. Manchmal wurde das Spiel durch eine Lektüre ersetzt, der Klauß ebenfalls beiwohnte. Der Vorleser war immer Alexei Stepanowitsch, der Übung und sogar ein gewisses Geschick darin erlangt hatte. Zuweilen brachte der Doktor auch ein deutsches Buch mit, das er laut übersetzte. Die Eheleute hörten mit Vergnügen zu, besonders Sofja Nikolajewna, die höchst begierig war, etwas von der deutschen Literatur zu erfahren.

Nachdem sie einmal die grenzenlose Macht der Mutterliebe empfunden hatte, des Gefühles, dem kein anderes vergleichbar ist, betrachtete nun Sofja Nikolajewna ihren gegenwärtigen Zustand mit ehrfurchtsvollem Ernste; sie sah es als eine heilige Pflicht an, durch Bewahrung ihrer Seelenruhe die Gesundheit ihres Kindes zu bewahren, sein Dasein zu sichern, dieses Dasein, an welches sich alle ihre Hoffnungen, ihre ganze Zukunft, ihr ganzes Leben knüpfte. Wir kennen schon Sofja Nikolajewna in dem Maße, daß es uns nicht wundernehmen wird, wenn wir sie ganz vertieft und verloren sehen in der Liebe zu einem noch nicht geborenen Kinde. Die Erhaltung dieses Kindes durch eigene Schonung war die Sorge ihrer Tage und Nächte. Ihr ganzer Geist hatte sich mit so leidenschaftlicher Aufmerksamkeit auf diesen einen Punkt gerichtet, daß sie nichts anderes mehr beachtete und mit Alexei Stepanowitsch vollkommen zufrieden schien, obgleich wahrscheinlich Anlässe genug zur Unzufriedenheit da waren. Je mehr Alexei Stepanowitsch seine Frau kennenlernte, desto unbegreiflicher erschien sie ihm. Am allerwenigsten war er fähig, den Enthusiasmus gelten zu lassen oder ihn gar zu teilen, welchen Ursprung er auch haben mochte. Der Enthusiasmus der Liebe bei Sofja Nikolajewna brachte ihn ebenso in Verwirrung und Schrecken wie die wütenden Zornanfälle seines Vaters. Der Enthusiasmus ist ruhigen, sanften, phlegmatischen Leuten immer unheimlich; sie können eine solche Stimmung nicht natürlich finden; sie sehen die Enthusiasten als Kranke an, als Menschen, die sonderbaren Anfällen unterworfen sind. Sie glauben nicht an die Dauer ihrer Gemütsruhe, weil sie jeden Augenblick gestört werden kann, und fürchten sich vor solchen Leuten. Kein Gefühl ist aber der Liebe überhaupt so gefährlich wie die Furcht, sogar der Liebe zu Vater und Mutter. Im allgemeinen muß ich berichten, daß das gegenseitige Verständnis, die Harmonie der Gemüter des jungen Ehepaares, statt Fortschritte zu machen, wie man hätte erwarten sollen, im Gegenteil zurückzugehen schien. Es mag sonderbar klingen; aber so geht es nur zu oft in der Welt.

Gerade damals wurde Klauß nach Moskau versetzt. Schon hatte er von seinen Vorgesetzten und von sämtlichen Bekannten Abschied genommen und harrte nur noch auf die glückliche Entbindung Sofja Nikolajewnas, um im Notfalle Rat und Hilfe zu leisten. Fest überzeugt, daß die Entbindung am fünfzehnten oder an einem der beiden nächstfolgenden Tage stattfinden müsse, hatte er sich demgemäß Pferde bestellt. Er konnte nämlich nicht die Post benutzen, da er über ein von den Poststraßen entferntes Landgut zu reisen beabsichtigte, das einem ihm bekannten deutschen Gutsbesitzer gehörte. Der fünfzehnte September kam; aber er verging ohne das erwartete Ereignis. Sofja Nikolajewna befand sich besonders wohl und munter, und nur das törichte Verbot der Ärzte hinderte sie, ihr Lager zu verlassen. Der sechzehnte, siebzehnte, achtzehnte September vergingen auf gleiche Weise, und bei all seiner Anhänglichkeit an Sofja Nikolajewna begann der Deutsche sehr ärgerlich zu werden, weil er täglich dem Fuhrmann einen Rubel zahlen mußte, was damals eine große Ausgabe schien. Der gute Klauß wurde von dem Ehepaar wegen seiner Ungeduld freundlich geneckt, und man fuhr fort, des Abends zu lesen oder Karte zu spielen. Wenn der Deutsche seinen Freunden etwa sechzig Kopeken abgewann, war er höchst zufrieden und meinte, heute habe ihm der Fuhrmann nicht viel gekostet. So verging auch der neunzehnte September. Am zwanzigsten früh kam Klauß zu Sofja Nikolajewna und wurde von ihr an der Tür ihres Schlafzimmers mit zierlichen Knicksen empfangen. Der Deutsche war empört: »Wie lange wirst du mich noch zum besten haben, Barbarin?« sagte er, indem er ihr, wie gewöhnlich, die Hände küßte. »Ja, Alexei Stepanowitsch,« fügte er hinzu, sich zu ihrem Manne wendend, »deine Frau hat es darauf abgesehen, mich zu ruinieren. Schon am fünfzehnten hätte sie niederkommen müssen, und am zwanzigsten macht sie Knickse!« – »Laß es nur gut sein!« erwiderte, ihm auf die Schultern klopfend, Alexei Stepanowitsch; »komm nur heute abend und gewinne uns recht viel Geld ab; übrigens sind die Karten schon ganz abgenutzt.« Klauß versprach, neue Karten mitzubringen, frühstückte und blieb bis gegen zwei Uhr bei Bagrows. Punkt sechs Uhr stand der gute Deutsche wieder an der Tür des wohlbekannten Häuschens in der Golubinajastraße; als er niemanden im Vorzimmer, im Saale und im Salon antraf, wollte er ins Schlafzimmer treten, fand jedoch die Tür verschlossen; er klopfte und Katerina Alexejewna öffnete; Andrei Michailowitsch trat hinein und blieb staunend stehen: der Boden war mit Teppichen bedeckt, die Fenster mit grünseidenen Gardinen verhängt; über dem zweischläfrigen Bette prangte ein schöner Betthimmel aus demselben Stoffe. In der Ecke des Zimmers brannte hinter einem davorgestellten Buche ein Licht. Auf dem Bette, dessen Kissen mit den schönsten Besätzen geschmückt waren, lag Sofja Nikolajewna in einem eleganten Morgenkleide; ihr Gesicht war frisch und rosig, ihre Augen glänzten vor Freude. »Gratulieren Sie mir, bester Freund!« sagte sie mit fester, klangvoller Stimme; »ich bin Mutter geworden und habe einen Sohn!« Der Doktor, der Sofja Nikolajewnas gesundes Gesicht sah und ihre feste Stimme hörte, hielt die ganze Staffage für einen Scherz. »Mache dich nicht über mich lustig, Barbarin; ich bin ein alter Schlauberger; du wirst mich nicht betrügen können,« antwortete er lachend. »Steh nur auf; ich habe neue Karten mitgebracht.« Und indem er sich dem Bette näherte und sie unter das Kissen steckte, fügte er hinzu: »Das ist mein Geschenk für den Kleinen!« – »Teurer Freund,« erwiderte Sofja Nikolajewna, »es ist bei Gott kein Spaß: da ist mein Sohn!« Und in der Tat lag der Neugeborene da, mit einer Decke von rosa Atlas bedeckt, auf einem großen Kissen, ein gesunder, kräftiger Knabe; neben dem Bette stand die Hebamme, Aljona Maximowna. In einem Anfalle komischer Wut prallte Klauß zurück, als wenn er sich verbrannt hätte. »Wie?« rief er entrüstet, »ohne meine Beihilfe? Ich warte hier eine ganze Woche und gebe mein Geld aus, und man hat mich nicht einmal gerufen!« Sein rotes Gesicht war purpurfarben geworden, seine Perücke war auf die Seite geglitten, sein ganzes feistes Figürchen war so drollig anzuschauen, dass die Wöchnerin lachen mußte. »Väterchen Andrei Michailowitsch,« beteuerte die Hebamme, »es ist so schnell gekommen, daß wir ganz den Kopf darüber verloren haben; als wir aber an Sie dachten, da sagte Sofja Nikolajewna, daß Sie sowieso gleich kommen würden.« Der treue Freund der Bagrowschen Familie hatte sich gefaßt. Seine Aufwallung hatte sich gelegt, und freudige Tränen glänzten in seinen Augen; mit seinen wohlgeübten Händen hob er das Knäblein aus dem Bette, besah es sich bei der Kerze, betastete es an allen Gliedern, so daß das Kind laut aufschrie, steckte ihm den Finger in den Mund, und als es daran wacker zu saugen begann, rief der Deutsche ganz entzückt: »O der Barbar! Was der stark und gesund ist!« Sofja Nikolajewna erschrak über die Weise, in der Klauß ihr Herzenskind behandelte; die Hebamme fürchtete, der Deutsche möchte den Kleinen durch einen bösen Blick behexen Leute, die einen bösen Blick haben, verderben nach russischem Aberglauben die Kinder durch Lob und Bewunderung. (Anmerkung des Übersetzers S. R.), und wollte ihn dem Arzte abnehmen. Aber Klauß ließ ihn nicht aus den Händen; er sprang mit dem Kinde im Zimmer umher, forderte eine Wanne, einen Schwamm, Seife, warmes Wasser und Windeln, streifte die Ärmel zurück, band sich eine Schürze vor, warf die Perücke ab und schickte sich an, das Kind eigenhändig zu waschen, indem er dazu sprach: »Aha, kleiner Barbar, jetzt schreist du nicht! Es ist dir wohl im warmen Wasser!« Endlich erschien der vor Freude ganz verwirrte Alexei Stepanowitsch; er hatte soeben einen expressen Boten nach Bagrowo abgesandt und einen Brief an seine Eltern geschrieben, sowie einen anderen an Aksinja Stepanowna, die er bat, sobald als möglich zu kommen, um bei dem Kinde Pate zu stehen. Alexei Stepanowitsch erdrückte den noch feuchten Doktor beinahe in seinen Umarmungen; die Hausgenossen hatte er schon alle halbtot geküßt und mit allen geweint. Sofja Nikolajewna – aber ich wage gar nicht, eine Schilderung ihrer Gefühle zu versuchen. Es war eine Wonne, eine Seligkeit, wie sie nur wenigen auf Erden und nur auf kurze Zeit verliehen wird!

Die Geburt des Knaben erregte im Hause eine außerordentliche Freude; sogar die Nachbarn nahmen daran teil. Die ganze Bagrowsche Dienerschaft, zuerst von Freude, bald auch von Branntwein berauscht, sang und tanzte im Hofraume, sogar die, welche sich sonst des Trinkens enthielten, hatten diesmal zu tief ins Glas geguckt, darunter Jefrem Jewsejitsch, den man kaum bändigen konnte: er wollte durchaus ins Zimmer der Herrin dringen, um den Kleinen in Augenschein zu nehmen; endlich gelang es seiner Frau mit Paraschas Hilfe, ihn an eine schwere Bank festzubinden; aber auch in dieser Lage fuhr er fort, die Beine wie zum Tanz zu bewegen, mit den Fingern zu schnipsen und dazu mit lallender Zunge »Eia popeia!« zu singen.

Andrei Michailowitsch Klauß, von der freudigen Aufregung und den eifrigen Bemühungen um den Kleinen erschöpft, hatte sich endlich in einen Sessel geworfen und schlürfte mit dem größten Behagen seinen Tee, und da er an diesem Abende einen herzhaften Schuß Rum hinzugegossen hatte, so wurde es ihm nach der dritten Tasse ein wenig schwindlig. Er befahl, das Kind bis zum Morgen nicht zu säugen und ihm nur ein wenig Rhabarbersirup einzuflößen, nahm von seinen beglückten Freunden Abschied, küßte das winzige Händchen des Neugeborenen und begab sich nach Hause, um sich auszuschlafen und am anderen Tage die Wöchnerin recht früh wieder besuchen zu können. Als er über den Hof ging, sah er die lustigen Tänze und hörte die Lieder, die aus allen Fenstern der Küche und der Gesindestuben herausschallten. Er blieb stehen, und obgleich es ihm leid tat, die Freude der guten Leute zu stören, ermahnte er sie, mit dem Singen und Tanzen innezuhalten, da ihre Herrin durchaus der Ruhe bedürfe. Zu seinem Erstaunen wurde ihm sogleich gehorcht, und noch in seiner Gegenwart verstummte und verteilte sich die Gesellschaft. Aus dem Tore tretend, murmelte der Deutsche vor sich hin: »Ein glückliches Knäblein! Wie sich alle über ihn freuen!«

Und in der Tat, unter den glücklichsten Umständen war dieses Knäblein geboren! Seine Mutter, die während ihrer ersten Schwangerschaft immerwährend gelitten hatte, war, während sie es trug, vollkommen gesund gewesen; keine häuslichen Zerwürfnisse hatten während dieser Zeit ihre Seelenruhe gestört; es hatte sich eine Amme gefunden, die, wie sich in der Folge zeigte, hingebend und liebevoll war wie wenige Mütter. Erwünscht, ersehnt und vom Himmel erfleht kam dieses Kind zur Welt, nicht nur seinen Eltern, sondern auch ihrer ganzen Umgebung zur Freude; sogar der Herbsttag war warm wie ein Sommertag!

Wie ging es aber in Bagrowo zu, als die freudige Nachricht dahin gelangte, Gott habe Alexei Stepanowitsch einen Sohn und Erben gegeben? In Bagrowo ging es folgendermaßen zu: seit dem fünfzehnten September zählte Stepan Michailowitsch die Tage und die Stunden, jeden Augenblick den Boten aus Ufa erwartend, dem befohlen war, Tag und Nacht hindurch mit Postpferden herbeizujagen. Dieser Luxus war damals etwas Ungewöhnliches, und Stepan Michailowitsch hielt es sonst für eine unnütze Ausgabe und zog den Gebrauch der eigenen Pferde vor. Aber die Wichtigkeit und Feierlichkeit des Anlasses zwang ihn diesmal, eine Ausnahme zu machen. Er brauchte nicht zu lange zu warten. Am zweiundzwanzigsten September, als er nach dem Mittagessen ruhte, kam der Bote mit der freudigen Nachricht an. Kaum hatte der Alte, aus tiefem Schlaf erwachend, sich in seinem Bette geregt und sich geräuspert, als Masan hereinstürzte und vor Freude stotternd ausrief: »Ich gratuliere zu einem Enkel, Väterchen Stepan Michailowitsch!« Die erste Bewegung Stepan Michailowitschs war, sich zu bekreuzen. Dann sprang er behende aus dem Bette, ging barfuß zum Schranke, holte den uns bekannten Stammbaum hervor, nahm eine Feder, zog von dem Kreise, der den Namen Alexei enthielt, einen Strich hinab, machte an dessen Ende einen anderen Kreis und schrieb hinein: »Sergei«.

Aus den Kinderjahren Bagrows des Enkels


 << zurück weiter >>