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7. Kapitel

Während Leo Zimburg sich mit Theo am Grenzzaun unterhielt, war Herr von Mühling, der Grundherr auf Steinau, zu einem großen Entschlusse gekommen: Er wollte eine Gesellschaft geben. Er tat das sonst, neben seinen Jagdfrühstücken, nur immer einmal im Herbst, um die ganze Nachbarschaft auf dem Lande und in der Stadt »warm zu halten«. Die alte Oberhofmeisterin, Exzellenz von Wiesenthal, übernahm dann bei ihm die Rolle der Hausfrau, die Nachbarn erschienen vollzählig, und man unterhielt sich in seinem behaglichen Junggesellenheim allemal ausgezeichnet. Daß er heuer schon beim Beginn des Sommers mit seinen »Katzenschießen«, wie er diese Gesellschaften nannte, losschoß, hatte seine besonderen Gründe, die er aber für sich behielt, da es seiner Ansicht nach keinen Menschen etwas anging, warum er sich außerhalb der Zeit die »Spendierbuchsen« anzog. Da Langsamkeit im Entschlusse nicht gerade zu Mühlings Mängeln – oder Tugenden, je nach Temperament und Auffassung – gehörte, so war der ganze Plan in einer halben Stunde fix und fertig. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, schrieb seiner alten Freundin, der Oberhofmeisterin, einen Brief und ein halbes Dutzend Einladungen auf vorgedruckte Karten, schickte alle diese Elaborate sofort zur Postnebenstelle, deren Steinau sich rühmen durfte, ließ seine Wirtschafterin rufen und machte mit ihr den Speisezettel.

Diese Arbeit getan, steckte er sich eine Belohnungszigarre an und versank in tiefes Nachdenken.

Schon der folgende Tag brachte die Annahmen der »gütigen Einladung« aller Beteiligten, und Mühling stieg höchstselbst in seinen wohlbestellten Keller hinab, um den feierlichen Akt der Auswahl der Weine persönlich vorzunehmen.

Am Nachmittag, der dem großen Abend vorausging, saß Graf Zimburg in seinem Zimmer mit dem Ordnen eines Pakets alter Briefschaften beschäftigt, als sein Gastfreund bei ihm eintrat, einen großen Bogen Papier in der Hand und einen Riesenbleistift hinter dem Ohr, das Gesicht erhitzt und mit allen Zeichen schwerer seelischer Erregung in den Zügen.

»Ich bringe die Geschichte nicht fertig. Du mußt mir helfen, Leo!« rief er noch in der Tür. »Diese verflixte Tischordnung bringt mich nachgerade ganz aus dem Häuschen! Ich mag es drehen, wie ich will: Immer wieder kommt ein Ehepaar zusammen, was doch nicht der Zweck der Übung ist und einem bloß als Tölpelei ausgelegt werden würde. Hol's der Schinder – ich bring's nicht zuwege!«

Damit warf er den Bogen Papier, auf dem allerlei seltsame Runen standen, auf den Tisch, zog sich die Joppe aus und fuhr sich mit beiden Händen durch die schon stark gelichteten Haare, wodurch der Bleistift heruntergerissen wurde und in weitem Bogen unter das Bett flog.

Mit einem kräftigen Schimpfwort riß Mühling sich auch noch die Weste vom Leib und kroch dann auf allen vieren unter das Bett, fischte den Stift und eine Handvoll Staub hervor – »Hol' der Kuckuck diesen Dreckfinken von einer faulen Stubenmarjell, die sich mit'n Besen nicht bis hier herunterfinden kann!« – und stieß sich auf dem Rückweg ins Freie noch tüchtig an den Kopf.

»Oooch das noch!« schimpfte er weiter, die schmerzhafte Stelle befühlend, während Zimburg sich vor Lachen schüttelte. »Das gibt sicher 'ne faustgroße Beule zu meiner sonstigen Schönheit! Na, warum lachste denn wie ungescheut!« schnob er seinen Gast an.

»Wenn du dich bloß in der Stellung hättest sehen können!« prustete Zimburg. »Wie eine Ente, wenn sie im Dorftümpel taucht!«

»Wenn du dem ollen Stift nachgesprungen wärst, hättest du auch so ausgesehen, und ich hätte den Spaß dabei gehabt » brummte Mühling, indem er sich am Waschtisch seines Gastes die Hände säuberte.

»Sehr richtig. Es wäre wohl auch an mir gewesen, den Stift aufzuheben. Aber erstens warst du ja wie der Blitz hinter ihm her, und zweitens hat mich mein Beharrungsvermögen, vulgo Faulheit, an diesen sehr bequemen Stuhl gefesselt. Übrigens gönne ich dir den Staub unter dem Bette neidlos.«

,,Du bist eben ein guter Kerl und ein Gemütsmensch«, stellte Mühling, nun selbst lachend, fest. »Und nun können wir viribus unitis, mit diesem schwierigen Problem loslegen. Sag mal: Sieht man die Beule auf meiner Glatze schon sehr?«

»Na, so fix geht das doch nicht! Die entwickelt sich erst peu-a-peu. Wenn du die allerdings stark gerötete Stelle aber fleißig kühlst, dann dürftest du sie heute abend deinen Gästen als springenden Punkt in allen Farben des Regenbogens darbringen.«

»Mach keine schlechten Witze, Leo! Kühlen? Meinst du, daß man den Fleck kühlen muß?«

»Ja, ich denke mit Bleiwasser. Wenn du etwa heute abend Eroberungen machen willst –«

Mühling brummte etwas vor sich hin, trat vor den Spiegel und betrachtete sich kritisch.

»'s ist nicht so arg«, stellte er fest. »Nach dem Puff zu schließen, hätte ich mindestens gedacht, das Ding müßte schon so groß wie'n Gänseei sein. Na, nun aber ernstlich an die Arbeit! Siehste, hier habe ich die Tafelei aufgezeichnet; die runden Kringel darauf bedeuten die Teller, gleichbedeutend mit der Kopfzahl der Festgenossen. Das Kringel mit dem Kreuz drin bin ich, das heißt, der Platz, den ich an der Tafel einnehme. Zu meiner Rechten – die Damenplätze sind schraffiert, damit man sich besser auskennt – sitzt natürlich die alte Exzellenz auf dem Ehrenplatz. Zu meiner Linken habe ich unter schweren Kämpfen diejenige der alten Damen gesetzt, die als Fremde zum erstenmal meine niedrige Hütte mit ihrer Gegenwart ziert: die Gan-Erbin von Ganting –«

»Was?« unterbrach ihn Leo Zimburg erstaunt. »Ja, hast du denn die von drüben im Amönenhof auch eingeladen?«

»Auch?« wiederholte Mühling. »Leo, mein Söhnchen, du hast wohl geschlafen? Wegen der Leute im Amönenhof lasse ich doch den ganzen Zauber los!«

»Aber den Kommerzienrat hast du doch schon zur Jagd eingeladen, und das Abendbrot bei ihm war die Quittung dafür.«

»Richtig. Und nun revanchiere ich mich dafür bei den Damen«, versetzte Mühling mit listigem Augenblinzeln. »Man darf bei dem Verkehr keine Kunstpausen eintreten lassen, verstehste?«

»Nein! Aber darauf kommt es ja nicht an –« sagte Zimburg hart.

»Jetzt tut dieser Jüngling ganz unschuldig! Na, dann zurück zur Tagesordnung. Du führst natürlich Fräulein Reudnitz zu Tisch –«

»Bitte, nein!« erklärte Zimburg sehr deutlich und ernst. »Wenn du deswegen den Zauber losgelassen haben solltest, dann hast du dich umsonst in Unkosten gestürzt. Setze mich meinetwegen an den Katzentisch – nur nicht neben Fräulein Reudnitz!«

Mühling sah seinen Freund starr vor Erstaunen an. »Aber wir hatten doch ausgemacht –«, begann er, doch Zimburg fiel ihm ins Wort.

»Ich habe mich allerdings von dir beschwatzen lassen mit – mit dem Goldfisch und die unverzeihliche Schwäche gehabt, den Besuch in Amönenhof zu machen, für den ich ja schließlich auch einen Vorwand hatte – zur Erklärung der Kaufvertragsklausel. Aber ich schäme mich deshalb heute wie ein Pudel. Da hast du's in einer Nußschale.«

»Lieber Himmel, wenn sich jeder schämen wollte, der eine reiche Frau braucht und mit der Nase auf den Fleck gestoßen wird, wo eine zu finden ist –«

»Wenn diese Menschen sich nicht schämen, eine Frau ihres Geldes wegen zu heiraten, dann ist das ihre Sache. Ich bring's nicht fertig.«

»Na, eigentlich ist ja das auch mein Standpunkt, Leo, aber ich dachte, dir einen guten Dienst zu erweisen. Schließlich – nu, ja, ja! Das Mädel ist ja keine Schönheit; außerdem ist sie wirklich ein gutes, kleines Tierchen.«

Zimburg mußte unwillkürlich lachen.

»Gib dir keine Mühe, alte Seele«, sagte er heiter, »Fräulein Reudnitz ist sicherlich ein liebes, kleines Mädchen, und wenn ich nur die allergeringste warme Regung für sie fühlte, würde ich's als ehrlicher, anständiger Mensch wagen, mich ihr zu nähen. Aber das ist ganz ausgeschlossen, und damit es auch nicht den Schimmer eines Verdachtes erregen könnte, als hätte ich diese Absicht, so bitte ich mir heute eine andere Tischnachbarin aus. Die Gan-Erbin überlasse ich dir großmütig, damit man nicht etwa gar das Sprichwort vom Sack und vom Esel zitieren kann.«

»Nee, denn der Esel bist du » rief Mühling mehr aufrichtig als höflich.

»Besser ein Esel als ein Schuft!« gab Zimburg heiter zurück.

Mühling hielt dem Freund statt aller Antwort die Hand hin, in die jener herzhaft einschlug.

»Na ja, na ja, aber damit kann ich mit meiner Tischordnung von vorn anfangen!« jammerte der Gutsherr von Steinau. »Wer soll denn nun das Mädel zu Tisch führen? Nett soll und muß sie gesetzt werden, aber woher nehmen, ohne zu stehlen? Wen haben wir denn noch an Junggesellen? Den Assessor aus Weißenfels? Der langweilt sich mit dem armen Dinge unterm Tisch.«

»Bergfried ist ja auch noch da«, half Zimburg ein. »Er hat uns ja selbst anvertraut, daß er nur eine reiche Frau brauchen könnte.«

»Jawohl, wenn sie einen Titel und mindestens eine Ahnentafel von sechzehn Quartieren hat, was er für seinen Botschafterposten in spe unumgänglich notwendig braucht oder zu brauchen glaubt«, versetzte Mühling trocken, »Der Kerl ist ein zielbewußter Streber, Leo, wozu er ja auch den Kopf hat. Millionen decken ja vieles zu, auch eine sehr bescheidene Herkunft, aber für seine Zwecke und Ziele braucht er einen Namen von Klang an den seinen gehängt.«

»Er hat aber neulich im Amönenhof betont, und ich hab's ihm hoch angerechnet, daß sein eigener Adel ganz neu ist –«

»Gewiß. Ich habe nämlich neulich, als ich in Berlin war, so etwas läuten gehört, als sei er so gut wie verlobt mit deiner Namensbase, Gräfin Theodora Zimburg.«

»Wahrhaftig? Ja, dann freilich – – aber auch ohne Nebengedanken könnte er doch Fräulein Reudnitz zu Tisch führen. Halt! Sagtest du nicht, daß Willig auch zugesagt hat?«

»Willig! Den alten Knaben brauchte ich eigentlich für eine von den verheirateten Damen. Aber so übel ist die Idee nicht, um so mehr, als er ja auch wie andere Menschen zwei Seiten hat und ganz und gar imstande ist, zwei Damen zu unterhalten, ohne mit'm Essen zu kurz zu kommen. Hm! Ich fange an, Licht in dem Dunkel zu sehen, muß dir aber sagen, damit du vorbereitet bist, daß dir dann eine der älteren Damen zufallen wird. Aber auch du hast zwei Seiten, mein Söhnchen, und ich will eine derselben der Jugend widmen. Da ist die verteufelt hübsche Gesellschafterin aus dem Amönenhof – falls die Gan-Erbin nicht etwa noch ein Veto einlegt und sie daheimbleiben muß. Willig hat mir erzählt, daß sie beim Besuch der herzoglichen Herrschaften Stubenarrest hatte. Die alte Tante scheint 'n Haken auf das Mädel zu haben. Siehste, Leo, mein Junge, für die könnte ich meine Junggesellenherrlichkeit gleich noch aufgeben! Meinst du, daß sie mich nehmen würde?«

» Du kannst sie ja fragen«, meinte Zimburg mit etwas erzwungenem Lachen.

»Natürlich kann ich das. Aber in meinem Alter holt man sich nicht gern einen Korb. Donnerwetter, ist das ein schönes Weib! Kein Wunder, wenn die Gan-Erbin mit der im Haus noch 'ne Dummheit für ihren Schwager fürchtet, wie ich mir einbilde. Weißt du was, Leo? Du könntest mir eigentlich einen Riesengefallen tun, einen rechten Freundschaftsdienst, wenn du mal so'n bißchen bei Fräulein Zöllner für mich sondieren wolltest. Ich meine, ihr mal so'n bißchen hintenrum auf den Zahn fühlen – na, du wirst schon wissen, wie man das anfängt.«

»Nein, das weiß ich nicht, habe auch gar kein Talent für diplomatische Aufträge«, erwiderte Zimburg ablehnend. »Dazu mußt du dir schon einen andern aussuchen – Bergfried zum Beispiel.«

»Wen denn sonst noch zum Beispiel?« rief Mühling. »Herrgott, mach' doch nicht gleich so'n Flunsch! Das ist doch nichts Unehrenhaftes! Gerade im Gegenteil! Würde ich gleich für dich auch tun, obwohl ich auch nichts weniger wie'n Diplomat bin. Hör mal, du wirst doch nicht am Ende selbst verschossen sein? Na, in diesem Falle würde ich ja freilich den Bock zum Gärtner machen. Schlag dir das aus dem Kopf, alter Junge! Ich sag's nicht etwa aus Eigennutz, sondern als Freund. Sie hat nischt, sonst wäre sie nicht Gesellschafterin bei fremden Leuten – du hast ooch nischt, und das langt nicht zum Leben. Besser, man reißt sich einen Zahn beizeiten aus; denn später bricht er unter der Zange ab, die Wurzel bleibt und tut damisch weh. Ich kann mir ja 'ne arme Frau leisten, und wer sie mir über die Achsel ansieht, weil sie früher fremdes Brot essen mußte, der kriegt's mit mir zu tun. Ja, aber, Herzenssohn, über dem Gekolke wird meine neue Tischordnung nicht fertig. Du scheinst in dieser Kunst ziemlich unerfahren zu sein, also werde ich mich plus der errungenen Weisheit wieder trollen und in der Stille meines Kämmerleins dieses harte Ei allein ausbrüten. Und mir am Ende doch noch Umschläge machen, denn der Dippel ist tatsächlich schon sehr fühlbar. Na, adjüs denn, mein Junge!«

Mühling hatte unterdessen Weste und Joppe wieder angezogen, nickte Zimburg zu und ließ ihn mit recht gemischten Gefühlen zurück; denn er war wütend auf sich selbst, daß er sich verraten hatte, wütend auf Mühlings Taktlosigkeit, und endlich, weil er fand, daß sein Freund mit seiner Warnung ganz recht hatte, dreimal recht, und Zimburg beschloß denn auch, sich das recht dick hinter beide Ohren zu schreiben. Mit diesem ganz fest und ehrlich gemeinten Vorsatz fand er sich rechtzeitig in dem großen, etwas leeren Raum ein, den Mühling seinen »Salon« nannte und der diese anspruchsvolle Bezeichnung früher wohl auch verdient hatte; aber da er in diesem Sinne nur sehr selten benutzt wurde, so hatte er auch ganz die ungemütliche Atmosphäre der mit Recht berüchtigten ›kalten Pracht‹. Die steifen, schwerfälligen Mahagonimöbel der vierziger und fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mit ihren unverwüstlichen grünen Mohairplüschbezügen stammten noch von Mühlings Eltern her, deren lebensgroße Paradebilder, mäßig gemalt, in schweren Goldrahmen über den garstigen Sofas hingen. Übrigens waren noch mehrere gute alte Kupferstiche in Mahagonirahmen an den Wänden verteilt, welche mit einer schauerlichen Goldtapete beklebt waren. Wirklichen Wert in diesem gediegenen, aber häßlichen Raum hatte nur der Inhalt einer sogenannten Glasservante, der aus einer Sammlung alter, kostbarer Porzellantassen bestand, die jedem Museum zur Zierde gedient hätten.

Die erste Überraschung dieses Abends war Mühlings Mitteilung, daß Bergfried sich wegen Unwohlseins entschuldigt habe.

»Schmeißt dieser Kerl mir im letzten Augenblick wieder meine ganze Tischordnung um!« jammerte der Gutsherr von Steinau, dessen »Dippel« sich inzwischen zu einer ganz ansehnlichen Beule ausgebildet hatte. »Und warum? Weil er ›Migräne‹ hat! Migräne! Wie'n hysterisches Frauenzimmer! Ich hatte ihn als ungefährlichen Karmauzler neben Fräulein Zöllner gesetzt, und wie ich ihm sein Glück verkünden und ihn als höhere Instanz für die Tischordnung anrufen will, sagte er kühl wie 'ne Hundeschnauze, er hätte Migräne! Ich dachte, der Affe frisiert mich und war so wütend, daß ich ihn anschnauzte, das heißt, ihm ›gute Besserung‹ zubrüllte und –«

»Auf wen waren Sie denn so wütend?« fragte die Stimme der Oberhofmeisterin von der Tür her, durch die sie gerade eintrat. Mühling ließ sie zu seinen Festen immer mit seinem Wagen abholen, und sie war auch stets als erste zur Stelle, um die Gäste empfangen zu helfen.

Mühling küßte seiner alten Freundin herzlich die immer noch feine und schöne, mit alten funkelnden Brillantringen geschmückte Hand und führte sie zu ihrem gewohnten Sofaplatz, nachdem er ihr Zimburg vorgestellt hatte, und erklärte ihr dann den Grund seines gerechten Zornes.

Frau von Wiesenthal lächelte fein und ganz eigen zu dieser Mitteilung, zog ein goldenes, juwelenbesetztes Döschen aus der umfangreichen Tasche ihres altmodischen schwarzen Seidenkleides, auf dem sie ein weißes, echtes Spitzentuch á la Marie Antoinette trug, das sie zu ihren krausen grauen Löckchen sehr hübsch kleidete, und nahm mit Bedacht eine Prise.

»Die Migräne, lieber Freund, hat zwar den weiblichen Artikel, ist in der Praxis aber geschlechtslos«, erklärte sie nach der gewohnten Stärkung ihrer geistigen Kräfte, die indes auch ohne diese Hilfe unbestritten ihr zu eigen waren. »Zeigen Sie mal Ihre Tischordnung her, die ich aus Ihrer Brusttasche gucken sehe. Wir wollen die Sache gleich in Ordnung bringen.«

»Und wenn die Leute aus dem Amönenhof die Gesellschafterin nicht mitbringen, sitze ich wieder auf dem Pfropfen!« jammerte Mühling.

»Solche Absagen im letzten Augenblick sind leider üblich, aber immer rücksichtslos«, sagte die Oberhofmeisterin. »Warum sollten die Leute im Amönenhof die junge Dame nicht mitbringen, wenn sie für sie zugesagt haben? Ist sie krank geworden?«

»Das wird wohl als Grund herhalten müssen«, brummte Mühling. »Natürlich haben sie für sie zugesagt; aber ob sie deswegen auch mitkommt, steht auf einem anderen Blatt. Ich bilde mir ein, der alte Drache – ich meine die Gan-Erbin – wollte sagen, Fräulein von Ganting ist eifersüchtig auf diese Schönheit.«

»Hm – ja. Fräulein Reudnitz sieht neben ihr etwas dürftig aus – einfach wie ein gerupfter Spatz neben einem Schwan.«

»In der Tat! Der Vergleich mit dem Entlein und dem Schwan liegt nahe!«

»Aber Mühling-Karl! Sie können ja ganz poetisch werden!« lachte die alte Dame.

»Na, man hat doch ein Paar Augen im Kopf«, entschuldigte er seinen poetischen Schwung, bei dem Zimburg eine Bewegung gemacht hatte, die den scharfen schwarzen Augen zu beiden Seiten der Hakennase Ihrer Exzellenz nicht entging. »Wahrscheinlich hat der alte Reudnitz auch so'n paar helle Lichter, die hübsch von häßlich unterscheiden können, was der alten Tante jedenfalls nicht paßt! Na, nehmen wir also mal an, daß Fräulein Zöllner trotzdem erscheint – –«

Sie kam tatsächlich mit den »neuen Leuten vom Amönenhof«. Seine Befürchtungen waren übrigens gar nicht so grundlos gewesen; denn Cordula hatte sich wirklich gegen Theos Begleitung gewehrt, war aber durch das Veto des Kommerzienrats überstimmt worden; auch Theo selbst hatte daheimbleiben wollen, weil es ihr unangenehm war, mit Bergfried zusammenzutreffen, wozu der mit Recht so beliebte »Kopfschmerz« als Ausrede dienen mußte. Reudnitz ging darauf aber nicht ein, weil er als wahren Grund eine falsche Bescheidenheit vermutete, und erklärte ihr, es gebe gegen Kopfschmerzen kein besseres Mittel als ein ordentliches Abendessen in netter Gesellschaft. Und so war sie denn wirklich mitgekommen, strahlend schön in ihrem einfachen weißen Kleide, nur im Schmuck ihrer goldenen Haarpracht, aber auch Sabinchen sah wirklich sehr niedlich in dem neuen Kleide von rosa Chiffon aus.

Die anderen Gäste folgten denen vom Amönenhof rasch hintereinander.

Die alte Exzellenz hatte mit ihrer geselligen Überlegenheit die Tischordnung des guten Mühling durch ein paar geschickte Verschiebungen schnell und gewandt in die Reihe gebracht. Die scheinbar absichtslos zusammengesetzten Gäste unterhielten sich lebhaft und gut, die Speisen waren vortrefflich, die Weine über alles Lob erhaben, und als man sich von der Tafel erhob, war die allgemeine Stimmung so ausgezeichnet, wie sie ein Wirt sich nur wünschen kann.

Herr Liebenberg hatte bei Tisch Gelegenheit, einige Eintragungen in sein Notizbuch für sein Lebenswerk, das Schimpfwörterlexikon, zu machen, als er seinen Wirt von einem bekannten Herrenreiter sagen hörte, »daß der letztere eigentlich wie eine gesengte Sau ritte« und einen anderen werten Abwesenden für ein »grünes Heupferd« erklärte.

»Man lernt nie aus!« sagte der Gelehrte befriedigt. »Namentlich verspricht die Etymologie der ›gesengten Sau‹ hochinteressant zu werden; denn erstens reiten Säue meiner Erfahrung nach überhaupt nicht, am allerwenigsten aber, wenn man sie nach erfolgter Abschlachtung gesengt hat. Auch für Heupferde, worunter die Orthoptera saltatoria zu verstehen sein dürfte, ist die Bezeichnung ›grün‹ jedenfalls von besonderer ornamentaler Bedeutung, falls nicht eine Verwechslung mit der Locusta viridinima vorliegt, deren Name ja schon ihre grüne Farbe andeutete, die vulgär aber ›Grashüpfer‹ heißt.«

Kurz, es kam jeder der Gäste auf seine Rechnung.

Am alleraufmerksamsten aber lauschte Sabine Reudnitz dem Honigseim, der von ihres Tischherrn, des Kammerherrn von Willig, Lippen in ihre Ohren träufelte, und es amüsierte Theo, die dem Paare gegenübersaß, ganz außerordentlich, zu beobachten, mit welch seligem Gesichtchen Sabine zu dem Kammerherrn aufblickte und mit welch sichtlichem Wohlgefallen er sie betrachtete. Die Macht der Suggestion schien hier wirklich wieder einmal einen großen Triumph zu feiern.

Theos Nachbar zur Rechten war bei Tisch Leo Zimburg, doch da er die nette, lebhafte Frau des Amtsgerichtsrats führte, so konnte sie während der Mahlzeit nur wenige Worte mit ihm wechseln.

»Ich habe das Gedicht Ihres Urgroßvaters mitgebracht«, sagte sie dabei halblaut. »Vielleicht habe ich nachher Gelegenheit, es Ihnen zurückzugeben; denn wenn ich's hier tue, setzt's ein hochnotpeinliches Verhör von Fräulein von Ganting, die wie ein Haftelmacher auf mich aufpaßt. Warum, weiß der Himmel. Als wir nämlich nach Steinau aufbrachen, habe ich von ihr einige schätzenswerte Winke über das Betragen in Gesellschaft erhalten mit dem Zusatz, daß ich mich in acht nehmen sollte, ›sie sehe alles‹.«

»Was hat sie denn damit gemeint?« fragte Zimburg erstaunt.

»Wenn ich das wüßte?« erwiderte Theo lachend. »Ich muß ihr doch einen sehr unerzogenen Eindruck machen.«

Zimburg mußte darandenken, was Mühling über Cordulas Eifersucht auf Theo gesagt, und dabei stieg es selbst wie Eifersucht auf seinen Gastfreund und wie ein herbes Weh zugleich in ihm auf. Wie es manchen Menschen gibt, der ein grausames Vergnügen darin findet, das Messer in seine eigenen Wunden immer tiefer hineinzustoßen, so folgte auch er unbewußt diesem Beispiel, und ehe er's eigentlich gewollt, richtete er an Theo die Frage, wie Mühling ihr gefalle.

»Ich finde ihn sehr nett«, erwiderte Theo harmlos. »Er erinnert mich in seiner drastischen Ausdrucksweise lebhaft an eine verstorbene Pate. Sie hätten Fräulein von Gantings Gesicht sehen sollen, als er die ›gesengte Sau‹ steigen ließ.«

»Hm – ja! Halten Sie Mühling eigentlich für über die Heiratsjahre hinaus?« verfolgte Zimburg sein Thema mit wachsender Selbstquälerei.

»Eigentlich ja«, meinte Theo mit einem kritischen Blick auf den Gutsherrn von Steinau, der angeregt von der Unterhaltung und seinem eigenen guten Wein rötlich und wie im Gefilde der Seligen zu leuchten begann.

»Aber so etwas kann man nie mit Bestimmtheit sagen: denn Alter schützt vor Torheit nicht, und ein alter Span brennt leichter denn ein grüner an. Fräulein von Ganting ist ja ihrer ganzen Aufmachung nach auch noch in den besten Jahren.«

Zimburg mußte über dieses kleine Mißverständnis so lachen, daß er darüber seine Wunde vergaß.

»Lieber Himmel, wenn Mühling das gehört hätte! Ich habe das meinige getan; mehr kann mein bester und ältester Freund nicht von mir verlangen«, dachte er, während er einer Erzählung seiner rechtmäßigen Tischnachbarin zu lauschen vorgab und dazu lachte, trotzdem aber keine Ahnung hatte; wovon sie eigentlich gesprochen, denn er besaß leider nicht die Fähigkeit eines Napoleon, mit zwei Ohren zwei verschiedene Vorträge gleichzeitig zu hören, zu fassen und dabei an etwas Drittes zu denken. Nun aber hatte die lebhafte junge Frau des Amtsgerichtsrats etwas erzählt, was die Heiterkeit keineswegs herausforderte, und sah sich ob dieser unerwarteten Wirkung ihren Tischherrn etwas erstaunt an. Dann aber erkannte sie rasch, daß sie ihn augenscheinlich mit ihrer Erzählung von einem Gespräch mit seiner anderen Nachbarin abgezogen hatte, Sie bog sich also ein wenig vor, um zu sehen, wer das eigentlich sei, und über ihr nicht gerade hübsches, aber intelligentes Gesicht flog ein Lächeln des Verstehens, wodurch Zimburg einer kleinen scherzhaften Zurechtweisung über seine Zerstreutheit entging, ohne es zu ahnen.

Nachdem die Tafel aufgehoben war, begab sich die Gesellschaft unter dem Vortritt Mühlings mit der alten Exzellenz auf die davorliegende Veranda, um sich dort zum gemütlichen Plauderstündchen niederzulassen. Dort aber erwartete sie Bergfried, tadellos angetan wie immer und scheinbar ganz erholt von seiner Migräne.

»Na, da schlag' dieser und jener drein!« begrüßte Mühling in seiner ersten Verblüffung den Gast. »Das war ja 'ne schnelle Genesung!«

»Lieber Mühling, Sie rannten davon wie verbrannt, ehe ich Ihnen noch sagen konnte, daß ich mich nach dem Souper unten einfinden würde«, erklärte Bergfried mit der überlegenen Liebenswürdigkeit, die seinem Gastfreund manchmal auf die Nerven ging. »Ich sagte nur, daß die Tafel mit ihren Freunden heut eine Unmöglichkeit für mich sein würde.«

»So, so! Sagten Sie das?« murrte Mühling unüberzeugt, »Na, das ist ja schön, daß Sie uns Ihre Gegenwart doch nicht ganz entziehen wollen. Vielleicht führen Sie die Frau Oberhofmeisterin hinaus auf die Veranda – falls es Sie nicht zu sehr anstrengt.« Bergfried willfahrte diesem Wunsch natürlich mit der größten Bereitwilligkeit, und während er die alte Dame hinausführte, kreuzte ein Verdacht den Kopf des Hausherrn. »Er hat nicht neben der schönen Zöllner sitzen wollen. Warum? Ist sie ihm nicht vornehm genug? Affe! Duckmäuser!« Und diesen letzteren Liebesnamen stieß er halblaut heraus, der von dem gerade hinter ihm stehenden Doktor Liebenberg aufgeschnappt wurde.

»Duckmäuser ist ein Schimpfwort, dessen Etymologie eine sehr einfache ist«, begann er strahlend. »Die Maus ist nämlich ein Tier, welches –«

»I, bewahre – ich habe mich bloß versprochen«, fiel Mühling rasch ein, um dem drohenden Vortrage zu entgehen. »Rattenschwanz habe ich gemeint!« Und entfloh schleunigst.

Von der Veranda des Steinauer Herrenhauses, das auf den stolzen Namen eines Schlosses keinen Anspruch machte, trotzdem es geräumig genug dazu gewesen wäre, führte eine doppelt ausladende Freitreppe in den großen und schattigen altväterischen Garten hinab, in welchem ganz unmodern gewordene Blumen wie Malven, Rittersporn, Blutende Herzen, Balsaminen, Reseda und Türkenbund in nicht allzu gepflegten Beeten nach Herzenslust blühten; – hohe, alte Linden, Goldregen und Fliederbäume standen gerade in Blüte, und hübsche, im Grün versteckte Bänke und lauschige Geißblattlauben luden zum Plaudern ein.

Die vergnügte Frau des Amtsgerichtsrats erklärte einen solchen Garten für ihre besondere Liebhaberei und stieg die Treppe hinab, um unten etwas von dem schönen warmen Abend zu genießen. Andere folgten ihr nur zu gern, und bald saßen die alte Exzellenz, Cordula und der Präsident oben in der Veranda allein, um schließlich auch noch hinabzugehen. Unter dem Dunkel der hohen Bäume geschah es dann, daß Zimburg sich wie von ungefähr an Theos Seite einfand, und da sie gleichzeitig auch wie von ungefähr in einen sich ganz im Dunkel verlierenden Seitenweg einbogen, zog sie aus dem Täschchen, das sie ums linke Armgelenk gehängt trug, das alte vergilbte Blatt mit dem Gedicht des Urgroßvaters hervor. Das Täschchen aber war ein sehr hübscher, ja auffallender Aufbewahrungsort für das Schriftstück, denn es war ganz aus goldenen Drahtmaschen geflochten und mit einem breiten, kunstreich gearbeiteten Bügel versehen, der von eingelegten Steinen blitzte, während auf einer Kartusche ein Monogramm funkelte, das wie von Brillanten gebildet aussah.

»Nun, was haben Sie zu diesem sogenannten Gedicht gesagt?« fragte Zimburg, das Blatt in Empfang nehmend und zu sich steckend.

»Blühender Unsinn, nicht wahr? Aus dem man beim besten Willen weder Kopf noch Schwanz machen kann!«

»Das möchte ich nicht ohne weiteres behaupten«, meinte Theo. »Ich bilde mir sogar ein, einen Zipfel des Schwanzes gesehen zu haben. Mehr möchte ich darüber jedoch noch nicht sagen; ich habe mir aber, Ihre Erlaubnis voraussetzend, das Gedicht abgeschrieben; denn ich habe die fixe Idee, daß ich von dem Rätsel doch noch mehr erraten könnte.«

»Wahrhaftig? Jetzt haben Sie mich aber furchtbar neugierig gemacht –«

»Bezähmen Sie diese Neugierde, bitte, damit mein wahrscheinliches Eingeständnis, daß ich mich doch geirrt habe, nicht allzu enttäuschend wirkt.«

»Na, das ließe sich noch ertragen; denn ich hoffe und erwarte nichts von des Rätsels Lösung«, sagte Zimburg ruhig. »Überhaupt ist es mit der Hoffnung so eine Sache. Am besten wär's, man striche dieses Wort ganz aus dem Wörterbuch des Lebens aus.«

»Das werden Sie nicht tun«, rief Theo lebhaft. »Erstens, weil kein Mensch das kann, und dann ist die Hoffnung so gut wie das tägliche Brot – Lebensbedürfnis und Lebensbedingung Wer nicht hofft wird auch nichts erreichen, nichts erleben, innerlich wie äußerlich. Ich habe wirklich nicht gedacht, daß Sie ein solcher Pessimist sind!«

»Eigentlich bin ich's für gewöhnlich auch nicht«, gestand er ein. »Im Gegenteil, ich habe fortwährend mit meinem unverbesserlichen Optimismus zu kämpfen, der mir allerlei Bilder vorgaukelt, die sich dann in Wohlgefallen auflösen. Und darum meine ich nur so, daß es besser wäre, dieses zudringliche Gefühl ganz zu beseitigen. So oft man es aber hinauswirft, so oft kommt es wieder. Gerad' wie so eine Brummfliege, nach der man schlägt und die sich einem im nächsten Augenblick doch wieder auf die Nase setzt.«

»Poetisch ist der Vergleich nicht«, lachte Theo. »Von meinem Standpunkt aus finde ich es aber sehr lieb von der Hoffnung, daß sie sich nicht vertreiben läßt. Ihre beiden Schwestern sind darin viel empfindlicher; denn der verlorene Glaube kehrt nicht so leicht wieder zurück, und die Liebe – weint sich zu Tode«, schloß sie leise.

»Du lieber Gott – ja!« nickte Zimburg.

Schweigend gingen sie einige Schritte weiter, und dann begann er mit einem frischeren Ton, der allmählich sicherer wurde:

»Denken Sie, daß ich neulich, nachdem Sie dem Ruf der Pflicht, wie Sie es nannten, gefolgt waren – ich meine, als wir uns zufällig am Grenzgitter trafen – ganz geneigt war, Fräulein Reudnitz den Hals umzudrehen. Ich war nämlich mit meiner Erzählung noch nicht fertig, und als der Egoist, der man einmal ist, ging mir's arg gegen den Strich, unterbrochen zu werden, während ich im besten Zuge war, mir mal die ganze Last von der Seele herunterzuschwatzen. Darf ich's jetzt vollenden?«

»Gewiß dürfen Sie das«, erwiderte Theo freundlich und setzte heiter hinzu: »Sie müssen aber im Telegrammstil reden; denn es würde auffallen, wenn wir uns lange absondern, und mir wahrscheinlich eine sehr gesalzene Suppe eintragen.«

»Daran möchte ich nicht gern schuld sein. Was ich noch zu sagen hatte, war nur das: Nachdem ich von dem Erlös für den Amönenhof die Schulden abgetragen hatte, in die mein Vater durch seine Gutmütigkeit und seinen Glauben an die Ehrlichkeit seines sogenannten Freundes hineingeraten war, ist mir noch eine kleine Summe geblieben, deren Zinsen mir nicht erlaubten, die Uniform weiter zu tragen. Nachdem ich diese Hoffnung zu Grabe getragen hatte, sah ich nirgends eine andere Laufbahn für mich offen. Mein Abitur würde mir ja heut noch die Universität öffnen, und ich würde auch keinen Augenblick zögern, mich mit meinen dreißig Jahren heute noch auf die Schulbank zu setzen, aber bis ich in Amt und Brot wäre, ist der Weg vielleicht doch zu weit. So habe ich mich denn entschlossen, auszuwandern. Ein Freund von mir hat in Australien eine Farm, in die ich als Teilhaber am Geschäft meine paar Kröten stecken will und bei dem ich mich einarbeiten kann, bis es mir gelingt, mich auf eigene Füße zu stellen. So, das wäre nun alles; aber es knüpft sich noch eine Frage daran, eine Bitte um Rat, die ich Ihnen, Fräulein Zöllner, vorlegen möchte, wenn ich darf –«

»Selbstverständlich«, sagte Theo ermunternd, als er stockte. »Nur sehe ich nicht ein, was mein Rat Ihnen nützen könnte.«

»Ah – es ist eine Frage, die mir nur eine Frau beantworten kann«, erwiderte er mit zunehmender Bewegung, die ihr nicht entging. »Und zwar eine Frau wie Sie – ich meine, jemand, der, wie Sie, auch den Kampf ums Dasein führt. Verzeihen Sie, wenn ich Sie daran erinnere, aber es gehört zur Sache. Nun wohl, glauben Sie – vielmehr, würden Sie mir raten, nachdem Sie meine Lage so ungefähr übersehen können, daß ich es wagen dürfte, ein – ein armes Mädchen zu bitten, mir als meine Frau ins unbekannte Land zu folgen, mögliche Enttäuschungen, Verluste, Mühsal und Arbeit mit mir zu teilen? Antworten Sie mir ehrlich, Fräulein Zöllner, ganz ehrlich!«

Theo antwortete nicht gleich. Sie war stehengeblieben und sah hinauf in die grünen Wipfel der Bäume, durch die, wie leise kosend, der Nachtwind strich und die goldene Sichel des wachsenden Mondes nur einen matten Schein fallen ließ, in welchem ihre weiße Gestalt sich in unsicheren Umrissen abhob.

»Warum sollen Sie das nicht wagen?« sagte sie endlich leise. »Wenn Sie das arme Mädchen lieben und das Mädchen Sie, dann wäre das Wagnis von beiden Seiten nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar Pflicht. Oder meinen Sie, daß Sie so leichten Herzens die Heimat allein verlassen könnten, wenn Sie wissen, daß ein anderes Herz sich fern von Ihnen – zu Tode weint?«

»Von mir weiß ich's gewiß, daß ich recht schweren Herzens allein in die Fremde wandern würde«, erwiderte er rasch. »Aber ich weiß ganz und gar nicht, ob das – das andere Herz mir gehört. Das ist's ja gerade, was ich wissen wollte, ob Sie mir raten würden, die entscheidende Frage zu wagen!«

»Wer wagt, gewinnt«, sagte Theo freundlich. »Aber das soll kein Rat sein«, setzte sie rasch hinzu. »Um einen solchen geben zu können, muß man die fragliche Person kennen, muß man wissen, ob ihr zuzutrauen ist, daß sie alles das auf sich nimmt, wovon Sie sprachen; ob sie stark und in sich gefestigt genug ist, aus solch einer Probe siegreich hervorzugehen.«

»Ich würde Ihnen diesen Rat auch nie zugemutet haben, wenn Sie das Mädchen nicht kennten – sicher nicht. Theo!« setzte er bittend hinzu, »Sie müssen doch wissen, wen ich meine, warum ich die ganze Geschichte erzählt habe, die man doch nicht aus purer Schwatzsucht, oder um sich bedauern zu lassen, zum besten gibt –«

Ein leises Murmeln wie von sich nähernden Stimmen veranlaßte Zimburg, plötzlich einzuhalten; und in der Tat kamen auch eben zwei Gestalten, eine helle und eine dunkle, des Wegs von der anderen Seite daher, deren Gespräch beim Zusammentreffen mit ihnen beiden ebenso jäh verstummte.

»Schon wieder!« stöhnte Zimburg, das rosa Kleid erkennend, und rasch setzte er fast unhörbar hinzu: »Wo in aller Welt kann ich Sie sprechen?«

Theo kämpfte ein paar Sekunden hart mit sich selbst; Erziehung, Überlieferung und eigene Würde sträubten sich in ihr gegen eine geheime Zusammenkunft, besonders, da die letzten Worte Zimburgs einen Zweifel nicht mehr zulassen konnten, wen er mit dem »armen Mädchen« gemeint hatte. Da er aber nach dem Amönenhof nicht kommen konnte, sie selbst noch weniger nach Steinau, eine schriftliche Aussprache auch nicht ratsam schien, so blieb ihr nichts anderes übrig, als nach allem den einzigen Ausweg zu wählen, der offen blieb.

»Morgen früh um halb sechs Uhr am Grenzzaun, Wenn ich nicht kommen kann, dann übermorgen«, flüsterte sie ihm zu, und schon nach den nächsten drei Schritten stießen sie mit dem entgegenkommenden Paare zusammen, das sie längst als Sabine mit dem Kammerherrn erkannt hatten.

»So treffen sich die schönsten Leute im Mondenschein«, rief sie, schnell gefaßt; und zum Glück waren die beiden anscheinend auch noch so im Geiste mit ihrer eigenen unterbrochenen Unterhaltung beschäftigt, daß sie das leichte Beben in Theos sonst so klarer Stimme gar nicht bemerkten. Zimburg aber hörte es wohl heraus; denn wenn die Liebe nach der allgemeinen Ansicht auch blind macht, so hat sie dafür ein um so schärferes Gehör; und sein Herz machte darob einen Freudensprung.

»Ach ja – der wunderschöne Mondschein! Richtig, da ist er ja«, sagte Sabine ganz überrascht, indem sie auf die goldene Sichel zeigte, die sie anscheinend eben erst bemerkte; der gute alte Mond schien also nicht gerade das Thema Ihrer Unterhaltung mit dem Kammerherrn gebildet zu haben, der übrigens merkwürdig verlegen aussah, sich aber geschickt zwischen Theo und Sabine schob, als diese sich in den Arm ihrer Gefährtin hängen wollte.

»Das ist ja reizend, daß wir uns hier auf diesem lauschigen Pfade treffen«, log er flott drauflos. »Fräulein Reudnitz und ich sind ganz zufällig hierhergeraten und wollten eben sehen, ob wir hier wieder zu der Gesellschaft stoßen könnten, die sich wahrscheinlich schon mit Stangen und Netzen ausrüstet, um uns alle aus dem kleinen Weiher dort hinten zu fischen. Also laßt uns wandeln.«

Da der Weg zu schmal war, um zu viert nebeneinander zu gehen, so nahm Willig mit Sabine den Vortritt, und das andere Paar folgte. Der Kammerherr, der seine kleine Verlegenheit überwunden zu haben schien, schwatzte mit gewohnter Verve drauflos, wobei er nicht verfehlte, durch ständige Kehrtwendungen die hinter ihm Einherschreitenden mit ins Gespräch zu ziehen, und so vermied er glücklich das Aufkommen einer gewissen, unvermeidlich scheinenden Beklemmung. Als dann die vier sich dem offenen Garten und damit der Veranda näherten, auf welcher die anderen Herrschaften Platz genommen, fragte Theo, warum Bergfried eigentlich nicht zur Tafel erschienen sei.

»Er hat Migräne vorgeschützt. Ob er wirklich welche hatte, kann ich nicht sagen: denn ich weiß nicht, ob dieses Leiden so rasch vorübergeht«, erwiderte Zimburg trocken. »Wobei mir einfällt: Ist es wahr, daß er mit ihrer Freundin, der Gräfin Zimburg, verlobt ist oder sich verloben wird?«

Theo blieb unwillkürlich stehen. »Hat er Ihnen das gesagt?« fragte sie scharf.

»Gewiß nicht!« antwortete Zimburg. »Wenn Bergfried auch Eigenschaften hat, die mir weniger sympatisch sind, so halte ich ihn doch für einen Ehrenmann, der mit seinen Eroberungen nicht prahlen, bestimmt aber nicht das Ei verkaufen würde, ehe es gelegt ist. Meine Quelle ist Mühling, der das Gerücht in Berlin gehört hat. Ich selbst würde es gewiß nicht weitererzählen und erwähnte es nur Ihnen gegenüber, weil die Gräfin Ihre Freundin ist und Sie doch sicher wissen müssen, ob etwas daran ist.«

»Womit Sie auch ganz an die rechte Quelle gekommen sind. Daß Herr von Bergfried sich um – um die Gräfin beworben hat, glaube ich verraten zu dürfen, da ich Ihrer Verschwiegenheit sicher bin; eine Verlobung hat aber nicht stattgefunden und wird es auch nicht, wie ich glaube versichern zu dürfen«, schloß Theo mit der Einschränkung, die sich ihr nach ihrer raschen Versicherung aufdrängte.

»Desto schlimmer für Bergfried«, meinte Zimburg mit einem leisen Lächeln. »Aber wer kann eine solche Frage selbst für seine beste Freundin beantworten? In diesem Punkte dürfte selbst die innigste Freundschaft ihre Grenzen haben.«

»Ich möchte nur wissen, welche alte Klatschbase da wieder tätig gewesen ist!« rief Theo nicht ohne eine ganz berechtigte Erregung laut genug, daß es der Kammerherr vor ihr hören könnte.

»Ich war's nicht!« beteuerte er lachend, trotzdem er kaum gehört haben konnte, um was es sich gehandelt hatte.

»Natürlich waren Sie's nicht! Eine Klatschbase sind Sie nicht!« rief Theo unbedacht aus.

»Woher wollen Sie das wissen, Fräulein Zöllner?« fragte Willig schmunzelnd, wodurch ihr klar wurde, daß sie sich »vergaloppiert« hatte.

»Das sieht man den Leuten schon an«, meinte sie schnell gefaßt.

»Da sehen Sie, gnädiges Fräulein, welch vertrauenerweckenden Eindruck man macht!« warf sich Willig, zu Sabine gewendet, in die Brust. »Ach, das tut wohl!«

Sabine nahm den Scherz aber durchaus ernst. »Ich wundere mich nicht darüber«, sagte sie mit so naiver Bewunderung, daß Theo fast laut gelacht hätte, trotzdem ihr eigentlich gar nicht danach zumute war.

»Ah – da sind ja die beiden verlorenen Küchlein!« schrie Mühling jetzt von der Veranda herüber. »Und noch dazu unter so kräftigem männlichen Schutz! Fräulein von Ganting war schon in tausend Ängsten um Sie, meine Damen. Sie sehen, meine Gnädigste«, wandte er sich an Cordula, »Fräulein Zöllner hat pflichtgetreu über Ihre Nichte gewacht. Die Sorge war also unnütz, daß etwa ein – Duett gesungen worden ist. Quartette gewährleisten immer eine größere Solidität und Sicherheit.«

Cordula drohte ihrem Wirt sauersüß lächelnd mit dem Finger. »Wer wird denn so etwas laut hinausrufen, lieber Herr von Mühling!«

»Ich habe nur das Kind mit dem rechten Namen genannt«, entschuldigte er sich lachend. »Aber ich stelle auch gern fest, daß Ihr mütterliches Herz mehr besorgt um Fräulein Zöllner als um Ihre leibliche Nichte war.«

»Gewiß, weil ich meiner Nichte sicher bin, denn ich habe ihre Erziehung geleitet«, erklärte Cordula hochmütig. »Fräulein Zöllner aber kenne ich noch zu wenig, und wir wissen rein gar nichts über ihre Herkunft.«

Da sie ziemlich laut sprach, war es unmöglich für jedermann, ihre Worte zu überhören, und eine unbehagliche Unterhaltungspause war die notwendige Folge dieses unnötigen Angriffs, während aller Augen sich unwillkürlich auf Theo hefteten, die gar nicht wußte, wie ihr geschah.

»Fräulein Zöllner, kommen Sie doch ein bißchen zu mir!« rief die alte Exzellenz aus ihrer Ecke herüber. »Ich habe heute noch gar keine Gelegenheit gehabt, mit Ihnen zu plaudern!«

Reudnitz, der neben der alten Dame gesessen hatte, sagte leise zu ihr, während er für Theo Platz machte: »Meinen ergebensten Dank, Exzellenz, im Namen der Gefährtin meiner Tochter!« wofür die alte Dame mit einem feinen Lächeln antwortete. Dann nahm sie zierlich eine Prise aus ihrer juwelenfunkelnden Dose, ergriff Theos Hand und zog sie neben sich auf den leeren Stuhl.

»So, mein Töchterchen«, sagte sie laut, daß es der ganze Kreis hören konnte, »nun widmen Sie sich mal auf ein paar Minuten einer alten Frau und erzählen Sie mir was Schönes und Lustiges; denn das höre ich sehr gern.«

Theo war's zwar im Augenblick gar nicht lustig zumute, weniger des öffentlichen Angriffes wegen, der ja freilich nicht angenehm war, sie aber schließlich wenig berührte, als – aus anderen Ursachen. Aber gerade diese taktlosen Worte Cordulas und die Parteinahme der alten Exzellenz für sie berührten sie unwillkürlich von der komischen Seite, zudem fing sie einen listig zwinkernden Blick Willigs auf, sah das finstere Gesicht Bergfrieds, dem sie dafür viel verzieh – und mußte wider Willen über die Suppe lachen, die sie sich eingebrockt.

»Wenn man all das Lustige erzählen wollte, das man erlebt, dann wüßte man wirklich nicht, wo man anfangen sollte«, erwiderte sie der alten Dame, über deren Gesicht es auch verdächtig zu zucken begann.

»Na, wenn Sie's so auffassen, dann muß die Sache ja ein herrlicher Ulk für Sie sein«, murmelte sie unter einer neuen Prise. »Ist die alte Tante da immer so nett zu Ihnen?«

»Ich danke, Exzellenz! Einige seltsame Gnadenfälle ausgenommen, befleißigt sie sich in meiner Behandlung einer anerkennenswerten Konsequenz«, gab Theo halblaut zurück. »Da jedoch der alte Herr und seine Tochter ganz reizend zu mir sind, so betrachte ich die Tante als erquickendes Gegengewicht zur Herstellung der angenehmen Abwechselung. Variatio delectat, sagt der Lateiner.«

»Ja, weil Sie sich das als Stellvertreterin leisten können«, versetzte die Oberhofmeisterin trocken. »Ihre Freundin, für die Sie so unbedacht – jawohl, unbedacht eingesprungen sind, hätte sich wahrscheinlich schon beide Augen über diese ›erquickende Abwechslung‹ ausgeheult.«

»Um so besser ist's, daß ich so – unbedacht war«, gab Theo heiter zurück. »Ich diene ihr als Walze für den steinigen Pfad, den sie im Begriff war zu betreten. Sie wird ihn dann hoffentlich als glatte Landstraße vorfinden.«

Die alte Dame kicherte vergnügt in sich hinein.

»Sie haben einen beneidenswerten Optimismus«, meinte sie. »Haben Sie wirklich vor durchzuhalten, bis Ihre Freundin wieder gesund ist?« »Aber gewiß! Ich gehöre nicht zu den ›weiblichen Frauenzimmern‹, die vor dem ersten Hindernis kehrtmachen«, versicherte Theo ernsthaft und setzte dann leise lachend hinzu: »Wissen Exzellenz vielleicht ein gutes, erprobtes, sicheres Rezept zum endgültigen Hinausgraulen überschüssiger und überflüssiger Tanten?«

Jetzt lachte die alte Dame laut und ungeniert heraus.

»Läuft der Hase so?« fragte sie höchlich belustigt. »Ein Rezept gegen Schwiegermütter ist mir aus dem spanischen Lustspiel bekannt, das aber den Witwenstand voraussetzt. Indes ließe es sich aber auch ganz gut auf ledige Tanten anwenden: M a n v e r h e i r a t e t s i e.«

»Ein schöner Gedanke, eine Notkutsche, deren Pferde die bekannten Namen ›Wenn‹ und ›Aber‹ führen«, wandte Theo lachend ein. »Mit anderen Worten: Wenn Exzellenz zu dem Rezept gleich den nötigen Kandidaten liefern können, wäre die Sache einfach genug. Aber – wird er denn auch wollen?«

»Ja, du liebe Zeit – ohne sanfte Gewalt geht's in dem spanischen Lustspiel auch nicht«, versetzte Frau von Wiesenthal, »Was einen Kandidaten betrifft: Warum hat der Kommerzienrat nicht seine Schwägerin geheiratet?«

»Ja, warum?« wiederholte Theo. »Ich denke mir, weil er ein so bescheidener Mann ist und es ihm widerstrebte, die g a n z e Gan-Erbschaft seinen Reichtümern beizufügen.«

Die Oberhofmeisterin quietschte tatsächlich vor Vergnügen.

»Sie sind einfach köstlich!« versicherte sie mit einem geradezu zärtlichen Blick auf Theo. »Schön«, fuhr sie dann mit dem Übermut einer Jungen fort, »ich werde mich mal nach einem Kandidaten umsehen, falls die Gefühle der Humanität mich nicht in letzter Stunde davon zurückhalten. Der arme Mensch kann einem ja schon jetzt leid tun, ohne daß man ihn kennt, Wie wär's übrigens mit einer – Kandidatin? Ich meine, wenn Sie zum Beispiel den Alten heirateten, so wäre das ein ganz vorzügliches Rezept –«

»Herrschaft!« rief Theo entsetzt aus. Dann aber lachte sie hellauf, weil ein ganz toller Gedanke ihr durch den Kopf schoß, der wahrscheinlich telepathische Eigenschaften besaß; denn die alte Tante neigte sich bis dicht an ihr Ohr und flüsterte mit funkelnden Augen:

»Sie brauchen ja nur so zu tun, als ob –! Wie ich aus dem Gesicht von Papa Reudnitz schloß, als die Tante Sie vorhin so geschmackvoll attackierte, käme ihm selbst ein wirksames Rezept gegen seine liebe Schwägerin sicher nicht ungelegen; es fragt sich nur, wie's ihm am besten beizubringen wäre und ob der gute Mann Talent hat, eine kleine Komödie zu spielen. Natürlich müßte ihm das gestochen werden. Ich bin sehr geeignet dazu, den Leuten etwas zu stechen. Ja, und eh' ich's vergesse: Für den Fall, daß Ihnen der Boden in Amönenhof doch am Ende einmal etwas zu heiß werden sollte, so vergessen Sie nicht, daß Mutter Wiesenthal ein sehr nettes Gaststübchen hat. So, liebes Kind«, fuhr sie laut fort, »jetzt gehen Sie nur hübsch wieder zur Jugend zurück, der ich Sie lange genug entzogen habe. Karl Mühling, wie wär's, wenn Sie für mich das Anspannen bestellten? Schön, wie dieser Abend in so angenehmer Gesellschaft ist, wird's doch so Zeit für mich, ins Bett zu kriechen. Vorher aber will ich mir noch ein wenig im Garten die Beine vertreten bei dem schönen Mondschein. Ich schwärme für Mondschein in reiner Landluft. Sie auch, Herr Kommerzienrat? Na, dann geben Sie mir Ihren Arm und führen Sie mich altes Fossil spazieren, bis der Wagen kommt. Ich bitte die Herrschaften, meinen Aufbruch nicht etwa als Signal zu betrachten, wenn Sie den guten Mühling nicht unglücklich machen wollen. Und Sie«, tuschelte sie dem Hausherrn im Vorübergehen zu, »Sie können dem Kutscher sagen, daß er sich nicht zu beeilen braucht. Ich möchte den Reudnitz mal eben noch wegen – hm – wegen einer alten Aktie ausfragen.«

Mühling war schon im Begriffe, damit herauszuplatzen, daß Reudnitz doch kein Finanzmann sei, aber die Exzellenz schritt schon an seinem Arm die Treppe hinab, und schließlich war's ja auch nicht ausgeschlossen, daß der Kommerzienrat auch in solchen Sachen Bescheid wußte. Ein bißchen wunderte sich der Gutsherr von Steinau aber doch; denn seine alte Freundin gehörte nicht zu der Sorte, die jeden Geschäftsmann gleich in ihren eigenen Angelegenheiten anzapft, um einen Vorteil für sich herauszuschinden, und was für eine alte Aktie sie meinen konnte, war ihm erst recht schleierhaft, da er seit Jahren ihr Ratgeber in Vermögensangelegenheiten war und sowohl ihre Vorliebe für solide Pfandbriefe wie ihre Abneigung gegen Aktien kannte, von denen sie seines Wissens auch gar keine besaß.

Der Spaziergang im Mondenschein mit Reudnitz zog sich wirklich etwas in die Länge, weil der Wagen unbegreiflich mit dem Vorfahren zögerte, und als die Oberhofmeisterin dann glücklich abgefahren war, machte Reudnitz, zur Gesellschaft zurückgekehrt, nach Mühlings Beobachtung »so'n komisches Gesicht«, als ob das Gespräch über die alte Aktie ihm zu denken gegeben hätte.

Theo ihrerseits fing einen Blick des alten Herrn auf, mit dem er sie, nicht unfreundlich, aber doch so merkwürdig ansah, daß es ihr siedend heiß wurde; der Gedanke: »Sie wird ihm den dummen Spaß doch nicht gar gestochen haben?«, flößte ihr erhebliches Unbehagen ein. »Aber nein«, überlegte sie fast gleichzeitig, »das war ja ausgeschlossen, daß eine alte würdige Oberhofmeisterin a.D., Exzellenz, sich zu solch einem Backfischstreiche hergeben konnte.« Das hatte Frau von Wiesenthal selbstverständlich umgangen; denn sie war eine sehr kluge Dame, die es meisterlich verstand, mit Worten zu spielen und anderen ihre eigenen Gedanken einzureden, ohne daß sie es merkten.

Theo war neben Mühling gestanden, als die alte Exzellenz ihm im Vorübergehen jene Worte zuflüsterte, die ihm so unverständlich waren, und konnte gar nicht umhin, sie auch zu hören, um so mehr, als die alte Dame sie dabei angeschaut und ein Auge dabei zugekniffen hatte. Sie hatte also gleich verstanden, was, oder vielmehr, wer mit der »alten Aktie« gemeint war. Dann hatte sie jedoch in dem allgemeinen Gespräch, in das sie geflissentlich von allen Gästen hineingezogen wurde, darauf vergessen, bis der sonderbare Blick des Kommerzienrats ihr die Sache wieder ins Gedächtnis gebracht hatte. Doch der Augenblick des Unbehagens verging in der kurzen Erwägung über die Unmöglichkeit dieses tollen Gedankens.

Es war reichlich spät geworden, als der allgemeine Aufbruch stattfand, da Mühling einer jener Gastgeber war, die ihre Gäste nicht so rasch wieder ziehen lassen. Der Weg im Auto von Steinau nach Amönenhof war kurz genug; während dieser Zeit hatte Reudnitz sehr angeregt von dem netten Abend geschwärmt, Sabine hatte begeistert zu allem Ja gesagt, Cordula nur einige abfällige Kritiken über Verpflegung und Gäste eingestreut, und ehe es auffallen konnte, daß Theo sich sehr schweigsam verhielt, war man schon daheim angelangt.

Droben im Vestibül sagte man sich »Gute Nacht«, das heißt, Cordula verteilte diesen Wunsch im Stil einer Privatcour, und als an Theo die Reihe war, bekam sie ihr Teil in besonders gnädiger Weise mit dem Zusatz:

»Welch reizendes Täschchen Sie da haben, liebes Fräulein! Ich habe eine Schwäche für diese Sachen, und es fiel mir gleich auf, als Sie's bei Tisch neben Ihren Teller legten. Darf ich es einmal näher anschauen?«

Theo, die schon längst bereut hatte, das Täschchen in der Zerstreuung mitgenommen zu haben, denn es war wirklich ein sehr auffallender Gegenstand, zögerte einen Augenblick, konnte aber nicht gut anders, als es Cordula hinzureichen, die es von allen Seiten eingehend betrachtete.

»Ist es echt?« fragte sie, honigsüß lächelnd. »Man möchte fast darauf schwören, daß die Maschen von purem Golde, die Steine wirkliche Edelsteine sind!«

»Ich kann es wirklich nicht sagen. Die Tasche ist ein Geschenk, und – einem geschenkten Gaul darf man bekanntlich nicht ins Maul sehen«, erwiderte Theo lachend, indem sie die Tasche wieder Empfang nahm.

»Oh, ein Geschenk!« machte Cordula gedehnt. »Da ist es wohl die Chiffre des Gebers, dieses mit einer Fürstenkrone gekrönte ›E‹ auf dem Bügel, wie?«

»Ist das eine Fürstenkrone?« fragte Theo mit gut gespieltem Erstaunen. »Sie ist jedenfalls sehr hübsch, nicht wahr?«

»Sehr!« bestätigte Cordula trocken. »Danach scheinen Sie auch zu den Leuten zu gehören, welche die Bedeutung der Kronen und ihre Formen nicht kennen. Eine Dame meiner Bekanntschaft ließ sich ihr Monogramm mit einer Grafenkrone in ihre Taschentücher sticken, und darüber befragt, warum sie sich dieses Attributes bediene, das ihr doch gar nicht zustände, meinte sie ganz naiv: ›Oh, weil es doch so hübsch aussieht und so hübsch putzt.‹ Vielleicht war der Spender – oder war es eine Spenderin? – Ihrer Tasche auch dieser Meinung?!«

»Das kann schon sein. Die Krone sieht auch wirklich sehr hübsch und reich aus«, erwiderte Theo, das Täschchen mit schiefem Kopfe betrachtend.

»Na, Kinder, wollen wir ewig hier stehen?« rief Reudnitz ungeduldig aus. »Es ist schon recht spät, und zu heraldischen Belehrungen ist morgen auch noch ein Tag!«

Man hatte sich aber kaum getrennt, und Theo war kaum mit einem innerlichen: »Gott sei Dank, das wäre auch überstanden!« in ihr Zimmer getreten, als auch schon Sabine zu ihr hereinhuschte.

»Ach, Liebste, du bist gewiß sehr müde, und ich eigentlich auch; aber ich muß dir wirklich noch etwas sagen«, rief sie mit so flehenden Augen, daß Theo nur freundlich versichern konnte: »Na, wenn du schon mußt, denn man tau!«

»Ach, mir ist das Herz so voll, daß ich doch nicht hätte schlafen können, ehe ich nicht deine Ansicht gehört habe«, sagte Sabine so vertrauensvoll, daß es Theo wirklich rührte. »Denk dir nur, Herr von Willig, der mich heute nach dem Essen im Garten ganz unversehens auf den hübschen, stillen Weg führte, auf dem wir uns dann trafen, hat solch sonderbare Fragen an mich gestellt. Nämlich ob ich glaubte, daß er zu alt zum Heiraten sei – so eine Idee, nicht? – und ob ich es für sehr unbescheiden halten würde, wenn er einem jungen Mädchen Herz und Hand zu Füßen legen würde, zum Beispiel einem Mädchen meines Alters – daß der Johannistrieb bei einem Manne eigentlich das Wahre sei und wie ich darüber dächte – – ach, Theo, mir fing das Herz dabei an, so schrecklich zu schlagen, daß ich kaum antworten konnte!«

»Aber du hast es dann doch gekonnt, gelt?« fragte Theo freundlich.

»J–a. Ich sagte natürlich, daß es komisch wäre, ihn von seinem Alter reden zu hören, daß jedes junge Mädchen sich von seiner Werbung sehr beglückt und geehrt fühlen würde und daß ich speziell den Johannistrieb für etwas ganz Wunderschönes betrachtete – – ja, was ist denn das eigentlich, ›der Johannistrieb beim Manne‹, liebste Theo? Ich weiß schon, wenn die Bäume um Johanni noch einmal ausschlagen, dann nennt man das wohl so, und so hab' ich's auch gemeint, weil ich's wirklich wunderschön finde, wenn die hellgrünen, jungen Triebe zwischen den dunkelgrünen Blättern stehen –«

»Herr von Willig hat sich einer Allegorie bedient«, fiel Theo belustigt ein. »Siehst du, Sabinchen, in den Herzen mancher Menschen bleibt aber noch oft ein Stückchen von dem Frühling der Jugend zurück, und wenn die rechte Sonne darauf scheint, dann fängt's noch einmal an zu sprießen und frisches Grün zu treiben – gerad' wie um Johanni viele Bäume. Und das nennt man dann beim Menschen den Johannistrieb.«

»So also war's gemeint!« rief Sabine begeistert. »Ich wagte nicht, Herrn von Willig zu fragen, und antwortete ihm dem buchstäblichen Sinne nach – – nun, ich hätte auch nicht anders antworten können, wenn ich gewußt hätte, daß er eine Allegorie meinte. Ach, Theo, liebe Theo, glaubst du, daß er mich mit dem jungen Mädchen meines Alters gemeint hat?«

»Na, schwer ist das nicht zu erraten, du liebes, kleines Schäfchen«, erwiderte Theo lachend. »Sollte es Herr von Willig nicht noch etwas deutlicher ausgedrückt haben?«

»Ich – ich weiß es nicht«, stotterte Sabine mit solch glückseligem Gesichtchen, daß sie wirklich bildhübsch aussah. »Er – mir war's, als ob er mich um die Taille gefaßt hätte – fassen wollte – – oder war's nur so ein Gefühl von mir – – wir bogen gerad um die Ecke und sahen dich vor uns stehen, dich und noch jemand – mir ist's, als sei's Graf Zimburg gewesen,«

»Ich glaube, ja«, sagte Theo zerstreut, denn es fiel ihr ein, daß diese fatale Ecke zwischen die Schicksalsstunde von vier Menschen getreten war. Sabine mußte aber, trotz ihres vollen Herzens, über diese Antwort lachen.

»Ich glaube, ja!« wiederholte sie, »Eindruck scheint Graf Zimburg danach nicht auf dich gemacht zu haben. Ich, an deiner Stelle, hätte es sicher ganz genau gewußt, ob Herr von Willig neben mir gestanden hätte oder ein anderer.«

Nun mußte auch Theo über das kurzsichtige kleine Wesen lachen, indem sie hoffte, daß auch der Kammerherr seine Augen anderswo gehabt, als er um die bewußte Ecke bog.

»Nun mach aber, daß du ins Bett kommst«, rief sie, Sabine nach der Tür schiebend. »Süße Träume brauche ich dir ja nicht erst zu wünschen, wie?«

»Nein, wirklich nicht«, gestand Sabine naiv. »Ich meine überhaupt schon zu träumen. Ist es nicht wunderbar, daß ein Mann wie Herr von Willig so ein dummes Mädel, wie ich es bin, überhaupt beachtet? Er, der so reif, in allem so abgerundet ist –«

»Ja, ja – abgerundet ist er wirklich! Darüber ist gar kein Zweifel!« bestätigte Theo mit schlecht verbissenem Lachen, gab Sabine, um es zu verbergen, einen Kuß und machte rasch die Tür hinter ihr zu. Und dann lag sie noch lange wach in ihrem Bette; aber als der Schlaf sie endlich heimsuchte, brachte er ihr keine »süßen Träume« um bei der strikten Wahrheit zu bleiben; aber dafür kam er zu einem Herzen, das durch den Sturm einer nachsichtslosen Selbstprüfung in den Hafen der Ruhe eingelaufen war.


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