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VI. Der Tod Stepan Michailowitschs

Rückkehr zum Stadtleben

… Wir kehrten nach Ufa zurück. Der zweimonatige Aufenthalt auf dem Gute Sergejewka, oder richtiger im halbausgebauten Häuschen am See, die frische Luft, die Freiheit, das Angeln, das mir zur Leidenschaft geworden war, wenn von einer solchen bei einem Kinde die Rede sein kann, das alles stach so sehr gegen unser Stadtleben ab, daß ich mich nun in Ufa ganz unbehaglich fühlte. Ich war braun geworden wie ein Mohr, und alle Bekannten fanden, daß ich ganz verwildert war. Unser Garten in der Stadt war mir zuwider, und ich mochte nicht mehr hineingehen, auch wenn mein liebes Schwesterchen darin spielte. Umsonst lud sie mich ein, mit ihr zu laufen und zu springen oder die Blumen zu bewundern, die wie früher unsere Beete füllten; ich nahm es sogar übel und setzte meiner kleinen Gespielin ernsthaft auseinander, daß nach den Eichen, den Fluren und dem See von Sergejewka unser Gärtchen mit seinen elenden Apfelbäumen nicht einen Blick verdiene. Wenn ich hinausging, war es nur, um Surka Ein Hündchen, das der Knabe gerettet und auferzogen hatte. (Anmerkung des Übersetzers S. R.) zu streicheln und zu liebkosen und mit ihm zu spielen; das Leben in Sergejewka hatte uns zu Freunden gemacht, und der Anblick des guten Tieres, das mich an das wonnige Landleben erinnerte, tat mir wohl. Unterdessen wollte die braune Färbung von meinem Gesichte nicht weichen, und meine Mutter versuchte verschiedene Mittel, um sie zu beseitigen; dies war mir höchst unangenehm, und ich gehorchte nur sehr ungern. Ich konnte mich anfangs nicht wieder in meine früheren Beschäftigungen und Spiele finden; sie kamen mir zu kindisch vor. Das Schönschreiben langweilte mich, weil ich ohne Lehrer keine sonderlichen Fortschritte, machte; auch das Lesen reizte mich nicht mehr, da ich alle meine Bücher schon viele Male durchgelesen hatte und vieles darin auswendig wußte. Übrigens begann ich nach einer müßigen Woche auf Befehl der Eltern wieder zu schreiben, legte mich auch wieder mit Vergnügen auf das Lesen der bekannten Bücher. S. I. Anitschkow Ein alter Nachbar, der früher dem Knaben Bücher geschenkt hatte. fuhr fort, sich nach meinen Beschäftigungen zu erkundigen. Er lud mich wieder einmal zu sich ein, unterwarf mich einer kleinen Prüfung, die zu seiner größten Zufriedenheit ausfiel, und schenkte mir eine so große Menge von Büchern, daß mein Hüter Jewsejitsch Mühe hatte, sie nach Hause zu schleppen; man konnte es eine kleine Bibliothek nennen. Unter den Büchern befanden sich: die Rossiade von Cheraskow, die Altrussische Bibliothek Eine kostbare Urkunden- und Chronikensammlung, herausgegeben von N. N. Nowikow. (Anmerkungen des Übersetzers S. R.) und Sumarokows Schriften in zwölf Bänden. Die Allrussische Bibliothek wurde natürlich, nachdem ich einen Blick hineingetan hatte, beiseite gelegt; die Rossiade und Sumarokows Werke las ich dagegen mit der größten Begierde und hohem Enthusiasmus. Vom Beispiele eines meiner Onkel angesteckt, der Verse zu deklamieren, d. h. in einem singenden Tone herzusagen, liebte, übte ich mich darin, ihn nachzuahmen. Der Mutter und dem Vater schien ein solches Hersagen der Verse zu gefallen; denn sie ließen mich manchmal in Gegenwart der Gäste deklamieren, die sich übrigens jetzt bei uns nicht so zahlreich einfanden wie während des vorigen Winters: meine Onkel waren zu ihrem Regimente zurückgekehrt, auch manche der näheren Bekannten verreist. Meine Mutter erfreute sich einer besseren Gesundheit, war weniger von der Gesellschaft in Anspruch genommen und konnte daher mehr Zeit mit mir zubringen. Meine Lieblingsbeschäftigung war, ihr aus der Rossiade vorzulesen und mich von ihr über die mir unverständlichen Ausdrücke und Stellen belehren zu lassen. Ich las mich so eifrig in das Gedicht hinein, meine Phantasie spiegelte mir so lebhaft meine Lieblingshelden, Mstislawski, Fürst Kurbski und Palezki vor, daß sie mir wie alte Bekannte erschienen. Ich malte mir diese Figuren in allen Einzelheiten aus und war mit ihrem früheren Leben und mit ihrem Äußeren vertraut. Ich wußte ausführlich zu erzählen, was sie vor der Schlacht und nach derselben getan hatten, wie der Zar sie um Rat befragt, ihnen für ihre großen Taten gedankt hatte usw. Meine Mutter pflegte dazu zu lachen; mein Vater aber wunderte sich über meine Erfindungsgabe und sagte einmal: »Wo hast du denn all das Zeug her? Werde mir nur nicht zum Lügner!« Meine Mutter aber meinte, es habe nichts zu sagen und werde von selbst vergehen. Übrigens verbot sie mir, die Gäste von den Privatverhältnissen Kurbskis, Mstislawskis und Palezkis zu unterrichten. – Wie herrlich schien mir die Schilderung des Fürsten Mstislawski:

»Nicht wild war in der Schlacht, nicht grausam dieser Mann;
Dem festen Kieselstein man ihn vergleichen kann,
Der einen glüh'nden Schwarm von Funken um sich spritzt,
Wenn ihm des Eisens Schlag die Oberfläche ritzt.«

Gidromir und Astalon waren meine persönlichen Feinde, und ich konnte es nicht verschmerzen, daß Gidromir im Zweikampfe mit Palezki nicht getötet war. Ich bewunderte übrigens auch die Kasaner Ritter, von denen es heißt:

»Den scharfen Dolch im Mund, das Schwert in starker Hand,
Das weithin leuchtete wie hellen Feuers Brand,


Sie schlugen unser Heer gar bald in volle Flucht.
Und wie der Schwäne Schar vor Hagel Obdach sucht,
So flüchteten vom Berg ins Lager unsre Leute.
Geworden wär auch dies des grimmen Siegers Beute,
Hätt unser Kurbski nicht, sowie der starke Held
Palezki sich dem Feind entgegen kühn gestellt.«

Die beiden letzten Verse pflegte ich mit freudigem Stolze herzusagen. Ich muß bekennen, daß ich diese Verse auch heute noch mit Vergnügen spreche und in ihnen eine ungestüme Kraft zu hören glaube. Ich versäumte es nicht, mein Deklamationstalent vor meinem Gönner S. I. Anitschkow zu produzieren; er lobte mich und versprach, mir Lomonosows Werke zu schenken.

Alles war in der Stadt und in unserem Hause still und ruhig, als ein Ereignis eintrat, das, wenn auch nicht durch seine hohe Bedeutung, so doch durch die erschütternde Wirkung, die es auf alle ohne Ausnahme hervorbrachte, auch mich zwang, an der allgemeinen Aufregung teilzunehmen. An einem zwar nicht schönen, aber doch heitern Tage (es war ein Sonntag oder sonst ein Fest) gingen wir nach der Messe aus der Kirche zu Mariä Himmelfahrt nach Hause und stiegen eben die Stufen vor unserer Tür hinan, als in dem aus der Kirche strömenden Volke eine lebhafte Bewegung entstand. Durch die Straße sprengte in vollem Galopp der Ordonnanzkosak des Gouverneurs und rief den Leuten zu: »Zurück in die Kirche, dem neuen Kaiser den Eid zu leisten!« Das sich zerstreuende Volk hielt inne, sammelte sich wieder in Gruppen und strömte, unaufhörlich durch Begegnende vermehrt, in dichtem Schwarm in die Kirche zurück. »Die Kaiserin ist tot!« hörte ich einen der Vorbeieilenden sagen, und im selben Augenblick erscholl die mächtige Glocke der Kathedrale, zu der sich bald das Geläute der zehn übrigen Kirchen gesellte. Der Vater und die Mutter waren tief erschüttert. Der Vater brach sogar in Tränen aus; die Mutter, die ebenfalls Tränen in den Augen hatte, bekreuzte sich und sagte: »Gott gebe ihr das Himmelreich!« Auch ich war bestürzt, ich wußte selbst nicht warum. Unsere ganze Dienerschaft war vor der Haustür zusammengelaufen, alle Gesichter drückten Kummer und Schrecken aus, die Leute auf der Straße weinten. Ein Schreiber aus dem Oberlandesgerichte kam atemlos gelaufen und sagte meinem Vater, er müsse sich in die Kathedrale begeben, um den Eid zu leisten. Mein Vater zog eilig seine Uniform an und fuhr hin. Die Mutter ging mit mir und dem Schwesterchen, das auch ganz verwirrt war, in das Schlafzimmer. Die Mutter betete; dann ließ sie sich in einen Sessel nieder und versank in trauriges Sinnen. Ich und die Schwester saßen ihr gegenüber auf einem Stuhle und sahen ihr schweigend ins Gesicht. Endlich wurde die Mutter auf uns aufmerksam und begann mit uns zu reden, d. h. eigentlich nur mit mir, da die Schwester zu klein war, um ihre Reden zu verstehen, auch bald vom Stuhle sprang und in das Kinderzimmer zu ihrer Wärterin lief. Meinem kindlichen Verstande sich anpassend, setzte mir die Mutter auseinander, die Kaiserin Katerina Alexejewna sei gut und klug gewesen, habe lange geherrscht und sei bemüht gewesen, daß alle glücklich leben und etwas lernen möchten; sie habe es verstanden, gute Räte und tapfere Feldherren zu wählen, und während ihrer Regierung habe kein Nachbar uns etwas zuleide getan, unsere Soldaten dagegen seien immer siegreich gewesen und hätten sich viel Ruhm erworben. Zum Teil hatte ich von alledem schon gehört; nun aber wurden mir die Sachen erst recht klar, und ich fühlte mich vom Tode der Kaiserin ordentlich betrübt. »Wer wird denn jetzt unsere Kaiserin sein?« fragte ich. »Jetzt bekommen wir einen Kaiser, ihren Sohn, Pawel Petrowitsch,« erwiderte die Mutter. – »Wird er auch so klug und so gut sein?« – »Das hängt von Gottes Willen ab; wir wollen beten, daß dem so sei,« sagte die Mutter. Ich meinte, Gott werde gewiß wollen, daß Pawel Petrowitsch weise und gutherzig sei. Die Mutter erwiderte nichts und befahl mir, in die Kinderstube zu gehen und dort zu lesen oder mit der Schwester zu spielen. Aber ich wollte noch wissen, welche Bewandtnis es mit dem Eide habe. Meine Mutter erklärte mir die Bedeutung dieser Handlung, und ich äußerte sogleich meinen Entschluß, auch den Eid abzulegen. »Kindern wird kein Eid abgenommen,« sagte die Mutter; »geh nur zu der Schwester!« Ich fühlte mich gekränkt.

Bald kam mein Vater und mit ihm einige Bekannte. Alle waren über unseren militärischen Gouverneur oder Korpskommandeur (das weiß ich nicht genau) W … entrüstet, der öffentlich seine Freude über den Tod der Kaiserin kundgetan hatte. Er hatte befohlen, den ganzen Tag mit den Glocken zu läuten, und hatte die ganze Gesellschaft auf den Abend zu einem Ball und einem Souper geladen. Ich schloß gleich daraus, daß W … ein Bösewicht sei. Aus dem Gespräche erfuhr ich, daß er besondere Gründe habe sich zu freuen, da der neue Kaiser ihn sehr begünstige und er nun auf eine hohe Stellung Aussicht habe. Das brachte mich noch mehr gegen W… auf; wie konnte er sich seines Glückes freuen, da alle um ihn her betrübt waren! Anfangs hörte ich meine Mutter sehr fest darauf bestehen, daß man des Abends nicht zum Gouverneur fahren solle, und andere stimmten ihr bei. Dann aber wurde plötzlich entschieden, daß man doch nicht gut ausbleiben könne. Meine Mutter ließ sich auf keinen Streit ein, sagte aber, sie werde zu Hause bleiben. Auch mein Vater fuhr hin, kehrte aber gleich wieder zurück und erzählte, daß der Ball wie eine Begräbnisfeier aussehe, und daß die einzigen vergnügten Gesichter W …, seine beiden Adjutanten und sein Freund, der frühere Deputierte Anitschkow, seien, der es der verstorbenen Kaiserin nicht verzeihen konnte, daß sie die Deputiertenversammlung zur Beratung einer neuen Gesetzgebung aufgelöst hatte, und meinte, es sei an der Zeit, daß die Macht in männliche Hände übergehe.

Dieser Tag hatte mich mit neuen, mir bis dahin ganz fremden Begriffen bereichert und manche neuen Gefühle in meiner Brust geweckt. Als ich mich abends in mein Bettchen gelegt hatte, als sich der Vorhang über mir schloß und alles um mich her ruhig wurde, malte mir meine Einbildungskraft ergreifende Bilder vor. Ich sah die tote Kaiserin riesengroß unter einem schwarzen Baldachin in einer schwarz ausgeschlagenen Kirche liegen (ich hatte davon reden hören), neben ihr kniend den neuen Kaiser, auch eine Riesengestalt, der weinte, und hinter ihm schluchzte laut das ganze Volk, in einer Schar, so groß wie von Ufa bis Subowka, d. h. zehn Werst. Am anderen Morgen beschrieb ich alles der Wärterin Parascha und dem Schwesterchen, als hätte ich es wirklich gesehen.

Das Gerede über den Tod der Kaiserin hörte lange nicht auf, wurde sogar in der ersten Zeit mit jedem Tage lebhafter. Man sprach darüber im Schlafzimmer der Mutter und im Salon, ja sogar in unserer Kinderstube, in die bald Annuschka, die Frau Jefrems, bald die bucklige Kalmückenfürstin Spitzname eines Dienstmädchens. (Anmerkung des Übersetzers S. R.) aus dem Dienstmädchenzimmer herüberkamen. Im Schlafzimmer und im Salon sprach man von den Veränderungen, die in höheren Kreisen zu erwarten seien, von der baldigen Entfernung aller Lieblinge der verstorbenen Kaiserin, die der Kaiser nicht leiden möge, weil sie sich früher gegen ihn häßlich benommen hätten. Ich hörte oft die mir unverständliche Äußerung wiederholen: »Jetzt werden die Leute von Gatschino Das Schloß, in welchem Kaiser Paul sich bis zum Tode seiner Mutter aufhielt. – Die Leute, die dort den Hof des Kronprinzen bildeten, wurden in der Folge vom Kaiser besonders ausgezeichnet. (Anmerkung des Übersetzers S. R.) gute Tage haben!« In der Kinderstube wurde das nacherzählt, was in der Mädchenstube und in der Bedientenstube zur Sprache kam, wo man am meisten über das plötzliche Hinsterben der Kaiserin redete und dabei schreckliche Erzählungen hinzufügte, die mich tief erschütterten. Ich wandte mich an Vater und Mutter, um nähere Auskunft zu erhalten, und nur ihre festen und wiederholten Versicherungen, daß an den Gerüchten nichts Wahres sei, konnten mich beruhigen. Ich lief in die Kinderstube zurück und tat mein möglichstes, um Parascha und alle übrigen von der Grundlosigkeit ihrer Erzählungen zu überzeugen, doch umsonst. Man antwortete mir, daß ich noch klein sei und nichts von der Sache verstehe. Diese Antwort kränkte und reizte mich. Ich habe in der Folge erfahren, daß es Parascha und den anderen dann streng verboten worden sei, künftig den Kindern die Gerüchte mitzuteilen, die im Volke kursierten.

Alle Tage erwartete man wichtige Ereignisse; aber die Nachrichten aus den Hauptstädten erreichten nur langsam das entfernte Ufa. Der Gouverneur W… war verreist. Wie man versicherte, hatte ihn der Kaiser heimlich zu sich berufen.

Bald begann ein harter Winter, und wir sahen uns ausschließlich auf unsere Kinderstuben beschränkt, von denen wir nur eine bewohnten. Meine Beschäftigung mit Lesen und Schreiben, sowie mit dem Rechnen, das mir sehr sauer wurde, nahm von selbst einen größeren Umfang an, da ich viel Zeit hatte. Gäste kamen selten, Spaziergänge waren unmöglich. Sogar die Altrussische Bibliothek wurde mitunter hervorgezogen.

Ich hörte einmal sagen, daß der Großvater unpäßlich sei, indessen schien sein Unwohlsein niemanden zu beunruhigen, und ich hatte bald die Sache vergessen. Eines Tages, als wir bei Tische waren, wurde dem Vater ein Brief überreicht, den ein expresser Bote aus Bagrowo gebracht hatte. Mein Vater öffnete den Brief, las ein paar Zeilen, brach in Tränen aus und zeigte ihn der Mutter; sie las ihn und schien, obwohl sie nicht zu weinen anfing, sehr bestürzt. Das Mittagessen wurde schnell zu Ende gebracht. Vater und Mutter genossen nichts. Nach Mittag gingen sie ins Schlafzimmer und sandten uns fort; als man uns erlaubte wiederzukommen, schickte sich der Vater an auszufahren, und die Mutter, die sehr betrübt aussah, sagte mir: »Nun, lieber Sergei, müssen wir alle nach Bagrowo; der Großvater liegt im Sterben.« Mit traurigem Staunen hörte ich diese Worte; ich wußte schon, daß alle Menschen sterben müssen, und der Tod, wie ich ihn mir vorstellte, war ein böser Geist, ein Schreckbild, an das ich gar nicht denken mochte. Der Großvater flößte mir Mitleid ein; jedoch wünschte ich gar nicht, seinen Tod mit anzusehen oder aus einem anderen Zimmer sein Ächzen und Stöhnen während des Todeskampfes zu hören. Mich ängstigte auch der Gedanke, daß die Mutter dabei krank werden könne. »Und wie werden wir mitten im Winter hinfahren?« dachte ich. »Die Schwester und ich sind ja noch ganz klein; wir werden ja erfrieren!« Alle diese Gedanken arbeiteten in meinem Kopfe durcheinander, und tief erschüttert und betrübt saß ich schweigend da, mich ganz meiner lebhaften Phantasie hingebend, die sich immer mehr erhitzte. Außer der Furcht, den Großvater sterben zu sehen, fühlte ich einen Widerwillen gegen Bagrowo. Ich hatte unser trauriges Leben dort, ohne Vater und Mutter, nicht vergessen, und wünschte nicht wieder dort zu sein, besonders nicht im Winter. Der Vater kam zurück, trat hastig ins Schlafzimmer und sagte beinahe freudig, was mich sehr wunderte: »Gott sei Dank, ich habe alles gefunden! Einen Kutschschlitten gibt uns S. J. Anitschkow, und einen gewöhnlichen halboffenen bekommen wir von Michailows. Nun, Mütterchen, gilts schnell einzupacken. Morgen bekomme ich meinen Urlaub, und wir reisen sogleich mit Postpferden ab.« Die Mutter antwortete traurig: »Ich werde schon fertig; wenn uns nur dein Urlaub nicht aufhält!« – Gleich an demselben Abend begannen die Vorbereitungen zur Reise, das Einpacken und die Herstellung von Proviant. Mir erlaubte man nur wenige Bücher mitzunehmen. Ich sprach meiner Mutter alle meine Bedenken und meine Befürchtungen aus; einige konnte sie nicht beseitigen; als ich ihr aber gestand, daß ich zu erfrieren fürchtete, lachte sie und sagte, wir würden es in dem Kutschschlitten heiß haben.

Am anderen Tage um Mittag war in der Tat alles fertig. Die Schlitten waren bepackt. Man wartete nur auf den Urlaub. Er wurde um drei Uhr gebracht. Man schickte nach den Postpferden, und des Abends reisten wir ab.

Winterreise

Diese fast zweitägige Reise hat mir den unangenehmsten und peinlichsten Eindruck hinterlassen. Als wir einsteigen mußten, wurde mir ganz bange beim Anblick des niedrigen, mit Leder überspannten Kutschschlittens, durch dessen enge Türe man nur mit Mühe hinein konnte. In diesem Kutschschlitten mußten Parascha und Annuschka, ich und das Schwesterchen Platz nehmen. Ich wollte zur Mutter in den anderen Schlitten; aber die Kälte war entsetzlich, und mir wurde streng befohlen, in den Kutschschlitten einzusteigen. Ich gehorchte mit Widerwillen und unter Tränen. Die Mutter konnte im Winter nicht in einem geschlossenen Schlitten fahren; ihr wurde schwindlig und übel. Sogar im halboffenen Schlitten pflegte sie auf eine eigentümliche Weise zu sitzen, beinahe ganz draußen, so daß die freie Luft sie von allen Seiten umwehte. Bald wurde es im Kutschschlitten warm, und man mußte mir das Tuch abnehmen, in das man mich über Pelz und Mütze gewickelt hatte. Wir glitten schnell über die glatte Bahn, und ich empfand zum erstenmal das eigentümliche Vergnügen einer raschen Fahrt. Beide Türen des Kutschschlittens hatten ein kleines, viereckiges, mit einer fest eingefügten Glasscheibe versehenes Fensterchen. Ich kroch, so gut es ging, an ein solches Fenster und guckte mit Vergnügen hinaus. Die Nacht war mondhell; die plumpen Merkpfähle, manchmal auch Bäume huschten rasch vorbei; doch leider hatte auch dieses Vergnügen bald ein Ende. Die Gläser trübten sich, erglänzten in tausend phantastischen Mustern und waren bald mit einer dicken Schicht Eis bedeckt. Eine traurige Zukunft schwebte mir vor: das düstere Haus in Bagrowo, in Schnee vergraben, und darin versterbende Großvater! Das Schwesterchen war schon lange eingeschlafen, und endlich schloß ein wohltätiger Schlaf auch meine Augenlider. Beim Erwachen am anderen Morgen glaubte ich, daß es noch sehr früh sei, da in unserem Schlitten nur ein dämmerndes Licht herrschte; die Gläser hatten sich noch mehr mit Eis bedeckt. Alle schienen übrigens schon längst wach zu sein, und mein Schwesterchen war damit beschäftigt, etwas zu verzehren; sie kroch zu mir herüber, herzte und küßte mich. Im Schlitten war es in der Tat heiß geworden. Bald fiel mir das eigentümlich knarrende Geräusch auf, das unser Schlitten hervorbrachte, und ich wurde gewahr, daß wir nur ganz langsam vorwärts kamen. Man setzte mir auseinander, daß wir an der dritten Station den Postweg verlassen hatten und nicht mehr mit drei nebeneinander gespannten Postpferden fuhren, sondern uns nun auf einem Landwege fortbewegten, von hintereinander gespannten Bauernpferden gezogen. Dies betrübte mich sehr, und sogar mein liebes Schwesterchen konnte mich nicht zerstreuen. Sie wußte, wodurch sie mir Vergnügen machen konnte, und bat mich, ihr aus dem Buche vorzulesen, das in der Seitentasche des Schlittens lag; aber ich war so verstimmt, daß ich nicht einmal lesen mochte. Endlich kamen wir in einem Tatarendörfchen an, wo die Pferde gewechselt werden sollten, und wohin der Kutscher Stepan vorausgeritten war, um dieselben zu bestellen. Wir gingen in die Bauernstube, die im voraus für uns zurechtgemacht war, um Tee zu trinken und zu frühstücken. Meine Mutter sah leidend und ermüdet aus; sie hatte die ganze Nacht nicht schlafen können und fühlte sich übel und schwindlig; dies vermehrte noch meine Unruhe und meine Betrübnis. In der weißen Tatarenstube lag auf den breiten Pritschen ein ungeheurer Haufen ziemlich schmutziger Federbetten, der beinahe bis zur Decke reichte; der übrige Teil der Pritschen war mit weißem Filze bedeckt. Auf diesen breitete die Mutter ihren Reisemantel aus, ließ ihre Kissen holen, streckte sich aus und schlief sogleich ein, nachdem sie befohlen hatte, den Tee ohne sie zu trinken. Sie schlief eine ganze Stunde, und der Vater trank mit uns so geräuschlos als möglich den Tee; ja wir fanden Zeit, aufgewärmten Braten zu frühstücken. Der Schlaf hatte meine Mutter gestärkt, und wir fuhren weiter. Des Abends geschah dasselbe, d. h. wir hielten an, um die Pferde zu wechseln, stiegen aber nicht in einem reinlichen Tatarenhause, sondern in einer schmutzigen Mordwinenhütte ab. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben nichts Scheußlicheres gesehen als diese Hütte. Der Schmutz, der Gestank von dem mit den Menschen zugleich darin hausenden Vieh war entsetzlich, und bei alledem gab es nur so schmale Bänke, daß die von der langen Fahrt erschöpfte Mutter sich nicht ausstrecken konnte. Endlich gelang es dem Vater, ihr aus zusammengeschobenen Bänken ein Lager zu bereiten. Sie konnte nichts essen und trank nur ein wenig Tee. Wir saßen mit den Füßen auf den Bänken, obgleich wir warme Schuhe hatten, da es am Boden gewaltig zog. Man sagte, daß der Frost weit stärker geworden sei, und als man die Tür öffnete, drang die kalte Luft wie eine weiße, wirbelnde Wolke in das Zimmer herein. Wir aßen aufgewärmte Suppe und Pasteten und fuhren weiter. Unser Kutschschlitten war infolge einer unvorsichtig offen gelassenen Tür so kalt geworden, daß wir ihn nur langsam durch unsere Gegenwart und unseren Atem aufs neue erwärmen konnten. Ich kann die Unruhe und Aufregung nicht beschreiben, in der ich mich befand. Ich ahnte, ja ich war überzeugt, daß uns ein Unglück bedrohe. Entweder mußten wir erfrieren wie die Dohlen und Sperlinge, von denen Parascha erzählte, daß sie mitten im Fluge tot niederfielen, oder wir mußten krank werden. Doch alle meine Befürchtungen und Ahnungen bezogen sich viel mehr auf meine Mutter als auf mich selbst und die Schwester. In unserem Kutschschlitten war es inzwischen allmählich wieder warm geworden; die Mutter aber saß ganz im Freien. Die bösen Ahnungen ließen mich nicht einschlafen, plötzlich hielten wir an, und nach ein paar Minuten wurde mir dieses Stillstehen unheimlich. Ich weckte Parascha, bat und beschwor sie, an die Tür zu klopfen, jemanden zu rufen, zu fragen, was der Stillstand bedeute; aber Parascha, sonst gewöhnlich so gefällig und freundlich, war darüber erzürnt, daß ich sie geweckt hatte, und erwiderte mir trocken: »Kein Mensch hört etwas, wenn ich auch klopfe; die Leute wissen schon, warum sie halten.« Wenn sie gewußt hätte, welche Angst mich folterte, hätte sie gewiß Mitleid mit mir gehabt. Endlich kam der Schlitten wieder in Bewegung. Am anderen Morgen, als wir ausstiegen, um Tee zu trinken, erfuhr ich, daß meine Angst nicht ohne Grund gewesen war: der Tschuwasche, der uns als Vorreiter diente, war beinahe erfroren. Schlecht gekleidet, war er ohnmächtig vor Kälte vom Pferde gefallen; man hatte ihn übrigens durch Reiben wieder zum Bewußtsein erweckt und glücklich bis zum nächsten Dorfe gebracht. Von der Zeit schreibt sich der Widerwille, ja der Abscheu her, den ich bis jetzt gegen das Reisen im Winter mit Bauernpferden abseits von den Postwegen empfinde. Das Geschirr aus Bast, die schwachen, ungewohnten Pferde, die nie Hafer zu fressen bekommen, und vor allem die armen Leute, die nicht warm genug gekleidet sind, um auch nur zehn Werst bei strenger Kälte zu fahren – das alles ist wahrhaft schrecklich.

Der Weg, auf dem wir nun nach Bagrowo fuhren, war ein ganz anderer als derjenige, auf dem wir im Sommer hingereist waren. Von diesem Sommerwege über die Steppen war jetzt keine Spur vorhanden. Im Winter wurden auf größere Entfernungen keine geraden Wege angelegt, und man mußte die Wege benutzen, die von Dorf zu Dorf führten.

Am Morgen, als ich aus meinem Gefängnis hervorkroch und wieder das Tageslicht sah, fühlte ich mich einigermaßen ermutigt und beruhigt. Auch meine Mutter hatte sich an das Fahren gewöhnt und befand sich besser, und die Kälte war erträglicher geworden. Doch bald verging der kurze Wintertag, und die nächtliche Dunkelheit, die in unserem Kutschschlitten sehr früh eintrat, erfüllte meine schüchterne Seele wieder mit Angst und bangen Ahnungen, und leider auch dieses Mal nicht umsonst; ich sage leider, denn seitdem faßte der unwillkürliche Glaube an Vorgefühle in mir Wurzel, und ich habe mein ganzes Leben hindurch viel mehr darunter gelitten als unter den wirklichen Schlägen des Geschicks, obgleich meine Ahnungen sich fast niemals verwirklichten. Am Abend, schon in der Nähe von Bagrowo, stieß unser Kutschschlitten an einen Baumstumpf und fiel um. Ich stieß mich im Schlafe über dem Auge an einem Messingnagel, an dem eine Seitentasche hing, und wäre obendrein beinahe erstickt, weil Parascha, die Schwester und eine Menge Kissen auf mich gefallen waren, und weil es erst nach einer Weile gelang, den umgefallenen Schlitten wieder aufzurichten. Im ersten Augenblicke der Befreiung empfand ich nur die Freude, nicht erstickt zu sein, und merkte die Wunde über dem Auge gar nicht. Zu meinem großen Leidwesen lachten aber Annuschka, Parascha und sogar das Schwesterchen, die nicht einsehen konnten, daß ich dem Ersticken nahe gewesen war, über meine Angst und meine Freude. Glücklicherweise wußte die Mutter nichts von diesem Unfall.

Bagrowo im Winter

Endlich hörten wir Hunde bellen; die blassen, zitternden Lichter einer Reihe von Bauernhäusern schimmerten durch unsere jetzt weniger beeisten Fenster hindurch, und wir errieten, daß wir in Bagrowo waren, da sonst kein Dorf mehr zu passieren war. Wir hielten bei dem ersten Bauernhofe; ich erfuhr später, daß mein Vater dort fragen ließ, wie es dem Großvater gehe. Die Antwort lautete, daß er noch lebe. Wir fuhren mit Glöckchen und sehr langsam näher. Man hatte auf uns geharrt, unser Nahen gehört, und trotz der späten Stunde und der strengen Kälte kamen uns die Großmutter und Tante Tatjana Stepanowna vor die Haustür entgegen. Beide schluchzten laut. Wir traten geräuschlos ins Haus. Die Tante machte sich mit mir und meiner Schwester zu schaffen; der Vater und die Mutter aber gingen zum Großvater, der dem Tode nahe, jedoch vollkommen bei Bewußtsein war und ungeduldig auf seinen Sohn, seine Schwiegertochter und seine Enkel harrte. Uns wurde wieder der Salon eingeräumt, da die besondere Stube, die uns der Großvater versprochen hatte, zwar fertig gezimmert und gedeckt, aber noch nicht eingerichtet war. Das ganze Haus war voll. Alle Tanten und ihre Männer hatten sich versammelt. Tatjana Stepanownas Zimmer hatte Frau Erlykina mit ihren beiden Töchtern eingenommen; Iwan Petrowitsch Karatajew und Erlykin schliefen irgendwo in der Tischlerei; die übrigen drei Tanten wohnten im Zimmer der Großmutter, dicht neben dem Zimmer des kranken Großvaters. Im Saale war es kalt und im Salon ebenfalls. Man konnte kaum eine Bettstelle für die Mutter auftreiben; ich und die Schwester wurden auf dem Sofa gelagert; für den Vater wurde ein Federbett auf den Fußboden gelegt. Man brachte die Teemaschine und bereitete uns Tee. Die Mutter kam ganz erhitzt aus dem Zimmer des Großvaters, das so warm geheizt war, daß man darin kaum atmen konnte. Der Salon schien ihr sehr kalt, und sie ging gleich daran, ihn behaglicher zu machen. Die Tür nach dem Saale wurde verschlossen und mit einem Teppiche verhängt, Filzdecken wurden über den Fußboden gebreitet, und der Salon, der zwei Ofen enthielt, wurde bald warm und blieb es während unseres ganzen Aufenthaltes in Bagrowo.

In meinem Geiste bewegte sich ein buntes Gewirr von Eindrücken, Erinnerungen, Befürchtungen und Vorgefühlen; dazu begann mein Kopf infolge des Stoßes heftig zu schmerzen. Die Mutter merkte bald, daß ich mich unwohl fühlte und daß mein Auge geschwollen war, und wir mußten ihr den Vorfall erzählen. Mir wurde eine Kompresse und eine Binde aufs Auge gelegt. Doch war meine Mutter viel leidender als ich, infolge der Schlaflosigkeit, der Müdigkeit und des Kopfwehs während der ganzen Reise. Sie legte sich nicht, sondern sank erschöpft in ihr Bett; wir wurden natürlich ebenfalls gleich zur Ruhe gebracht. Mein Vater blieb die ganze Nacht hindurch beim Großvater, dessen Tod man jeden Augenblick erwartete. Meine Mutter schlummerte bald ein; ich aber konnte lange nicht einschlafen. Immerwährend erwartete ich, daß der Todeskampf des Großvaters anfangen sollte, und da der Tod nach meiner Vorstellung mit den fürchterlichsten Qualen verbunden war, so horchte ich mit gespannter Aufmerksamkeit, ob nicht der Großvater zu stöhnen und zu wimmern beginne. Auch wegen der Mutter war ich sehr besorgt; der Kopf tat mir weh, mein eines Auge war verschwollen, ich empfand Fieberhitze, hatte Fieberphantasien und fürchtete krank zu werden; doch alles wich einem wohltätigen, heilsamen Schlafe. Schon in der Morgendämmerung erwachend, sah ich, daß meine Mutter noch schlief, was mich sehr erfreute. Kopf und Auge schmerzten nicht mehr, dagegen war das letztere so geschwollen, daß ich es nicht mehr öffnen konnte, und die ganze verletzte Stelle war blau geworden. Der Vater schien noch nicht dagewesen zu sein; denn sein Bettzeug lag unberührt da. Ich besah mir den Salon: Alles war darin wie im Sommer, nur die Fenster waren mit funkelnden Eisarabesken geziert. In der Muße gab ich meinen Einbildungen oder richtiger meinen Kombinationen freien Lauf; denn ich erwog aufmerksam unsere nunmehrige Lage und das, was uns in der Zukunft erwartete. Natürlich waren diese Erwägungen ganz kindischer Art. Wenn der Großvater stirbt, dachte ich, stirbt wohl auch bald die Großmutter; denn sie ist alt und hat weiße Haare. Dann nehmen wir Tante Tatjana nach Ufa mit, und sie wohnt bei uns im leeren Kinderzimmer; wenn Großmutter nicht stirbt, nehmen wir auch sie mit; das Haus wird von Bagrowo nach Sergejewka transportiert, dicht beim See aufgestellt, und im Sommer wohnen wir dort und angeln jeden Tag mit der Tante. Doch alle diese Träume wichen bei dem Gedanken an des Großvaters Tod, an dem niemand zweifelte. Ich wußte, daß er uns zu sehen wünschte, und, ich muß es gestehen, diese unvermeidliche Zusammenkunft erfüllte mich mit namenlosem Grauen. Am meisten fürchtete ich, daß der Großvater beim Abschiednehmen mich umarme und plötzlich sterbe, und daß man mich nicht aus seinen erstarrten Armen reißen könne und mit ihm begraben müsse. Freilich konnte sich in einem Kinderkopf eine solche Vorstellung aus den Erzählungen von den Toten und von der Starrheit ihrer Glieder bilden; aber doch stand sie mit meinem damals sonst schon klaren Verständnis mancher Dinge in einem sonderbaren Widerspruche. Mein Gott, wie stockte mein Herz bei diesem Gedanken! Der Atem verging mir, ein kalter Schweiß benetzte mein Gesicht, ich konnte es nicht aushalten, sprang auf und setzte mich quer übers Bett; ich versuchte sogar meine Schwester zu wecken, und wenn ich nicht aufschrie, so war es nur, weil mir die Stimme den Dienst versagte. In diesem Augenblicke erwachte meine Mutter und erschrak beim Anblicke meines Gesichts. Die Binde war abgefallen und eine blauschwarze Beule war über meinem Auge entstanden. Meine grundlose Angst verschwand, als ich den wirklichen Schreck meiner Mutter sah; ich lief zu ihr, setzte mich auf ihr Bett und versicherte ihr, daß ich mich ganz wohl befände und keinen Schmerz spürte. Meine Mutter beruhigte sich und sagte, daß es bald vergehen werde. Der Schlaf hatte sie gestärkt; sie erhob sich eilig von ihrem Lager, kleidete sich an und ging zum Großvater. Es war schon hell geworden; die Schwester erwachte und erschrak anfangs ebenfalls, als sie den Zustand meines Auges sah; aber es wurde wieder eine Binde darauf gelegt, und sie beruhigte sich. Sie fürchtete sich keineswegs vor dem Großvater, war über sein Sterben sehr betrübt und wünschte, ihn zu sehen. Ihr Mut und ihre Liebe zu dem Großvater beschämten und ermutigten mich. Meine Mutter kam bald zurück und sagte, daß der Großvater schon sehr schwach, aber noch bei Sinnen sei und uns zu sehen und zu segnen wünsche. Trotz aller Anstrengungen, meiner Gefühle Herr zu werden, konnte ich meine Angst nicht verbergen und wurde sogar blaß. Die Mutter wollte mich dadurch ermutigen, daß sie mir sagte: »Wie kannst du dich vor dem armen Großvater fürchten, der kaum atmet und bald sterben wird!« Ich dachte, daß dieses eben das Schreckliche sei, wagte es aber nicht auszusprechen. Sie führte uns ins Zimmer des Großvaters, der mit geschlossenen Augen im Bett lag. Sein Antlitz war bleich und so verändert, daß ich ihn nicht erkannt hätte. Ihm zu Häupten saß auf einem Lehnstuhl die Großmutter; zu seinen Füßen stand der Vater, dessen Augen vom Weinen rot und geschwollen waren. Er beugte sich zum Ohr des Kranken und sagte laut: »Die Kinder sind gekommen, von Ihnen Abschied zu nehmen.« Der Großvater machte die Augen auf, und ohne ein Wort zu sagen, bekreuzte er uns mit zitternder Hand und berührte unsere Köpfe mit seinen Fingern; wir küßten seine abgemagerte Hand und fingen an zu weinen; alle, die im Zimmer waren, weinten auch, schluchzten sogar, und nun erst bemerkte ich, daß sich in dem Zimmer sämtliche Onkel und Tanten befanden, auch die Ältesten aus der Dienerschaft. Meine Furcht war ganz vergangen, und in diesem Augenblicke erregte der sterbende Großvater in mir nur Liebe und Mitleid. In der Krankenstube war es zum Ersticken heiß; die Mutter führte uns bald wieder in den Salon zurück, wo die Schwester und ich in so heftiges Weinen ausbrachen, daß man uns lange nicht beruhigen konnte. Um uns zu zerstreuen, ließ die Mutter die Kusinen zu uns kommen; diese waren viel ruhiger, begegneten uns sehr freundlich, und so beruhigten auch wir uns allmählich und kamen ins Gespräch mit ihnen. Wir redeten miteinander bis zum Mittagessen, das auf die gewöhnliche Weise im Saale verzehrt wurde. Gerichte gab es in Menge, und mit Ausnahme der Mutter und des Vaters (letzterer setzte sich nicht einmal zu Tisch) aßen alle mit großem Appetit und unterhielten sich ganz ruhig, nur mit gedämpfter Stimme. Nach Tische kamen die Kusinen wieder zu uns in den Salon, und ich plauderte und erzählte ohne Unterlaß. Ohne mir davon Rechenschaft zu geben, bemühte ich mich, durch unbedeutende Gespräche den meinem Geiste immer gegenwärtigen Gedanken an des Großvaters Tod zu verscheuchen. Meine Mutter ging immerwährend nach der Krankenstube und erlaubte uns, ins Zimmer der Kusinen zu gehen. Man gelangte dahin durch den Korridor und das Dienstmädchenzimmer, das mit Mägden verschiedenen Alters angefüllt war. Ihre Kleidung fiel mir auf; einige von ihnen trugen gewöhnliche Kleider von gestreifter Hanfleinewand; andere Röcke und ärmellose Jacken; andere endlich nur Hemden und Röcke. Alle saßen am Spinnrocken und spannen. Dieses Schauspiel war mir völlig neu. Ich blieb stehen und sah neugierig zu, wie die Spinnerinnen mit der einen Hand an dem Flachse rupften, mit der anderen die Spindel mit dem aufgewickelten Faden drehten. Sie machten ihre Sache höchst behende und zierlich, und da alle schwiegen, brachte das Schnurren der Spindeln und das Rupfen am Flachse ein höchst merkwürdiges Geräusch hervor, das ich noch nie gehört hatte. Gerade während ich neugierig zusah und horchte, ertönte ein Schluchzen aus dem Zimmer des Großvaters; ich schauderte zusammen. Im selben Augenblicke war die Mädchenstube leer. Die Spinnerinnen hatten Spindel und Rocken fallen lassen und drängten sich sämtlich nach der Krankenstube. Ich glaubte, daß der Großvater gestorben sei. Durch diesen Gedanken erschüttert und erschreckt, geriet ich, ich weiß nicht mehr wie, ins Zimmer der Kusinen, stieg aufs Bett der Tante und verbarg das Gesicht in den Kissen. Parascha verließ uns auch sogleich, um zu sehen, was im Zimmer des armen alten Herrn vorging. Mir wurde noch ängstlicher zumute; doch Parascha kehrte bald zurück und erzählte, der Großvater habe Zuckungen gehabt, sich aber gleich wieder erholt. »In der Nacht muß er doch sterben,« fügte sie gleichgültig hinzu. Wir blieben noch ein paar Stunden bei den Kusinen; aber ich plauderte nicht mehr und saß wie ein zum Tode Verurteilter da. Man rief uns in den Saal, um Tee zu trinken; die Mutter, die Großmutter und die Tanten kamen eine nach der anderen dorthin, aber nur auf kurze Zeit. Mein Vater erschien gar nicht, und es betrübte mich, daß ich ihn bereits so lange nicht gesehen hatte. Ich verstand schon seine Gefühle beim Anblicke seines sterbenden Vaters. Nach dem Tee kamen die Kusinen wieder zu uns in den Salon; allein ich konnte jetzt an ihren Gesprächen nicht teilnehmen. Nach ein paar Stunden gingen sie fort, um sich schlafen zu legen. Wie beneidete ich sie darum, daß sie sich nicht fürchteten; wie wünschte ich, daß sie noch länger dageblieben wären! Ohne sie wurde es mir viel unheimlicher zumute. Mein liebes Schwesterchen trauerte über den baldigen Tod des Großvaters, sprach immerwährend von ihm und sagte: »Großvater wird nicht mehr essen; man wird den Großvater im Schnee vergraben; er dauert mich.« Sie weinte, empfand aber ebenfalls keine Furcht und schlief bald ein. Bei mir verdrängte die Furcht alle anderen Gefühle, und ich war überzeugt, daß ich die ganze Nacht nicht schlafen würde. Ich flehte Parascha an, sich nicht zu entfernen, und sie versprach mir zu bleiben, bis die Mutter kommen würde. Statt der Nachtlampe, die nur trübe brannte, bat ich sie, ein Licht anzuzünden. Weil ich merkte, daß Parascha schläfrig wurde, knüpfte ich mit ihr ein Gespräch an, um sie wach zu erhalten. Ich fragte: »Warum weint und schreit Großvater nicht? Tut es ihm nicht weh, zu sterben?« Parascha erwiderte lachend: »Nein, wenn der Mensch im Sterben liegt, tut ihm nichts mehr weh; er fühlt und versteht nichts. Der Großvater hat schon die Sprache verloren und erkennt niemanden; er will sprechen, sieht allen ins Gesicht und kann nur die Lippen bewegen.« Ein neues, noch schrecklicheres Bild des sterbenden Großvaters entstand vor meinen Blicken; dieses Bild konnte ich nicht los werden. Ich fühlte die ganze Unermeßlichkeit dieser Qual, die man anderen nicht mitteilen kann, weil man nicht mehr zu sprechen vermag. Ich ergriff Paraschas Hand und ließ sie nicht einen Augenblick aus der meinigen. Ich sprach kein Wort mehr. Das Licht war tief heruntergebrannt und mußte geputzt werden; aber ich konnte mich nicht entschließen, auch nur auf einen Augenblick Paraschas Hand aus der meinigen zu lassen. Sie mußte mit mir hingehen, das Licht auf unseren Tisch herüberstellen und es so nahe rücken, daß sie es putzen konnte, ohne aufzustehen. Parascha wollte immerwährend einschlafen; ich ließ sie aber nicht dazu kommen, indem ich immer mit kläglicher Stimme wiederholte: »Liebe Parascha, schlafe nicht!« Endlich kam die Mutter. Sie war verwundert, mich noch wach zu finden, und als sie die Ursache hörte, nahm sie mich in ihr Bett und legte sich, ohne sich auszukleiden, zu mir. Ich umschlang ihren Hals mit beiden Armen, und durch ihre Versicherungen beruhigt, daß der Großvater noch nicht so bald sterben werde, schlief ich rasch ein. Einige Stunden lang schlief ich ruhig; aber mein Erwachen war grauenhaft. Die Augen öffnend, sah ich, daß die Mutter nicht im Zimmer war und Parascha ebenfalls nicht; das Licht war ausgelöscht, und die züngelnde Flamme des Dochtes am Grunde des ausgebrannten Nachtlämpchens erhellte ab und zu mit huschendem Schein das Zimmer, drohte aber jeden Augenblick, mich in vollkommener Dunkelheit zu lassen. Keine Worte können meinen Schreck ausdrücken. Es wurde mir siedend heiß ums Herz, und zugleich überlief es mich kalt vom Kopf bis zu den Zehen. Ich wickelte meinen Kopf in die Decke und fühlte, daß mir ein kalter Schweiß aus der Haut trat. Umsonst drückte ich die Augen zu. Der Großvater stand vor mir, sah mir ins Gesicht und bewegte die Lippen, wie es Parascha geschildert hatte. Die Heimchen zirpten in den hohlen Holzwänden, und diese schwachen Töne versetzten mich in eine krankhafte Spannung. Wenn in diesem Augenblick geklopft worden wäre oder etwas geknackt hätte, ich würde, glaube ich, auf der Stelle gestorben sein. Auf einmal meinte ich von weitem ein Schluchzen zu vernehmen. Ich dachte, es sei eine Täuschung; doch das Schluchzen wurde immer vernehmlicher und ging in lautes Stöhnen und Klagen über. Ich konnte es nicht mehr aushalten, warf meine Decke zurück und fing an zu schreien, so laut ich konnte; die Schwester erwachte und stimmte mit ein. Wahrscheinlich dauerte unser Geschrei sehr lange, bis man darauf acht gab, weil in jenem Augenblicke in der Tat mein Großvater gestorben war und die ganze Hausgenossenschaft weinend und jammernd in sein Zimmer zusammenlief, wobei freilich unsere schwachen Kinderstimmen nicht vernommen werden konnten. Ich verlor schon die Besinnung und war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen, als Parascha ins Zimmer stürzte, die ganz ruhig im Korridor dicht an unserer Tür geschlafen hatte und endlich durch das allgemeine Geschrei geweckt worden war. Glücklicherweise hörte sie unsere Stimmen, da wir ihr näher waren. Sie zündete das Licht an der erlöschenden Nachtlampe an, hob uns auf ihre Knie und beruhigte uns einigermaßen. Endlich kam auch die Mutter; sie sah verstört und leidend aus und sagte, daß der Großvater um sechs Uhr morgens gestorben sei, und daß der Vater gleich kommen und sich zur Ruhe legen werde, da er schon zwei Nächte nicht geschlafen habe. In der Tat erschien bald darauf der Vater, küßte uns, bekreuzte uns, sagte: »Euer Großvater ist nicht mehr,« und weinte bitterlich; ich und die Schwester weinten auch. Das Stöhnen im Hause hatte aufgehört. Der Vater legte sich hin und schlief gleich ein. Das Licht brannte in der Ecke, durch etwas verdeckt. In den Fenstern erschien ein weißlicher Schimmer; ich sah, daß es die Morgendämmerung war; dies beruhigte mich sehr, und ich schlief mit Mutter und Schwester bald ein.

Ich schlief lange. Die helle Wintersonne schien schon in unsere Fenster hinein, als ich die Augen öffnete. Das erste, was mein Ohr traf, war der Kirchengesang, der aus dem Saale tönte; dann hörte ich auch Schluchzen und Weinen. Das Ereignis der vorigen Nacht erwachte in meiner Erinnerung, und ich dachte, daß man gewiß zu Gott für den toten Großvater bete. Das Zimmer war leer; ich meinte, Parascha sei wohl auch mit meiner Schwester beten gegangen, und wartete geduldig, bis jemand käme. Am Tage, beim Sonnenlichte, war mir das Alleinsein nicht unheimlich. Bald trat Parascha mit dem Schwesterchen herein, das vom Weinen rote Augen hatte. Parascha sagte: »Wie lange du geschlafen hast! Es wird bald Mittagessen geben!« und kleidete mich eilig an. Ich begann, mich zu waschen, und auf einmal gelangte zu meinem Ohre ein gedämpftes, singendes Murmeln, das aus dem Saale zu kommen schien. Ich fragte, was da hergesagt werde. »Es wird für den Großvater der Psalter gelesen Solange eine Leiche im Hause ist, wird in dem Totenzimmer der Psalter gelesen. Nach der Bestattung des Toten wird der Psalter in dem Zimmer, wo er verschieden ist, bis zum neunten oder gar bis zum vierzigsten Tage nach dem Tode unablässig gelesen. Natürlich fällt diese Zeremonie bei unbemittelten Leuten weg. (Anmerkung des Übersetzers S. R.),« erwiderte sie, indem sie mir kaltes Wasser auf den Kopf goß. Ich ahnte noch nichts und war ziemlich ruhig, als die Schwester auf einmal zu mir sagte: »Komm in den Saal, Brüderchen; dort liegt der Großvater.« Ich erschrak, und noch immer nicht begreifend, was an der Sache sei, fragte ich: »Wie ist denn der Großvater in den Saal gekommen? Ist er denn noch am Leben?« – »Wie kann er am Leben sein!« unterbrach mich Parascha. »Er ist schon ganz starr; man hat ihn gewaschen, in ein Leichentuch gehüllt, in den Saal getragen und auf den Tisch gelegt; man hat die Totengebete verrichtet; die Geistlichkeit ist schon fort, und nun liest der alte Jekim den Psalter. Höre nicht auf die Schwester! Was ist da an dem Großvater zu sehen? Er sieht so grauenhaft aus und guckt einen mit einem Auge an.« Jedes Wort Paraschas erfüllte meine Seele mit neuem Entsetzen, und ihre letzte Schilderung erweckte in mir ein solches Grauen, daß ich laut schreiend aus dem Salon stürzte und durch den Korridor und die Mädchenstube in das Zimmer der Kusinen flüchtete; Parascha und meine Schwester eilten mir nach, konnten mich aber durchaus nicht überreden, in den Salon zurückzukehren. Es ist wahr, eine solche Angst ist lächerlich, und ich will es Parascha nicht verargen, daß sie lachte, indem sie mir zuredete, wieder in den Salon zu kommen, ja mich mit Gewalt hinführen wollte, wogegen ich mich mit Händen und Füßen wehrte; aber die Qualen, die die Angst einem Kinderherzen verursacht, sind so entsetzlich, daß darüber zu lachen sündhaft ist. Parascha ging weg, um meine Mutter zu holen, die, wie ich später erfuhr, mit anderen um die Großmutter beschäftigt war. Diese war nach dem Gottesdienste in Ohnmacht gefallen, weil sie sich zu sehr durch Weinen und Klagen angestrengt hatte. Die Mutter trat mit Tante Jelisaweta Stepanowna herein. Ich warf mich ihr um den Hals und beschwor sie, mich nicht in den Salon zu führen. Dies schien ihr sehr unangenehm zu sein, und sie sagte, sie schäme sich für mich vor den Kusinen, daß ich, als Mannsperson, ein solcher Hasenfuß sein könne; sie wollte Gewalt anwenden; aber ich geriet in solche Verzweiflung, daß sie darüber erschrak. Die Tante schien mit mir Mitleid zu haben und erbot sich, mit ihren beiden Töchtern, die keine Angst vor Toten hatten, in den Salon zu ziehen. Zu anderer Zeit hätte meine Mutter diese Gefälligkeit um keinen Preis angenommen; nun aber nahm sie dieselbe willig und dankbar an. Es fiel mir ein Stein vom Herzen, als beschlossen wurde, in dieses vom Saale entfernte Eckzimmer überzusiedeln. Dort wurde weder das Psalterlesen noch das »Klagen« vernommen. Die Toten zu »beklagen« wurde damals für eine Notwendigkeit, ja für eine Pflicht angesehen. Nicht nur die Tanten, sondern auch alle alten Weiber aus dem Hofe und aus dem Dorfe kamen eine nach der anderen in den Saal, jammerten und klagten und sprachen dazu: »Herzensvater, warum hast du uns allein gelassen?« usw. Der Umzug in das Zimmer der Tante ging sehr schnell vonstatten. Ich sah nichts davon, da man uns zum Mittagessen gerufen hatte. Ein großer, runder Tisch war im Zimmer der Großmutter gedeckt. Als ich mit der Schwester hereintrat, saßen die Großmutter, alle Tanten und Kusinen, mit schwarzen Tüchern um den Kopf, schweigend nebeneinander; die beiden Onkel waren auch da. Der Anblick dieser Gesellschaft machte mir einen peinlichen Eindruck. Alle küßten uns, weinten und sagten in singendem Tone: »Der Herzensgroßvater hat euch verlassen,« und dergleichen mehr, dessen ich mich nicht entsinnen kann. Bald war der Tisch mit einer Menge von Gerichten beladen. Ich weiß nicht, welchen Grund es hatte, aber die ganze Bedienung bestand aus Dienstmädchen. Der Vater hatte etwas in der Tischlerei zu tun, und man wartete ziemlich lange auf ihn. Meine Mutter sagte zu ihrer Schwiegermutter: »Warum beliebt es Ihnen nicht, am Tische Platz zu nehmen, liebe Mutter? Alexei Stepanowitsch kommt gleich.« Doch die Großmutter erwiderte, daß Alexei nun Herr im Hause sei, und daß man auf ihn warten müsse. Meine Mutter versuchte zu entgegnen: »Er ist Ihr Sohn, liebe Mutter, und Sie werden immer in seinem Hause die Herrin bleiben.« Die Großmutter machte mit den Händen abwehrende Bewegungen und sagte: »Nein, nein, liebe Schwiegertochter! Nach unseren Sitten ist das nicht so; ein jeder muß seinen Platz kennen.« Das alles hörte ich mit der größten Neugierde und Aufmerksamkeit an. Während dieses Gespräches öffnete sich die Tür, und mein Vater trat herein. Ich hatte ihn lange nicht gesehen, nur flüchtig bei Nacht; er sah blaß, traurig und abgemagert aus. In einem Nu standen alle auf und gingen ihm entgegen; sogar die dicke Großmutter, die sich kaum auf den Füßen halten konnte, wankte zu ihm hin, indem sie sich auf jemanden stützte; die vier Schwestern aber sanken ihm klagend zu Füßen. Ich konnte nicht alle ihre Worte verstehen, und manches habe ich auch vergessen. Ich erinnere mich nur der Worte: »Jetzt bist du unser Vater; verlasse uns Waisen nicht!« Mein guter Vater, bis zu Tränen gerührt, hob alle auf und umarmte sie, und vor seiner Mutter, die ihm mühsam entgegenkam, verbeugte er sich selbst tief, küßte ihr die Hände und versicherte ihr, daß er sich nie des Gehorsams gegen sie entäußern wolle, daß alles bleiben werde wie früher. Nach diesem Auftritte wandten sich alle zu meiner Mutter, und wenn man ihr auch nicht zu Füßen sank, bat man sie doch demütig als nunmehrige Herrin des Hauses um Liebe und Zuneigung. Ich sah, daß dies meine Mutter im höchsten Grade unangenehm und widerwärtig war; sie wußte nur zu gut, daß man sie nicht liebte, sondern ihr alles Üble wünschte. Sie erwiderte kalt, daß sie sich gar keine Autorität im Hause anmaßen und alle lieben und achten werde wie bisher. Man setzte sich zu Tisch und begann mit solchem Appetit zu essen (mit Ausnahme meiner Mutter), daß ich mich darüber wundern mußte. Die Tante Tatjana Stepanowna gab aus einer ungeheueren Terrine die Quappensuppe auf, und indem sie große Haufen von Leber und Rogen hinzufügte, sprach sie mit kläglicher Stimme: »Esset doch ein wenig von dem Rogen und der Leber, Mütterchen, Schwesterchen, Brüderchen! Der Verstorbene aß es gar zu gern,« und ich konnte deutlich sehen, wie ihre Tränen in den Teller fielen. Ebenso weinten die anderen und aßen mit erstaunlichem Appetit. Nach dem Mittagessen gingen alle schlafen und schliefen bis zum Abendtee. Durch die Mädchenstube nach unserem neuen Zimmer gehend, blickte ich schüchtern in den offenen Korridor hinein, der zum Saale führte, von wo das einförmige, ermüdende Psalterlesen herübertönte. Vater und Mutter hatten sich auch zur Ruhe gelegt, und ich unterhielt mich flüsternd mit der Schwester. Bei Tageslicht fühlte ich mich viel mutiger und freute mich an den hellen Sonnenstrahlen. Unsere neue Wohnung gefiel mir sehr. Erstens entfernte sie uns von dem Toten, zweitens war es ein Eckzimmer und bot von der einen Seite eine Aussicht auf den Buguruslan, der wegen des schnellen Laufes und der vielen Quellen auch im Winter nicht zufror und den Fenstern gegenüber eine scharfe Biegung machte. Der zwischen Schneeufern hinrauschende Fluß, die Sommerküche auf der Insel mit der hohen, hinüberführenden Brücke, die andere Insel mit den großen, schlanken Bäumen in ihrem weißen Reifputze, und in der Ferne der hohe, felsige Tscheljajewskaja-Berg, dieses ganze Bild wirkte auf mich angenehm und beruhigend; ich empfand zum ersten Male die eigentümlichen Schönheiten einer Winterlandschaft.

Meine Ruhe dauerte bis zur Dämmerung; ohne es selbst zu bemerken, verlor ich den Mut in demselben Grade, wie die Strahlen der untergehenden Sonne erblaßten. Ich fürchtete mich sogar, nach dem Zimmer der Großmutter zum Tee zu gehen, da ich durch die Mädchenstube an dem schon erwähnten Korridor vorbei mußte. Meine Mutter befahl mir streng, zu gehen. Ich brachte es über mich, zu gehorchen, lief aber so schnell ich konnte durch die Mädchenstube, wobei ich mir die Ohren zuhielt und das Gesicht von dem Korridor abwendete. Nach dem Tee begann man in dem Zimmer der Großmutter darüber zu reden, wie der Großvater gestorben sei, und was er nach seinem Tode zu tun befohlen habe, erwähnte auch, daß man ihn übermorgen bestatten werde. Die Mutter, welche sah, daß solche Gespräche mich ängstigten, führte mich sogleich mit der Schwester ins Eckzimmer und lud die Kusinen zu uns ein. Diese blieben eine Zeitlang bei uns und plauderten mit uns und gingen dann schlafen. Als nun auch für uns die Zeit kam, zu Bette zu gehen, ergriff mich wieder Todesangst, und die Mutter las auf meinem Gesichte, welche Nacht ich zubringen würde, wenn sie mich nicht zu sich nehmen wollte. Mit warmer Dankbarkeit erfüllte sich mein Herz, als sie mir unaufgefordert sagte: »Lieber Sergei, du schläfst heute bei mir.« Es war alles, was ich wünschen konnte; ich hätte darum gebeten, und es wäre mir gewiß gewährt worden; aber wie peinlich, wie beschämend wäre es gewesen, darum zu bitten! Ich hätte mich gewiß nicht sobald dazu entschlossen und vorher manche Stunde in peinlicher Seelenstimmung verbracht. O, Dank sei denen, die einem schüchternen Kinderherzen solche demütigenden Geständnisse ersparen! Die Nacht verging ruhig. Am anderen Tage erwachte ich, ehe der Morgen graute, und hörte viele interessante Gespräche zwischen Vater und Mutter. Ich erfuhr, daß mein Vater seine Stelle aufgeben wolle, um nach Bagrowo überzusiedeln. Dieses betrübte mich. Bagrowo war mir beide Male in einem sehr ungünstigen Lichte erschienen und konnte mich nicht besonders ansprechen; all mein Sehnen war nach Sergejewka gerichtet, wo ich einen so angenehmen Sommer verlebt hatte. Nun hörte ich auch zum ersten Male, daß ich bald einen neuen Bruder oder eine neue Schwester bekommen würde.

Der neue Tag verging ganz so wie der vorhergehende, d. h. am Tage war ich ruhiger und mutiger, am Abend aber überfiel mich wieder die Angst. Am meisten quälte mich die Ungewißheit, ob mich die Mutter wohl wieder zu sich ins Bett nehmen werde. Ich erwartete mit der größten Spannung den Augenblick, wo man die Betten machen würde, und freute mich nicht wenig, als ich sah, daß man meine kleinen Kissen zu den großen der Mutter hinlegte. Neues erfuhr ich nur, daß der Großvater am anderen Tage in Nekljudowo bestattet werden sollte, was er gerade nicht gewollt hatte, da ihm alles Nekljudowsche zuwider war. Warum auf solche Weise gegen seinen Willen gehandelt wurde, wüßte ich noch jetzt nicht zu sagen, erinnere mich aber, daß man von wichtigen Gründen sprach. Ich muß gestehen, daß ich von Herzen wünschte, den Großvater aus dem Hause gebracht zu wissen; ich fühlte, daß nur dann meine Seelenruhe zurückkehren werde. Es gibt Leute, die sich ihr Leben lang vor Toten fürchten; ich selbst habe bis zu meinem zwanzigsten Jahre keine Leiche ansehen können. Diese Angst ist schwer zu definieren. Erwachsene, die daran leiden, fürchten natürlich nur den Eindruck, den der erschütternde Anblick auf ihre schwachen Nerven hervorbringen kann; ich aber fürchtete damals geradezu die Leiche selbst und war überzeugt, daß, wenn ich den Großvater anblickte, er erwachen und mich an sich drücken würde.

Der traurige und feierliche Tag der Bestattung war gekommen. Alles war sehr früh wach geworden, im Hause wurde viel hin und her gelaufen und mit den Türen geschlagen. Als wir früher als gewöhnlich in das Zimmer der Großmutter kamen, um Tee zu trinken, fanden wir sie und die Tanten schon in Reisekleidern. An der Türe standen einige Schlitten mit hintereinander gestellten Pferden bespannt. Der Hof und die Straße waren voller Leute; nicht nur die Bauern des Großvaters waren alle bis zum letzten mit Weib und Kind da, sondern auch die Leute aus den Nachbardörfern hatten sich versammelt, um dem Verstorbenen, den sie wie einen Vater geliebt und geachtet hatten, das letzte Geleit zu geben. Noch viele Jahre später hörte ich ihn von den Mordwinen in der Umgegend nicht anders nennen als »unser Vater«. Als alles fertig war, begaben sich sämtliche Bewohner des Hauses in den Saal, um den Großvater zum letztenmal zu sehen, und es erhob sich ein lautes Wehklagen; ich fühlte mich tief bewegt, empfand aber keine Furcht mehr, sondern nur eine dunkle Ahnung von der hohen Bedeutung des Vorganges und Betrübnis um den armen Großvater, den ich nie mehr sehen sollte. Alle Türen waren weit geöffnet, im Hause war es kalt geworden, und die Mutter befahl Parascha, die Schwester nicht in das Totenzimmer zu lassen, obgleich sie weinte und den Großvater zu sehen begehrte. Und so waren wir drei allein im warmen Zimmer der Großmutter geblieben. Plötzlich erhob sich im Saale ein dumpfes Geräusch von vielen schweren Schritten, das sich, von Schluchzen und Wehklagen begleitet, einherbewegte. Das alles ging an uns vorüber, und bald sah ich aus dem Fenster den hölzernen Sarg über den Köpfen der Leute sich aus der Haustür herausbewegen. Als das dichte Gedränge ein wenig auseinanderwich, gewahrte ich, daß er von meinem Vater, meinen beiden Onkeln und dem greisen Diener Peter Fjodorow getragen wurde, der sich selbst auf einen anderen stützen mußte. Die Großmutter wurde anfangs auch geführt, mußte sich aber bald in einen Schlitten setzen. Die Mutter und die Tanten gingen zu Fuß. Viele von den auf dem Hofe Anwesenden knieten nieder. In langsamer Bewegung trat die Menge auf die Landstraße, dehnte sich zu einem langen Zuge aus und entschwand zuletzt meinen Augen. Auf einem Tische stehend und durchs Fenster sehend, weinte ich, den guten Großvater innig betrauernd, den alle so lieb hatten. Einen Augenblick tauchte sogar der Wunsch in mir auf, ihn noch einmal zu sehen und seine abgemagerte Hand zu küssen.

Wir saßen traurig schweigend im Zimmer der Großmutter. Nach dem Geräusch und der Bewegung beim Heraustragen der Leiche war das Haus totenstill geworden. Plötzlich fuhr ein Schlitten vor, und ich sah meine Mutter und meine beiden Kusinen aussteigen. Ich schrie vor Freude auf; ich hatte geglaubt, es seien alle nach Nekljudowo, zwanzig Werst weit, gefahren. Gleich nach der Ankunft der Mutter füllte sich das Haus wieder mit den zurückkehrenden Leuten. Meine Mutter war der Leiche bis zum Ende des Dorfes gefolgt; dort hatte man den Sarg auf einen Schlitten gestellt, und diejenigen, die nach Nekljudowo mit wollten, waren ebenfalls in Schlitten gestiegen. Wir zogen uns in unser Eckzimmer zurück. Die Mutter, die seelisch sehr angegriffen war, da sie den Großvater innig geliebt hatte, und sich auch physisch erschöpft fühlte, lag fast den ganzen Tag und konnte sich mit uns nicht abgeben. Die Kusinen blieben in unserem Zimmer, und wir unterhielten uns sehr freundschaftlich mit ihnen. Übrigens sprachen sie fast immer allein, und ich erfuhr bei dieser Gelegenheit manches, was ich nicht geahnt, ja für unmöglich gehalten hätte. Ich erfuhr zum Beispiel, daß sie ihre Eltern wenig liebten, aber um so mehr fürchteten; daß sie dieselben immerwährend belogen und betrogen; ich versuchte, meine Kusinen zu beschämen, ihnen zu beweisen, daß ein solches Betragen schlecht sei, und sie darüber zu belehren, wie gute Kinder handeln sollten. Ich trug ihnen durcheinander vor, was ich darüber aus Büchern und aus der eigenen Erfahrung geschöpft hatte. Aber die Kusinen wollten mich nicht verstehen, lachten über mich und versicherten, daß ihre Eltern ganz anders wären als die unserigen.

Spät am Abend kehrte mein Vater heim. Die Großmutter und die Tanten waren bei den Verwandten in Nekljudowo geblieben, um dort zu übernachten; mein Vater aber war sogleich nach der Bestattung trotz aller Einladungen zu uns zurückgeeilt. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen und war sehr müde, weil er dem Sarge größtenteils zu Fuß gefolgt war. Diese Nacht schlief ich wieder in einem besonderen Bettchen mit der Schwester zusammen. Am Abend fühlte ich mich wieder beängstigt, verbarg es aber: die Mutier hätte mich zu sich gelegt, und das wäre ihr unbequem gewesen; sie schlief auch schon, als ich zu Bette ging. Lange konnte ich nicht einschlafen; ich sah immer wieder den Sarg, wie er über den Köpfen der Menge wankte, und es lag darin etwas, woran ich nicht denken mochte. Endlich gelang es mir nach vielen Anstrengungen einzuschlafen, und am anderen Tage erwachte ich später als alle übrigen.

Um Mittag kamen die Großmutter, die Tanten und die Onkel. Den vorigen Tag hatte man alle Zimmer gescheuert. Nun wurde tüchtig geheizt, und das ganze Haus wurde schön warm, mit Ausnahme des Saales, den übrigens niemand vor dem neunten Tage Am neunten Tage nach dem Tode wird eine Gedächtnisfeier gehalten. (Anmerkung des Übersetzers S. R.) betrat. Das Lesen des Psalters wurde Tag und Nacht im Zimmer des Großvaters fortgesetzt, das er bis zu seinem Tode bewohnt hatte. Gegessen und Tee getrunken wurde im Zimmer der Großmutter, weil es nach dem Saal das größte war; dort hielten sich alle auch gewöhnlich auf. Die Mutter konnte sich einige Tage lang nicht erholen; sie blieb meist mit uns in unserm hellen Eckzimmer, das übrigens ziemlich kalt war; aber die Mutter wollte es bis zur Abreise nach Ufa behalten, die nach neun Tagen stattfinden sollte.

Wie klein ich auch damals war, mußte es mir doch auffallen, daß alle Tanten, besonders Tatjana Stepanowna, meinen Vater sehr oft umarmten und küßten und dabei wiederholten, daß er nun ihr einziger Trost und ihr einziger Beschützer sei; auch meine Mutter wurde mit Liebkosungen überhäuft. Tatjana Stepanowna kam oft zu uns, »damit die liebe Schwägerin keine Langeweile habe«, und forderte sie auf, an der Leitung des inneren Hauswesens teilzunehmen. Doch meine Mutter erwiderte immer, sie habe nicht die Absicht, sich in häusliche Angelegenheiten zu mischen; ihre Zustimmung sei dabei nicht erforderlich, und alles hänge nur von Arina Wasiljewna ab. Aus dem Familienrate kommend, erzählte mein Vater der Mutter, daß der Verstorbene, noch vor unserer Ankunft, der Großmutter verschiedene Befehle erteilt habe. Er habe jeder seiner Töchter, außer meiner Patin, der guten Aksinja Stepanowna, eine Familie aus dem Hofgesinde vermacht; außerdem habe er befohlen, für Tatjana Stepanowna ein bei den Baschkiren erhandeltes Stück Land zu kaufen und darauf fünfundzwanzig Seelen Bauersleute, die er namhaft gemacht, anzusiedeln. Auch habe er den Töchtern viel an Korn und verschiedenem Hausrat zugedacht. »Obgleich mir der Vater nichts anderes gesagt hat als: ›Verlaß Tanja nicht und laß ihr so viel zukommen, wie ich den übrigen Töchtern bei ihrer Heirat gegeben habe!‹ so werde ich doch alles gewissenhaft erfüllen, was er der Mutter anbefohlen hat.« Meine Mutter billigte seinen Vorsatz. Als mein Vater vor der Familie erklärte, daß er den Willen des Verstorbenen genau erfüllen werde, bedankten sich alle und verneigten sich tief, ganz besonders Tatjana Stepanowna. Diese trat auch zu meiner Mutter, um sie zu umarmen, zu küssen und ihr zu danken; aber meine Mutter lehnte die Danksagungen ab und erwiderte ruhig, daß die ganze Sache sie nichts angehe.

Ich bemerkte, daß Parascha oft meiner Mutter etwas ins Ohr raunte. Manchmal gab ihr die Mutter Gehör, öfter aber befahl sie ihr zu schweigen und das Zimmer zu verlassen. Einmal sagte Parascha, indem sie mich ankleidete: »Ja, ihr sitzt hier in der Eckstube, und unterdessen werdet ihr geplündert.« Ich verstand das nicht und forderte eine Erklärung. »Nun ja!« sagte Parascha, »wie viel Bauern, Diener und allerlei Habe hat euer Vater nicht schon den Tanten abgetreten! Und alles ohne Grund! Sie haben ihm allerlei vorgelogen von dem Willen des Verstorbenen; freilich haben sie diesen um alles das gebeten; aber der Großvater hat geantwortet: ›Was euch euer Bruder geben will, damit sollt ihr zufrieden sein.‹ Nikanor Tanaitschenok hat es mit eigenen Ohren gehört, und alle im Hause wissen es.« Ich verstand eigentlich noch immer nicht recht, um was es sich handelte, und die Sache machte wenig Eindruck auf mich. Aber nach meiner unveränderlichen Gewohnheit erzählte ich es der Mutter. Sie geriet in großen Zorn und schalt und bedrohte Parascha so heftig, daß ich erschrak. Parascha weinte, bat um Verzeihung und warf sich meiner Mutter zu Füßen; sie bekreuzte sich und schwur, daß so etwas nie mehr vorkommen werde. Meine Mutter sagte ihr, wenn sie jemals wieder etwas von der Art täte, so würde sie nach dem Simbirskschen Bagrowo geschickt werden, um dort die Kühe zu hüten. Die arme Parascha tat mir von Herzen leid; sie sah mich so kläglich an, bat mich so dringend, für sie zu sprechen, daß ich mit Eifer für sie bat und mich selbst anklagte. Die Mutter vergab ihr, verbot aber doch ihr, der treusten ihrer Dienerinnen, ihr wieder vor Augen zu kommen, ehe sie nicht gerufen werde; mir wurde aufs strengste eingeschärft, nie auf das Gerede der Dienerschaft zu achten oder demselben Glauben zu schenken. Paraschas Geschichte wurde als eine Erfindung des Bagrowschen Gesindes dargestellt, und natürlich kam es mir damals nicht in den Sinn, an der Wahrhaftigkeit dieser Aussage meiner Mutter zu zweifeln. Erst viel später sah ich ein, warum meine Mutter auf Parascha so erzürnt gewesen war und nicht gewollt hatte, daß ich die traurige Wahrheit erführe, die meine Mutter sehr wohl kannte.

Über die Zärtlichkeit erfreut, mit der uns nun die Großmutter und die Tanten behandelten, und fest überzeugt, daß alle uns außerordentlich lieb hatten, wurde ich selbst auch gegen sie sehr freundlich, besonders gegen die Großmutter. Bald schlug ich der Gesellschaft vor, ich wollte ihnen aus der Rossiade und aus den Tragödien Sumarokows vorlesen. Man hörte neugierig zu und nannte mich ein kluges, gelehriges Kind.

Nach einigen Tagen war meine Ängstlichkeit ganz vergangen; ich lief munter im Hause herum, manchmal unter der Aufsicht Jewsejitschs. Eines Tages guckte ich sogar in des Großvaters Zimmer hinein. Es war leer. Alle seine Sachen waren fortgeschafft worden. Nur sein Schemel stand noch da und seine Bettstelle mit dem Schnurgeflechte, auf welchem eine Bastmatte und eine Filzdecke ausgebreitet lagen, worauf die Psalterleser abwechselnd schliefen. Es waren ihrer zwei, der greise Jekim Mysejitsch und der rothaarige junge Wasili. Sie lasen abwechselnd, Tag und Nacht. Als ich zum ersten Male in das verödete Zimmer trat, las Mysejitsch langsam und stotternd, da er auch mit der Brille Mühe hatte, die altslawischen Buchstaben zu unterscheiden. In einer Ecke des Zimmers stand ein hohes Tischchen, mit einem weißen Tuche bedeckt, und darauf ein großes Heiligenbild, vor dem eine Kerze von gelbem Wachs brannte. Von Zeit zu Zeit bekreuzte sich Jekim, beugte sich auch wohl zur Erde. Ich stand lange still da, von Wehmut und Rührung erfüllt. Es entstand plötzlich in mir der Wunsch, den Psalter dem Großvater zu Ehren selbst zu lesen, da ich noch in Ufa gelernt hatte, altslawisch zu lesen. Ich bat Jekim, es mir zu erlauben, und er willigte ein. Er ließ mich zunächst ein Gebet sagen; dann schob er mir Großvaters Schemel herbei, und ich begann stehend zu lesen. Ich fühlte eine gewisse Aufregung, mein Herz schlug laut, und meine helle Stimme zitterte; bald aber erholte ich mich und empfand ein eigentümlich wohltuendes Gefühl. Ich hatte schon ziemlich lange gelesen, als die Stimme Jewsejitschs, der schon lange hinter mir stand, mich unterbrach: »Wirds nicht genug sein, mein Falke?« sagte er; »sehr brav gelesen!« Ich sah mich um, Mysejitsch hatte sich ans Fenster gelehnt und war eingeschlafen; wir weckten ihn: er bekreuzte sich und begann wieder zu lesen. Ich betete vor dem Heiligenbilde, sah des Großvaters Bett an, auf dem der rothaarige Wasili schlief, dachte an das Vergangene und verließ traurig das Zimmer.

Es kam der neunte Tag, der Tag der Gedächtnisfeier um den Toten. Am Vorabende dieses Tages begaben sich alle außer dem Vater und der Mutter nach Nekljudowo, um dort zu übernachten. Letztere fuhren am anderen Tage in aller Frühe hin, um zum Anfange der Messe da zu sein. Im ganzen Hause waren ich und die Schwester allein geblieben. Jewsejitsch war immer um mich, und ich bat ihn, mich in Großvaters Zimmer zu führen, um dort noch einmal im Psalter zu lesen. In der Stube fand ich wie an jenem Tage Mysejitsch lesend und Wasili schlafend. Obgleich ich nicht ohne Aufregung ans Lesen ging, zitterte meine Stimme diesmal nicht, und ich fühlte eine noch größere Befriedigung als das erstemal. Lange und geduldig hörte Jewsejitsch zu. Endlich sagte er wieder: »Wirds nicht genug sein, mein Falke? Die Beinchen werden wohl müde sein.« Mysejitsch schlummerte abermals, ans Fenster gelehnt; ich betete wieder, beugte mich sogar bis zur Erde, warf noch einen traurigen Blick auf Großvaters Zimmer, und wir gingen. Jewsejitsch sagte: »Das trifft gut zusammen. In Nekljudowo hat man an Großvaters Grabe Gebete gesagt, und du hast unterdessen in seinem Zimmer den Psalter gelesen,« und ich empfand ein ganz besonderes Vergnügen, sogar eine Art Stolz.

Zum Mittagessen, das die Tanten, wie ich wohl gemerkt hatte, schon vorher sehr sorgsam zugerüstet hatten, kehrten alle aus Nekljudowo zurück; auch die Nichten meiner Großmutter waren samt ihren älteren Kindern mitgekommen. Schon vor der Ankunft der ganzen Gesellschaft war der große Tisch im Saale gedeckt worden. Die Mutter war leidend zurückgekommen, der Vater hatte vom Weinen gerötete Augen, die übrigen schienen mir ziemlich ruhig. Gleich nach der Ankunft setzte man sich zu Tisch. Gerichte gab es in Menge und so fette, daß die Mutter mir und der Schwester fast von keinem zu essen erlaubte. Am Ende der Mahlzeit wurden Pfannkuchen Ein Gericht, das bei Erinnerungsmahlen nicht fehlen durfte. (Anmerkung des Übersetzers 8. R.) aufgetragen, und man verzehrte sie unter Tränen, obgleich man vorher ganz laut und sorglos gesprochen hatte. Meine Mutter aß nichts und sah sehr betrübt aus; ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Ich hörte, wie sie am Nachmittag in ihrem Zimmer zu Parascha sagte, die nun wieder in Gnaden stand, daß sie nichts habe essen können, weil man an demselben Tische gespeist habe, auf dem die Leiche des Vaters gelegen hatte. Diese Worte machten großen Eindruck auf mich, und ich konnte an das genossene Mahl nicht ohne Widerwillen denken. – Am Abend entfernten sich die Gäste, da im Hause nicht Raum für sie war.

Am folgenden Tage wurde eingepackt, am nächstfolgenden reisten wir frühmorgens ab. Das Abschiednehmen dauerte lange. Küsse, Umarmungen und Tränen gab es ohne Ende, besonders von seiten der Großmutter, die zu mehreren Malen meinem Vater wiederholte: »Um Gottes willen, Alexei, verlaß bald den Dienst und siedele nach Bagrowo über! Was soll ich mit der Wirtschaft anfangen? Ich bin alt und schwach, Tanja ist noch zu jung, und wir verstehen nichts von der Sache. Der Verstorbene hielt allein alles zusammen. Nun wird uns kein Mensch gehorchen. Ich und Tanja mögen anfangen, was wir wollen: aus der Weiberwirtschaft wird doch nichts.« – Mein Vater versprach nach ihrem Willen zu handeln.

Aus den Erinnerungen


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