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4. Kapitel

Die erste Nacht in dem fremden Hause, in einem Bett, dessen ›Höhen und Tiefen‹ einem noch nicht vertraut sind, pflegt meistens eine rechte Ruhe selbst bei jungen Menschen nicht aufkommen zu lassen, und Theo erging es damit auch nicht besser. Herzlich müde, wie sie sich kurz nach Tisch gefühlt hatte, war sie jetzt am Abend dieses an neuen Eindrücken so reichen Tages eigentlich wieder ganz munter und abgeneigt, zu Bett zu gehen.

Die herrliche, warme Maiennacht mit dem wunderbaren Mondenschein lockte sie hinaus auf ihren Balkon, und während sie, an das vergoldete, schmiedeeiserne Gitter gelehnt, in das vom Mond versilberte Grün und auf den reizenden Blumengarten zu ihren Füßen hinausblickte, zogen die Ereignisse noch einmal an ihrem geistigen Auge vorüber.

»Eigentlich doch eine recht nette Sache, in die ich mich hier hineingesetzt habe«, dachte sie mit einem unwillkürlichen Lächeln. »Wenn mir das einer noch vor vier Tagen gesagt hätte, daß ich mich von einem alten Drachen, wie die kostbare Tante hier ist, hinausweisen lassen würde, ohne den Wink mit dem Zaunpfahl umgehend zu benutzen – ich hätte ihn einfach ausgelacht. Und warum habe ich mir das alles gefallen lassen? Ich könnte mir ja ganz nett selbst vorlügen, daß ich's der armen Anna wegen tat, aber Aug' in Aug' mit mir selbst hält dieses edle Motiv die Prüfung doch nicht ganz aus; denn Anna ist einmal jetzt in einem Zustand von Bewußtlosigkeit und könnte in ihren lichten Momenten ganz gut in dem seligen Wahn gehalten werden, daß ihr die Stellung hier nicht verloren ist, und dann ließe sich, selbst wenn der Kommerzienrat nicht auf sie warten wollte, ganz gut ein Modus finden, der sie reichlich für den Verlust entschädigt. Im ersten Augenblick, ja gewiß, da war Anna mein einziger Beweggrund – daß ich mit der tollen Idee dieser Stellvertretung noch eine zweite Fliege mit derselben Klappe schlagen könnte, ist mir wahrhaftig erst später eingefallen, und weil ich so voreilig war, das gleich an Ort und Stelle zu melden, so konnte ich ja gar nicht mehr zurück, ohne mich unsterblich zu blamieren. Schließlich macht mir diese ganze Komödie hier doch auch einen Riesenspaß. Man guckt mal in ganz andere Verhältnisse hinein, was einem nur nützlich sein kann, und dann – dieser Kampf mit dem Drachen! Diese Anstrengungen des wirklich netten Kommerzienrates, seinen Meergreis los zu werden – das ist ja der reine Schwank, ein Stoff, um den einen jeder Lustspieldichter beneiden könnte. Ja, es reizt mich, dem alten Herrn beizustehen, den Meergreis herauszugraulen! Sabine ist ein gutes Tierchen ohne Arg und Tücke, unbedeutend, und auf die Dauer wahrscheinlich eine Nervenprobe, aber dafür habe ich sie auch schon so gut wie ganz auf meiner Seite und will von Herzen gern versuchen, in ihr zu wecken, was sie an Talent zur Selbständigkeit besitzt. Die Tante ist aber schon wirklich eine – na ja, eine tolle Person! Wenn sie's mit ihrer Behandlung meines werten Ichs nicht gleich so furchtbar übertrieben hätte, dann wär's ihr wahrscheinlich gelungen, mich umgehend zum Tempel hinaus zu befördern Aber sie hat's zu dick aufgetragen und mich damit zu einer Kraftprobe gereizt. Insoweit hätte ich ja noch Oberwasser behalten, aber ich traue dem alten Drachen nicht. Es scheint doch zuviel für sie auf dem Spiel zu stehen – warum zum Beispiel will sie das arme kleine Ding, die Sabine, immer noch in der Kinderstube halten? Warum frage ich? Weil sie fürchtet, daß Sabine sich bei ihrem Erscheinen in der Welt gleich verheiraten könnte, womit ihre Herrlichkeit als Meergreis ein Ende hätte! Ja, das muß ihr Motiv sein! Das liegt auf der Hand! Unklarer ist mir aber, warum Vater Reudnitz nicht wissen wollte, wie ich mit meinem richtigen Namen heiße. Um sich, wenn's herauskommen sollte, vor der Tante mit gutem Gewissen als unschuldiges Bählamm, das selbst betrogen wurde, eine Szene zu ersparen? Nein, für solch einen Pantoffelhelden kann man doch unmöglich einen Menschen halten, der, wie er, in seinem Leben soviel Energie bewiesen hat. Allerdings hat sich ja auch Herkules zum Wollespinnen pressen lassen, wenn's wahr ist, aber das traue ich dem alten Herrn denn doch nicht zu, bis er mir's beweist. Da das Grübeln aber vorläufig doch keinen Zweck hat, indem die Ereignisse sich schon historisch entwickeln werden, so will ich lieber jetzt schlafen gehen.«

Das Bett in der tiefen Nische, in welchem Theo sich alsbald mit Behagen ausstreckte, war vorzüglich, aber der Schlaf wollte trotzdem nicht kommen. Sie hatte die Balkontür weit offen gelassen und empfand die eindringende, linde Nachtluft sehr angenehm; aber der Mond schien so hell ins Zimmer, daß sein Licht bis auf das Bett und die Wand dahinter fiel. Deshalb zog sie den Vorhang vor der Nische zu und – nach zehn Minuten wieder zurück, weil die Luft in dem engen, abgeschlossenen Raume bald drückend wurde; denn der verblichene, hellgrüne Damast war schwer und zudem noch mit rosa Taft gefüttert. Nun versuchte Theo den Schlaf mit den bekannten Hausmitteln zu locken. Sie zählte eine gedachte Schafherde durch ein enges Tor in ein wogendes Kornfeld hinein, fand aber bald, daß die lieben Tiere zu sehr durcheinander wimmelten und sie mehr aufregten als schläfrig machten. Dann versuchte sie es mit der »Reise durch das Zimmer«, die gleichfalls als einschläfernd empfohlen wird. Mit dem, was sie vom Bett aus sehen konnte, war sie schnell fertig, aber ohne den erhofften Erfolg. Dann betrachtete sie den Damast des Vorhanges vor der Nische, dessen elegantes Muster sie bei dem hellen Mondlicht deutlich erkennen konnte, und sie stellte dabei fest, das die ganze Nische mit demselben kostbaren Stoff in reichem Faltenwurf bekleidet war. Sie streckte die rechte, der Rückwand zunächst befindliche Hand aus, den Damast zu befühlen; der knisterte und rauschte unter ihren Fingern, grad' wie ein Märchen aus jener Zeit, da der Amönenhof die Tage seines Glanzes sah und die Grafen von Zimburg darin eine Art von Hof hielten.

»Ob die schöne Amöne wohl auch in dieser Nische geschlafen und von ihren gestohlenen Schätzen geträumt hat?« dachte Theo, den Stoff streichelnd »Ob sie selbst sich diesen Damast ausgewählt haben mag?«

»Ich weiß doch nicht, ob er nicht einer späteren Zeit angehört, dem Rokoko zum Beispiel. Das verblichene Grün sieht im Mondlicht eigentlich wunderhübsch aus, gerad' wie mit Silber broschiert, und der Stoff des Vorhangs ist wirklich noch sehr gut erhalten – halt, hier ist ein Loch! Nein, nur ein Schlitz, ein Querschlitz – von Rechts wegen hätte der Damast doch in der Falte der Länge nach brechen müssen. Und der komische Schlitz ist noch dazu hinter dieser tiefen Falte, – ja. was ist denn das?«

Theos Hand, die hinter eine der tiefen Falten hineingeriet, in welche der Stoff an der Rückwand der Nische gelegt war, hatte dabei etwas zu fassen bekommen, das sich wie ein steifes Stück Papier anfühlte. Sie zog es hervor und betrachtete es, so gut es eben ging, nicht ohne ein kleines Erstaunen.

»Wenn das nicht ein Treff-As ist, und noch dazu ein recht sonderbares, dann hab' ich nie eins gesehen«, sprach sie vor sich hin und entzündete dabei die elektrische Tischlampe auf ihrem Nachttischchen.

Es war wirklich ein Treff-As, und zwar war die Karte mit einer reizenden, zart kolorierten Handzeichnung verziert, während die Rückseite mit ungemein fein stilisierten Lorbeergirlanden in Gittermuster bedruckt war. Theo, deren Pate eine Sammlung alter Spielkarten besessen hatte, war gleich imstande, das Alter dieser Spielkarte zu bestimmen; denn in dieser wertvollen Sammlung befand sich auch ein vollständiges Spiel aus der Empirezeit. Und als sie die Karte näher betrachtete, sah sie, daß mit halb verblichener Tinte etwas darauf geschrieben war, und zwar rechts und links von dem As je fünf untereinandergestellte, große lateinische Buchstaben, und einer bzw. zwei über und unter dem Treffzeichen. »M. A. U. L. E. M. E. H. C. L. E. R. L.« las sie die Buchstaben von oben nach unten in den drei Reihen ab. »Was soll denn das heißen? Das hat ja gar keinen Sinn! Ob da noch mehr solcher Karten stecken?«

Wieder fuhr sie mit der Hand hinter die tiefe Falte, aber es dauerte eine ganze Weile, bis sie den Schlitz wiederfand, in den sie beim ersten Mal ganz zufällig geraten war.

»Das ist überhaupt eine Tasche«, stellte sie dann fest und richtete sich auf, um besser hineinlangen zu können; dabei bekam sie ein dünnes Päckchen in die Hand, das, bei Licht betrachtet, nichts anderes war, als die zu dem Treff-As gehörigen Karten eines ganzen Spiels.

Theo breitete diese Karten nun auf der Bettdecke vor sich aus, – es waren vollzählig die zweiunddreißig Blätter eines Pikettspiels, und auf jeder einzelnen dieser Karten waren rechts, links und in der Mitte zwischen den Zeichen ebensolche lateinische Buchstaben ohne Zusammenhang, wie willkürlich hingeschrieben, aber doch sichtlich mit System, immer in drei Kolonnen geordnet. Nur auf den Bildern wich die Zahl der Buchstaben von denen der anderen Karten ab. Hier hielten vier Lettern die Anordnung in drei Reihen ebenfalls ein. Davon je eine über und unter den Doppelköpfen und je eine links oben und rechts unten. Nur das Coeur-As hatte, abgesondert von der dritten Reihe, einen Buchstaben mehr.

Diese Karte war auch auf der Rückseite beschrieben, und zwar trug sie den Namenszug »Leopold, Graf von Zimburg – Amönenhof, 1806.«

»Das ist ja wie eine Unterschrift zu diesen kabbalistischen Zeichen«, dachte Theo, und blickte von dem Namen der Karte in ihrer Hand zu dem ausgebreiteten Spiel auf ihrer Bettdecke. »Und ich lasse mich hängen, wenn das Ganze nicht ein Kryptogramm ist, eine Mitteilung irgendwelcher Art in Geheimschrift! Aber was tut man mit einem Kryptogramm ohne Schlüssel? Ist er vielleicht auch in dieser kunstreich versteckten Tasche, und hat der alte Herr, der diese Buchstaben so zierlich und säuberlich auf die Karten gemalt hat, sie selbst als Aufbewahrungsort dafür benutzt? Dann hätte dieses Pikettspiel ja über hundert Jahre darin gesteckt, – und ich muß da hineintappen, bloß weil ich nicht schlafen kann, mehr noch: ausgerechnet ich muß dieses Zimmer bekommen, um hineintappen zu können –«

Sie schob die Karten, die sehr dünn und augenscheinlich viel benutzt worden waren, zusammen und tauchte ihre Hand nochmals in die Tasche hinter der Falte. Sie war tief und schmal zwischen Stoff und Futter angebracht, und da sie sich auf der Innenseite der tiefen Falte befand, so wäre sie selbst mit einem umfangreicheren Inhalt von außen nicht zu bemerken gewesen. Aber sie enthielt nichts weiter, so emsig Theo auch suchte, und schließlich schob sie das Spiel Karten wieder zurück. »Ich nehme zwar vorläufig feierlich Besitz davon, aber nur, um sie bei Gelegenheit dem letzten Zimburg von Amönenhof zurückzugeben«, murmelte sie, die bewußte Falte wieder in Ordnung bringend. »Bis ich diese heiligen Hallen freiwillig oder durch überlegene Kräfte, alias Tante Cordula, wieder verlasse, sind diese sonderbaren Karten hier am besten aufgehoben. Daß sie irgendein Familiengeheimnis enthalten, darauf möchte ich beinahe schwören; das aber hat der gute Kommerzienrat bestimmt nicht gekauft, und darum halte ich die Zwangsaneignung dieses Pikettspiels für berechtigt. Daß ich neugierig wie eine Nachtigall bin, hinter das Rätsel dieser Buchstabenreihen zu kommen, will ich vorbehaltlos zugeben, und wer weiß? Eine blinde Henne findet manchmal auch ein Korn. Warum sollte ich nicht den Schlüssel dazu finden? Durch meinen Scharfsinn oder durch Zufall? Ja, wer weiß!«

Damit löschte Theo ihre Lampe wieder aus und war in wenigen Minuten fest eingeschlafen.

Theo gehörte nicht zu der Sippe der Langschläfer, die den halben Morgen im Bett zubringen und damit die schönste, fruchtbarste Zeit ihres Lebens vergeuden. Ob früh oder spät zur Ruhe gekommen hielt sie an ihrer Gewohnheit fest, im Sommer wie im Winter früh aufzustehen, nahm ein kühles Bad, zog sich gleich fertig für den Tag an und war darum auch beim Frühstück nicht übellaunig, mißgünstig oder ›verkatert‹, wie man es bei den meisten Leuten beobachten kann, die sich morgens von ihrem Bett nicht trennen können oder wollen.

Nach dem Erwachen war es Theos erstes Werk, in die verborgene Tasche des Vorhangs zu fassen, um sich zu überzeugen, daß sie ihren sonderbaren Fund nicht geträumt hatte. Als sie das Päckchen Karten in der Hand fühlte, widerstand sie heroisch der Versuchung, gleich an des Rätsels Lösung zu gehen.

,,Nein! Setzt man sich einmal darüber, dann kommt man sobald nicht mehr davon los«, dachte sie entschlossen und verließ das Bett. »Wenn ich noch mein eigener Herr wäre – aber das bin ich ja eben seit gestern nicht mehr. Und da ich von der Zeit bei der Pate her Übung darin besitze, nicht nach meiner eigenen, sondern nach anderer Leute Pfeife zu tanzen, so wird sich dieser Zustand ja wohl ertragen lassen. Hoffentlich hat man im Laufe des Tages mal eine Freistunde, und dann wollen wir Ihnen mal auf den Zahn fühlen, Leopold Graf von Zimburg-Amönenhof! Wozu ich mich aus verschiedenen Gründen für berechtigt halte: erstens, weil ich die glückliche Finderin dieser Karten bin, – zweitens überhaupt!«

Der Rest dieses Selbstgesprächs ging in dem Bad unter, in welches Theo mit Behagen tauchte, und eine knappe halbe Stunde später verließ sie leise ihr Zimmer, um in dem Park draußen die taufrische, wunderbar belebende Morgenluft zu genießen. Als sie das Haus durch das Portal der Landseite verließ, traf sie den Kommerzienrat, der, auf und ab gehend, seine Morgenpfeife rauchte.

»Was? Sie schon auf, Fräulein Zöllner?« rief er erfreut, »Na, das lobe ich mir. Wenn Sie das meiner Tochter beibringen könnten, würde sie bald so frisch aussehen und so klare Augen haben, wie Sie! Aber meine Schwägerin besteht darauf, das arme Mädel den halben Morgen im Bett zu halten und das Frühstück in den Federn einzunehmen. Wo soll sie bei solcher Lebensweise Kraft und Frische hernehmen?«

»Oh, das Frühaufstehen will ich Sabine schon beibringen, namentlich wenn ihr Wunsch mich dabei unterstützt«, meinte Theo zuversichtlich. »Ich habe überhaupt noch einige andere Reformideen für Sabine in petto, aber es wäre unweise, so etwas zu überstürzen, um die Opposition nicht herauszufordern, wodurch der Sieg nur erschwert werden würde.«

»Ganz einverstanden«, sagte Reudnitz, und lächelnd setzte er hinzu. »Woher haben Sie nur bei Ihrer Jugend alle diese Weisheit?«

»Nun, ob's gerade Weisheit ist, möchte ich doch nicht so ohne weiteres behaupten«, lachte Theo. »Ich habe nur ein Paar ganz helle Augen im Kopfe und bemühe mich, damit sehen zu lernen. Wenn man damit auch mal auf einen Holzweg kommt, tut nichts; Lehrgeld muß man für alles zahlen.«

»Wenn's nicht hinausgeworfen ist, hat man auch was dafür«, meinte Reudnitz wohlgefällig. »Na, und die vergangene Nacht haben Sie hoffentlich gut geschlafen und was Schönes geträumt, und Ihr Entschluß, zu bleiben, ist nicht wankend geworden, wie?«

»I bewahre!« versicherte Theo. »Einmal bin ich überhaupt nicht wankelmütig, sondern im Gegenteil schrecklich zähe im Festhalten, und dann, ehrlich gesagt, reizt mich der fröhliche Strauß mit Fräulein von Ganting. So ein ›Kampf mit dem Drachen‹ – das soll nicht etwa ein Vergleich sein, behüte! – ist ganz erfrischend.«

»Ja, das glaube ich Ihnen aufs Wort«, sagte Reudnitz mit Überzeugung. »Hm – ja – wenn die Sache nur nicht ›erfrischender‹ wird, wie Sie sich's vorstellen. Meine Schwägerin ist auch recht zäh veranlagt, wo es sich bei ihr um Vorteile – gelinde gesagt – und noch um andere Dinge handelt. Vergessen Sie auch nicht meine Warnung, sich unter keinen Umständen ins Unrecht zu setzen, denn damit verlieren Sie sofort den Rückhalt an mir. Ich wäre gezwungen, mich auf die Seite meiner Schwägerin zu stellen; ich halte übrigens nicht für ausgeschlossen, daß sie ihre Taktik Ihnen gegenüber nach der kleinen Auseinandersetzung gestern abend bei Tisch ändert. Das darf Sie aber nicht zu der Annahme verleiten, als hätte sie damit ihren Widerstand aufgegeben. Das glaube ich nicht!«

»Ich auch nicht«, fiel Theo ein. »Ich hoffe sogar, daß Fräulein von Ganting mir gegenüber nicht plötzlich zur Liebenswürdigkeit übergeht. Das wäre ein böses Zeichen und eine ernste Warnung zur Vorsicht; denn meine selige Pate pflegte immer zu sagen: Hüte dich vor den – na, ich will das Wort nicht wiederholen; denn es ist so drastisch, wie die Pate selbst es war – hüte dich vor denen, die dich erst kratzen und dann lecken, oder umgekehrt.«

»Die Pate muß eine kluge Dame gewesen sein«, nickte Reudnitz. »Aber Sie wollen einen Spaziergang machen, und ich auch. Meinen Sie nicht, daß es nun sehr weise von uns beiden wäre, uns dazu erst durch ein Frühstück zu stärken?«

»Das fände ich nicht nur weise, sondern sogar höchst angenehm, Herr Kommerzienrat. Müßten wir damit aber nicht eigentlich auf Ihre Damen warten?«

»Da können Sie lange warten! Die frühstücken beide im Bett, meine Schwägerin vermutlich aus Schönheitsrücksichten, meine Tochter par ordre de moufti. Nein, ihr Frühstück müssen Sie sich selbst bestellen, und daß man Ihnen das nicht gesagt hat, beweist nur, daß Hausgäste bei uns ein ungewohnter Zustand sind. Wissen Sie was? Frühstücken wir gemeinsam, was sehr viel netter ist, als wenn man's allein hinunterschlingt, und werfen Sie dann Sabine rücksichtslos aus dem Bett heraus!«

»Sehr einverstanden!« rief Theo vergnügt, und bald saßen sie im Speisezimmer, durch dessen offene Tür man den See im Morgenlicht glitzern sah, beim Frühstückstisch, auf dem Theo den Tee selbst zubereitete, was den alten Herrn, der aufmerksam und händereibend zusah, zu der Bemerkung hinriß, dies sei sein erstes gemütliches Frühstück seit dem Tode seiner Frau.

»Ich hatte gehofft, Sabine würde diesen Liebesdienst für mich übernehmen, aber meine Schwägerin bestimmte ›aus Gesundheitsrücksichten‹ anders«, sagte er mit einem Seufzer, der Theos Mitleid mit dem armen, reichen Mann erregte. »Sie hat es ja gut mit Sabine gemeint, aber allzu große Ängstlichkeit ist auch nicht gut, und aus der Fürsorge ist dann eine Gewohnheit geworden. Finden Sie Sabine eigentlich so überzart?«

»Etwas zart scheint sie mir schon zu sein, wenigstens nicht allzu kräftig«, gab Theo zu. »Indes sollte man solche Menschen doch nicht auch noch in Watte packen, so daß jeder frische Lufthauch sie gleich umwirft. Zwischen spartanischer Abhärtung und einer gesunden Lebensweise ist ja schließlich auch noch ein Unterschied. Lassen Sie mir nur etwas freie Hand, und ich will schon zusehen, daß Sabine sich von aller Verzärtelung frei macht, ohne daß wir uns darüber mit Ihrer Tante in die Haare geraten.«

»Wenn Sie das zuwege bringen, was meine Predigten und Argumente nicht vermochten, dann will ich Ihnen in meinem Herzen ein Denkmal setzen, Fräulein Zöllner!«

»Aber bitte, noch zu meinen Lebzeiten«, lachte Theo. »Ich meine, wir haben durch das Landleben einen starken Hilfsgenossen. Welch prächtigen Besitz haben Sie mit dem Amönenhof erworben, Herr Kommerzienrat! Es muß dem Grafen Zimburg doch sehr schwer geworden sein, sich von ihm zu trennen. Kennen Sie ihn? Doch das ist wahrscheinlich eine sehr überflüssige Frage.«

»Durchaus nicht, denn ich habe den Grafen nie persönlich gesehen«, erwiderte Reudnitz. »Als mein Agent mir den Amönenhof empfahl, hatte der Graf schon seinen Abschied genommen – aus finanziellen Gründen, wie ich hörte – und war in Schweden zum Besuch bei einem Freunde. Sein Rechtsanwalt, der den Verkauf übernommen hatte, erzählte mir, daß sein Klient auszuwandern gedenke.«

»Wirklich? Sie erwähnten gestern, daß Sie den Besitz unter sonderbaren Bedingungen erworben hätten und versprachen, gelegentlich darauf zurückzukommen. Wenn es also nicht indiskret ist, Sie daran zu erinnern –«

»Durchaus nicht, da ich ja davon angefangen habe – überdies ist mir auch keinerlei Verpflichtung auferlegt worden, die Sache für mich zu behalten. Der Rechtsanwalt des Grafen machte mir nämlich die erstaunliche Mitteilung von einem sagenhaften Familienschatz, welcher der Tradition nach hier in Amönenhof vergraben oder verborgen liegen soll– wenn mir recht ist, seit der Franzosenzeit. Warum man diesen Schatz nie gehoben hat und wie er verschwunden ist, kann ich nicht sagen. Genug, der Graf stellte dem Käufer des Amönenhofes die Bedingung, den Schatz auszuliefern, falls dieser ihn entdecken sollte – was eigentlich doch ganz selbstverständlich ist. Daran anknüpfend, sicherte er sich noch das Rückkaufrecht des Amönenhofes für den, wie mir dünkt, nicht sehr wahrscheinlichen Fall, daß der Käufer den Schatz finden sollte. Nach kurzer Überlegung glaubte ich auf diese Bedingung eingehen zu können; denn gesetzt, der Schatz existiert wirklich, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß ich ihn finden könnte, doch sehr minimal, nachdem die Familie Zimburg sicherlich nichts unterlassen hat, was sie im Verlauf von mehr denn hundert Jahren in den Wiederbesitz dieses legendenhaften Schatzes hätte bringen können. Und da ich ganz sicher nicht danach suchen werde, so ist mein Risiko bei der Annahme dieser Bedingungen so gering, daß ich geneigt bin, es überhaupt als nicht bestehend zu betrachten. Der Zufall spielt einem ja freilich oft ganz sonderbare Streiche; aber wenn man damit rechnen wollte, dann würde man überhaupt nichts mehr unternehmen können.«

»Ja,« machte Theo nachdenklich, »glauben Sie, daß es überhaupt einen Zufall gibt? Ich weiß nicht, dieses Wort hat mich immer zum Widerspruch gereizt.«

»Sie meinen also, daß das, was wir Zufall nennen, eigentlich eine Art von Bestimmung ist?«

»Ja, und daß das, was wir ›Vorsehung‹ nennen, sich eines Werkzeuges bedient, um diesen sogenannten Zufall herbeizuführen, der für eine bestimmte Person vielleicht über ein ganzes Leben entscheidet.«

»Na, Egoist der man nun einmal ist, hoffe ich inbrünstig, daß ich nicht dazu ausersehen bin, den Zimburgschen Schatz aufzufinden, nachdem ich den Amönenhof, der ganz verlottert war, hübsch instand gesetzt habe, Graf Zimburg mag ja ein ganz netter Mensch sein, aber daß ich ihm seine Bude hergerichtet haben sollte, nicht mir, das würde mir denn doch stark gegen den Strich gehen!«

»Es wäre auch wirklich ein ganz phänomenales Pech«, meinte Theo lachend. »Und da Sie sich über Pech in Ihren Unternehmungen nicht gerade beklagen können, so wird Ihnen das Glück wohl auch im Falle Amönenhof treu bleiben.«

»Sonst wäre ich auf diese Bedingungen beim Kauf überhaupt nicht eingegangen. Mein Rechtsanwalt unterstützte mich darin, während der des Grafen mir zu verstehen gab, daß sein Klient mit dieser Klausel lediglich einen letztwilligen Wunsch seines Vaters erfülle und gewissermaßen um Entschuldigung für diese ›verrückten Bedingungen‹ bat. Seine Hoffnung auf diesen Schatz scheint demnach nicht gerade auf einen Felsen gebaut zu sein.«

Als Theo nach beendetem Frühstück die Treppen wieder hinaufstieg, tat sie das nicht in ihrer gewohnten energischen, raschen und doch elastisch leichten Art, sondern langsam und nachdenklich; denn es hatte sie plötzlich wie ein Blitz der Gedanke durchzuckt, daß die besondere Verkaufsklausel am Ende gar mit dem ebenso sonderbaren Kartenspiel, das sie gestern abend gefunden, zusammenhängen könnte. Ob diese Karten, die darauf geschriebenen Buchstaben einen Hinweis auf diesen Schatz enthielten? Sie nannte diesen Gedanken bei sich selbst zwar sofort ›höheren Blödsinn‹, aber sie schaffte ihn damit doch nicht aus dem Kopfe. Warum hatte man diese Karten aber auch in einem so raffiniert angebrachten Versteck verborgen? Anscheinend waren sie bei den seit hundert Jahren doch sicherlich sehr gründlichen Großreinemachefesten und bei der Renovierung unentdeckt geblieben. Ja, und endlich, warum hatte gerade sie, Theo, sie finden müssen? Und warum hatte der Mond durch die offene Balkontür bis in die Nische gerade auf diese Stelle so intensiv scheinen müssen und das Muster des Stoffes so beleuchtet, daß ihr Blick darauf fallen und ihre Hand führen mußte? War das nicht mehr wie ein Zufall?

»Wenn ich jetzt könnte, wie ich wollte, dann würde ich mich über diese verflixten Karten hermachen und mir den Kopf darüber zerbrechen«, dachte sie mit einem mißlungenen Versuch, sich selbst zu verspotten. »Zum Glück habe ich aber zunächst die höhere Pflicht, Sabine Reudnitz aus den Federn zu holen.«

Trotzdem warf sie einen sehnsüchtigen Blick in die Bettnische, als sie ihr Zimmer betrat; dann klopfte sie resolut an die Verbindungstür, trat in Sabinens Zimmer ein und hätte fast laut aufgelacht beim Anblick des kleinen, schmächtigen Wesens, das in dem großen Bett hinter den zurückgeschlagenen roten Damastvorhängen saß; vor ihr auf der Steppdecke, auf deren unteren Hälfte sich ein mächtiges Federbett bauschte, stand ein Tablett mit dem noch unberührten Frühstück. Sabinens dürftiges Körperchen war mit einem Nachthemd mit einer sehr sorgfältig getollten Halskrause bekleidet, und ihren Kopf bedeckte eine Haube, aus der zwei rosa Bandschlupfen wie Ohren emporstanden – sie sah aus, wie ein junger, weißer Uhu.

»Oh, Theo!« rief sie der Eintretenden entgegen »Wie lieb, daß Sie zu mir kommen! Ich habe Sie durch das offene Fenster – o Gott wenn Tantchen wüßte, daß ich's aufmachen ließ! – drunten mit Vater reden und lachen hören und bin ganz neidisch und rebellisch geworden. Sie haben gewiß mit ihm zusammen gefrühstückt?«

»Natürlich! Es war fein, und morgen werden Sie auch dabei sein«, erklärte Theo mit großer Bestimmtheit. »Aber Sie haben Ihren Haferbrei ja noch gar nicht angerührt.«

»Er ist mir schon so zuwider, daß ich ihn nicht mehr hinunterbringe«, jammerte Sabine. »Alle Tage dasselbe pappige Zeug! Ich soll nämlich dick davon werden, aber es nutzt ja doch nichts!«

»Natürlich nicht – was einem zuwider ist, schlägt auch nicht an«, meinte Theo, ergriff das Tablett und stellte es auf den nächsten Tisch. »Und nun heraus mit Ihnen aus der Klappe, im Namen Seiner Hochwohlgeboren des Herrn Kommerzienrats! Sie bestellen sich einfach ein anderes Frühstück, oder ihr Vater tut's für Sie. Passen Sie mal auf, wie Ihnen das schmecken wird!«

,,Das glaube ich auch«, erwiderte Sabine zögernd. »Aber erst muß ich doch ein heißes Bad nehmen und dann noch mindestens eine Stunde wieder ins Bett –«

»Warum nicht gar!« lachte Theo. »Sie nehmen ein kühles Bad, und darnach geht's gleich in die Kleider und dann hinaus ins Freie! – So macht man's!«

,,Ach – aber was wird Tantchen sagen? Ich werde eine schreckliche Strafpredigt bekommen, und – gewiß ins Bett zurückmüssen!« rief Sabine zitternd und doch darauf erpicht, zu tun, wie's ihr gesagt wurde. »Und Fliedertee trinken!« setzte sie halb weinend hinzu.

,,Wieso müssen Sie?« erkundigte sich Theo heiter. »Wenn ich keinen Fliedertee trinken will, bringt ihn keine Macht der Welt über meine Lippen. Vorwärts, Sabinchen, keine Müdigkeit vorgeschützt; denn – Papa hat's gesagt! Außerdem läßt man sich mit achtzehn Jahren nicht mehr ins Bett schicken oder darin zurückhalten, wenn man weder krank noch ein Trottel ist und selbst gern aufstehen möchte. Ihre Tante meint's ja natürlich gut, ihr Vater aber noch viel besser, und so müssen Sie sich eben entschließen, wem Sie lieber folgen wollen. Die Strafpredigten werden ganz von selbst aufhören, wenn das Kücken sich die Eierschalen abschüttelt und versucht, die Körner allein zu picken, ohne daß die Frau Henne sie ihm in den Schnabel steckt. Nun, wie gefällt Ihnen diese Aussicht?«

Sabine mußte unwillkürlich lachen und – sprang zum Bett heraus. »Ach, du liebe Zeit, das wird eine gute Sache geben«, rief sie nicht ohne Galgenhumor.

»Wenn's Ihnen gar zu gepfeffert und gesalzen ausfällt, dann brauchen Sie ja nur die Annahme zu verweigern«, sagte Theo seelenruhig. »Machen Sie einen hübschen Knicks dazu, bedanken sich inbrünstig, und – tun Sie, was Ihnen paßt; denn sehen Sie: Unbeschadet der großen Hingabe, mit der Ihre Tante hier im Hause Ihres Vaters zum Rechten sieht und Sie bemuttert, sind Sie doch, bei Lichte besehen, an der Stelle Ihrer Frau Mutter die Herrin. Wenigstens war ich es im Hause meines Vaters, der auch Witwer war, ganz unbestritten, und die Tante hätte ich sehen mögen, die mich von diesem Platze hätte verdrängen wollen!«

Der Eintritt von Sabinens Zofe, der sie geklingelt hatte, verhinderte eine Antwort auf diese aufrührerische Rede; aber an Sabinens immer größer werdenden Augen konnte Theo unschwer erkennen, daß sie ihr wirklich ein Licht aufgesteckt hatte, das eine andere Beleuchtung, als die gewohnte, auf die Sachlage warf. Damit war es vorläufig auch genug; es mußte jetzt abgewartet werden, ob das Samenkorn auf fruchtbaren Boden oder ins Wasser gefallen war.

»Ich erwarte Sie unten vor dem Hause, Sabine, wenn's Ihnen recht ist« sagte Theo und verließ dann das Zimmer, doch ein klein wenig im Zweifel, ob sie fürs erste nicht ein bißchen zu scharf ins Zeug gegangen war. Als sie ins Vestibül trat, kam Adelheid gerade aus den Zimmern ihrer Herrin heraus, mehrere Kleider über dem Arm, die Theo zu ihrem Erstaunen als die ihrigen erkannte.

»Ich wollte die Sachen gerade wieder in ihr Zimmer tragen, Fräulein, ich habe sie gereinigt«, beeilte sich Adelheid die Sache zu erklären.

»Was? Und das besorgen Sie im Zimmer von Fräulein von Ganting?« fragte Theo noch erstaunter.

»Aber nicht doch – wie werde ich denn so was tun?« widersprach die Kammerjungfer beleidigt und wurde rot dabei. »Ich habe Ihre Sachen zusammen mit denen des gnädigen Fräuleins geputzt und die Ihrigen natürlich zuerst abgegeben.«

»Natürlich!« wiederholte Theo trocken. »Bei dem weißen Kleide hätten Sie sich allerdings die Mühe sparen können, denn ich habe es noch niemals getragen.«

»Es hatte ein Fleckchen am Saum – so was kommt schon bei der Anprobe auf weiße Wollenstoffe«, behauptete Adelheid. »Und weil ich sehr genau bin bei meiner Arbeit, so hab' ich's auch gefunden und mit Kreide ausgerieben. Nichts ist so gut gegen Flecken auf weißem Zeuge wie Kreide. Sie gehen ratzibus damit heraus. Es soll nur ein Wink sein, Fräulein, da Sie doch überhaupt Weiß tragen.«

Damit verschwand sie samt dem Arm voll Kleidern in Theos Zimmer, und diese stieg nicht ohne ein unbehagliches Gefühl die Treppe hinab.

»Sie hat dem Drachen meine Sachen zum Zeigen gebracht«, dachte sie entrüstet. »Entweder auf ihren eigenen Kopf hin oder auf höheren Befehl! Solch eine Unverschämtheit! An sich ist die Sache ja bedeutungslos, denn was sich Herr und Gescherr an meinen paar Sachen abgucken wollen, ist mir schleierhaft. Hab' ich mir doch nur das Allereinfachste »fürs Land« mitgenommen. Aber es soll mir eine Lehre sein, gut zu verschließen, was ich – nicht sehen lassen will und hab's ja instinktiv zum Glück schon getan.«

Theos Verdacht war ein vollständig begründeter; denn Adelheid hatte wirklich aus eigener Initiative die Kleider zu ihrer Herrin getragen, um ihr damit einen illustrierten Vortrag voll sittlicher Entrüstung über den Luxus zu halten, der sogar schon bei den Angestellten eingerissen sei.

»Sehen sich gnädiges Fräulein mal bloß diese Sachen an«, hatte sie ausgerufen, indem sie die Bescherung auf Cordula von Gantings Bettdecke ausbreitete. »Erstens, wozu braucht eine Gesellschafterin weiße Kleider? Das ist doch geradezu unpassend für so'n Mädchen! Und diese Stoffe – bessere, wie Fräulein Sabinchen sie trägt. Jawohl! Und alles Schneiderarbeit von der besten! Darin kenne ich mich aus. Hundert Mark Schneiderlohn für jedes, schlecht gerechnet! Woher nimmt das Fräulein Zöllner das Geld, frage ich? Ja, wenn's noch alt gekaufte Kleider wären, aber alles ist funkelnagelneu, besonders das Weiße hier – einzig und allein auf Figur gemacht, darauf lasse ich mir die Nase abbeißen!« Da dieses Organ in Adelheids Physiognomie eine hervorragende und große Rolle spielte, so war die Bekräftigung sehr ernst zu nehmen. »Und alles, sogar das Fähnchen, in dem sie gestern ankam, ist mit Seide gefüttert, bester, dicker und weicher, reiner Seide, wie das gnädige Fräulein sie kaum für Ihre Kleider verwenden. Da soll mir einer weismachen, daß die nichts anderes ist, als was sie scheinen will! Solche Seide zum Futter! Einfach sündhaft!«

Fräulein von Ganting konnte nicht umhin, es auch sündhaft zu finden, und betrachtete die mustergültig gearbeitete Garderobe »der Person« mit wachsendem Mißbehagen. Aber sie schwieg sich dazu aus, was Adelheid natürlich zum Weiterreden anfeuerte.

»Fräulein Zöllner hat heute schon in aller Herrgottsfrühe mit dem Herrn Kommerzienrat gefrühstückt, und mächtig vergnügt ist es dabei zugegangen, sagt der Johann, der serviert hat«, schwatzte sie weiter. »Das Fräulein hat den Tee selbst gemacht und dem Herrn die Brötchen geschmiert und einen Apfel geschält – tjaja, die versteht's. Sie hat heute einen blauen Leinenrock an und eine frische Bluse mit feinsten Stickereien, und wenn der Rock nicht auch vom Schneider A. gemacht ist, und die Bluse nicht ihre fünfzig Mark gekostet hat, dann versteh' ich nichts davon. Soviel darf ich schon sagen, Ihre Wäsche, die ich nur so obenhin besehen habe, ist auch funkelnagelneu, oder wenigstens doch ›auf neu‹ gewaschen, und hat Stickereiverzierungen, wie das gnädige Fräulein sie nicht trägt – – nu ja, so obenhin besehen, scheinen die Kleider ja einfach genug zu sein, aber die Qualität und die Arbeit machen den Preis.«

Fräulein von Ganting konnte ihrer eifrigen Zuträgerin darin nur recht geben. Sie hatte sich nie, wenigstens nicht, bevor ihre Schwester eine reiche Frau wurde, solche Kleider anschaffen können, wie dieses Fräulein Zöllner sie hatte, Kleider, denen jeder geübte Blick ansah, was sie gekostet haben mußten. Nein, da war ganz bestimmt etwas nicht in Richtigkeit. Nun hatte der Kommerzienrat ja freilich erklärt, daß Fräulein Zöllner die Stellvertretung als einen unbezahlten Freundschaftsdienst übernommen hätte, was wohl eine gewisse Wohlhabenheit voraussetzen durfte, aber doch kaum diesen Luxus, dessen Unauffälligkeit ihn um so verdächtiger machte.

Fräulein von Ganting war heute beim Erwachen halb und halb geneigt gewesen, sich mit der Stellvertreterin abzufinden, um einen desto energischeren und wirksameren Feldzug gegen die eigentliche Gefahr zu eröffnen; aber der Anblick der Kleider hatte sie wieder umgestimmt, denn es wollte ihr immer mehr zur Gewißheit werden, daß auch hier eine Gefahr – vielleicht sogar die größere von beiden – zu fürchten war. Dieser sogenannte »Freundschaftsdienst« mochte den Schein für sich haben; aber, wenn »diese Person« wirklich die Mittel zu solch einer Garderobe besaß, dann wäre es ihr doch leicht gefallen eine dritte zu finden, die für Geld und gute Worte die Stelle des Fräuleins von Ried gewiß nur zu gern vertreten hätte, ohne daß Fräulein Zöllner sich selbst zu bemühen brauchte. Nein, wenn sie es trotzdem tat, dann mußte die Sache einen anderen Grund haben; darüber wurde sich Fräulein von Ganting immer klarer, je mehr sie sich's überlegte.

Aber was konnte das für ein Grund sein? Das war die Frage.

Hatte diese »Zöllner« ein Eisen verloren – um es diskret zu umschreiben – und ging sie darauf aus, den Kommerzienrat einzufangen? Das wäre sehr denkbar gewesen und schien sogar sehr wahrscheinlich. Und mit Ihrem Äußeren hätte ihr Plan dann auch alle Aussicht auf Erfolg, denn die Männer sind sich – Gott sei's geklagt! – alle gleich, wenn ein hübsches, junges Wesen ihnen schmeichelt und es darauf anlegt! Es gab aber auch noch eine andere Möglichkeit. Man liest und hört heutzutage allenthalben von geheimen Agentinnen, die in Häusern, in denen es etwas auszuspionieren gibt, Einlaß zu finden verstehen, um hinter gewisse Geheimnisse zu kommen. Cordula entsann sich einer durch alle Zeitungen gehetzten Geschichte von der Erzieherin im Hause des Botschafters einer Großmacht, die ihre Stellung dazu benutzt hatte, gewisse diplomatische Dokumente zu stehlen, oder sich Kenntnis ihres Inhalts zu verschaffen – sie war einfach eine politische Agentin in Verkleidung gewesen. Da nun Jakob Reudnitz ein weltbekannter Lieferant von Geschützen für europäische und außereuropäische Staaten war, so lag es nahe, daß die Kenntnis der Verträge über diese Lieferungen von höchstem Interesse für die Staaten sein mußte, denen daran lag, sich darüber zu informieren. Wäre es daher nicht möglich, daß »diese Zöllner« eine solche Agentin wäre, die eigens zu dem Zwecke hergekommen war, solche Dinge auszuspionieren? Reudnitz hatte sich freilich schon vor Monaten halb und halb von den Geschäften zurückgezogen; die Hauptfäden liefen aber noch immer alle in seinen Händen zusammen, und die Dokumente darüber verwahrte er in dem eisernen Schrank in seinem Schlafzimmer, den er sich eigens dazu hatte nach dem Amönenhof kommen lassen. Also war die Parole: die Augen nach diesen beiden Möglichkeiten offen zu halten und unter allen Umständen Material zu sammeln, um die Verdächtige beizeiten und ohne Aufschub zu entlarven, womit dann dem guten Jakob wohl die Lust für weitere »Gefährtinnen« seiner Tochter vergehen würde. Und wenn nicht, dann mußte für die Nachfolgerinnen eben die Methode des »Herausgraulens« wieder in Kraft treten.

Daß damit gegen »diese Zöllner« nichts auszurichten war, hatte Cordula einsehen müssen. Es wäre falsch gewesen, sie weiter zu brüskieren und sich selbst damit ins Unrecht zu setzen. Besser war es, sich scheinbar zu fügen, um hinter dieser Maske unauffälliger und energischer kämpfen zu können. Denn daß »diese Zöllner« standzuhalten beabsichtigte, das hatte sie bewiesen. Eine andere, die keine Hintergedanken hegte, wäre gleich wieder abgereist, wie's ihr ja deutlich genug nahegelegt worden war. Folglich verfolgte sie hier ein bestimmtes Ziel; das durchkreuzt werden mußte.

Als Cordula an diesem Tage im Kreise der Familie beim Mittagstisch erschien, waren ihre Augenlider nicht mehr gerötet, dafür aber ihre Wangen, und um ihre gefärbten Lippen spielte ein liebliches Lächeln. Sabine hatte ein sehr schlechtes Gewissen; zwar war sie dem erwarteten Unwetter vorläufig entronnen, da sie ihrer Tante, die gerade Toilette machte, nur hinter der Tür hatte guten Morgen wünschen können. Sie war die erste, das günstig veränderte Aussehen ihrer Verwandten zu bemerken und ihrer Freude darüber Ausdruck zu geben. Das war übrigens ganz ehrlich gemeint; denn abgesehen davon, daß Sabine einer Unehrlichkeit überhaupt unfähig war, hatte das gute, harmlose Kind keine Ahnung, daß Tantchen ihr blühendes Aussehen aus dem Schminktopfe bezog.

»Ich fühle mich auch heute wie neugeboren«, versicherte Cordula strahlend. »Der schreckliche Druck und das physische Unbehagen, das während der letzten Zeit auf mir lag, ist durch eine vorzügliche Nachtruhe wie weggeblasen. Körperliche Leiden, an welche du, mein lieber Jakob, ja nicht glaubst, weil deine eigene Gesundheit so unglaublich robust ist, drücken auch auf das Gemüt – ich habe, wie ich hoffen möchte, eine böse Zeit endgültig hinter mir; denn ich fühle mich heute so leicht und frei, so jung, möchte ich sagen.«

»Na, da siehst du, was so'ne gute Nacht nicht alles zuwege bringen kann«, sagte Reudnitz trocken.

»In der Tat, ich habe das nie so wie heute empfunden«, strahlte Cordula unentwegt weiter. »Und Sie, liebes Fräulein«, wandte sie sich honigsüß an Theo, »haben Sie eine gute erste Nacht im Amönenhof verbracht? Hat man alles zu Ihrer Bequemlichkeit hergerichtet? Ist Ihnen das Frühstück nach Wunsch im Zimmer serviert worden?«

»Meinen verbindlichsten Dank, gnädiges Fräulein«, erwiderte Theo ebenso liebenswürdig. »Ich habe vorzüglich geschlafen, alles ausgezeichnet gefunden und das Vergnügen gehabt, mit dem Herrn Kommerzienrat zusammen zu frühstücken.«

»Ah!« meinte Cordula mit gut gespielter Überraschung.

»Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite«, fiel Reudnitz ein »Ich war heilfroh, daß ich endlich mal meinen Tee nicht allein in meiner werten Gesellschaft hinunterzugießen brauchte, und freue mich, daß in meinem Hause eine Person ist, die so früh aufstehen kann wie ich.«

»Von morgen ab, Vater nehme ich am Frühstückstisch teil«, erklärte Sabine, die ihren Mut in beide Hände genommen hatte, weil sie den großen Augenblick zur Verkündigung ihres Entschlusses unter sicherer Deckung gekommen sah. »Es wäre doch geradezu eine Schande, mich von Theo beschämen zu lassen! Nicht wahr, Tantchen?« fuhr sie überstürzt fort.

Cordula sah ihre Nichte einen Augenblick fassungslos an; aber dann fiel ihr ein, daß man jede Hilfstruppe ausnützen muß, wo sie sich bietet. Denn ein Frühstück zu dritt ist eben keins unter vier Augen mehr, auch wenn nur ein Schäfchen dabei sitzt.

»Nun ja«, sagte sie trotzdem zögernd. »Ich möchte aber trotzdem zu bedenken geben, liebes Kind, daß Fräulein Zöllners und deine Gesundheit nicht in einem Atem zu nennen sind –«

Sabine hatte sich an ihrem eigenen, ungewohnten Mut derart berauscht, daß sie damit wie auf einem Seil tanzte, außerdem hörte sie aus den Worten ihrer Tante kein direktes Verbot heraus und fühlte sich dadurch zu ferneren Kundgebungen angespornt.

»Oh, meine Gesundheit ist ganz gut«, rief sie und lachte mit wackelnder Stimme, daß es wie das Meckern eines jungen Geißleins klang. »Theo hat mich schon vor dem Frühstück aus dem Bett geholt, und so wohl wie heute habe ich mich schon lange nicht gefühlt!«

Natürlich wußte Cordula längst alles; dafür hatte Adelheid schon gesorgt; denn das unerhörte Ereignis war wie ein Lauffeuer ins Dienerzimmer gedrungen. Aber sie tat überrascht – angenehm überrascht sogar.

»Somit wäre Fräulein Zöllners Ankunft gleichbedeutend mit dem Anbruch einer neuen Ära«, schwang sie sich zu einem Scherze auf, dem aber die unwillkürliche Ironie des Tones das Scherzhafte nahm. »Nun, hoffentlich nimmt sie dann auch die Verantwortung für die etwaigen und, wie ich fürchte, unausbleiblichen Folgen ihrer drakonischen Mittel auf sich.«

»Ei bewahre – ich weiß von gar nichts, mein Name ist Hase«, lachte Theo mit der größten Harmlosigkeit. »Sabine ist doch erwachsen und hat ihren eigenen freien Willen, kraft dessen sie mich sicher heimgeschickt hätte, wenn's ihr darum zu tun gewesen wäre, im Bett zu bleiben. Nicht wahr, Sabine?«

»Gewiß«, bestätigte diese mit schwindendem Mut.

»Nun, etwas Suggestives muß schon in Ihrem Vorschlage gelegen haben, wenn er Sabine zu solcher Eigenwilligkeit und Nichtachtung meiner – und vor allem der ärztlichen Vorschriften veranlassen konnte«, sagte Cordula gekniffen. Doch ehe sie sich darüber verbreiten konnte, fiel Reudnitz ein:

»Die ärztliche Vorschrift der Mehlsuppe durch einen altmodischen Medizinalrat, wie dein Leibmedikus es ist, ist ihm auch nur von deiner übergroßen Sorge für Sabine eingeredet worden. Erinnere dich, daß ich immer ein Gegner dieser Verweichlichung war. Nun endlich aber einmal ein Anfang gemacht ist, wollen wir's das Mädel versuchen lassen, wie es ihr bekommt, wenn mir der Wunsch meines Lebens, mit meiner Tochter zu frühstücken, spät, aber dennoch erfüllt wird.«

»Gut, aber ich wasche meine Hände«, fuhr Cordula auf, besann sich aber und setzte mit sauersüßem Lächeln hinzu: »Wer weiß, ob mich schließlich das Beispiel nicht reizt und ich mich auch zum Frühstück einfinde. Was würdet ihr wohl dazu sagen?«

»Ich würde sagen, daß es nie zu spät ist, vernünftig zu werden«, erklärte Reudnitz mehr deutlich wie höflich, und damit schien zu Sabinens Erleichterung das Thema erledigt.

Cordula ging nun dazu über, ein kleines Kreuzfeuer von Fragen an Theo zu richten, wie alt sie eigentlich sei, wo geboren, welche Studien sie getrieben und wo, in welchen Kreisen sie verkehrt, ob sie diese und jene Person »zufällig« kenne, welche Reisen sie gemacht, und so fort.

Theo, welcher die Liebenswürdigkeit Cordulas ohnedem schon aufgefallen war und die sich dabei der Warnung des Kommerzienrates entsann, merkte natürlich sofort den Zweck der Übung und beantwortete die an sie gerichteten Fragen mit großer Gewandtheit teils direkt, teils indirekt, sie scheinbar gänzlich mißverstehend, oft total verkehrt; sie war auch durch förmlich skandierte Berichtigungen nicht aus ihrer gespielten Begriffsstutzigkeit herauszubringen, und brachte es schließlich zuwege, die bohrende Fragerin über ihre geistigen Fähigkeiten so zu täuschen, daß sie das Rennen aus purer Erschöpfung endlich aufgab.

»Entweder«, überlegte Cordula, »ist diese Person wirklich trotz ihrer Schulweisheit so beschränkt und schwer von Begriff oder sie hat etwas zu verbergen und ist gewandt genug, das unter der Maske des Mißverstehens zu tun. Dahinter werde ich schon noch kommen.«

Es war somit eine gegenseitige Komödie, die sich am Mittagstisch des Amönenhofs abspielte, nur, daß Theo genau wußte, was sie tat, während ihre Widersacherin es vorläufig bloß für möglich halten konnte, daß eine Absicht vorlag.

Reudnitz war als stummer Zuhörer allerdings nicht im Zweifel; denn als sich nach Tisch eine Gelegenheit fand, ohne Zeugen mit Theo zu sprechen, sagte er schmunzelnd, indem er das junge Mädchen scharf ansah:

»Also heute hätten wir denn gleich eine Probe der veränderten Taktik bekommen. Und Sie haben mit großem Geschick die Geschichte vom Zweimarkstück variiert.«

»Wieso? Welches Zweimarkstück?« fragte Theo verwundert.

»Was, den alten Meidinger kennen Sie nicht?« lachte Reudnitz. »A. trifft B. in später Stunde auf der Straße und fragt: »Wo sind Sie denn gewesen?‹ ›Im Theater!‹ ›Was haben sie denn gegeben?‹ B: ›Zwei Mark.‹ A.: ›Unsinn – Was für ein Stück sie gegeben haben?‹ B.: ›Ein Fünfmarkstück.‹ A. (verzweifelt): ›Nein, da kriegt man ja nichts heraus!‹ B.: ›Natürlich hab' ich drei Mark herausgekriegt!‹ A. (wütend): ›Das ist ja nicht zum Aushalten!‹ B.: ›Na, deswegen bin ich auch schon nach dem zweiten Akt weggegangen.‹«

Theo lachte, war aber rot geworden. »Und Sie wollen damit sagen –«, fragte sie.

»Daß Sie meiner Schwägerin auf ihre etwas eingehenden Fragen mit großem Geschick nach Muster B. geantwortet haben. Ihr Talent zum Fechten hat mir Hochachtung eingeflößt.«

»Sehr geschmeichelt«, erwiderte Theo mit einem Knicks. »Ich dachte mir halt: ›So fragt man die Bauern aus.‹ Wenn Sie jetzt dieselben Fragen an mich richten würden wie Fräulein von Ganting, dann sollten Sie klipp-klare Antworten erhalten, und kein Zweimarkstück. Aber Sie haben mir ja gestern schon den Mund verboten, und was Sie nicht wissen wollen, brauche ich keinem anderen zu sagen.«

»So, na, das wollte ich ja bloß wissen«, nickte Reudnitz befriedigt. »Was nun meine Schwägerin betrifft, so haben Sie sie für den Augenblick ja wohl ziemlich betäubt, aber wenn sie im Denken auch nicht sehr schnell ist, so kommt das doch man sachtchen bei ihr nach; denn beschränkt ist sie eigentlich nicht. Es ist also hundert gegen eins zu wetten, daß sie bis zum Abend ganz genau wissen wird, daß das bewußte Zweimarkstück ihr nicht ganz absichtslos gegeben worden ist. Und dann wird sie sich ihren Reim darauf machen. Das wollte ich nur gesagt haben, damit Sie sich nicht wundern, wenn die Taktik abermals eine Schwenkung erfährt.«

Da Sabine eben dazutrat, konnte Theo keine Antwort darauf geben und weil sie von ihr nun auch vollauf in Anspruch genommen wurde, fand sie keine Muße zum Nachdenken.

Da Fräulein von Ganting sich zu ihrer gewohnten Siesta zurückgezogen hatte, ohne Sabine an die ihre zu erinnern oder gar sie dazu zu ›befehlen‹, saßen die beiden jungen Mädchen auf einem schattigen Plätzchen im Park und »lernten sich kennen«, das heißt, sie schwatzten nach Herzenslust, wofür Sabine mehr und mehr Talent entwickelte. Immer nur auf sich allein oder auf die belehrende Gesellschaft ihrer Tante angewiesen, hatte sich ihre natürliche Redseligkeit so aufgespeichert, daß sie ihr in dem ungewohnten, aber ach! heimlich so ersehnten Verkehr mit einer annähernd gleichaltrigen Gefährtin die Zügel schießen und sie wie einen Sprudel hervorbrechen ließ. Und da Theo das ganz richtig auffaßte und dem armen reichen Dinge mit vollem Verständnis entgegenkam, so eroberte sie sich damit ebenso das Vertrauen Sabinens, wie sie sich gestern durch ihr bloßes Erscheinen die Schwärmerei eines Mädchenherzens gewonnen hatte, das durch seine Vereinsamung viel, viel jünger geblieben war, als seine Jahre.

Sabine schwamm so in der Seligkeit der Gegenwart, daß ihr unbedeutendes Gesichtchen sogar etwas Farbe bekam und ihre Augen einen ungewohnten und ungeahnten Glanz annahmen, der sowohl ihrem Vater als auch ihrer Tante auffallen mußte, als sie mit ihnen zur gewohnten Teestunde wieder zusammentraf.

Da die Sonne zu dieser Zeit noch voll auf der Terrasse am See lag, wurde der Tee in dem großen Saal des Mitteltraktes, den Theo damit zum ersten Male betrat, auf einem Tisch dicht vor den offenen Glastüren angerichtet. Dieser Saal war ein Raum, dessen Oval in Weiß und Gold mit zahlreichen, in die lackierten Paneele eingelassenen vielteiligen Spiegeln dekoriert war, während die Decke ein farbenprächtiges, recht gutes Gemälde in der Manier des Johannes Zieck, des deutschen Tiepolo, zeigte, das eine reichlich mit Amoretten bevölkerte Apotheose des Hauses Zimburg darstellte.

Augenscheinlich war dieser Saal zur Zeit des Rokoko im Geschmack dieser eleganten und graziösen Periode restauriert worden, und auch die zahlreichen Sessel, Taburetts und einige Sofas – mit gelbem Brokat bezogen, der schon recht deutlich Spuren seines Alters zeigte – wiesen auf diese Zeit hin. Auch zwei lebensgroße Porträts in Öl, die rechts und links des Eingangs aus dem Vestibül an Stelle der Spiegel die Paneele bedeckten, zeigten die reiche, prächtige Tracht der Damen und Kavaliere aus dem ersten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts. Der Fußboden des Saales war in großen, mit Sternenmuster eingelegten und mit dunklerem Holz umrahmten Karos parkettiert, und nur ein Teppich unter dem Teetisch unterbrach seine spiegelartige gewachste Fläche.

Theo war ganz begeistert von diesem prächtigen Raum, dessen sich kein Residenzschloß hätte zu schämen brauchen, und hielt mit dem Ausdruck ihres Entzückens auch nicht zurück.

»Wer sind denn diese Herrschaften?« fragte sie, auf die Porträts neben der Tür deutend. »Die Bilder machen den Eindruck, als ob sie für den Raum, den sie einnehmen, eigens gemalt wären. Hat denn Graf Zimburg seine Bilder mit verkauft?«

»Doch nicht; er hat sie nur leihweise bis auf weiteres hier gelassen. Sie werden in den anstoßenden Räumen des Ostflügels noch eine ganze Galerie davon finden«, erklärte Reudnitz. »Diese beiden stellen laut Unterschrift auf den Rahmen die Erbauer des Amönenhofs dar. Hier, der martialisch aussehende Herr ist Leopold III. Z. Graf von Zimburg; rechts von ihm die schöne Dame ist Amöne Z. Gräfin von Zimburg, geborene Gräfin Z. von Zimburg. Was das ›Z‹ bedeuten soll, weiß ich nicht. Vermutlich hat wohl der Amönenhof seinen Namen von ihr erhalten.«

»Aber Theo, was siehst du ihr ähnlich! » zirpte plötzlich Sabine dazwischen »Tantchen, Vater, seht doch! Ist das nicht auffallend? Gerad' als hätte Theo im Maskenkostüm zu diesem Bilde Modell gestanden!«

»In der Tat!« rief Reudnitz betroffen. »Eine Ähnlichkeit ist da – ganz zweifellos ist sie da! Findest du nicht auch, Cordula?«

»Hm – nun ja, die Haare – – das Ähnlichfinden war nie meine Stärke«, erwiderte Fräulein von Ganting ablehnend, indem sie kaum aufsah und sich mit der Zubereitung des Tees beschäftigte.

Theo selbst betrachtete mit einem ganz eigenen Lächeln das Bildnis, von dem sie selbst sich eingestehen mußte, daß es ihr ähnlich, sogar auffallend ähnlich sah. Nur war sie größer wie diese Gräfin Amöne, deren Ausdruck kühlen Hochmuts ihr fehlte Die zierliche, schlanke Gestalt auf dem Bilde – sie stand vor einem Vorhang von violettem Samt – trug ein Gewand von Goldbrokat, das sich über einem Unterkleide von schwerem, weißem Atlas öffnete und mit einer von Edelsteinen gebildeten Borte besetzt war. Edelsteine besetzten auch das Schneppenleibchen, so daß man kaum noch den Grundstoff sah, und auch die mächtigen Puffen der Ärmel waren durch Juwelenspangen zusammengerafft. Aus dem enorm hohen, drahtgesteiften Spitzenkragen, der den Kopf überragte, stieg der schlanke Hals der Gräfin Amöne, von einer einzigen Schnur kirschgroßer Perlen umschlossen, schwanenweiß wie eine elfenbeinerne Säule empor – ein stolzer Sockel für das schöne, zartgetönte Gesicht, über dem das ährengoldene Haar in tausend Löckchen wie eine Aureole aufgebauscht war, aus der sich vom Hinterkopfe aus eine lange, schillernde Locke wie eine Schlange über die weiße Büste ringelte. Und in diese Löckchenkrone waren ringsum viereckige, flach geschliffene und mit Diamanten umrahmte Rubine gesteckt, während der ganze Haaraufbau zum Überfluß noch von einer Krone überragt wurde, deren neun Zacken aus großen birnenförmigen Perlen bestanden.

»Wenn all' diese Steine und Perlen echt waren, was wohl anzunehmen ist, so muß die Gräfin Amöne annähernd für eine Million Schmuck an sich getragen haben«, meinte Reudnitz. »Wieviel mag davon verkauft, wieviel verloren und gestohlen worden sein. Denn wenn auch der Amönenhof, wie die ganze Gegend hier, im Dreißigjährigen Kriege so gut wie gar nicht gelitten hat, was durch die geographische Lage dieses stillen, weltfernen Tales zu verstehen ist, so kann der mittelbare Einfluß dieser Zeit doch nicht ganz ausgeblieben sein. Und später sollen die Franzosen während der Raubkriege unter Ludwig XIV. und durch die napoleonischen Einfälle ins deutsche Land hier recht lebhaft gehaust haben, und da wird wohl von diesem Edelsteinreichtum manches mitgewandert sein. – Die Bewunderung dieser Pracht hat Sie ja ganz stumm gemacht, Fräulein Zöllner! Wenn Sie dem Bilde des Grafen Leopold auch einmal einen Blick widmen wollten, so werden Sie sehen, daß auch er die Pracht der Juwelen nicht verschmäht hat. Allein, was auf dem Bandolier seines Riesenbratspießes von Degen sitzt, muß seinen Duodezfürsten droben auf dem Weißenfels vor Neid gelb gemacht haben; von den tellergroßen Schnallen auf seinen Schuhen und auf seinem ellenhohen Spitzhut ganz zu schweigen.«

»Ja«, sagte Theo trocken, »Die beiden haben's verstanden. Vielleicht zum Schaden anderer.«

»Du sagst das in einem Ton, als ob du's wüßtest«, bemerkte Sabine und bewies damit, daß sie ein Paar ganz feine Ohren hatte. Theo machte eine rasche Kehrtwendung und sah sie überrascht an, immer noch das eigene Lächeln auf den Lippen und einen weltentrückten Ausdruck in den Augen. Aber ehe sie noch etwas sagen konnte, rief Cordula zum Tee, und sie folgte dem Kommerzienrat und seiner Tochter langsam und ohne ihre sonstige Lebhaftigkeit.

»Ist da nicht eben ein Wagen vorgefahren?« fragte Reudnitz, kaum, daß er sich gesetzt hatte.

»Ich erwarte heute einen Wagen mit verschiedenen Vorräten aus Weißenfels«, bemerkte Cordula.

»Na, der wird wohl kaum in schlankem Trabe vorfahren. Ich wüßte zwar wirklich nicht, wer – aha!« unterbrach sich Reudnitz, als der Diener eben mit einem kleinen, silbernen Servierteller eintrat, auf dem eine Visitenkarte lag, die er dem Kommerzienrat überreichte.

»Leopold, Graf von Zimburg«, las er laut den Namen ab. »Ah, – ist wohl mit dem Hauderer von Weißenfels herübergefahren. Sehr angenehm. Ich lasse den Herrn Grafen bitten. Und, Johann, bringen Sie gleich noch eine Tasse –«

»Aber vielleicht wünscht dich Graf Zimburg allein, in Geschäften zu sprechen, da er sich nicht bei mir, sondern nur bei dir hat melden lassen«, fiel Cordula ein.

»I bewahre! Wir haben geschäftlich nichts mehr zu erledigen«, widersprach Reudnitz. »Führen Sie den Herrn Grafen nur hier herein, Johann!«

Damit stand er auf, dem Diener zu folgen, und traf auch noch in der Tür mit seinem Besuch zusammen, den er, wie Theo bemerkte, zwar liebenswürdig und freundlich, aber weder herablassend noch servil begrüßte, – kurz, wie eben ein Mann von guter Erziehung und von Takt es tut, und das machte ihr den alten Herrn noch lieber, als es ohnedem der Fall war.

Der frühere Schloßherr von Amönenhof war ein junger Mann, der die Dreißig noch nicht lange überschritten haben mochte, und mahnte in seiner Gestalt ein wenig an die Recken der Vorzeit. Er war schlank, ohne hager zu sein, dabei wohlproportioniert und trug sich so gerade und leicht, daß man ihn eine elegante Erscheinung nennen konnte. Sein Kopf mit dem krausen, kurzgeschnittenen, blonden Haar, das einen leichten Stich ins Rötliche hatte, war charakteristisch durch die kühne Hakennase – die Nase des Leopolds auf dem Bilde – das feste Kinn, den schöngeschnittenen Mund, die breite Stirn und die blauen Augen, die offen und klar seinen Zügen einen sehr gewinnenden Ausdruck verliehen.

»Freut mich sehr, Sie endlich kennenzulernen, Herr Graf«, sagte Reudnitz nach der ersten Begrüßung. »Gestatten Sie mir, Sie meinen Damen vorzustellen, und trinken Sie eine Tasse Tee mit uns, falls Sie nicht ein Glas Wein vorziehen.«

»Wenn ich um eine Tasse Tee bitten dürfte, mit Vergnügen; denn ich bin, dem Zuge der Zeit folgend, fast ein Abstinenzler«, versicherte Zimburg, während er dem Tisch zuschritt und dabei einen raschen Blick auf die drei Damen warf, der auf Theo haften blieb. »Aber da muß ich doch meines Anzugs wegen um Entschuldigung bitten. Man hatte mir nämlich gesagt, Sie wären noch allein im Amönenhof, Herr Kommerzienrat, sonst hätte ich nicht gewagt, im Straßenanzug herzukommen.«

»Herr Graf, wir sind auf dem Lande«, sagte Reudnitz. »Es ist ja eine wahre Wohltat, wenn man sich mal ungeschniegelt bewegen darf. Also: Graf Zimburg; meine Schwägerin Fräulein von Ganting, meine Tochter, Fräulein Zöllner, die Freun –«

»Die Gesellschafterin meiner Nichte«, fiel Cordula ein, was den alten Herrn puterrot vor Wut machte. Mußte sie gleich mit ihrem verd– Tick die abhängige Stellung des Mädchens dem ersten, der sie sah, unter die Nase reiben, nachdem er so deutlich erklärt hatte, wie er diese aufgefaßt haben wollte? »Sie sind wohl von Weißenfels herübergefahren, Herr Graf?« fuhr Cordula liebenswürdig fort, indem sie dem Gast eine Tasse Tee reichte und Sabine bedeutete, die Kuchen- und Brötchenteller näherzurücken.

»Doch nicht, gnädiges Fräulein«, erwiderte Zimburg, und langte herzhaft zu. »Ich bin zu Besuch bei meinem alten Freunde Mühling in Steinau und habe mich auf seinem Selbstkutschierer herübergefahren, um mich Ihrem Herrn Schwager vorzustellen und mich bei ihm zu bedanken, daß er die Güte haben will, meine Familienbilder fürs erste noch hier zu behalten. Ich bin Junggeselle und habe gegenwärtig gar keinen festen Wohnsitz. Ich weiß also beim besten Willen nicht, wohin mit den gemalten alten Herrschaften. Wenn also die Bilder Ihre eigenen Anordnungen nicht allzusehr stören, Herr Kommerzienrat, würde ich Ihnen wirklich sehr dankbar sein, wenn ich sie vorerst noch bei Ihnen lassen darf.«

»Von Stören ist gar keine Rede«, versicherte Reudnitz, der noch an seinem Ärger würgte. »Im Gegenteil! Diese Bilder geben dem Haus erst den richtigen Ton. Ich werde sie später mal sehr vermissen.«

»Das ist wirklich sehr freundlich, Herr Kommerzienrat«, murmelte Zimburg, und mit einem Blick durch den Saal setzte er hinzu: »Ich höre, Sie haben manche notwendigen Verbesserungen im Amönenhof vorgenommen. Der Saal hier scheint davon aber nicht betroffen worden zu sein; denn außer, daß der Fußboden frisch gewichst worden ist, sehe ich keine Veränderungen.«

»Ich werde mich hüten, einen solchen Raum ›verbessern‹ zu wollen«, rief Reudnitz mit zurückkehrender guter Laune. »Außer, daß in die schönen Kristallwandleuchter elektrisches Licht eingeführt worden ist, soll keine Hand hier etwas verändern, dafür stehe ich ein. Ich bin nicht einmal Barbar genug gewesen, den alten, silberbroschierten Brokat der Möbelbezüge zu erneuern, trotzdem meine Schwägerin mich deswegen für knietschig erklärt hat – bitte, Cordula! Den Ausdruck hast du ja natürlich nicht gebraucht, aber du hast gesagt, wenn man so viel ausgibt, darf man eines neuen Bezuges wegen nicht knausern. Der Stoff hält uns alle noch aus, und wo er Spuren des Gebrauches zeigt, da spricht er nur für die Vergangenheit. Sollten Sie, Herr Graf, wie ich hoffe, mal durch das Haus gehen wollen, so werden Sie finden, daß meine Verbesserungen den Eindruck, den Sie von Ihrer alten Heimat bewahrt haben, weder stören, noch wesentlich verändern.«

»Das spricht sehr für Ihr Feingefühl, Herr Kommerzienrat, und es soll keine Anmaßung sein, wenn ich sage, daß ich Ihnen dankbar dafür bin«, erwiderte Zimburg, während seine Augen durch den Saal schweiften. Er konnte nichts dafür, daß sich ihm ein Schleier darüber legte, den Theo aber sah, da sie ihm gegenübersaß – sah und verstand. Und von der Wanderung durch ein Stück der Vergangenheit zurückgekehrt in die Gegenwart, begegnete sich sein Blick mit dem ihrigen, und er wußte, daß sie gesehen hatte, was in ihm vorgegangen war. Das verursachte ihm zwar ein merkwürdig warmes Gefühl in der Herzgegend, machte ihn aber auch etwas verlegen, wie es Leuten zu gehen pflegt, die ihre Gefühle nicht gern zur Schau tragen. Hastig trank er seine Tasse Tee aus und wandte sich dann wieder Reudnitz zu.

»Sie haben mich sicher für ein bißchen meschugge gehalten«, sagte er leicht. »Ich meine, wegen der – der Klauseln im Verkaufsvertrage, den Schatz betreffend, welcher der Familienüberlieferung nach hier im Amönenhof versteckt liegen soll. Zu meiner Entschuldigung kann ich aber nur versichern, daß ich an diesen Schatz nicht glaube; doch schon mein Großvater hat die Aufgabe seines Lebens darin gesehen, ihn zu suchen und mein Vater, der ja den Verkauf des alten Familienbesitzes voraussah, machte es mir zur heiligen Pflicht, auf dieser Klausel zu bestehen. Er hat das auch noch in seinem letzten Willen schwarz auf weiß hinterlegt, trotzdem er sich bewußt war, daß sie für den Verkauf ein Hindernis sein konnte.«

»Ich habe die Klausel auf die leichte Achsel genommen«, meinte Reudnitz lächelnd. »Ich glaube nämlich ebensowenig wie Sie an diesen Schatz. Solche Traditionen gehören ja meistens ins Reich der Legende. Wenn ich nicht irre, erzählte mir ihr Rechtsanwalt, daß der Schatz in der Franzosenzeit verschwunden sein soll.«

»Das scheint Tatsache zu sein«, erwiderte Zimburg. »Jedenfalls soll zur Zeit meines Urgroßvaters die Familie noch einen fabelhaften Reichtum an Juwelen und Silberzeug besessen haben, von dem das Verzeichnis leider verlorengegangen ist. Daß Juwelen in ungewöhnlicher Menge vorhanden gewesen sein müssen, beweisen nicht nur jene beiden Bilder dort, sondern erhellt auch aus einem Prozeß mit der jüngeren Linie unseres Hauses, der sich wie ein Riesenregenwurm über viele Generationen durch die Jahrhunderte geschleppt hat. Als die Franzosen im Jahre 1806 Weißenfels und mithin dem Amönenhof bedenklich naherückten, floh meine Urgroßmutter mit ihren Kindern zu ihren Eltern in die Schweiz, während mein Urgroßvater zurückblieb und den französischen General mit seiner Suite hier empfing, weil er der Meinung war, daß die Anwesenheit des Schloßherrn die ungebetenen Gäste zur größeren Schonung des Hauses veranlassen würde. Er hat aber einen Boten an das Quartier des deutschen Heerführers mit einem Schreiben gesandt, in welchem er die Anwesenheit der Franzosen im Amönenhof meldete, wodurch sicher auch ein Überfall deutscher Truppen herbeigeführt worden wäre, hätte man den Boten nicht unglücklicherweise abgefangen. Das Resultat dieser verfehlten patriotischen Tat war kurz und tragisch: Mein Urgroßvater wurde an der Mauer seines eigenen Hauses standrechtlich erschossen. – Ein alter Diener, der nach dem Abzug der Franzosen dann zu meiner Urgroßmutter pilgerte, hat ausgesagt, daß das Urteil an einem Abend gefällt wurde, und daß sein Herr die Nacht vor seinem Tode in seinem Zimmer zugebracht hätte – es war das oben im ersten Stock nach Osten gelegene mit den grünen Vorhängen in der Nische – allein, aber natürlich bei bewachten Türen. Dort sah der Diener ihn gegen Mitternacht an einem Tisch sitzen und ruhig seine gewohnte Patience legen. – – Als dann der Morgen anbrach, sei dem Diener erlaubt worden, ihm beim Umkleiden zu helfen. Bei dieser Gelegenheit habe er ihn umarmt und zum Abschied geküßt und ihm dabei zugeflüstert: ›Das Papier im Futter des Schlafrockes meiner Frau bringen!‹ Der treue alte Mensch hat diesen Auftrag auch ausgeführt, und meine Urgroßmutter hat das ihr überbrachte Papier in Verwahrung genommen, ohne jedoch ihren Kindern seinen Inhalt mitzuteilen. Noch ehe sie wieder in den Amönenhof zurückkehren konnte, wurde sie von einer schweren Lungenentzündung mit tödlichem Ausgang befallen und war vor ihrem Ende nur noch imstande, das ihr überbrachte Papier ihrem Sohne, meinem Großvater, der damals noch ein Knabe war, zu übergeben und ihm mit versagender Stimme einzuschärfen, das Papier gut zu verwahren. ›Familiengeheimnis!‹ war das einzige, was sie zur Erklärung noch hervorbringen konnte. Um eine lange Geschichte kurz zu schließen: das Papier, aus welchem weder mein Großvater, noch mein Vater, noch ich selbst etwas zu machen wußten, ist noch in meinem Besitz. Das es mit dem verschwundenen Schatz in irgendwelchem Zusammenhange stehen könnte, ist ja eigentlich eine ganz unbegründete Annahme; denn vermutlich hat der französische General ihn ›konfisziert‹ und mitgenommen.«

»Das scheint mir sehr wahrscheinlich«, gab Reudnitz zu. »Ist das bewußte Papier in Chiffern geschrieben?«

»Daß der Inhalt ein Kryptogramm sein könnte, ist angenommen worden«, erwiderte Zimburg. »Aber um ein solches lesen zu können, muß man den Schlüssel dazu haben. Falls meine Urgroßmutter in seinem Besitz war, was ja anzunehmen ist, so hat sie entweder vergessen, ihn ihrem Sohne mitzuteilen, oder ihr nahes Ende hat sie daran verhindert. Wenn Sie mir nun einwenden wollen, daß es Sachverständige gibt, die sich für Geld und gute Worte damit befassen, Geheimschriften zu entziffern, so habe ich die Beruhigung, einen ganzen Konvolut solcher Gutachten im Nachlasse meines Vaters gefunden zu haben, die einstimmig nur den Bescheid geben, daß ein Schlüssel weder gefunden werden konnte, noch, daß es die Herren auch nur für möglich hielten, ihn zu finden, und die unterstrichenen Worte, deren es eine ganze Menge in dem Elaborat gibt, einer Berechnung keinerlei Anhalt bieten.«

»Enthält das Papier eine direkte Mitteilung an Ihre Urgroßmutter – ich meine, ist es in Briefform abgefaßt?« fragte Reudnitz.

»Es enthält ausgerechnet ein – Gedicht«, antwortete Zimburg. »Und«, setzte er lachend hinzu, »ohne meinem Urgroßvater zu nahe treten zu wollen, falls er der Verfasser sein sollte, ein herzlich schlechtes Gedicht, das obendrein auch noch scherzhaft ist.«

»Ist es möglich?« rief Cordula erstaunt. »Es ist doch nicht anzunehmen, daß ein Mann in der Nacht vor seiner Hinrichtung ein Scherzgedicht verfaßt haben sollte!«

»Warum nicht, wenn er darin eine wichtige Mitteilung verstecken wollte?« meinte Reudnitz. »Daß der alte Herr in dieser Nacht ruhig eine Patience legen konnte, spricht für seine Kaltblütigkeit. Die böse Erfahrung hatte ihn dazu belehrt, daß Botengänger in dieser unsicheren Zeit immer der Abfassung gewärtig sein mußten; ein Gedicht aber, und noch dazu ein scherzhaftes, bei seinem alten Diener gefunden, hatte die größte Wahrscheinlichkeit, unbeanstandet zu bleiben. Ich halte das für sehr klug berechnet und auch über jedem Zweifel stehend, daß die Art der Geheimschrift schon vorweg mit der Empfängerin verabredet war. Ob aber das Familiengeheimnis gerade den Schatz betrifft, muß natürlich dahingestellt bleiben. Ich für mein Teil würde mir über ein Familiengeheimnis, das nun über hundert Jahre alt sein muß, kein graues Haar mehr wachsen lassen. Der alte Grundsatz, daß man schlafende Hunde nicht wecken soll, weil sie dann beißen, ist nicht ohne Berechtigung. Unsere Vorväter hatten in den unsicheren Tagen der sogenannten guten alten Zeit ihre Geheimnisse gut zu hüten, besser wie wir heutzutage. Es hat meines Erachtens gar keinen Zweck, solche alte Skelette aus dem Schrank zu ziehen und sie feinsäuberlich abzustäuben.«

»Das ist ganz meine Ansicht«, rief Zimburg, indem er sich erhob. »Verzeihen Sie, daß ich Sie mit diesen ›ollen Kamellen‹ gelangweilt habe; sie sollten mit zur Erklärung der alten Klauseln in dem Kaufvertrage dienen. Man will in diesen aufgeklärten Zeiten doch nicht für ›spinnet‹ gehalten werden.«

»Aber nein, die Geschichte ist doch so interessant«, behauptete Cordula liebenswürdig. »Ja, wir alten Familien könnten so manchen Beitrag zur Chronik vergangener Tage liefern. Wir Gantings – ich bin nämlich Gan-Erbin von Burg Ganting – besitzen ein Familienarchiv –«

»Verzeih, wenn ich unterbreche«, fiel Reudnitz hastig ein; denn wenn seine Schwägerin von den Gantings anfing, hörte sie sobald nicht mehr auf. »Ich habe mir – eh' ich's vergesse – heute vormittag erlaubt, Herrn von Mühling meinen Besuch zu machen, fand ihn aber nicht daheim, da er mit seinen Gästen ausgefahren war. Natürlich ahnte ich nicht, daß Sie, Herr Graf, sich unter diesen befinden.«

»Wir sind gegenwärtig nur zu zweit dort. Mühling muß immer jemand bei sich haben, sonst hält's dieses gesellige Tierchen von einem eingefleischten Junggesellen nicht aus. Ja, Mühling hat sehr bedauert, Ihren Besuch verfehlt zu haben, und wird sich demnächst die Ehre geben, ihn zu erwidern, natürlich mit der obligaten Jagdeinladung in der Tasche. Es lag mir aber daran, vor ihm hiergewesen zu sein, um mich nachträglich vorzustellen, da ich während der Kaufverhandlungen auf Reisen war.«

»Gedenken Sie längere Zeit in Steinau zu bleiben?« fragte Cordula schlecht gelaunt, weil sie durch die Unterbrechung ihres Vortrages über die Gantings von Burg Ganting in ihren heiligsten Gefühlen verletzt worden war.

»Oh, ein paar Wochen werde ich schon dort bleiben«, erwiderte Zimburg vage. »Mühling wollte mich zwar für den ganzen Sommer festnageln, weil ich ja jetzt mein eigener Herr sei; aber als Gast gibt man selbst bei einem Junggesellen den größten Teil seiner persönlichen Freiheit auf, und da ich ein starkes Unabhängigkeitsbedürfnis besitze, so werde ich wohl wesentlich früher wieder verschwinden, was ja auch das beste Rezept ist, um sich einen neuen Willkomm zu sichern.«

»Na, dann hoffe ich, daß wir Sie wieder hier sehen werden«, sagte Reudnitz herzlich. »Falls es Ihnen nämlich nicht allzusehr gegen den Strich geht, als Gast einzukehren, wo Sie früher der Herr waren.«

Zimburg sah unwillkürlich zu Theo hinüber, die während der ganzen Zeit schweigend dabeisaß. Sie hatte die Augen gesenkt und den lieblichen Mund fest geschlossen, aber eine Art von Telepathie sagte ihm, daß sie auf seine Antwort wartete.

»Das ist eine Frage, die ganz von dem neuen Herrn abhängt«, erwiderte er, dem Kommerzienrat die Hand reichend. »Es ist ja auch eigentlich immer nur der erste Schritt, der einem einige Überwindung kostet, und den hat Ihre Güte mir leicht gemacht«, setzte er hinzu und sah Theo dabei an, die nun zu ihm aufblickte und deren klare, sprechende Augen ihm sagten, daß sie es ganz gut begriff, was ihm die Sache leichter gemacht hatte, ohne daß er es aussprach.

Als Graf Zimburg sich dann, begleitet von dem alten Herrn, zum Gehen wandte, fiel sein Blick auf die beiden Porträts rechts und links von der Tür.

»Diese aufdringlich großen Bilder mögen Ihnen hier recht im Wege sein«, meinte er, wogegen Reudnitz aber versicherte, daß sie, einmal fortgenommen, eine große Leere hinterlassen würden, die er jedenfalls nicht die Absicht habe durch ein Konterfei seiner eigenen Schönheit auszufüllen.

»Ich würde in diesen Saal – gemalt wenigstens – hereinpassen, wie die Faust aufs Auge. Und da meine Vorfahren als ehrsame Handwerksleute nicht in der Lage waren, sich malen zu lassen, so kann ich diese prächtig gemalten Bilder auch nicht durch Porträts eigener Ahnen ersetzen. Übrigens hat meine Tochter vorhin erst eine wirklich merkwürdige Ähnlichkeit der Gräfin Amöne mit Fräulein Zöllner entdeckt. «

»Fräulein Reudnitz hat recht, – die Ähnlichkeit ist zweifellos vorhanden«, meinte Graf Zimburg. »Darum also kam Fräulein Zöllner mir beim ersten Blick so bekannt vor! Ist's nicht sonderbar, wie sich die Physiognomien von Zeit zu Zeit wiederholen? Wodurch eigentlich doch die Theorie der Vererbung der Gesichtszüge in ein und derselben Familie recht hinfällig wird!«

Nachdem Reudnitz seinen Besuch bis an den Wagen begleitet und dem Davonfahrenden wohlgefällig nachgesehen hatte, kehrte er in den Saal zurück und fand dort seine Schwägerin allein vor. Auf seine Frage nach den jungen Damen zeigte sie nach dem See, auf dem in einem leichten, von Theo geruderten Nachen beide Mädchen dahinglitten.

»Ich habe gegen diesen Mordversuch Verwahrung eingelegt«, sagte Cordula schneidend, »aber das superkluge Fräulein Zöllner versicherte in seiner süffisanten Art, wie ein gelernter Schiffer rudern zu können, und Sabine hat das natürlich aufs Wort geglaubt.«

»Daran hat sie recht getan«, meinte Reudnitz hinausblickend. »Jeder, der vom Rudersport auch nur eine blasse Ahnung hat, muß sehen, daß Fräulein Zöllner ihre Sache gründlich versteht. Du hättest mitfahren sollen – es ist jetzt sehr schön auf dem Wasser.«

»Ich danke! Damit mich diese Person umwirft, nicht wahr? Eine Leiche wäre gerade genug«, erwiderte sie böse.

Reudnitz mußte wider Willen lachen. »In dem furchtbaren Falle, den du als sicher anzunehmen scheinst, würden es sogar zwei sein«, sagte er gleichgültig.

»Mach' keine schlechten Witze!« rief sie übellaunig. »Dein Protegé kann natürlich schwimmen – was behauptet sie auch nicht zu können? Bei deiner Gleichgültigkeit für das Leben und die Gesundheit deiner einzigen Tochter wird dir natürlich auch ihr sonstiges Schicksal gleichgültig sein.«

»Das versteht sich von selbst«, gab Reudnitz ruhig zurück. »Darf man fragen, worauf du mit dem ›sonstigen Schicksal‹ anspielen willst?«

»Nun zunächst auf diese unpassende Intimität mit dieser hergelaufenen Person, von der kein Mensch etwas weiß, und die Sabine sofort in einer Weise in Anspruch genommen hat –«

»Dazu ist sie hier, das ist ihr Amt«, fiel Reudnitz ein. »Oder meinst du, daß sie nur dazu hergekommen ist, um an unseren Mahlzeiten teilzunehmen? Ich freue mich, daß sie Sabine so sympathisch ist. Was dein anderes Bedenken betrifft, so ist es durchaus ungerechtfertigt. Als ich gestern das Telegramm des Sanitätsrats Müller erhielt, sagte ich, daß ich Fräulein Zöllner in Empfang nehmen würde, um mich ihrer Referenzen zu versichern. Diese haben mich vollauf befriedigt. Ich übernehme daher die Verantwortung für ihre Anwesenheit und kann nur sagen, daß mir die Stellvertretung eigentlich noch besser gefällt als Fräulein von Ried. Sie ist noch frischer, noch energischer, und das kann auf Sabine nur vom besten Einfluß sein.«

»Aha! Die Stellvertreterin ist also hübscher, wie die andere? Das hat wohl den Ausschlag gegeben? Die gerühmte Energie würde ich – Unverschämtheit nennen«, rief Cordula bissig.

»Ich überlasse jedem das Recht seiner Meinung«, sagte Reudnitz gelassen, aber scharf. »Hast du sonst noch Schmerzen über Sabinens Schicksal?«

»Du etwa nicht?« fragte sie spitz. »Nein, die Harmlosigkeit; oder besser gesagt, die Blindheit der Väter ist wirklich nicht umsonst sprichwörtlich. Als Graf Zimburg dir, nicht uns, vorhin angemeldet wurde, gab ich dir doch einen recht deutlichen Wink, ihn allein zu empfangen; denn es liegt auf der Hand, daß dieser völlig unnötige Besuch, nachdem die Kaufgeschäfte erledigt waren, nur den Zweck hat, sich einzuschlängeln, um sich Sabine zu nähern. Er tat ja allerdings, als hätte er von unserer Anwesenheit nichts gewußt, aber man kennt ja die Kniffe der Goldfischjäger. Natürlich hast du den wohlgemeinten Wink nicht verstanden, sondern den leichtsinnigen Menschen, der das Haus seiner Ahnen verkaufen mußte, um seine Schulden zu bezahlen, auch noch zur öfteren Wiederkehr eingeladen, was er sich wohl nicht zweimal sagen lassen wird, trotzdem ich deine Einladung mit keiner Silbe unterstützt habe.«

»Na, da schlag' doch einer den Deibel tot!« brummte Reudnitz statt jeder Erwiderung.

»Die Art und Weise, wie Graf Zimburg Sabine angesehen hat, gibt mir recht«, fuhr Cordula triumphierend fort. »Habe ich das Kind darum behütet und bewacht, damit es dem ersten besten Glücksritter zum Opfer fällt?«

Der alte Herr erwiderte mit großer Selbstbeherrschung: »Gerade dieses System ist das beste Mittel, einen plötzlich losgelassenen Vogel blindlings in ein Netz zu treiben, weil er nicht gelernt hat, es von einem freien Ast zu unterscheiden. Da ist es doppelt gut, daß ich die Fürsorge und Leitung meiner Tochter endlich in die Hand genommen habe, ehe es zu spät ist. Wir werden über den Sommer hierbleiben, den Nachbarverkehr soviel wie möglich pflegen, und im Herbst werde ich mit Sabine auf Reisen gehen, damit sich zunächst ihr Horizont etwas erweitert.«

»Aber doch nicht allein, nicht ohne mich, ohne eine Gardedame!« rief Cordula heftig erschrocken.

»Ein Vater ist die beste Ehrenwache für eine Tochter«, erklärte Reudnitz bestimmt. »Weil nämlich ein väterliches Gängelband unsichtbar ist und dem Kinde die Selbständigkeit aufnötigt, die für ein reiches Mädchen unumgänglich notwendig ist. So, nun kennst du meine Ansicht, und je eher du dich mit ihr abfindest, um so besser wird es für dich und für uns sein.«

Ohne ein Wort abzuwarten, verließ Reudnitz den Saal; denn, so dachte er in weiser Erkenntnis, schwere Kost muß allein verdaut werden. Hin- und Herreden heißt da nur leeres Stroh dreschen und den Funken zur Flamme anblasen.

Cordula kannte wohl nicht die alte dumme Kartoffelkomödie von ›Jaromir und Kasimir‹, sonst wäre ihr vielleicht das Zitat daraus eingefallen:

»Ich seh' den teueren Greis erkalten.

Ach, hätt' ich doch das Maul gehalten!«

*

Daß sie den Leu in der Brust ihres Schwagers erweckt hatte, konnte sie sich nicht verhehlen; und doch hatte sie sich so fest vorgenommen, ihre Angriffe auf Theo Zöllner einzustellen, ihren passiven Widerstand aufzugeben und dafür lieber zur Maulwurfsarbeit überzugehen. Und nun war ihr doch die Zunge durchgegangen, und sie mußte sich sagen, daß ihr eigentlich gar nichts anderes übrig blieb, als ihr Bündel zu schnüren, das seit ihrem Einzug in das Haus ihres Schwagers beträchtlich an Umfang zugenommen hatte und in dem Zimmerchen ihrer Gan-Herrschaft schlecht unterzubringen war. Es war ein harter Kampf, den sie in der Stille ihres splendiden Amönenhofer ›Kämmerchens‹ mit ihrem Stolz und ihren Interessen durchzufechten hatte, während sie dem Kahn zusah, der sich mit den beiden Mädchen unter ihrem Fenster auf dem Wasser schaukelte, und sie konnte das lustige Lachen bis herauf zu sich hören. Denn auch ihre stille verschüchterte Nichte lachte, wie Cordula es gar nicht für möglich gehalten hätte.

Statt das »heilige Lachen« als einen Beweis ihres Irrtums anzusehen, verhärtete sie ihr Herz und ihre bessere Einsicht gegen die Urheberin, haßte sie »diese Person«, auf die sie bisher nur mit überlegener Verachtung herabgeblickt hatte.

In dem Kampf zwischen Stolz und Interessen siegten schließlich die letzteren. Sie packte den Stolz feinsäuberlich zum ferneren Gebrauch in die Mottenkiste; denn das bescheidene Stübchen auf Burg Ganting kam ihr mit jeder Viertelstunde reizloser vor, und übrigens war ja noch nicht aller Tage Abend. War diese verwünschte Gesellschafterin erst aus dem Haus, im guten oder im bösen – das letztere war der besseren Nachwirkung wegen vorzuziehen –, dann konnte man sich schon wieder auf den alten Platz schwingen. Möglich, daß Jakob Reudnitz inzwischen auch sein »Aufmucken« bereute und einzulenken versuchte; jedenfalls mußte man ihm die Gelegenheit dazu nahelegen, mit welcher Selbstbeschönigung und Entschuldigung für den eingepackten Stolz Cordula von Ganting ernstlich daran ging, die Grube für Theo zu graben.

Als sie später zum Abendessen mit den anderen wieder zusammenkam, tat sie, als wäre nichts vorgefallen, war liebenswürdig und aufmerksam gegen ihren Schwager, voll Huld und Gnade für Theo und zeigte die größte Bereitwilligkeit, am folgenden Tage die beabsichtigten Besuche zu machen. Reudnitz, der sein »Aufmucken« keineswegs bereute, wurde durch die Gnadensonne aber nicht geblendet, sondern fragte sich nur, »was wohl der Zweck der Übung sein möchte«, ob allein des Grundsatzes »J'y suis et j'y reste«, oder die Einsicht, daß Widerstand unnütz sei, oder – ja, was sonst? Deutlich genug war er ja eigentlich geworden, aber wie viel deutlicher mußte man zum Kuckuck denn noch werden, um sich seines Meergreises zu entledigen, der entschieden nicht zu weichen gewillt schien? Das kleine Stückchen Zucker, das er Cordula als Anerkennung ihrer »besten Absichten« zu der bitteren Pille gereicht, war demnach viel zu groß gewesen. –

Als Theo an diesem Abend in ihrem Zimmer »endlich allein« war, reckte sie sich erst und ließ sich dann auf den nächsten Stuhl fallen.

»Ach du lieber Augustin! Die Sache ist doch härter, wie ich mir's vorgestellt«, dachte sie halb entgeistert, halb lachend. »Den ganzen, geschlagenen Tag in den Sielen – daran muß sich der Mensch doch erst gewöhnen! Sehr! Na, vielleicht hat's auch das Gute, daß man den Wert der persönlichen Freiheit wieder besser schätzen lernt. Und ich undankbares Wurm habe mich schon wegen des halben Tags, den ich der Pate widmen mußte, manchmal als Märtyrerin gefühlt! Es ist ja rührend, daß das kleine, liebe Ding, die Sabine, sich wie eine Klette an mich hängt, denn man sieht daraus, was diese arme Millionenerbin bisher entbehren mußte, aber man muß doch alles, was möglicherweise in ihr sitzt, erst mühsam aus ihr herausholen. Aber gerade darum: Keine Schwachheit vorgeschützt! Nur immer an das gute Werk denken, was man wirklich damit tut, und morgen wird's schon besser gehen; denn schließlich ist ja alles doch bloß Gewohnheit. Und nun fix in die Klappe, um den beginnenden Blödsinn auszuschlafen, denn morgen geht's schon früh ins Geschirr – halt! Ich weiß etwas: Ich werde morgen eine Stunde früher aufstehen, damit ich etwas von dem schönen Morgen für mich allein habe. M. w.!«

Entschlossen sprang sie auf, um sich auszukleiden, und als sie dabei einige Gegenstände auf den Tisch vor dem Sofa legte, lenkte dieser ihre Gedanken auf die Erzählung des Grafen Zimburg.

»Ob's dieser Tisch war, auf dem der Urgroßvater in der Nacht vor seinem Tode eine Patience gelegt hat?« überlegte sie. »Gott, der arme Mensch hat mir in der Seele leid getan – heißt das, ich meine nicht den Urgroßvater, der ja natürlich auch mein Mitgefühl hat, sondern den Urenkel. Wie er sich in dem Saal umsah – mit solchen trüb gewordenen, sehnsüchtigen, hungrigen Augen! Ist doch auch hart, Fremde da als Herren schalten und walten zu sehen, wo man geboren wurde, seine Heimat hatte. Der alte Drache sagte, er sei schuld daran, er habe den Amönenhof verspielt oder sonstwie verschwendet; um so härter muß es ihm angekommen sein, herzukommen. Wenn's nämlich wahr ist! Ich weiß nicht, diese süße Tante Cordula hat es uns mit solcher hämischer Absichtlichkeit erzählt, kaum daß er hinter der Tür verschwunden war. Greuliches, altes, verschminktes Reff, diese Tante!«

Als Theo dann im Bett war, löschte sie ihre Lampe aber noch nicht aus, sondern holte die Spielkarten aus ihrem Versteck und legte sie in vier Reihen auf der Bettdecke aus. Nachdem sie eine Weile versucht hatte, durch allerlei Verschiebungen Sinn in die daraufgeschriebenen Buchstaben zu bringen und Worte daraus zu bilden, ohne auch nur ein einziges zuwege zu bringen, kam ihr wieder ein Gedanke.

»Waren es am Ende diese Karten, die der Urgroßvater in jener Nacht auf dem Tisch vor sich ausgebreitet hatte, als der Diener meinte, ihn eine Patience legen zu sehen?« fragte sie sich. »Ich möchte darauf wetten, daß sie es waren. Aber das sind keine Patiencekarten, zu denen ein volles Spiel gehört, sondern Pikettkarten. Und wenn es diese sind, dann war's auch keine Patience, die der Urgroßvater gelegt hatte, sondern, – aber natürlich, das ist doch klar wie Quellwasser: Diese Buchstaben enthalten das verlorene Familiengeheimnis, das er darauf eingezeichnet hat, und er hat's nochmals nachgeprüft, ehe er die Karten in die Tasche im Vorhang steckte! Na, nur ruhig Blut! – – Das ist und bleibt doch nur eine Vermutung, meiner unleugbaren Vorliebe für solch geheimnisvolle Sachen entsprungen. Spinnen muß ich nun einmal; denn das Rätsel dieser Karten reizt mich. Reizt mich kolossal! Ob ich die Karten nicht eigentlich doch dem Leo Zimburg ausliefern müßte? Ja, das wäre zu überlegen. Wer weiß, ob er dadurch nicht mit Hilfe des schlechten, spaßigen Gedichtes, das der Urgroßvater seiner Frau sandte, hinter das Familiengeheimnis käme – – – aber der Kommerzienrat hat vielleicht ganz recht, wenn er sagt, es sei besser, einen schlafenden Hund nicht zu wecken. – Wenn ich aber nun wirklich genau wüßte, daß die Karten eine Botschaft enthalten, was ich fest glaube, und es wäre eine gute Botschaft – ja, dann müßte ich sie ihm sicher geben! Aber wie dahinterkommen? Was die vielen Sachverständigen aus dem Gedicht nicht heraustüfteln konnten, wäre vielleicht aus diesen Karten zusammenzureimen. Aber woher solch einen Fachmann nehmen und nicht stehlen? – Halt! Natürlich weiß ich einen: Unsern guten, alten Professor Findelkind in Dingsda! Dessen Lebensaufgabe ist es ja, Geheimschriften zu entziffern und der eine Autorität auf diesem Gebiete ist. Er hatte mich immer sehr gern, der liebe, alte Herr, er würde mir's sicher zuliebe tun, das Rätsel zu lösen. Ich werde ihm also die Karten schicken, und es müßte wirklich gerade nur eine Spielerei mit diesen Buchstaben gewesen sein, wenn er nichts daraus machen könnte. Wie gut, daß Leo Zimburg die Versuche mit den Sachverständigen erwähnte, sonst wäre ich nun und nimmermehr auf den guten Professor gekommen. Ob das alles hat so kommen müssen? Da spinne ich aber schon wieder, gerad', als ob es eine ausgemachte Sache wäre, daß – darum Schluß für heute!«

Getreu ihrem Vorsatz, stand Theo am nächsten Morgen eine Stunde vor ihrer gewohnten Zeit oder sogar noch etwas früher auf, zog ihr hübsches, blaues Leinenkleid vom Tage vorher wieder an und eilte die Treppe hinab in die große Vorhalle, wo zu ihrer Freude das Portal schon offen stand und ein Diener emsig mit Fegen beschäftigt war. Denn wenn Tante Cordula auch selbst den halben Morgen im Bett zubrachte, so hielt sie doch streng darauf, daß die Dienerschaft zeitig bei der Arbeit war, und ihr Polizist Adelheid hatte darüber zu wachen und Bericht zu erstatten, und wehe dann dem Faulpelz der etwa verschlief. Daß Adelheid sich deswegen einer besonderen Beliebtheit bei der Dienerschaft erfreute, konnte nicht behauptet werden; aber sie zog das Gefürchtetsein schon deshalb vor, weil ihre eigene Haut dabei der Einsatz war. Dabei hatte sich aber auch die Überzeugung von ihrer eigenen Unentbehrlichkeit sehr stark ausgebildet; das gnädige Fräulein hätte sobald nicht wieder eine so eifrige Zuträgerin gefunden, noch dazu eine, die nicht mit den anderen Leuten Front gegen die Herrschaft machte, das heißt, dieser nur berichtete, – was sie für gut fand.

Adelheid, die ja am Ende auch lieber länger geschlafen hätte, es aber für vorteilhafter fand, diesem Verlangen zu entsagen, war darum auch schon auf dem Posten und sah Theo von ihrem Fenster neben der Schlafstube ihrer Herrin den Weg einschlagen, auf dem sie mit Reudnitz vom Bahnhof in Weißenfels nach dem Amönenhof gegangen war. Diese Frühaufsteherei kam Adelheid höchst verdächtig vor. Vielleicht lohnte es sich der Mühe, nachzusehen, was wohl der Zweck dieses Morgenspazierganges war; andererseits aber bot die sichere Abwesenheit der Gesellschafterin auch eine gute Gelegenheit, dort mal gründlich Umschau zu halten. Junge Leute sind nachlässig beim Abschließen ihrer Sachen und lassen gern die Schlüssel stecken – das war ein Trost; denn die Schlösser des Schreibtisches und der Kommode im Zimmer des Fräulein Zöllner waren leider von der guten Art, die man meist bei den sorgsam gearbeiteten alten Möbeln findet, und darum war mit Nachschlüsseln leider nichts auszurichten. Man hätte eben vorher doppelte Schlüssel machen lassen müssen; aber wer kann auch an alles denken?

Adelheid hätte als Marathonläuferin keine Aussicht auf den Sieg gehabt; denn erstens war sie zu faul dazu, und zweitens war ihr Pedal mit den Jahren etwas steif geworden. Sie betrachtete daher das Nachlaufen hinter Theo, die rasch und elastisch dahinschritt, als eine aussichtslose und unangenehme Bewegung; aber was tut man nicht für eine gute Sache, namentlich wenn einem das einen neuen dicken Stein im Brett einträgt. Ausgemacht war es ja freilich nicht, daß dabei etwas herauskam; denn der Morgenspaziergang ganz ohne Hut und Handschuhe konnte bei dem Fräulein einfach Passion oder ›Hyäne‹ sein, wie Adelheid mit Konsequenz die Hygiene nannte – aber er konnte auch ebensogut einen anderen Zweck haben. Adelheid beschloß daher, auch der »Hyäne« zu huldigen; zuvor konnte man immer noch rasch nachsehen, ob das Fräulein in ihrem Zimmer auch alles verschlossen hatte. Da sich diese Perle von einer Zofe aber noch im tiefsten Negligé befand, als sie von ihrem Fenster aus die Davoneilende bemerkte, so verging, bis sie in ihre Gewänder geschlüpft, ihre dürftigen Haarschwänzlein zur »Frisur« geordnet, sich Gummizugstiefeln angezogen und »drüben« nachgeschaut hatte, immerhin noch einige Zeit, ehe auch sie das Haus verlassen konnte, um im Dienst der »guten Sache« hinter Theo dreinzupintschern.

Die war indes rüstig in den herrlichen, frischen Maimorgen hineingeschritten und freute sich immer mehr über ihre gute Idee, zeitiger als sonst aufgestanden zu sein. Trug in der Stadt die Morgenstunde durch die staubfreiere, bessere Luft den Lohn in sich – hier auf dem Lande, an der Frische atmenden Fläche des Sees, unter dem blauen, blauen Himmel, über den rosig gefärbte Wölkchen zogen, unter den hohen, grünen Bäumen wurde sie zu einem unbeschreiblichen Genuß.

Wie reizend war doch allein schon dieser blaugrüne See von der Farbe eines dunklen Aquamarins mit dem Amönenhof am Nordufer, mit dem dichten Laubwald, der ihn im Süden begrenzte, mit den waldigen Hügeln, die sich darüber erhoben und schon im hellen Sonnenlichte lagen, während unten noch die weichenden Schatten der Nacht ihren letzten, ungleichen Kampf mit dem siegreichen Morgen kämpften. Dort, auf dem zerklüfteten Berge, lagen die Ruinen der Zimburg mit dem noch wohlerhalten daraus hervorragenden viereckigen, gezinnten Wachtturm, neben dem die leeren, gotischen Fenster des ehemaligen Palais den Winden freien Eintritt gewährten, von schwarzen Krähen umflattert. Man meinte in dieser traumhaften Stille ihr heiseres »Krah! Krah!« zu hören, mit dem sie vielleicht ihre Alleinherrschaft der einst so stolzen Zwingburg besangen.

Und rechts davon, auch von rosigem Morgensonnengold beleuchtet, das mächtige Viereck von Schloß Weißenfels, von seinen Türmen wehten grüngelb gestreifte, wappengeschmückte Flaggen in der leichten Brise und gaben dem Bilde Leben und Farbe. – – – Theo wurde sich's erst nach minutenlangem Hinüberschauen bewußt, daß diese Flaggen gestern abend noch gefehlt und was sie demnach zu bedeuten hatten, und grüßte die wohlbekannten Farben durch ein Schwenken der Hand.

»Also, ihr seid schon da, – wahrscheinlich gestern abend angekommen«, dachte sie weitergehend. »Regiert nur hübsch dort oben wie sich's gehört – diesmal haben wir miteinander nichts zu schaffen. Die Stellvertreterin im Amönenhof ist vom Weißenfels weiter entfernt wie der Eiffelturm von den Pyramiden; aber das muß ich schon sagen: daß ich so rein gar nichts von diesem plötzlichen Entschlusse, den Weißenfels heimzusuchen, erfahren habe, wundert mich doch ein wenig. Kann mich wenigstens nicht erinnern, daß er auf dem Sommerprogramm stand. Na, es tut nichts zur Sache, und mein erster Schreck über diese Nähe war eine überflüssige Anstrengung. Halt, hier kreuzen sich die Wege! – Ja, welcher war's nur, auf dem wir ankamen?«

Einen Moment stand Theo ratlos am Kreuzweg, dann schlug sie den mittleren ein, denn es kam ja darauf nicht an; man ging eben auf dem schönen, schattigen Wege weiter und machte denselben Weg wieder zurück; denn selbst, wenn sie etwa fremdes Gebiet betrat, so wäre das Vergehen noch nicht allzu groß gewesen. Außerdem war die Gefahr, jemand zu dieser frühen Stunde zu begegnen, bei dem man sich hätte entschuldigen müssen, sehr gering.

Aber der schöne Weg nahm eher ein Ende, als sie angenommen hatte, setzte sich jedoch anscheinend jenseits einen Gestrüpps von Brombeersträuchern und Unterholz fort. Daß dies kleine Hindernis eine Grenze vorstellen konnte, kam ihr nicht in den Sinn, und da ein Blick auf ihre Uhr sie darüber beruhigte, daß sie ruhig noch ein Stück weitergehen konnte, so bahnte sie sich einen Durchschlupf durch das Gestrüpp und ging auf dem schmalen Wege jenseits desselben weiter. Und stand plötzlich wie angewurzelt still, denn es kam ihr jemand entgegen – jemand, den sie auf den ersten Blick erkannte, und zwar ein Mann, dem der elegante, weiße Anzug, den er trug, auffallend gut stand. Seinen feinen, weißen Strohhut trug er in der Hand, den Kopf mit dem tadellos gescheitelten dunklen Haar gesenkt, wie in tiefe Gedanken verloren, – es war ein interessanter, kluger, ja sogar schöner Kopf, aber die marmorartig kalte Ruhe der regelmäßigen, feingemeißelten Züge, die kein Bart verdeckte, gab ihnen etwas Maskenähnliches. Der feingeschnittene Mund war um etwas zu schmal und zu fest geschlossen, und selbst die großen, braunen Augen verrieten nichts von dem, was hinter der hohen, zurücktretenden Stirn vorging, während das feste, breite Kinn schon eher auf Energie, zielbewußte, rücksichtslose Energie, hindeutete.

Theo, die beim Anblick dieses Mannes ganz blaß geworden war, fühlte sich im ersten Augenblick versucht, rasch wieder im Unterholz zu verschwinden, aber das hätte ihre Anwesenheit erst recht durch unvermeidliches Rascheln und Knacken verraten; zudem wäre ihr Kopf mit dem leuchtenden Haar und ihre weiße Bluse ein sehr deutlicher Zielpunkt für nachfolgende Blicke gewesen. Und während sie das blitzschnell erwog, durchzuckte sie ein anderer Gedanke, der die Röte wieder in ihre Wangen zurückbrachte und sie ruhig dem anderen Frühaufsteher entgegengehen ließ.

Schon bei ihrem ersten Schritt, bei dem sie einen dürren Zweig zertrat, sah er auf, stutzte und ging ihr dann rasch mit aufleuchtenden Augen entgegen.

»Sie, Theo?« rief er aus, »Ist es denn möglich? Und gerade in dem Augenblick, wo ich so lebhaft an Sie gedacht habe –«

»Guten Morgen, Baron Bergfried«, fiel Theo ruhig ein, den Namen stark betonend. »Sie schwärmen also auch für Morgenluft? Ich fürchte fast, daß ich mich einer Grenzüberschreitung schuldig gemacht habe – oder ist das bei Ihnen der Fall?«

»Eine – oh, ich weiß wirklich nicht. Wir befinden uns hier auf Grund und Boden meines derzeitigen Gastfreundes Mühling auf Steinau«, erwiderte der junge Diplomat, dem jedermann eine glänzende Laufbahn prophezeite. »Theo – Verzeihung, aber Ihr lieber Name drängt sich mir vom Herzen immer auf die Lippen – warum haben Sie meinen letzten Brief immer noch nicht beantwortet?«

»Wir waren doch dahin übereingekommen, daß Sie mir Zeit lassen wollten, nicht?« erwiderte Theo. »Also drängen Sie mich nicht, bitte!«

»Aber wie lange soll ich denn nun noch warten?« fragte er fast heftig. »Dieses ›Hangen und Bangen in schwebender Pein‹ ist wirklich mehr, als ich manchmal glaube ertragen zu können! Das müssen Sie doch verstehen! Freilich läßt die langgezogene Frist mir ja wohl einen Hoffnungsstrahl –«

»Sie sollen Ihre Antwort in acht Tagen haben«, fiel Theo gelassen ein. »So lange bleiben Sie doch wohl in Steinau?«

»Mühling hat mich für meine ganze Urlaubszeit eingeladen, und ich bin erst seit ein paar Tagen dort, zusammen mit Graf Leo Zimburg. «

»Ich weiß; er war gestern im Amönenhof«, nickte Theo.

»Im Amönenhof?« wiederholte Bergfried erstaunt. »Das heißt, ich weiß natürlich, daß er dort war, um dem neuen Besitzer, Kommerzienrat Reudnitz, einen Besuch zu machen. Ich verstehe nur nicht, wie Sie das wissen können –«

»Auf sehr einfache Weise; denn ich bin auch im Amönenhof – seit ganz kurzer Zeit.«

»Wahrhaftig? Ich wußte nicht, daß Sie den Kommerzienrat kennen –«

»Ich kenne ihn auch erst seit dieser Zeit. Er ist ein sehr netter, alter Herr. Ich bin bei seiner Tochter Gesellschafterin.«

Bergfried fuhr trotz seiner diplomatischen Ruhe zurück wie gestochen.

»Was sind Sie?« rief er fassungslos.

»Gesellschafterin bei Fräulein Reudnitz«, wiederholte Theo, als erzählte sie die natürlichste Sache von der Welt, »Es ist eine angenehme Stellung, und sehr gut bezahlt bei freier Station mit Familienanschluß. Sie werden sich auch freuen, daß ich es für den Anfang so gut getroffen habe.«

Bergfried aber freute sich anscheinend gar nicht. Er begriff einfach nicht.

»Das – das ist doch wohl ein schlechter – wollte sagen, ein gnädiger Scherz?« fragte er mit eingezogenem Atem.

»Ein dummer Scherz wäre es wenigstens«, meinte Theo trocken. »Aber es ist mein heiliger Ernst – buchstäblich so wie ich es gesagt habe.«

»Nein, das ist doch aber ganz unmöglich!« rief Bergfried außer sich. »Was hat Sie denn dazu bewogen? Wie ist es denn dazu gekommen?«

»Ja nun, man muß die Feste feiern, wie sie fallen«, erwiderte Theo vage. »Es kommen Zeiten im Leben, wo eine bezahlte Abhängigkeit einer – einer anderen Lage vorzuziehen ist. Das habe ich denn erkannt, ohne mich lange zu besinnen. Eigentlich bin ich nur in Stellvertretung im Amönenhof; aber es ist immerhin eine gute Vorübung. Falls es gut – vielmehr, falls es schlecht geht mit der Gesundheit des jungen Mädchens, das ich vorläufig vertrete, wäre ich mit dem Posten schon auf einige Zeit versorgt. Und sehen Sie, Baron Bergfried, ich habe dabei doch immerhin das sehr schöne Bewußtsein, daß die Menschen, die mir um meiner selbstwillen zugetan sind und auf deren gute Meinung über mich ich etwas gebe, meinen Entschluß sicher billigen werden. Sagen Sie selbst, ob es nicht besser ist, daß ich meinen Lebensunterhalt verdiene, als daß ich meinen Freunden auf der Tasche liege?«

»Sie werden damit in der Achtung jedes vernünftigen Menschen steigen«, versetzte Bergfried, auf dessen Gesicht in jähem Wechsel nach seiner ersten Erregung die undurchdringliche Diplomatenmaske erschienen war. »Aber ich muß gestehn, daß ich noch ganz – ganz verdonnert bin. Sie, Sie in einer abhängigen Stellung! Und daß Zimburg gestern, als er vom Amönenhof zurückkam, Sie auch nicht mit einer Silbe erwähnte. Oder war es ihm peinlich, unter diesem Titel von einer ––«

»Ah, Graf Zimburg hat keine Ahnung, wer ich bin«, fiel Theo ein. »Ich bin nämlich nicht unter meinem eigenen Namen und – Titel im Amönenhof. Das hätte doch sein Peinliches für beide Teile gehabt, worauf mich ein alter Freund aufmerksam machte, ehe ich die Stellung annahm. Nicht wahr? Und da habe ich den zweiten einfach fallen lassen und nur den ursprünglichen Namen beibehalten. Theodora Zöllner ist vollständig ausreichend und vereinfacht den gegenseitigen Verkehr wesentlich.«

»Ich verstehe«, murmelte der Diplomat. »Aber ist das nicht – verzeihen Sie dem Juristen den Einwand – ist das nicht eine Art von – von Täuschung, was man Vorspiegelung falscher Tatsachen nennt?«

»Durchaus nicht, denn ich heiße ja wirklich Zöllner, es ist kein angenommener Name«, entgegnete Theo liebenswürdig. »Übrigens habe ich das mit meinem – Brotherrn geregelt. Und das bringt mich darauf, eine Bitte an Sie zu richten – die Bitte, keinem Menschen, wer es auch sei, zu verraten, daß ich noch einen anderen Namen habe. Ich möchte mein Inkognito vollständig wahren, was Sie jedenfalls begreifen werden.«

»Ich finde es sehr begreiflich«, beeilte sich Bergfried zu versichern. »Ihr Wunsch ist mir natürlich Befehl.«

»Ich danke Ihnen herzlich dafür; denn, wie es so geht – eine einzige geflüsterte Andeutung wird bekanntlich vom Schneeball zur Lawine. Die Sache spricht sich herum, und das würde mir meine Stellung sehr erschweren, wenn nicht überhaupt unhaltbar machen. Sie werden auch in Steinau keine solche Andeutung fallen lassen, nicht wahr?«

»Ich werde schweigen, wie das Grab.«

»Und ich habe ihr Wort dafür?«

» Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«

»So ist's recht«, nickte Theo. »Und nun muß ich machen, heimzukommen – zum Dienst! Guten Morgen, Baron Bergfried! In acht Tagen sollen Sie also Ihre Antwort haben!«

Sie reichte ihm ihre Hand, ihre wunderschöne, schlanke und doch kräftige Hand, die er ehrerbietig an die Lippen führte, und mit einem leisen, eigenen Lächeln wandte sie sich auf ihren Rückweg. Nach wenigen Schritten aber blieb sie wieder stehen und sah über die Schulter zurück Bergfried noch auf derselben Stelle wie angewurzelt ihr nachblicken.

»Es fällt mir eben noch etwas ein, was ich gern fragen möchte«, sagte sie, sich halb umwendend. »Nicht wahr, Sie haben doch bei meiner Pate den Professor Findelkind kennengelernt?«

»Ich habe ihn bei Frau von Thalheim nicht kennengelernt, aber öfter getroffen«, berichtete er mit seiner unfehlbaren Korrektheit, indem er sich sichtlich Gewalt antun mußte, seine Gedanken auf ein anderes Thema zu konzentrieren.

»Ach ja. Ich habe ihm eine Mitteilung zu machen und wollte Sie nur fragen, ob er in Berlin noch unter seiner alten Adresse zu finden ist.«

»Gewiß – das heißt, ich glaube es wenigstens. Unter allen Umständen erreichen ihn Briefe immer, die an seine Adresse im Auswärtigen Amt gerichtet sind, dem er ja als Experte angehört.«

»Ja, ich erinnere mich, daß mein Pate mir sagte, er sei Fachgelehrter für Chiffreschriften.«

»Das ist sein Beruf; er ist darin eine Autorität. Man darf behaupten, daß es kein Kryptogramm gibt, für das Findelkind nicht den Schlüssel findet.«

»Wirklich? Wie interessant! Also, vielen Dank, und nochmals guten Morgen!«

Theo suchte und fand die Stelle in dem grenzbildenden Unterholz, durch das sie unversehens in das Nachbargebiet eingedrungen war, und ging dann eilig den Weg zurück nach dem Amönenhof. Diesmal aber sah sie nichts von dem schattigen Waldweg, der reizenden Landschaft am See. Sie eilte ganz mechanisch vorwärts, tief in ihre Gedanken versunken.

»Erst der Schreck, als ich ihn plötzlich vor mir erblickte, und dann – wie gut war's, daß ich ihn traf, allein traf!« wiederholte sie sich immer wieder. »Wie gut, wie gut! Denn das hätte eine hübsche Bescherung geben können! Und wie gut auch, daß ich gleich darauf kam, ihn auf die Probe zu stellen, nachdem ich mir vergeblich den Kopf zerbrochen habe. Also gibt es heute noch andere Proben, als Ritte um Burgmauern und Kämpfe mit feuerspeienden Drachen! Ich glaube nicht, daß er noch besondere Erkundigungen einziehen wird. Mein Inkognito hat ihn wohl zu Genüge überzeugt. Ein Blinder mußte es sehen, ohne daß er's sagte, wie – verdonnert er war. Und wenn auch, was tut's? Hat er auf die achttägige Frist bestanden? Nicht mit einer Silbe. Oh, ich kann ruhig eine Million gegen einen faulen Apfel wetten, daß ich vor Ablauf der acht Tage einen Brief von ihm bekommen werde, einen Brief, der ihm eine böse Stunde machen dürfte – –! Warum habe ich heute nicht das Faszinierende seiner unmittelbaren Nähe empfunden, wie sonst? Diese unleugbare Anziehungskraft, die er immer auf mich ausübte, wenn er mir Aug' in Aug' gegenüberstand, die sich in Zweifel und Widerstand auflöste, wenn ich ihn nicht sah? Hätte ich das empfunden, so wär's mir wohl kaum möglich gewesen, mit kaltem Blut die Sache konsequent durchzuführen. Was ist denn nur geschehen, daß der Zauber seiner Nähe heute so ganz, ganz versagt hat? Daß ich mir's so ganz bewußt war: das ist nicht der Rechte?! Und war doch keine Stunde vorher noch im Zweifel – – ah, da bin ich ja schon am Amönenhof! Wie schnell das gegangen ist! Also, frischauf ins Geschirr; 's macht mir eigentlich heute mehr Spaß wie gestern.« –

Es war eine erhitzte, hundemüde Adelheid, die sich eine Viertelstunde nach Theos Rückkehr in den Amönenhof am Bett ihrer Herrin einfand und ruhig die scharfen Verweise über die Rücksichtslosigkeit entgegennahm, mit der sie sich ungefragt, entfernt und sie, Cordula von Ganting, Gan-Erbin auf Burg Ganting gezwungen hatte, sich von einem der Hausmädchen das Frühstück bringen zu lassen! Adelheid ließ sich ruhig ausschelten und mit Entlassung drohen, ehe sie ihren Trumpf ausspielte: Sie war dem Fräulein Zöllner auf ihrem verdächtig frühen Ausgang gefolgt und Zeugin davon gewesen, wie sie im Walde eine Zusammenkunft mit einem fremden Herrn hatte! Na, war das etwa nichts? Das hatte sie doch nicht etwa aus »persönlicher« Neugier getan, sondern nur für das gnädige Fräulein, für das sie die Pflicht doch niemals nicht versäumt habe!

»Ich konnte mich leider nur nicht nahe genug heranpirschen, um zu hören, was sie redeten«, schloß sie bedauernd. »Außerdem waren sie schon fertig mit ihrem Gespräch, bis ich nachkommen konnte; denn ich mußte mich doch erst ein bissel anziehen. Soviel habe ich aber doch noch gehört, daß der Herr was von einem Findelkind einer Krippe und von einem Schlüssel sagte.«

Cordula horchte jetzt mit beiden Ohren auf.

»In welchem Zusammenhange geschah das?« fragte sie lebhaft.

»Ja, darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen, kann's aber nicht zusammenbringen«, gestand Adelheid. »Ich war zu weit von den beiden, unter das Strauchzeug geduckt, und wagte mich nicht weiter, weil's so raschelte. Nur die paar Worte habe ich deutlich verstanden, und von ›acht Tagen‹ rief ihm das Fräulein was zu und von einem Briefe. Ich hab' das aber auch nicht verstehen können, weil gerade eine Masse von Vögeln einen Lärm über mir machte, als ging's ums liebe Brot. Vielleicht treffen sich morgen die beiden wieder, und da werde ich vor ihnen da sein! Damit es das gnädige Fräulein nur weiß, wenn das Frühstück nicht gleich kommt.«

»Hörtest du, daß sie sich morgen wieder treffen wollen?«

»Es war mir so, aber ganz gewiß kann ich's nicht sagen.«

»Nun, du kannst mich morgen wecken; ich werde mit dir hinausgehen«, verkündete Cordula mit heldenhafter Selbstüberwindung. »Ich habe bessere Ohren wie du. Jawohl, es ist so! Du weißt ganz genau, daß dein Gehör, besonders auf dem rechten Ohr, stark nachgelassen hat.«

»Dafür sehe ich aber besser und brauche keinen goldenen Kneifer, um mir ein Bild an der Wand anzusehen«, brummte Adelheid beleidigt, was Cordula jedoch überhörte.

»Wie sah denn der Herr aus? War er alt oder jung? Anständig angezogen?« forschte sie.

»Natürlich war er jung«, erwiderte Adelheid grob; denn sie konnte es nicht recht vertragen, wenn man von ihrem Gehör sprach. »Mit einem alten wird die doch kein Stelldichein haben! Jung und soweit ein ganz hübscher Mensch mit ratzebus rasiertem Gesicht, wie'n Schauspieler. Angezogen war er ganz in Weiß – halt so'n Anzug, wie die Herrschaften in der Stadt ihn tragen, wenn sie auf dem Spielplatz im Stadtgarten wie toll herumspringen und mit einem in eine hölzerne Schlinge gespannten Netz kleine weiße Bälle in die Büsche werfen, wo sie ein Junge wieder zusammensuchen muß.«

»Also einen Tennisanzug trug er«, belehrte Cordula ihr Faktotum. »Nun, das hast du ja soweit ganz geschickt gemacht. Aber reinen Mund halten! Keiner Seele etwas davon erzählen, verstanden?«

»Wo werde ich denn!« verwahrte sich Adelheid entrüstet. »Finden gnädiges Fräulein nicht auch, daß das mit dem Schlüssel sehr verdächtig ist?«

Cordula fand es wirklich sehr verdächtig. War damit etwa gar der Schlüssel zu dem eisernen Schrank in Jakob Reudnitz' Schlafzimmer gemeint? Wußte diese Zöllner bereits, daß er sich dort befand? Nicht minder verdächtig war auch das Findelkind. Was hatte es damit für eine Bewandtnis? Hm? Man konnte das Wort mal im Laufe der Unterhaltung aussprechen und die Zöllner dabei scharf beobachten – – Das letztere gebot sich von selbst für alle Fälle.

Der Nachmittag dieses so ereignisvoll begonnenen Tages wurde den beabsichtigten Besuchen in der Stadt und auf dem Lande gewidmet: mit einem Auto konnte man bequem, wie er sich ausdrückte, die ganze Muschpoche in ein paar Stunden erledigen.

Man fand sie alle »zu Hause«. Erst die alte, verhunzelte kleine Exzellenz Oberhofmeisterin a. D. mit dem runzeligen Gesicht, der Habichtsnase und den scharfen, funkelnden, schwarzen Augen, die sich so frisch und frank mit den beiden jungen Mädchen unterhielt, ganz besonders aber Theo auszeichnete, trotzdem Cordula bei ihrer Vorstellung zum Ärger des Kommerzienrats nicht verfehlt hatte, wieder »die Gesellschafterin meiner Nichte« hinzuzufügen, und diese Erläuterung auch weder beim Präsidenten noch beim Amtsgerichtsrat vergaß, wo es seltsamerweise mehr Effekt zu machen schien, als bei der alten Exzellenz; auch für die gewissenhaft hervorgehobene Gan-Erbschaft von Burg Ganting hatte die Oberhofmeisterin nur ein kühles »So?« Der Kommerzienrat wollte aber seinen Zylinder und den schwarzen Gehrock nicht gern noch einmal lüften, und so ließ er mit beschleunigter Geschwindigkeit doch noch nach Neudorf fahren, um auch den Landnachbarn, Doktor Liebenberg, auf seiner Klitsche »umzustoßen«.

In dem sogenannten Salon des kleinen, etwas verwahrlosten Neudorfer Wohnhauses, das mitten im Gutshof lag, in welchem sich schnatternde Enten und Gänse, gackernde Hühner, ja sogar quiekende Ferkel in ungebundener Freiheit bewegten, konnte Cordula ihre zwei Sprüchlein: »Die Gesellschafterin meiner Nichte« und »Ich bin nämlich Gan-Erbin auf Barg Ganting« wiederholen.

Zunächst aber durften sie sich, von einem schlampigen Dienstmädchen mit nassen Händen empfangen und geführt, in dem gräßlich ungemütlichen Salon gründlich umsehen, bis zuerst Frau Liebenberg erschien, die jedenfalls schleunigst einen reinen Spitzenkragen in der Eile schief auf ihre, vielleicht ehemals elegant gewesene grauseidene Bluse gesteckt und sich die ungepflegten grauen Haare notdürftig geglättet hatte. Sie machte aber ein erfreutes Gesicht und nötigte ihren Besuch zum Platznehmen auf der alten, ziemlich schäbigen »Plüschgarnitur«, anscheinend völlig ahnungslos, daß es in dem hermetisch geschlossenen Raume aufdringlich nach Sauerkraut, Erbsen, Staub und Moder roch.

,,Entschuldigen die Herrschaften, daß ich Sie warten ließ«, sagte sie mit dem unleugbaren Tonfall der gebildeten Frau, »mein Mann wird wohl gleich erscheinen.«

Bald kam der Herr des Hauses nach, der, wenn auch schäbig, so doch sauber aussah. Er schien sich aufrichtig zu freuen, die Bekanntschaft des neuen Schloßherrn von Amönenhof zu machen, über dessen Bedeutung als Großindustrieller er ein paar verständnisvolle und hübsche Worte zu sagen wußte, was Reudnitz mit einer Erkundigung über die wissenschaftliche Arbeit, die Doktor Liebenberg gerade unter der Feder hatte, erwiderte.

»Meine Arbeit bewegt sich auf einem Felde, dessen Kreis immerhin begrenzt ist, trotzdem aber ausgedehnte Studien und Vorarbeiten und einen zähen Sammlerfleiß erfordert«, erklärte der durch diese Frage sichtlich geschmeichelte Gelehrte. »Ich arbeite an einem etymologisch-kritischen Lexikon der deutschen Schimpfwörter.«

»Waaas?« machte Reudnitz, zurückprallend. Dann räusperte er sich und setzte mit wiedergewonnener Fassung hinzu: »Das ist ja höchst interessant. Dieses Lexikon werde ich mir nach seinem Erscheinen sofort zulegen und es allen denen warm empfehlen, deren Kenntnis in dieser Beziehung noch Lücken aufweist. Der – hm – zoologische Teil Ihres Werkes dürfte wohl die wenigsten Schwierigkeiten für etymologische Erklärungen bieten.«

»Ganz im Gegenteil«, versicherte Doktor Liebenberg eifrigst. »Gerade ganz im Gegenteil! Eben die der Zoologie entlehnten Schimpfwörter bedürfen einer sehr eingehenden kritischen Untersuchung, da sie meist auf vollständig falschen Voraussetzungen beruhen. Nehmen Sie bloß mal den so sehr beliebten Esel, der meist dazu herhalten muß, um Dummheit zu kennzeichnen. Nun ist der Esel aber zweifellos eines der klügsten Tiere. Er ist eigensinnig im Bewußtsein, daß er im Recht ist, aber dumm ist er nicht. Ganz bestimmt nicht! Ich schmeichle mir, mit Erfolg nachgewiesen zu haben, daß ›Esel‹ mithin keine Injurie, sondern eine glatte Schmeichelei ist.«

»Werde ich mir merken«, rief Reudnitz mit verdächtig zuckenden Gesichtsmuskeln. »Wie aber, wenn diesem Schmeichelnamen irgendein Adjektiv, zum Beispiel dumm oder alt, oder Patent hinzugefügt wird? Ich fürchte, daß dann der Richter für Verbalinjurien, selbst nach der Belehrung durch ihr geistiges Werk, nicht ganz Ihrer Meinung sein dürfte, denn dummer Esel, alter Esel und Patent- oder Quadratesel hören doch eigentlich schon auf, ausgesprochene Schmeichelnamen zu sein.«

»Darin sind Sie im Irrtum«, erwiderte Doktor Liebenberg. »Es verhält sich damit, wie mit allen zusammengezogenen Schimpfwörtern, von denen, logisch gedacht, eines das andere wieder aufhebt.«

»Haben Sie unter den zusammengezogenen schon das Rindskaninchen, das Schafskamel und den Sauesel aufgenommen, Herr Doktor?« warf Theo mit ernstem Gesicht und lachenden Augen ein. »Und dann hat auch noch der Bayer die zwar dunkle, aber schöne Bezeichnung g'selchter Aff.«

»N–ein!« gestand Liebenberg senior ein. »Diese Wörter waren mir tatsächlich noch fremd. Sehr interessant – werde mir's sofort notieren. Darf ich fragen, woher Ihre Kenntnis dieser höchst – hm – merkwürdigen Zusammenstellungen stammt?«

»Von meinem Vater und von einer Pate, bei der ich nach seinem Tode gelebt habe«, erwiderte Theo mit etwas schwankender Stimme, die ihr mühsam verbissenes Lachen aber nur dem Kommerzienrat verriet. »Namentlich meine Pate war einfach großartig darin. Ich habe mir sogar zum Spaß eine Liste davon entworfen, und falls ich den Zettel noch habe, steht er Ihnen gern zur Verfügung.«

»Sehr gütig – ich nehme das mit Vergnügen und mit Dank an«, rief Doktor Liebenberg sen. händereibend vor freudiger Erwartung dieser ungeahnten Bereicherung, welche die Störung in seiner Arbeit gewiß reichlich aufwog. Ehe er jedoch etwas hinzusetzen konnte, wurde er von Cordula unterbrochen, die an Theo laut die sehr taktvolle Frage richtete:

»Ihre Pate war demnach wohl eine Kuhmagd, Fräulein Zöllner?«

Die anderen sahen erschrocken auf die Angeredete; aber Theo hatte schon bewiesen, daß allzu grob aufgetragene Angriffe nicht beleidigend auf sie wirkten, und darum erwiderte sie auch lachend mit der größten Liebenswürdigkeit:

»Da meine Pate einmal ein großes Mustergut besaß, so möchte ich fast glauben, daß sie die Ausdrücke von ihren Kuhmägden gehört hat.«

»Kaum; denn dazu klingen sie zu gebildet«, behauptete Doktor Liebenberg sen. im vollsten Ernst zum größten Entsetzen Cordulas. »Nehmen Sie mal bloß das ›Rindskaninchen‹! Darauf kommt nur ein gebildeter Mensch, der die Charakteristik beider Spezies miteinander verquickt. Diese drei Schimpfwörter haben mir einen ganz neuen Ausblick für mein Lexikon eröffnet, mir den Stoff für eine separate Abteilung, ›Charakterisierende Kombinationen‹ gegeben, für den ich Ihnen sehr dankbar bin, verehrtes Fräulein.«

Reudnitz machte seiner Schwägerin ein Zeichen zum Aufbruch, und unter ohrenzerreißendem Gegacker, Geschnatter und Gegrunze des sich im Hofe seines Daseins erfreuenden Getiers setzte sich das Amönenhofer Auto wieder in Bewegung den heimatlichen Gestaden entgegen.

Der Weg nach dem Amönenhof wurde rasch genug zurückgelegt, und beim Aussteigen aus dem Auto geschah es, daß Cordula, ohne es zu merken, ihr Handtäschchen fallen ließ. Theo als letzte sah das, hob das Täschchen auf und gab es seiner Besitzerin zurück, welche, die gute Gelegenheit benützend, mit einem huldvollen Lächeln und gespanntem Blick »Danke vielmals für den – ›Findling‹« sagte.

Während Theo versicherte, daß es gern geschehen sei, wurde Cordula aber gewahr, daß sie sich versprochen hatte, und ärgerte sich darüber. »Findelkind« hatte Adelheid doch heute früh sagen gehört, und wenn »Findling« ja auch im Grunde dieselbe Bedeutung hat, so schien er doch nicht den gewünschten Eindruck zu machen.

Inzwischen war dem Kommerzienrat der während seiner Abwesenheit erfolgte Gegenbesuch des Herrn von Mühling auf Steinau gemeldet worden, der sehr bedauert hatte, die Herrschaften nicht angetroffen zu haben, und eine Einladung zur Jagd für Reudnitz hinterlassen hatte, worüber dieser eine unverhohlene Befriedigung äußerte und einen Boten mit seiner Zusage nach Steinau schickte.

Im Laufe des Abends versuchte es Cordula wiederholt, durch mehr oder minder geschickt in das Gespräch eingestreute Anspielungen auf das Wort »Findelkind« irgendeinen schuldbewußten Blick oder eine Bewegung Theos herbeizuführen, was ihr zwar nicht gelang, dieser aber schließlich auffiel und bewirkte, daß sie sich verwundert fragte: »Was will sie denn nur, daß sie ewig auf Findelkindern herumreitet? – Das bringt mich aber darauf, daß ich heute doch an den Professor Findelkind schreiben will, da ich seine Adresse ja nun weiß. Sollte diese liebe Tante am Ende wissen – Unsinn! Woher denn? Gedanken wird sie ja wohl kaum lesen können, und wenn sie nicht im Busch versteckt war, während ich mit Bergfried sprach – – was übrigens ein Gedanke zum Wälzen wäre, trotz seiner Unwahrscheinlichkeit.«

Theo schrieb ihren Brief noch am selben Abend, legte ihm das Spiel Karten bei und steckte ihn am nächsten Morgen in die Posttasche, die auf dem Tisch in der Halle lag und zu welcher nur der Kommerzienrat, sowie das Postamt in Weißenfels die Schlüssel hatten. Die Antwort unter Rücksendung der Karten hatte sie sich unter der Adresse »T, Z.« postlagernd nach Weißenfels erbeten; denn sie wollte durch den Empfang des ziemlich umfangreichen Briefes nicht erst die Neugierde – gewisser Leute wachrufen.

Für ihren Morgenspaziergang wählte sie darnach aus naheliegenden Gründen eine andere, dem Steinauer Gebiet entgegengesetzte Richtung; hätte sie aber ahnen können, daß Cordula mit ihrem Adjutanten Adelheid tatsächlich in dem bewußten Busch versteckt auf der Lauer lag, so hätte sie sich gewiß nicht das Vergnügen versagt, sie dort aufzuspüren und das Fritz Reutersche »Rendezvous im Watergraben« mit Variationen zu wiederholen. Aber wenn ihre Ahnungslosigkeit sie leider auch dieses »Spaßes zum Wälzen« beraubte, so genoß sie doch wenigstens noch das Nachspiel davon; denn als sie, eben heimkehrend, die Treppe in der Halle hinaufsteigen wollte, kam Cordula gerade von ihrer Expedition zurück, bebend vor Entrüstung, in schlechtester Laune und das allerdings alte Kleid mit sonderbaren Spuren feuchten Bodens, Rissen und Blättern verziert.

Theo betrachtete erstaunt die beiden Gestalten, die ihre Blicke mit unverkennbarer Mißbilligung, um nicht zu sagen Feindseligkeit, erwiderten, ihren Gruß dagegen unbeachtet ließen. Da ihre jungen Augen aber auf der noch ungeschminkten Wange Cordulas eine lange, augenscheinlich frische Schramme bemerkten, hielt sie es für höflich, ihre Teilnahme an dem kleinen, aber unangenehmen Unfall auszudrücken.

»Oh, Fräulein von Ganting, Sie haben sich verletzt?« rief sie nähertretend. »Sind Sie gefallen? Kann ich Ihnen mit etwas Englischpflaster dienen?«

»In der Tat – ich bin ausgeglitten und eine Brombeerranke hat mich gekratzt«, erklärte Cordula etwas atemlos. »Sieht man es? Adelheid sagte doch, es wäre nichts. Englischpflaster? Nein danke, ich habe selbst welches. Sie sehen, ich habe mich durch ihr Beispiel für Morgenspaziergänge verleiten lassen, ein Gleiches zu tun«, setzte sie mit sauersüßem Lächeln hinzu. »Ich habe aber den Reiz dafür noch nicht entdecken können. Vielleicht bin ich zu früh oder – zu spät aufgestanden, um den wahren Anziehungspunkt für solche Exkursionen zu finden.

*

» Theo hätte diese Erklärung wahrscheinlich für ganz wörtlich genommen, wenn sie nicht zufällig dabei gesehen hätte, daß Adelheid ihrer Herrin entschieden warnende Zeichen durch Gesichterschneiden machte, was zwar, genau besehen, einer bodenlosen Unverschämtheit gleichkam, Theo aber auch ein plötzliches, sehr grelles Licht anzündete, welches ihr die Ganze, bisher recht spaßhaft vorkommende Situation erleuchtete: Fräulein von Ganting war ihr nachgelaufen! Vielleicht sogar gestern schon. Das hätte Theo freilich weniger spaßhaft gefunden, da sie der Meinung war, daß ihre Privatangelegenheiten die Tante nichts angingen, und sie es auch nicht eben vornehm fand, sich durch Nachschleichen davon in Kenntnis zu setzen. Sie wartete daher ruhig ab, ob noch eine weitere Spitze folgen würde. Die telegraphischen Warnungszeichen Adelheids schienen indes gewirkt zu haben, und mit kurzem Gruß stieg Fräulein von Ganting die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, während Theo sich nach der anderen Seite wandte und dabei eine Anwandlung der reinsten Freude, so man Schadenfreude nennt, nicht ganz unterdrücken konnte, weil der einzige Erfolg der »süßen Tante« an diesem schönen Morgen nur eine tüchtige Schramme war. Bei näherer Überlegung kam sie dann zu der Überzeugung, daß Cordula gestern kaum Zeugin der Unterredung mit Bergfried gewesen sein konnte; daß Adelheid sie fortgehen sah und ihr nachgeschlichen war, konnte schon eher möglich sein. Es war aber kaum anzunehmen, daß sie gehört haben konnte, was gesprochen wurde; sonst hätte Cordula damit wohl kaum hinterm Berge gehalten. Und wenn auch, so kam es darauf eigentlich auch nicht an.

Der Kommerzienrat kehrte gegen Abend sehr befriedigt von Steinau zurück. Er hatte einen Bock geschossen, ein vorzügliches Jägerfrühstück verzehrt und sich dabei ausgezeichnet unterhalten. »Wir waren nur zu fünft, was die Sache besonders gemütlich machte«, erzählte er beim Abendessen. »Mühling, seine beiden Hausgäste, Graf Zimburg und ein sehr jugendlicher Legationsrat von Bergfried, dann der Kammerherr des Herzogs von Weißenfels, Herr von Willig – übrigens ein sehr netter, jovialer Mann – und meine Wenigkeit. Habe mich lange schon nicht mehr so gut unterhalten – 's war wirklich riesig nett und mal etwas anderes für mich, der meist unter Kollegen fachsimpeln muß. Ja, um Himmels willen, Cordula«, unterbrach er sich. »Was hast du denn angestellt? Warst du auf Mensur? Du hast ja eine regelrechte steile Quart auf deinem Gesichte!«

»Es ist nichts – nur eine kleine Verletzung«, sagte Cordula hastig, indem sie unwillkürlich mit dem Finger über den Streifen von rosa Englischpflaster fuhr, der ihre linke Backe zierte. »Nun, es ist ja sehr erfreulich, daß du dich so gut unterhalten hast.«

»Habe ich auch und fühle mich wirklich ganz aufgekratzt davon!« erklärte Reudnitz behaglich. »Tja, und was ich sagen wollte: weil Mühling so liebenswürdig war, so rasch auf meinen Besuch zu zeichnen, so wollte ich mich nicht lumpen lassen und habe ihn mit seinen Gästen auf morgen abend zum Essen eingeladen, was er sehr gern annahm. Um sechs Uhr präzis, wonach ich bitten möchte dich zu richten. Kein Knallprotzendiner – einfach, aber Ia!«

»Das hätte keine Schwierigkeiten, da man in Weißenfels recht gut einkaufen kann«, meinte Fräulein von Ganting nach kurzem Zögern. »Aber ich meine, du wirst die Einladung verschieben müssen; denn ich kann mich doch mit dieser – dieser Wunde im Gesicht kaum sehen lassen.«

»Verschoben wird nicht! Wenn du wirklich so eitel bist, deine steile Quart nicht zeigen zu wollen, na, dann muß ich dich eben entschuldigen.«

»Da es doch sowieso ein Herrendiner sein soll –«

»Durchaus nicht; ich habe gar keinen Grund, meine Damen zu verstecken. Wenn du meinst, dich nicht sehen lassen zu können, dann muß Sabinchen Hausfrau spielen, was ihr nur förderlich sein kann.«

»Nein, das geht nicht! Ein junges Mädchen allein mit drei Junggesellen! Jakob, ich muß mich über dich wundern!« rief Cordula entrüstet aus.

»Na, ich bin doch auch noch da!« meinte Reudnitz gemütlich.

»Wenn auch! Also, ich werde mich opfern und meinen Platz einnehmen«, entschied sie. »Wieviel Personen sind wir dann? Sechs, dächte ich?«

»Acht; denn der Kammerherr von Willig kommt nämlich auch. Als ich Mühling und seine Gäste einlud, sagte er nämlich – vielleicht infolge eines sehr niedlichen, kleinen Haarbeutels, den er sich so sachtchen angepfiffen hatte –, ich sollte nett sein und ihn auch einladen; Besuch wollte er sowieso bei uns machen, und auf dem Schlosse verspreche es sträflich langweilig zu werden, weil die herzoglichen Herrschaften ihre Sommerfrische dazu benutzen wollten, meist unter vier Augen zu speisen. Allein mit der neuen Hofdame an der Marschalltafel sei es nicht gerade zum Totlachen. Und sonst sei vom Hofstaat niemand mitgenommen worden. Natürlich sagte ich ihm darauf, daß ich mich sehr freuen würde, wenn er auch kommen wollte, und fand's eigentlich sehr nett, daß er mir's so ohne Komplimente und Etikette gesagt hat.«

Als Theo an diesem Abend wieder allein in ihrer Stube war, sank sie abermals entgeistert auf den nächsten besten Stuhl hin; heute aber nicht vor Müdigkeit, sondern aus anderen Gründen.

»Ooch dat noch, as Mamsell Westphalen segt«, stöhnte sie. »Wenn ich mir überlegt hätte, daß der Amönenhof ja keine wüste Insel im fernen Ozean sein konnte, daß er Nachbarschaft haben muß und daß der Teufel einem mit tödlicher Sicherheit immer die Leute in den Weg führt, denen man gerade mal nicht begegnen möchte! Wenn der Bergfried morgen wirklich mitkommt, was ich aber noch gar nicht für ausgemacht halte, weil ich's ihm zutraue, daß er irgendeinen Vorwand finden wird, um mir nicht zu begegnen – na, denn man tau! Er wird sein Versprechen halten und mich verleugnen. Aber wenn der dicke, brave Willig mich sieht, wird er wie eine Kegelkugel auf mich zurollen und unterwegs schon meinen Namen der staunenden Runde verkünden und mir umgehend einen Heiratsantrag machen. Das wäre dann der siebente. Meinetwegen könnte es auch der achte sein, wenn er nur den Schnabel halten wollte. Aber er wird's nicht! Diese Selbsteinladung sieht ihm ganz ähnlich. Ergo wird mir weiter nichts übrigbleiben, als mich krank zu stellen. Damit muß man natürlich schon am Morgen anfangen, damit's nicht zu sehr auffällt. Dem alten Drachen tu' ich damit jedenfalls den größten Gefallen, aber mit Sabine wird's einen kleinen Kampf setzen.«

Diese Voraussicht traf denn auch redlich ein. Sabine hatte am Vorabend schon von ihrer Tante eine solche Wagenladung von Verhaltungsmaßregeln über ihr Benehmen in Herrengesellschaft erhalten, daß sie aus Angst vor Verstößen kaum hatte schlafen können und ihren einzigen Trost in die Nähe Theos setzte, von der mehr ein dunkles Ahnen ihr sagte, daß sie vom »guten Ton in allen Lebenslagen« eine neuere Auflage besaß, als ihre altmodische Tante. Als Theo ihr darum schon am frühen Morgen verkündigte, daß sie sich heute gar nicht wohl fühle und ein »blödsinniges Kopfweh« hätte, was nach alter Erfahrung immer vierundzwanzig Stunden anzuhalten pflege, bekam die arme Sabine es mit der Angst für den Abend und schleppte für ihre Gefährtin eine ganze Apotheke zusammen und redete ihr zu, die paar Dutzend Mittel womöglich alle auf einmal einzunehmen. Dazu sollte Theo ins Bett gepackt werden, auf Kopf und Magen Kataplasmen bekommen und auf die Fußsohlen Senfpflaster und obendrein noch höchst verdächtig riechende Tees trinken. Als dann auch noch Reudnitz am Frühstückstische sein Universalmittel, das mit Recht so beliebte Rizinusöl, empfahl, da streckte Theo die Waffen und erklärte, Tränen lachend, daß eine Stunde Ruhe nebst einem gewissen Pulver aus eigenem Besitz noch am sichersten den gewünschten Erfolg erreichen würde.

Die Stunde Ruhe wurde ihr sofort bewilligt, wobei sie das bewußte Pulver überhaupt nicht einnahm, und erschien bei dem heute etwas verfrühten Mittagstisch frisch und blühend wie immer – wie sie früh es auch gewesen war. Reudnitz stellte das auch umgehend fest und flüsterte ihr vor Tisch etwas von »faulen Fischen« und »erkannt sein« mit listig blinzelnden Augen zu.

»Ich begreife zwar noch nicht, warum Sie sich haben drücken wollen; aber das ist ja schließlich Ihre Sache«, schloß er schmunzelnd. »Jedenfalls hat die bloße Drohung mit meinem Universalmittel schon Wunder gewirkt, wie ich mir einbilde.«

Theo schüttelte sich lachend.

»Das ist keine Einbildung, sondern Tatsache«, erklärte sie offen. »Ich habe nämlich die Idee, als ob meine Abwesenheit Fräulein von Ganting nicht ungelegen sein würde.«

»Sie haben immer richtige und zutreffende Ideen«, gab Reudnitz zu. »Aber darauf kommt es nicht an; denn ich habe nicht im Sinne, meiner Schwägerin in diesem Punkte nachzugeben.«

»Herr, dunkel ist der Rede Sinn –«

»Na, meine Schwägerin hat mir heute schon einen eindringlichen Vortrag gehalten; ich erkenne selbst an, daß Sabine neben Ihnen die Rolle des ›häßlichen jungen Entleins‹ spielt –«

Theo hob beschwörend ihre Hände in die Höhe.

»Hab' ich Ihre Erlaubnis, Sabine heute abend zum ›schönen jungen Schwan‹ zu verwandeln?« rief sie rasch. »Ich weiß nämlich, wie's zu machen ist.«

»Wissen Sie das auch? Na, wenn sie solch ein Tausendsassa sind, dann müßte ich doch ein sehr wenig eitler Vater sein, um zu solch einem Anerbieten nein sagen zu können«, meinte Reudnitz etwas unsicher. »Wie wollen Sie denn das machen?«, erkundigte er sich nicht ohne Mißtrauen.

»Ist mein Geheimnis! Eine Idee, die mir kam, als ich Sabine zum ersten Male sah und ich gleich wußte, woran es bei ihr fehlt«, erwiderte Theo vergnügt. »Wir Weibsleute wissen davon wirklich mehr wie die Männer, die wohl einen Mangel sehen können, aber nicht wissen, womit er zu beheben ist. Natürlich rechne ich Fräulein von Ganting nicht unter die Weibsleute; sie steht apart auf einem Sockel als Reliquie einer vergangenen Zeit.«

»Gnade Ihnen Gott, wenn sie das gehört hätte!« kicherte Reudnitz vor sich hin. »Reliquie ist gut. Na, es gibt ja auch verschiedene Sorten: solche, so man in Gold faßt, und solche, so man in die Rumpelkammer tut –«

»Gnade Ihnen Gott, wenn sie das gehört hätte«, murmelte Theo.

Als ein »schöner junger Schwan« ging Sabine zwar aus Theos Händen nicht gerade hervor, aber immerhin doch als eine ganz niedliche, junge Dame, die im Begriff stand, sich zu »mausern«, und für die Zukunft das Beste versprach. Theo hatte ihr die straff vom Gesicht weggebürsteten Haare gelöst und dabei entdeckt, daß sie sich, frei von dem Zwange festgetrommelter Zöpfe, natürlich wellten und eine ungeahnte Fülle entwickelten; diese bisher mit großer Kunst verborgene Naturgabe verschönte Sabinchens unbedeutendes, schmales Gesichtchen ganz wesentlich, und nachdem Theo auch noch durch ein paar kleine Kniffe das weiße Spitzenkleid, das Sabine angelegt hatte, weniger hausbacken und »vermurkst« erscheinen ließ, steckte sie ihr eine rote Rose in den Gürtel und brachte es durch diese einfachen Mittel tatsächlich zuwege, daß sich die dürftige kleine Person Vater und Tante als eine ganz ansehnliche junge Dame vorstellen konnte. Theo, sehr einfach in einem weißwollenen Rock mit Spitzenbluse gekleidet, sah mit ihrem herrlichen goldenen Haar, ihrer königlichen Haltung und ihrem schönen Gesicht aus wie eine Lilie neben einem Tausendschönchen. Der alte Reudnitz war ganz selig über die »Verwandlung« seines Töchterleins, dem überdies ein feines Rot natürlicher Erregung die blassen Wangen färbte, und konnte sich mit seiner Anerkennung gar nicht genug tun.

»Daß wir beide auch nie gesehen haben, woran's dem Mädel fehlte!« sagte er vergnügt zu seiner Schwägerin. »Natürlich, die Frisur macht's! Na ja, ich als Mann konnte darauf nicht kommen, aber du, als Frau, die du selbst eine so – so reiche Frisur trägst, hättest das doch wissen müssen.«

Cordula erwiderte würdevoll: »Aber da Sabine durchaus jetzt schon erwachsen sein soll, so will ich gern anerkennen, daß diese Haartracht ihr sehr gut steht. War es die Idee deiner Zofe, liebes Kind, oder deine eigene?«

»Ei bewahre, wie wäre ich denn daraufgekommen! Und gar erst die Marie, die mir die Haare immer so fest zusammenwurstelt, daß mir die Haut davon weh tut. Nein, Theo hat mich frisiert«, bekannte Sabine, immer noch ganz benommen von dieser kühnen Tat, während ein verstohlener Blick in den Spiegel ihr so etwas wie ein gewisses Selbstbewußtsein verlieh.

»Oh, Fräulein Zöllners Idee war es also«, machte Cordula gedehnt und konnte sich's nicht versagen, spitz hinzuzufügen: »Alle Achtung! Man sollte wirklich meinen, daß Sie eine gelernte Kammerjungfer sind, liebes Fräulein!«

»Ich war jedenfalls immer meine eigene«, erwiderte Theo lachend. »Darum ist mir wohl auch der erste Versuch an einem fremden Kopfe so ziemlich gelungen.«

Cordula biß sich auf die Lippen. Es war wirklich sehr fatal, immer den kürzeren zu ziehen! Während sie noch überlegte, ob sie doch nicht vielleicht noch einen wirksameren Pfeil abschießen könnte, fuhr draußen vor dem Portal ein Wagen vor, und Reudnitz benutzte den Augenblick der Erwartung, seiner Schwägerin zuzutuscheln: »Überzeugst du dich nun, daß es Fräulein Zöllner gar nicht einfällt, Sabine ausstechen zu wollen? Gerad' im Gegenteil – in den Vordergrund will sie sie schieben!«

Der Eintritt des Kammerherrn von Willig überhob Cordula einer Antwort, und mit ihrem huldvollsten Lächeln trat sie dem Gast entgegen, der für ihr Empfinden einen Hauch von Hofluft mitbrachte. Ein Fremder hätte ihn freilich eher für einen in der Wolle sitzenden Gutsbesitzer gehalten, der zur Abwechslung mal seine Rundlichkeit in einen tadellosen, schwarzen Überrock gehüllt hatte. Obschon der Kammerherr noch in den sogenannten »besseren Jahren« war, so hatte sein runder Denkerschädel doch schon viel von seinem überflüssigen Haarwuchs abgeworfen, und nur über der Stirn war davon noch ein krauses Büschel stehengeblieben, das – wie Reudnitz später treffend bemerkte – aussah, als sei dem Herrn von Willig der Spitzbart auf die Stirn gerutscht. Aus seinem runden, jovialen Gesicht schauten vergnügte Äuglein. Im übrigen war er eine gute, ehrliche Haut, was schon die Form seiner Nase verkündete, wenn man dem Nachdichter des Mirza Schaffy trauen darf, der in seiner Charakteristik der Riechorgane behauptet hat: »Auf ehrliches Wollen deutet der Knollen.«

»So, jetzt kommt's«, dachte Theo ergeben, während Reudnitz den Gast wie einen alten Bekannten begrüßte und ihn der Reihe nach seiner Schwägerin, Sabine und ihr selbst vorstellte. Und dabei geschah denn das Unerwartete: Der rundliche Hofmann küßte Cordula die Hand, verbeugte sich verbindlich vor Sabine und dann vor ihr, ohne auch nur durch eine Miene zu verraten, daß er sie jemals im Leben gesehen und ihr sechs Heiratsanträge gemacht hatte.

»Herr Kommerzienrat«, wandte er sich dann gleich an den Hausherrn, »ich komme heute nicht nur als Gast und noch dazu als selbsteingeladener – du liebe Zeit, welchen Begriff müssen Sie von mir bekommen haben! Meine einzige Entschuldigung ist nur die, daß mir nach der vielen frischen Luft im Walde Mühlings alter Rauenthaler ein bißchen warm gemacht hatte, um es zart auszudrücken. Ja also, ich komme heute nicht nur als Gast, sondern auch als Kammerherr vom Dienst im Höchsten Auftrag. Ihre Hoheit, die Frau Herzogin, haben nämlich den Wunsch, den Amönenhof wieder zu sehen, den sie in ihren Kindertagen öfter besucht hat – ein Wunsch, dem sich seine Hoheit der Herzog anschließt, da auch er gern den schönen Besitz kennenlernen möchte. Ihre freundliche Einwilligung vorausgesetzt, habe ich den ehrenvollen Auftrag, die Herrschaften für morgen, um die Teestunde, bei Ihnen anzumelden, und erlaube mir privatim den Wink hinzuzufügen, daß Hochdieselben dann sehr gern auch eine Tasse Tee annehmen würden.«

Reudnitz verbeugte sich sichtlich erfreut; doch ehe er noch seine Versicherung halbwegs gestammelt hatte, daß er diese hohe Ehre für sein Haus zu schätzen wisse, wurden auch schon die Steinauer Gäste in den Saal geführt und die Vorstellungsparade, mit Ausnahme des Grafen Zimburg, wieder begonnen.

Theos heimlicher Wunsch, daß Bergfried sich entschuldigen lassen würde, erfüllte sich nicht; aber gleich dem Kammerherrn ließ er sich ihr wie ein völlig Fremder vorstellen und begann dann sofort ein Gespräch mit Sabine, die vor Verlegenheit halb tot war, wobei es Theo nicht entging, daß er Willig und sie selbst mit prüfenden Blicken musterte. Denn es war ihm inzwischen eingefallen, daß der Kammerherr sie kennen mußte. Hatte er sie also schon als Bekannte begrüßt? Theo sah ihm genau an, daß diese Frage ihm Kopfzerbrechen machte, und belustigte sich heimlich darüber. War er nur gekommen, um das festzustellen? Oder hatte er für sein Erscheinen noch eine andere Absicht? Daß er sich einfach hatte »mitschleppen« lassen, glaubte sie nicht; denn daß er nichts ohne Berechnung tat, wußte sie. Aber der Abend hatte ja erst begonnen, und bis er zu Ende ging, würde sie ja wahrscheinlich klüger sein!

Da es gleich zur Tafel ging, so wurde der bekannte Zustand des »Herumstehens« wesentlich abgekürzt. Cordula nahm den Vortritt zum anstoßenden Speisesaal, wo die Tafel von Kristall und Silberzeug funkelte und im Schmuck frischer Rosen in dem hellen Licht, das durch die offene Tür zur Terrasse hereinfiel, ebenso gediegen wie einladend aussah; ihr folgten Sabine und Theo, denen sich die fünf Herren anschlossen, wobei Bergfried die Gelegenheit ergriff, dem neben ihm gehenden Kammerherrn zuzuraunen:

»Welche Schönheit, diese – Gesellschafterin!«

»Großartig!« tuschelte Willig schmunzelnd zurück. »Zur Schnabelweide gehört die Augenweide – das ist eine alte Weisheit.«

»Kannten Sie sie schon?« – »Die Weisheit? Na, und ob!«

Der kurze Weg war zurückgelegt, ehe Bergfried sich noch darüber einig war, ob Willig ihn absichtlich falsch verstanden hatte. Indes traute er dem jovialen Hofmann eines Duodezstaates nicht soviel diplomatische Gewandtheit zu, während es andrerseits ja ganz ausgeschlossen schien, daß er Theo nicht kennen sollte, die ein so häufiger Gast am Weißenfelser Hofe war. Er mußte entweder also eingeweiht sein, oder er ignorierte die Bekanntschaft absichtlich, weil Theo durch ihre abhängige Stellung ihre Hoffähigkeit eingebüßt, zum mindesten ihr aber entsagt hatte. War sie dieses Schrittes wegen in Ungnade gefallen? Willig mußte darüber doch Bescheid geben können!

Weitere Überlegungen des Diplomaten wurden fürs erste unterbrochen, da man sich an der runden Tafel niederließ. Cordula nahm zwischen Mühling und Willig Platz, während Sabine auf dessen anderen Seite saß und Bergfried neben sich hatte. Theo wurde der Platz zwischen Mühling und Zimburg angewiesen, so daß der Hausherr seiner Schwägerin gegenüber zwischen dem früheren Schloßherrn von Amönenhof und dem Diplomaten saß.

Da das Gespräch in dieser kleinen Tafelrunde naturgemäß ein ganz allgemeines war, so war eine intimere Aussprache von Nachbar zu Nachbar so gut wie ausgeschlossen. Daß keine sogenannte Kunstpause in der Unterhaltung eintreten konnte, dafür sorgte der Kammerherr ausgiebig, trotzdem er den Schüsseln alle Ehre antat und dem Wein als Kenner zusprach.

Theo, die sich nur wenig und sehr zurückhaltend an der Unterhaltung beteiligte, lachte aber harmlos vergnügt über die Schnurren, die Willig unter beständigem Essen und Trinken zum besten gab.

Der im Tafeln sehr mäßige Kommerzienrat konnte ein langes Herumsitzen bei Tisch nicht leiden, dafür aber liebte er ein sehr ausgiebiges Plauderstündchen bei einer guten Zigarre und einem noch besseren Tropfen. Als daher der Nachtisch verspeist war, machte er seiner Schwägerin ein Zeichen, die Tafel aufzuheben, und die Gesellschaft begab sich unter ihrem Vortritt auf die Terrasse hinaus, wo schon der Tisch, mit bequemen Korbsesseln umstellt, zum gemütlichen Zusammensitzen unter freiem Himmel hergerichtet war.

Ehe man sich jedoch daran niederließ, äußerte Willig den Wunsch, den prächtigen Saal gründlicher in Augenschein nehmen zu dürfen, solange das Licht dazu noch günstig sei, und die anderen folgten ihm. Die Türen nach den anstoßenden Gesellschaftsräumen waren auch geöffnet, woraus sich dann wie von selbst eine Besichtigungstour ergab, während welcher es schon eher möglich wurde, sich zu besonderen Gesprächen zusammenzufinden. Dabei wußte es der Kammerherr geschickt einzurichten, daß er mit Theo in der Bewunderung des Porträts einer reizenden, koketten Rokokodame zurückblieb.

»War doch eigentlich eine reizende, kleidsame Tracht, dieses gepuderte Haar, nicht?« sagte er laut zum Benefiz derer, die noch in Hörweite standen, und rasch setzte er sotto voce hinzu: »Die Herzogin hat mich natürlich eingeweiht, sonst wäre ich wohl bei Ihrem Anblick und Ihrem – Pseudonym regelrecht auf den Rücken gefallen. Denken Sie sich bloß mal das Bild! Daß dich das Mäuslein beißt – was machen Sie nicht für Streiche!«

»Ist aber gar kein Streich! Es ist mir voller Ernst damit«, versicherte Theo lachend. »Weiß schon! Weiß schon!« quiekte der Kammerherr vergnügt. »Aber hören Sie, Verehrteste, Teuerste, Angebetete – können Sie sich damit nicht am Ende doch in eine nette Patsche setzen?«

»Ich werde Sie rufen, damit Sie mich wieder herausfischen!« spottete Theo übermütig.

»Das war mal endlich ein vernünftiges Wort!« lobte er. »Also, Sie rufen, und ich komme, ergreife Ihre Hand – hopplala! – und lasse sie nicht mehr los – fürs Leben!«

»Numero sieben!« stellte Theo trocken fest. »Steter Tropfen höhlt den Stein«, versicherte Willig lachend. »Ich habe auch gezählt. Es ist wirklich das siebente Mal, daß ich Ihnen Herz und Hand zu Füßen lege. Ehe das zweite Dutzend aber nicht voll ist, gebe ich die Hoffnung nicht auf. Aber Spaß beiseite! Meinen Sie wirklich, daß Sie's hier durchführen werden, bis Ihre Freundin wieder gesund ist? Daß die Leutchen hier den Braten nicht riechen werden? Für 'ne Gesellschafterin sind Sie nämlich wirklich ein bißchen auffallend –«

»Herr von Willig, unser liebenswürdiger Wirt hat nebenan die elektrische Beleuchtung zur Bewunderung des Deckengemäldes angezündet«, rief Bergfried von der Tür herüber.

»Was? Deckengemälde? Komme sofort«, rief der Kammerherr, scheinbar Feuer und Flamme. »Deckengemälde sind meine Passion, vorausgesetzt, daß ich mich auf den Rücken legen darf, um mir durch die Besichtigung nicht das Genick verrenken zu müssen. Also, Fräulein Zöllner, ich werde mir später erlauben, Ihnen die Vorzüge der Rokokotracht kunsthistorisch weiter auseinanderzusetzen.«

Damit eilte er in den Nebenraum, und Theo folgte ihm, so daß sie an Bergfried, der in der Tür stehengeblieben war, vorbei mußte.

»Ich habe einen Brief für Sie in die Falten dieser Portiere gesteckt«, sagte er, den Vorhang für sie zurückhaltend. »Ich glaubte, es sei besser, als wenn ich einen Boten damit von Steinau herüberschickte.«

»Man hat allerdings auch noch die Post, wenn man jemand schreiben will«, meinte Theo mit einer Heiterkeit, die sie sich selbst nicht hätte erklären können. »Nehmen Sie Ihren Brief nur ruhig wieder mit, Baron, damit er nicht am Ende gar von einem der Diener gefunden wird, ehe ich dazu gelangen könnte. Ich kann mir nämlich lebhaft vorstellen, was in dem Briefe steht, und darf mir also die Mühe sparen, Ihnen den versprochenen zu schreiben. Hab' ich nicht recht?«

Bergfried antwortete nicht, aber in sein blasses Gesicht stieg eine dunkle Röte, und seine Hand fuhr in die Falten des Vorhangs und ballte sich dort zusammen. Theo hörte es knistern wie von Papier und lächelte.

»Schade um die schöne Zeit, die Sie zu der Abfassung dieser Epistel geopfert haben«, sagte sie leicht. »Ich habe den Inhalt in seinem Kernpunkt nämlich schon vorgestern früh in – Ihren Augen gelesen.«

»Theo!« murmelte er, indem ein Ausdruck wie von Pein in seine kalten Augen kam. Sie hatten ziemlich entfernt von der übrigen Gesellschaft gestanden; gehört konnte also niemand haben, was sie sprachen, aber daß sie bemerkt worden, bewies, daß Cordula sich von der Gruppe am anderen Ende des Salons absonderte und auf sie zutrat.

»Baron Bergfried, ich hoffe, daß Fräulein Zöllner Sie nicht von der Betrachtung dieses schönen Plafonds zurückgehalten hat«, sagte sie scharf.

»Durchaus nicht, gnädiges Fräulein«, erwiderte dieser verbindlich aber kühl an Theos Stelle. »Ich war es im Gegenteil, der Fräulein Zöllner mit einem Vortrag über – den Stoff dieser Portiere langweilte. Lyoner Fabrikat aus dem achtzehnten Jahrhundert. wenn ich nicht irre.«

»Ich glaube, ja«, machte Cordula zerstreut, indem sie Theo ansah, die etwas blaß, aber mit ganz heiterer Miene dastand und dabei so bildschön aussah, daß es die Gan-Erbin von Burg Ganting mit einem ganz unvernünftigen Zorn gegen »diese Person« erfüllte. »Das interessante Thema scheint Fräulein Zöllner jedenfalls nicht gelangweilt zu haben, wie ich bemerkte«, setzte sie bissig hinzu.

In Bergfrieds Gesicht stieg wieder die dunkle Röte, und sein Blick suchte den Theos, als ob er sagen wollte: »Das mußt du dir nun gefallen lassen! » Aber es war ein ganz anderer, stahlharter Blick, mit dem er sich an Cordula wandte:

»Was Fräulein Zöllner zu dem Thema sagte, war sehr – treffend und scharfsinnig, gnädiges Fräulein. Man hört ja doch immer gern die Ansicht gebildeter Menschen.«

»Aber gewiß«, beeilte sich Cordula mit süßem Lächeln zu erwidern. »Ich wage natürlich nicht zu entscheiden, ob Fräulein Zöllner auch auf textilem Gebiete eine Autorität ist, da ich sie noch zu wenig kenne. Sie ist erst seit ein paar Tagen in unserem Haus, in das sie ganz wie das klassische Mädchen aus der Fremde eintrat: ›Man wußte nicht, woher sie kam –‹! Offen gestanden – ich weiß es heute noch nicht!«

Theo lachte, als hätte Cordula einen guten Witz gemacht, und öffnete schon den Mund, um durch irgendein Scherzwort zu verhindern, daß Bergfried etwas sagte; denn sie sah ihm an, daß er im Begriff stand, ihre Partei zu nehmen, was sie entschieden wieder für ihn einnahm, als in diesem Augenblick der Kommerzienrat seine Gäste aufforderte, den schönen Abend lieber im Freien zuzubringen.

Daraufhin gingen alle bereitwillig auf die Terrasse zurück, wo Cordula als erste an dem Tische Platz nahm. Kaum hatte sie sich gesetzt, als Adelheid, die schon in der Tür zum Speisesaale gewartet haben mußte, rasch auf ihre Herrin zutrat und ihr eine leichte Hülle überreichte.

»Gnädiges Fräulein sollten sich besser gegen die Abendluft verwahren«, sagte sie halblaut, aber ganz verständlich, und indem sie sich über die Sitzende herabbeugte, um an ihrem Spitzentuch etwas zurechtzuzupfen, tuschelte sie ihr ins Ohr: »Der Glattrasierte neben unserem Fräulein war's!« Worauf sie wieder durch den Speisesaal verschwand.

Für den Augenblick wußte Cordula nicht, was Adelheid eigentlich gemeint hatte; dann aber ging ihr ein Licht auf. Sie war denn auch für den Rest des Abends in strahlender Laune, die auch dadurch, daß Willig und Bergfried sich sichtlich bemühten, Sabine zu unterhalten, nicht ernstlich beunruhigt wurde. Nicht einmal, daß ihre Nichte sichtlich auftaute und sich im Gefühl, hübsch auszusehen, wirklich »erwachsen« vorkam, störte Cordula heute; denn alles konnte wieder ins richtige Gleis gebracht werden, wenn – –

Ja, Adelheid war wirklich eine Perle, über deren minderwertige Fassung man eben ein Auge zudrücken mußte.

Theo war beim Verlassen des Salons mit dem bewunderten Deckengemälde absichtlich etwas zurückgeblieben, um unauffällig den bewußten Flügel des Türvorhanges zurechtzuschieben und dabei in seiner Falte zu fühlen, ob der Brief, von dem Bergfried gesprochen, auch wirklich nicht mehr da sei. Und sie hatte richtig vermutet: Der Brief war nicht mehr da. Bergfried mußte ihn in der Faust zusammengeballt und wieder zu sich gesteckt haben, als sie ihm auf den Kopf zusagte, daß sie den Inhalt kenne, ohne ihn gelesen zu haben.

Die kleine Bitterkeit, die in ihr aufsteigen wollte, daß ihre Probe aufs Exempel so todsichere Wirkung gehabt hatte, war sicherlich ein ganz natürliches Gefühl; aber die Heiterkeit und Erleichterung hielt ihr wirkungsvoll die Waage. Es ist gewiß nicht angenehm, jemand zu leicht zu befinden, dem man halb und halb geneigt war, sein Lebensglück anzuvertrauen; aber immer noch besser, man wird beizeiten davon überzeugt, als wenn's zu spät dazu ist. War sie denn unehrlich gewesen, hatte sie eine einzige Unwahrheit gesagt? Er war Zeuge gewesen, wie sie von der stellvertretenden Hausfrau gedemütigt worden war. Daß ihm dies für Theo nahegegangen war, hatte sie ihm angesehen und sie in etwas versöhnt; denn es entsprang doch wohl dem Mitleid mit ihr, und war auch ein Beweis, daß ihm die Abfassung und das Zurücknehmen jenes Briefes schwer geworden und nahegegangen war. Und warum auch nicht? Auch Egoisten haben in ihrem Herzen irgendwo eine Stelle, die schmerzen kann, und Theo war ja nicht nur ein schönes, reiches, vielseitig gebildetes Mädchen, sondern zweifellos auch ein sehr liebenswertes.

»Haben Sie etwas verloren, Fräulein Zöllner? Soll ich suchen helfen?« fragte Leo Zimburgs Stimme in ihre Betrachtungen hinein; denn er war auch etwas zurückgeblieben und auch nicht ganz ohne Absicht.

,,Ja«, erwiderte Theo, angenehm berührt von der sympathischen Stimme. »Ich habe einen Gedanken verloren – wenn Sie mir den wiederfinden könnten, wäre ich Ihnen wirklich dankbar,«

,,Das schlägt leider nicht in mein Fach; dazu müßten Sie einen anderen anstellen«, versetzte er lachend. »Meine eigenen Gedanken fahren leider nur zu oft in unerreichbaren Gegenden herum; aber ich weiß, daß Sie einen davon ertappt haben und möchte Ihnen nachträglich gern dafür danken. Neulich, als ich meinen Besuch hier machte, da flogen meine Gedanken beim Anblick des lieben alten Saales zurück in die Zeiten, da er noch mir gehörte, und da sah ich denn, daß Sie ihnen gefolgt waren, und wußte, daß Sie fühlten und daran teilnahmen, was in mir vorging. Oder habe ich mich getäuscht? Aber nein, das glaube ich nicht; denn Leute in meiner Lage sind sehr empfindlich und – empfänglich für den kleinsten Brocken Sympathie.«

»Gewiß haben Sie sich nicht getäuscht, Graf Zimburg«, sagte Theo freundlich. »Erstens war's ja wohl nicht schwer, zu erraten, was in Ihnen vorgehen mußte, weil doch jedes Menschen Herz mehr oder weniger an seiner Scholle hängt; und dann, wer selbst ein Herz hat, kann und muß ja auch mit anderen fühlen können. Heute als Gast an derselben Tafel, an welcher Sie vordem als Herr gesessen sind – das wird Ihnen sicher Überwindung gekostet haben!«

»Weniger, wie man voraussetzen sollte«, meinte er warm. »Aber das Warum muß ich für mich behalten; Sie würden mich sonst auslachen.«

»Ist stellenweise auch ganz heilsam«, erwiderte sie harmlos. »Oft lache ich mich sogar selbst aus, und das wirkt immer wie Medizin. Denken Sie nur«, fuhr sie lebhaft fort, »daß mich Ihre Erzählung von Ihrem Urgroßvater ordentlich verfolgt hat! Ich bewohne nämlich sein Zimmer oben – das nach Osten gelegene mit den grünen Vorhängen. Ob es der Tisch war, der noch darin steht, auf dem er in der Nacht vor seinem Tode die Patience gelegt hat? In dem Bett hat er ja sicher nicht geschlafen, denn es ist funkelnagelneu. Aber in der Nische stand sicher früher sein eigenes Bett. – Ich wundere mich nur, daß mir in diesem Zimmer der Geist des alten Herrn noch nicht erschienen ist!«

»Der Sage nach soll er tatsächlich im Amönenhof ›umgehen‹, aber ich kann mich nicht rühmen, daß er mir jemals erschienen wäre«, versicherte Zimburg. »Leider nicht!« setzte er mit einem Seufzer hinzu. »Dann hätte er mir schon Rede stehen müssen.«

»Wegen dem Schatz?«

»Ja, natürlich! Mindestens aber doch, was er mit dem dummen Gedicht gemeint hat, wegen dem soviel unnützes Geld an diese Onkels von Experten hinausgeworfen worden ist.«

»Sie besitzen dieses Gedicht wirklich noch?«

»Wenn sich's nicht irgendwohin verkrümelt hat, muß es in dem Konvolut von Papieren sein, die ich törichterweise mit mir herumschleppte, aber nächstens mal verbrennen werde.«

»Das sollten Sie nicht tun – wenigstens nicht, ohne das Gedicht herausgesucht zu haben. Es muß doch irgendeine versteckte Botschaft enthalten.«

»Ich möchte daran zweifeln. Es ist solch altfränkisches Machwerk, das scherzhaft sein soll mit einer Moralpauke am Schluß, ohne die es damals die Dichter nicht taten.«

»Ich wollte, ich könnte es mal lesen«, rief Theo. »Solche Sachen interessieren mich nämlich mächtig, weil ich einen starken Stich ins Romantische besitze und neugierig wie eine Nachtigall auf solch alte, vergilbte und vermoderte Familienbesitztümer bin.«

»Nun, da kann Ihnen geholfen werden«, sagte Zimburg lachend. »Wenn ich das Ding noch habe, will ich es mit Vergnügen vertrauensvoll in Ihre Hände legen. Wer weiß –« er brach kurz ab und zuckte mit den Achseln.

»Ja, wer weiß!« wiederholte Theo. »Und da ich den Vorteil vor Ihren Experten habe, honorarfrei einzugestehen, wenn mir der Verstand vor der Botschaft Ihres Urgroßvaters stillsteht, so dürfen Sie's schon getrost wagen.«

Sie waren über diesem Geplauder wieder in dem großen Saal angelangt, wo durch irgendeine Lichtspiegelung die beiden Köpfe der Ahnenbilder aus den sich sammelnden Schatten des Abends heraustraten.

»Es ist wirklich merkwürdig, wie sehr Sie meiner Ahne Amöne ähnlich sehen«, bemerkte Graf Zimburg mit einem vergleichenden Blick. »Finden Sie es nicht selbst?«

»Ach, wer weiß es denn, wie er selbst aussieht?« meinte Theo ausweichend. »Denken Sie bloß mal an die Leute, die sich schminken und Perücken tragen. Alle bilden sich ein, daß kein Mensch ihre Anleihen erkennt, sondern sie für echt hält. Vielleicht, wenn mir der königliche Juwelenschmuck der Gräfin Amöne zur Verfügung stünde – – was mag wohl aus diesem Schmuck geworden sein?«

»Er soll der Tradition zufolge ja eben den berühmten Zimburgischen Schatz oder doch ein Teil davon bilden. Wenigstens trägt meine Urgroßmutter auf einem Miniaturbildnis, das in meinem Besitz ist, denselben Schmuck von Smaragden, Diamanten und Tropfenperlen, wie auf dem Bild hier die Gräfin Amöne. ›Corsage‹ nannte man, glaube ich, damals diese die ganze Brust des Leibchens bedeckende Verzierung. Dieser ganze Juwelenreichtum, den meine Ahne auf ihrer werten Person herumzuschleppen liebte, ist aber ein böser Zankapfel geworden, der meine väterliche Linie mit der ihrigen nicht nur seit nahezu dreihundert Jahren entzweit hat, sondern sogar bis heutigentags durch eine wahre Riesenschlange von einem Prozeß lebendig erhalten worden ist. ›Bis heute‹ ist natürlich nur figürlich und prinzipiell gemeint, denn wo nichts ist, da hat sogar der Kaiser das Recht verloren. Heute stehe ich als einziger Vertreter meiner Linie zwar immer noch auf dem Aktenfaszikel ›Contra‹ und die einzige Vertreterin der anderen, älteren Linie auf dem Aktenfaszikel ›Pro‹; aber damit hat's auch sein Bewenden! Der Wurm ist oder scheint schlafen gegangen zu sein. Natürlich ist das Recht auf unserer Seite; aber das hat der andere Teil nie einsehen wollen und die Berufungen und Neuklagen immer hübsch warm gehalten.«

»Wirklich? Und –« sagte Theo, mit sichtlichem Interesse zur Fortsetzung einladend. »Ja nun, wenn das so fortgeht, so wird man halt nächstens ein eigenes Archiv für die Akten dieses herrlichen Prozesses bauen müssen«, meinte Zimburg lachend.

»Ich meine, wieso ist Ihre Familie ›natürlich‹ im Recht?« fragte Theo lebhaft. »Die andere muß doch auch etwas anführen, worauf sie ihr Recht stützt!«

»Ach, das ist ja nur die reine Einbildung«, erklärte er gleichmütig. »Die Sache kam so: Die Gräfin Amöne, die vor ihrer Verheiratung mit ihrem Vetter auf Hohen-Zimburg als Waise bei ihrem Bruder lebte, erhielt von diesem die Juwelen als Brautschmuck zum Geschenk und nahm sie natürlich in die neue Heimat mit. Als der Bruder sich später selbst verheiratete, reute ihn das, und der forderte die ganze Geschichte unter dem Vorwand zurück, daß die Juwelen nur zur Hochzeitstoilette hergeliehen worden seien. Die Gräfin Amöne lehnte dieses Ansinnen natürlich ab, da die Juwelen ihr ohnehin durch ihre Mutter gehörten. Daraus ist dann der berühmte Zimburgsche Prozeß entstanden –«

»Nein, so war die Geschichte eben nicht«, fiel Theo mit großer Lebhaftigkeit ein. »Die Juwelen sind der Gräfin Amöne von ihrem Bruder vor Zeugen ausdrücklich nur für ihren Hochzeitstag geliehen worden. Sie hatte gar kein Anrecht auf den Schmuck ihrer Mutter, da dieser im Heiratsvertrag dem Allod einverleibt worden war. Die Zeugen dafür, ihre eigenen beiden Kammerfrauen, wurden aber beseitigt, und die schöne Amöne beharrte auf ihrer lügenhaften Aussage, woraus dann –«

Sie brach ab und wurde feuerrot, als sie den erstaunten Blick bemerkte, mit dem Graf Zimburg sie ansah.

»Ja, um alles in der Welt – woher wissen Sie denn das?« fragte er mit großen Augen. »Nun, natürlich von der anderen Linie«, erklärte sie schnell gefaßt.

»Na ja, dann –«, meinte er lächelnd. »Da war's ja ganz gut, daß Sie auch mal die Auffassung der meinigen hörten. Meiner Ansicht nach liegt die Wahrheit, wie bei allen solchen Streitfragen, in der Mitte, über welche die Herren Advokaten absichtlich oder unabsichtlich nicht hinüberkommen. Also, Sie kennen demnach die ›andere Linie‹, das heißt, meine unbekannte Namensbase, die zu sehen mir nie gelungen ist.«

»Wir – wir waren auf der gleichen Schule zusammen«, sagte Theo nach einer kurzen Pause.

»Wahrhaftig?« fragte er interessiert. »Ist sie nett?« »Ja, das müssen Sie mich nicht fragen: denn ich bin nicht unparteiisch«, erklärte Theo lachend mit vor Vergnügen strahlenden Augen. »Wir zwei sind nämlich ein Herz und eine Seele, haben dieselben Vornamen – kurz, es ist eine sogenannte dicke Freundschaft! Aber obwohl ich mich dadurch natürlich jener Auffassung des Zimburgschen Familienstreites angeschlossen habe, so stimme ich Ihnen doch darin bei, daß die Wahrheit in der Tat in der Mitte liegen dürfte, daß die ganze Sache vielleicht überhaupt nur auf einem Mißverständnis beruht, welches die ältere Linie leider arm gemacht hat.«

»Nun, also gesetzt den Fall, daß meine Ahne tatsächlich so verlogen war und, wie die andere Partei behauptet, die Zeugen, ihre beiden Kammerfrauen, wirklich um die Ecke gebracht hat, dann wäre der ›Fluch der bösen Tat‹ ja nun glänzend an ihren Nachkommen gerächt worden«, meinte Zimburg mit einem Seufzer. »Vielleicht hat diese Tatsache Ihrer Freundin einige Befriedigung gewährt.«

»Theodora Zimburg ist kein so niedrig denkendes Wesen. Es hat ihr im Gegenteil sehr, sehr leid getan, daß der Amönenhof in andere Hände kommen mußte«, versicherte Theo rasch und eindringlich.

»So? Nun, das ist wirklich nett von ihr. Aber sie kann sich diese Großmut ja auch leisten, denn wie ich höre, hat sie selbst eine reiche Verwandte beerbt.«

»Diese Bemerkung war nicht nett von Ihnen, Herr Graf, denn wie ich Theodora Zimburg kenne, sind ihre Gefühle ganz unabhängig von ihrem Geldbeutel«, erwiderte Theo nachdrücklich.

»Sie hat jedenfalls das Glück, eine echte Freundin zu besitzen, was sehr zu ihren Gunsten spricht«, erklärte er warm und mit unverhehlter Bewunderung. »Sie hätte den Amönenhof kaufen sollen – damit er nicht in andere Hände fiel«, setzte er nachdenklich hinzu. »Meine Idee ist das aber nicht, sondern die meines Rechtsanwalts, dem ich freilich verboten habe, damit an diese Tür zu klopfen – betteln zu gehen! Man hat wirklich manchmal ganz dumme Anwandlungen von Stolz und ich noch dazu den berüchtigten Zimburgschen Dickkopf.«

»Wie schade!« rief Theo bedauernd. »Wer weiß, wenn – wenn meine Freundin eine Ahnung gehabt hätte, daß der Amönenhof verkauft werden sollte – aber freilich, wer kann's sagen, denn – Theodora Zimburg hat auch ihr reichliches Erbteil dieses Dickkopfes erhalten«, setzte sie lachend hinzu.

Dieses Zwiegespräch hatte natürlich viel weniger Zeit beansprucht, als es niedergeschrieben werden konnte; denn es wurde von beiden Seiten mit großer Lebhaftigkeit geführt. Dennoch wurde seine Länge immerhin von Cordula mißbilligend bemerkt, die es sehr unpassend fand, daß eine »bloße Gesellschafterin« einen Gast des Hauses, dessen Brot sie aß, ungebührlich in Anspruch nahm, obwohl sie eben noch für den weit weniger auffallenden Fall mit Baron Bergfried gerügt worden war, ein neuer Strich auf dem Kerbholz »dieser Person«; aber schließlich war's doch besser, daß dieser »verkrachte Graf« sich der Gesellschafterin widmete, statt seine Angeln nach der Tochter des Hauses auszuwerfen. Es gelang ihr aber, besagten »verkrachten Grafen«, der immerhin doch einer war, der sich mit »dieser Person« in der Tür des Saales so vortrefflich zu unterhalten schien, an ihre grüne Seite heranzuwinken, um ihn über seine Beziehungen zur »anderen Linie« auszuhorchen. Nachdem er vorausgeschickt hatte, daß ihm die »andere Linie« total unbekannt sei, war er in seiner Harmlosigkeit eben im Begriffe, die Fragerin an Fräulein Zöllner zu verweisen, als Theo plötzlich emporsprang und ausrief:

»Ist das nicht ein Elmsfeuer dort auf dem See –? Da, am anderen Ufer, wo es schon ganz dunkel ist!« Das Naturphänomen, das indes nichts anderes war, als die Laterne einer Barke, die drüben am Ufer entlang fuhr, brachte für einen Augenblick die Gruppe um den Tisch in Bewegung. Auch Zimburg, froh, auf so gute Manier von der ihm sehr unsympatischen Gan-Erbin loszukommen, sprang auf und trat an Theos Seite, die, an das Geländer der Terrasse gelehnt, das allerdings geisterhaft genug aussehende Licht beobachtete und ihm rasch zuraunte:

»Bitte, sagen Sie niemand, daß ich Gräfin Zimburg kenne. Ich habe meine Gründe dafür, die ich Ihnen gelegentlich mal mitteilen will.«

Und ohne seine Zustimmung abzuwarten, trat sie wieder zurück an den Tisch.

Leo Zimburg folgte ihr etwas verwundert, aber ohne besonders über die erhaltene Weisung nachzugrübeln; denn er war der harmloseste Mensch der Welt, und wenn ihm die Sympathie, die solche Naturen selten zu trügen pflegt, zu jemand hinzog, dann blieb er ihr auch treu durch dick und dünn. Nun konnte er sich zwar gar nicht denken, warum Theo ihre Bekanntschaft mit seiner unbekannten Namensbase in diesem Hause zu verleugnen wünschte; aber er zweifelte nicht, daß ihre Gründe hierfür durchaus lautere und vollwichtige seien, und diese Überzeugung wurzelte bei ihm einzig in der Teilnahme, die er in ihren Augen las, als er den Amönenhof zum ersten Male als Fremder betrat. Dieser Blick des Verstehens und der Sympathie war ihm unvergeßlich und hatte ihn mit einer Dankbarkeit erfüllt, die ihn für manche bittere Stunde der Vergangenheit tröstete, ihn mächtig zu ihr hinzog, und seine momentane Verwunderung schwand wie Schnee in der Sonne vor dem Blick ihrer Augen, die ihn mit so freundlichem Verstehen angeschaut.

Seinen Platz neben Cordula fand er zu seiner Erleichterung durch Bergfried besetzt, den sie inzwischen an ihre Seite gewinkt hatte, um ihn über seine Tätigkeit auszufragen. »Ihr Beruf hat nämlich für mich etwas geradezu Faszinierendes, Herr Baron«, versicherte sie ihm. »Nicht nur, weil er doch eigentlich das Monopol für die Aristokratie ist –«

»Verzeihung, wenn ich unterbreche«, fiel Bergfried ein. »Halten gnädiges Fräulein die Monopolisierung der Diplomatie durch die Aristokratie für einen staatlichen Vorteil? Ich meine, würden Sie also einem unfähigen Aristokraten unter allen Umständen vor einem fähigen Bürgerlichen in diesem Berufe den Vorzug geben?«

»Nein«, erwiderte Cordula hörbar für jedermann, »ich hoffe für alle Fälle, daß das bürgerliche Element sich nicht auch in diesen bisher exklusiven Beruf hineindrängen wird. Die zuständigen Stellen werden über fähig oder unfähig wohl zu unterscheiden wissen, jedenfalls aber die ersten Plätze der diplomatischen Laufbahn auch den ersten Familien reservieren, was wohl ganz gewiß auch Ihre Meinung ist.«

»Gnädiges Fräulein wollen gnädigst verzeihen – aber das ist ganz und gar nicht meine Meinung«, versicherte Bergfried mit eisiger Höflichkeit. »Der Staat ist ja doch kein Ballsaal, in welchem die flottesten Beine den Vorzug vor den klügsten Köpfen haben, die nicht tanzen können. Ich bin der Ansicht, daß die Diplomatie sich nicht aus Rang und Stand, sondern aus Fähigkeit und Verstand rekrutieren muß, wenn nicht in entscheidender Stunde einmal ein völliges Versagen eintreten soll.«

»Das sind jedenfalls sehr liberale Ansichten, die mich bei Ihnen, als einem Vertreter der Aristokratie, ein wenig überraschen«, versetzte Cordula.

»Sie tun mir zuviel Ehre an, meine Gnädigste«, erwiderte Bergfried mit einem frostigen Lächeln. »Als Vertreter der Aristokratie habe ich mich in meiner angeborenen Bescheidenheit nämlich noch nicht zu fühlen gewagt, da mein Adelstitel erst ein paar Jahre alt ist. Mein Vater, der Regierungsbeamter ist, wurde gelegentlich eines Provinzialjubiläums in den Adelsstand erhoben, und wenn man die Güte hat, mich ›Herr Baron‹ zu titulieren, so ist das nichts als ein Höflichkeitstitel, auf den ich nicht den geringsten Anspruch erheben kann. Ob das einfache ›von‹ als Anhängsel an meinen alten, gutbürgerlichen Namen allein mich in den Ring des aristokratischen Monopols hineingeschmuggelt hat, wage ich nicht zu entscheiden.«

»Aber die Bergfrieds von Hohenfriedberg gehören doch zum Uradel!« widersprach Cordula, etwas aus der Reihe gebracht.

»Daran zweifle ich nicht«, erwiderte der Diplomat gelassen. »Ich weiß aber wirklich ganz sicher, daß ich nicht zu dieser Familie gehöre, habe indes nichts gegen die Namensvetterschaft und will nur hoffen, daß es auf der anderen Seite ebenso ist. Aber auch für den Fall, daß die uradeligen Bergfrieds gegen die neugebackenen Stellung genommen haben sollten, muß man sich eben zu trösten wissen.«

Cordula wußte nicht recht, was sie dazu sagen sollte und schloß natürlich in dem Bestreben, den ersten Bock wieder lebendig zu machen, einen zweiten. »Nun, auf alle Fälle hat das adelige ›Anhängsel‹, wie Sie das nennen, Ihnen die Pforten zu einem Beruf eröffnet, der, wie gesagt, für mich etwas Faszinierendes hat –«

»Mein Kopf bedankt sich tiefgerührt für das Kompliment«, flocht Bergfried nun ehrlich belustigt ein.

»Faszinierendes hat«, wiederholte Cordula hartnäckig, denn sie fühlte, daß es besser sei, sich nicht zu entschuldigen oder irgendwelche Erklärungen zu stammeln. Außerdem verfolgte sie ein bestimmtes Ziel, das sie nicht im Sinn hatte sich entschlüpfen zu lassen. »Wäre ich als Mann geboren«, fuhr sie schwärmerisch fort, »so wäre ich sicher Diplomat geworden, oder hätte ich mich entschließen können, zu heiraten, dann hätte mein Gemahl der Diplomatie angehören müssen. Ich denke es mir so ungemein fesselnd, beim Knüpfen dieser vielfach verschlungenen Fäden helfen zu können, sie zu lösen, in ihre Geheimnisse einzudringen – eingeweiht zu werden mit einem Wort! Da sind zum Beispiel die geheimen Agenten, die mich höchlich interessieren. Was halten Sie davon, Herr Baron?«

»Lieber Gott – ich halte sie einfach für ein notwendiges Übel.«

»Oh, wirklich? Wohl hauptsächlich darum, weil ja leider auch Frauen in ihren Reihen stehen sollen – tatsächlich stehen, wie die fatale Geschichte von dem Gesandten in Berlin bewiesen hat, bei welchem eine solche Person in der Maske der Erzieherin eingedrungen war. Sie erinnern sich der Sache doch?«

»Sie ist wenigstens in allen Zeitungen zum angenehmen Gruseln des lieben Publikums sattsam breitgetreten worden.«

»Ja, ist sie also wahr? Halten Sie so etwas für möglich?«

»In dieser Welt ist alles möglich, gnädiges Fräulein.«

»Das ist eine recht – diplomatische Antwort, lieber Herr von Bergfried! Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob man diese Person damals dingfest gemacht hat; aber ihre Auftraggeber, also ihre Regierung wird sie ja wohl geschützt haben, nicht wahr?«

»Schwerlich. Der Geheimagent übernimmt sein Amt unter der Voraussetzung der eigenen Verantwortlichkeit. Läßt er sich erwischen, dann wird er von seinem Auftraggeber fallen gelassen.«

»Ah, das ist sehr interessant; denn es läßt dem Geschädigten wenigstens die Tür zur Vergeltung offen. Diese geheimen Agenten und – Agentinnen haben für mich etwas Unheimliches; denn man kann ja nie wissen, ob nicht einer – oder eine am eigenen Tisch mit einem sitzt. Mein Schwager hat ja auch seine Geschäftsgeheimnisse, denen nachzuspüren sich lohnt, nicht wahr?«

»Darüber habe ich wirklich kein Urteil, gnädiges Fräulein«, wich Bergfried aus, aber Cordula ließ nicht locker.

»Wirklich nicht?« fragte sie mit ungläubigem Lächeln. »Ich habe mir aber sagen lassen, daß irgendeine Regierung immer ein Interesse daran hat, ob eine andere Bestellungen an Geschützen und Munition bei diesem oder jenem Werke gemacht hat ... Sie sehen, ich bin gar nicht so ununterrichtet, wie man es bei Damen gewöhnlich annimmt! Und darum sind fremde Elemente in unserem Hause immer verdächtig. Je eher sie daraus wieder entfernt werden, um so besser ist es. Mein Schwager ist in dieser Richtung so sorglos, so leichtsinnig, möchte ich sagen, da ist es wirklich ein Glück für ihn, daß ich da bin und die Augen für ihn offen halte.«

»Ihr Herr Schwager wird das jedenfalls im vollsten Umfang und dankbaren Gemütes zu schätzen wissen«, sagte Bergfried salbungsvoll mit einer Ironie, die ihr aber gänzlich entging; denn sie dachte befriedigt: »So, nun hat er seine Warnung und kann sich darnach richten! Die nächste Zeit wird es ja zeigen, daß und wie meine Worte gewirkt haben.«

Kammerherr von Willig war der erste, der zur Heimfahrt nach sehr herzlicher Verabschiedung von seinen Wirten aufbrach, und bald nach ihm fuhren auch die Herren aus Steinau ab.

»Wirklich kolossal netter alter Knabe, dieser Reudnitz«, meinte Mühling unterwegs. »Wenn schon ein anderer den Amönenhof haben mußte, dann ist er jetzt wenigstens in guten Händen, was für dich, Leo, mein Junge, freilich ein schlechter Trost ist, aber immerhin doch wenigstens einer. Hat mich riesig gefreut, daß Reudnitz das alte Haus nicht modernisiert und im Knallprotzengeschmack verschandelt hat. Überhaupt war von Protzerei nichts zu merken; die ganze Geschichte war im besten Stil gehalten. Die Kleine ist ja so'n bißchen ein Kümmerling, kann sich aber noch 'rausmausern. Anfangs war der Mund dem kleinen Dinge einfach zugefroren; Willig hat sie zuletzt aber faktisch aufzutauen verstanden. Ist Willigs Spezialität! Die Tante aber – Herrschaft! Das Blaue vom Himmel hat sie mir über ihre poplige Gan-Erbschaft vorgequasselt! Greuliches altes Reff, diese Tante!«

»Amen!« sagte Bergfried inbrünstig.

Mühling schlug ein Gelächter auf, daß die Pferde anfingen zu galoppieren. »Scheint Sie auch mit der Gan-Erbschaft beglückt zu haben, was?«

»Nee; mit mir hat sie fachgesimpelt«, erwiderte Bergfried trocken. »Wo sie aber damit hinaus wollte, ist mir total schleierhaft geblieben.«

»Übrigens, um niemand zu kurz kommen zu lassen«, fuhr Mühling fort, »da ist doch diese Gesellschafterin. Donnerwetter, ist das ein Weib! Otto Bellmann! Und blitzgescheit. Mich wundert's bloß, daß sie die neben ihrem Kümmerling von Tochter aufbauen! Neben der verblaßt ja sogar die olle Tante samt ihrem Puder, ihren geschminkten Lippen und ihrer kastanienbraunen Perücke! Warum ist diese Farbe übrigens so beliebt für ›falsche Behauptungen‹? Ich weiß nicht, dieses Rotbraun schreit doch geradezu das Wort ›Anleihe‹ heraus und macht die Gesichtszüge so hart. Warum also, frage ich?«

Da der Gutsherr von Steinau von seinen beiden Gästen keine Antwort erhielt, so machte er die Augen zu und schlief sofort ein. – –


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