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2. Kapitel

Am Mittagstische des Kommerzienrats Jakob Reudnitz auf Amönenhof herrscht jene gewitterschwüle Stimmung, die man als »ungemütlich« zu bezeichnen pflegt. Wenn der Kreis groß ist und dazwischen ein Mitglied der Tafelrunde mit der Miene eines Schlachtopfers sitzt und das tut, was man gemeinhin ›maulen‹ nennt, dann braucht die allgemeine Gemütlichkeit darunter nicht zu leiden, sondern nur die des ›Maulenden‹; besteht aber der ganze Kreis nur aus drei Personen, dann regiert die Ungemütlichkeit in vollstem Umfang und ungeschwächt.

Dem Kommerzienrat, einem mittelgroßen und etwas schmächtigen älteren Herrn mit angegrautem Haar und kurzgeschnittenem, fastweißem Vollbart hätte ein oberflächlicher Beobachter kaum den zielbewußten Charakter angesehen, durch den er sich vom schlichten Schlossergesellen zum weltmarktbeherrschenden Großindustriellen emporgearbeitet hatte. Er tat mit schöner Beharrlichkeit so, als merkte er nichts von einer herrschenden Ungemütlichkeit, aber aus dem Hause schaffte er sie damit doch nicht, besonders, da die Urheberin dieses Zustandes ihrerseits so tat, als säuselte der Wind in den Blättern, wenn er das Wort an sie richtete. Natürlich kann das nur ein weibliches Wesen zuwege bringen; denn ein Mann, und wäre er der allergrößte Ekel, wäre niemals imstande, mit Ausdauer die ›geknickte Lilie‹ zu spielen. In ihrem bürgerlichen Dasein hieß sie Cordula, Freiin von Ganting, Gan-Erbin auf Burg Ganting, und war die Schwester der etwa vor zwei Jahren verstorbenen Frau Reudnitz; seitdem vertrat sie aus eigener Machtvollkommenheit bei dem Kommerzienrat die Stelle der fehlenden Hausfrau und war zugleich die Ehrendame seiner Tochter. Ihre Nichte, ein achtzehnjähriges, bleichsüchtig und verschüchtert aussehendes schmächtiges Mädchen, mit einem kleinen, schmalen Gesichtchen, das zwar nicht absolut reizlos, aber herzlich unbedeutend war, saß wie ein naß gewordener, junger Spatz zwischen Vater und Tante, Sie ließ ein Paar allzu hellblaue Augen ängstlich zwischen beiden hin und her irren, ungewiß, ob sie für die eine oder die andere Partei eintreten durfte oder sollte, ob eins von beiden das etwa von ihr erwartete oder ob übersehen zu werden, die Rolle, die sie zweifellos spielte, nicht der bessere Teil sei.

Der Casus belli aber, der diese ungemütliche Stimmung schon seit mehr wie einer Woche ausgelöst hatte, war eine dritte, oder besser gesagt, vierte Person, die an der ganzen Sache so unschuldig war, wie ein Säugling im Steckkissen – eine Person, deren Erscheinen noch dazu für heute fällig war. Der Kommerzienrat hatte nämlich eines schönen Tages ohne vorbereitende Umschweife erklärt, daß er für seine Tochter Sabine eine junge Gefährtin und Gesellschafterin gesucht und gefunden und zunächst für die Sommermonate verpflichtet habe; demgemäß sei ein Zimmer, das er genau bezeichnete, neben dem seiner Tochter gelegen, zur Aufnahme der jungen Dame, Fräulein Anna von Ried, herzurichten, damit es bei ihrer Ankunft an dem und dem Tage bereit sei.

Das leichte Erröten freudiger Überraschung, das sich bei dieser Ankündigung über Sabinens blasses Gesichtchen ergossen, wich umgehend einer erschrockenen Blässe, als die Tante, die sich von ihrem ersten Erstaunen rasch erholte, zornesrot auffuhr: »Was? Ohne mich zu fragen, ohne eine so wichtige Angelegenheit vorher mit mir zu besprechen, hast du hinter meinem Rücken, über meinen Kopf weg eine – eine Gesellschafterin für Sabine engagiert?«

»Sehr richtig«, hatte der Kommerzienrat mit der Seelenruhe bestätigt, die er überhaupt während der ganzen kritischen Tage nie verloren hatte. »Ich begreife nur nicht ganz, was dich zu diesem Erstaunen veranlaßt; denn Sabine ist doch meine Tochter, und meine Sache ist es demnach, für sie zu tun, was ich für gut und richtig halte.«

»Nun, Sabine ist aber auch meiner einzigen, verewigten Schwester Kind, bei dem ich seit zwei Jahren Mutterstelle vertrete – ein Amt, das meine Schwester mir sterbend anvertraut hat!« versetzte Fräulein von Ganting heftig.

»So? Das ist mir neu! Hast du das schriftlich?« erkundigte sich der Kommerzienrat mit unerschütterlicher Ruhe. »Da meine liebe Frau leider unerwartet starb, als du zufällig mal nicht auf Besuch bei uns warst, muß sie dir also dieses Amt schriftlich übertragen haben; es wäre mir sehr lieb, wenn du mir dieses wichtige Dokument mal zeigen wolltest. «

»Ich – ich habe den Wunsch auf ihren erkalteten, stummen Lippen gelesen«, murmelte sie nach einer Pause unleugbarer Verlegenheit.

»Aha! Na, dann hast du mehr gelesen, wie ich; denn mit noch warmen Lippen versicherte mir deine Schwester, daß sie mir Sabine getrost zurücklasse, da sie mich für einen guten Vater hielte. Du warst ja dabei, Sabinchen, und kannst es der Tante bestätigen«, erwiderte Reudnitz. »Was nun meine Gründe anbelangt, die mich zu diesem Schritt bewogen haben, so liegen sie auf der Hand: Du und ich, wir sind über die erste Jugend heraus – eine Tatsache, die du anerkennen wirst, namentlich da du die ältere Schwester meiner seligen Frau bist. Jugend aber braucht Jugend, und darum ist es dringend geboten, daß mein Mädel die Gesellschaft einer Altersgenossin erhält, bevor sie unrettbar geistig verhuzelt. Ist das klar?«

Wieder leuchtete es in Sabinens Augen freudig auf; die kluge und berechnende Tante Cordula aber beging eine jener Dummheiten, denen auch der klügste oder »gerissenste« Mensch stellenweise unterworfen ist: Sie brach in Tränen aus.

»Daß du mir auch noch mein Alter vorwerfen mußt!« schluchzte sie. Nun aber war Reudnitz nichts so verhaßt, als ›ein Geheule um jeden Quark‹. Solche Tränen machten ihn nicht weich, sondern erreichten bei ihm nur das genaue Gegenteil der beabsichtigten Wirkung.

»Quatsch!« brummte er ziemlich deutlich in seinen Bart und setzte laut hinzu: »Das nennt man einen Grund zum Heulen mit den Haaren herbeiziehen, liebe Schwägerin! Laß es, bitte, bei diesem ersten Versuch bewenden; denn deine Tränen werden nicht das geringste ändern. Soweit mußt du mich endlich doch kennengelernt haben, daß ich nichts unüberlegt zu tun pflege.«

Cordula mußte wohl eingesehen haben, daß sie einen falschen Schachzug getan hatte; denn sie trocknete hastig ihre Augen und setzte das Gefecht auf einer anderen Seite fort.

»Ich möchte bestreiten, daß eine total fremde Person, von der wir absolut nichts wissen, eine geeignete Gesellschaft für ein so sorgsam behütetes Wesen, wie Sabine, ist«, sagte sie gereizter, als sie zeigen wollte.

»Bin ich von heute und gestern, daß du mir zutraust, keine Erkundigungen über eine Person einzuziehen, die ich meinem Kinde zur Gefährtin geben will?« fragte Reudnitz lachend. »Habe ich dir wirklich solch einen – harmlosen Eindruck gemacht? Das spricht nicht sehr für deine Beobachtungsgabe, aber ich kann dich darüber vollständig beruhigen. Nicht nur, daß ich über Fräulein von Rieds Familie, Vorleben, Charakter und Fähigkeiten sehr befriedigende Referenzen besitze, ich habe neulich sogar ihre persönliche Bekanntschaft gemacht und bin überzeugt, daß sie Sabine und dir ebenso gut gefallen wird, wie sie auf mich den besten Eindruck gemacht hat. Das genügt wohl.

»Es genügt mir nicht«, erklärte Fräulein von Ganting scharf. »Nun wir werden ja sehen, was dabei herauskommt. Das Ende vom Liede wird sein, daß du in die Netze einer schlauen, berechnenden Intrigantin fällst, und – nun, du wirst ja verstehen, was ich meine, ohne daß ich es ausspreche. Ich protestiere gegen diese Gesellschafterin, denn ich kenne die Sorte zur Genüge.«

»Schön! Ich nehme deinen Protest zur Kenntnis«, schmunzelte der Kommerzienrat. »Deine Kenntnis ›dieser Sorte‹ soll dir unbestritten bleiben, da du ja selbst in deinen jüngeren Jahren zu ihrer Zunft gehört hast, und natürlich über ihre Zwecke und Ziele genau Bescheid wissen mußt. Tja – man sucht bekanntlich niemand hinterm Ofen, wenn man nicht selber dahinter gesteckt hat.«

Ehe Tante Cordula, feuerrot geworden, eine Erwiderung finden konnte, war Reudnitz aufgestanden und zur Tür gegangen, wo er sich nochmals umdrehte und sehr betont sagte:

»Was deine Gefühle in dieser Sache auch sein mögen, werte Schwägerin, und so wenig verständlich mir dein Widerspruch ist – eins erwarte ich mit Nachdruck von dir: nämlich, daß Sabine nicht systematisch gegen eine Gefährtin aufgehetzt wird, ehe diese den Fuß auf meine Schwelle gesetzt hat. Ich hoffe, du hast mich verstanden! Komm, Sabinchen, wir wollen eine Kahnfahrt miteinander machen.«

Der Spieß, den der Kommerzienrat so wirkungsvoll gegen seine Schwägerin umgedreht hatte, verbesserte ihre Laune nicht, wie man sich leicht vorstellen kann. Ihr Widerstand gegen ein fremdes Element im Hause erklärte sich leicht daraus, daß sie dadurch nicht ganz ohne Berechtigung eine Verminderung ihres Einflusses auf ihre Nichte fürchtete, deren Wille bisher ganz unter dem ihrigen gestanden hatte, weil sie dem jungen Mädchen überhaupt keine Gelegenheit gestattete, einen eigenen Willen bei sich zu entdecken oder gar zur Geltung zu bringen. Cordula hatte seit dem Tode ihrer Schwester im Hause ihres Schwagers, den sie seiner bescheidenen Herkunft wegen entschieden für minderwertig hielt, mit souveräner Gewalt geherrscht, und seine Duldung des Status quo ihrer überlegenen Stellung zugeschrieben, dem Übergewicht der Aristokratin gegenüber dem Plebejer. Denn der Adelsstolz war eine ihrer hervorstechendsten Eigenschaften, und nie vergaß sie zu betonen, daß sie Gan-Erbin von Burg Ganting war. Daß sie als ein blutarmes Mitglied dieser ehedem freiherrlichen aber längst stark herabgekommenen Familie in deren Stiftung auf Burg Ganting eine höchst bescheidene Unterkunft gefunden, nachdem sie ihre Jugend und den größten Teil ihrer reiferen Jahre als Gesellschafterin in fremder Dienstbarkeit zugebracht hatte, tat ihrem Stolz auf ihre Gan-Erbschaft keinen Abbruch. Daß ihre jüngere Schwester sich herabgelassen, einen »Emporkömmling« zu heiraten, verurteilte sie zwar vor jedem, der's hören wollte, es hinderte sie aber durchaus nicht, sich möglichst oft an den Fleischtöpfen ihres Schwagers niederzulassen und endlich ganz daran Platz zu nehmen.

Cordula von Ganting war eine sehr stattliche Erscheinung; ihre stolzen, regelmäßigen Züge, die eine auffallende Ähnlichkeit mit der bekannten Büste der jüngeren Agrippina hatten, wären auch heute noch schön zu nennen gewesen, hätte sie nicht der leider recht weit verbreiteten Untugend gehuldigt, sich durch künstliche Mittel verjüngen zu wollen. Sie puderte sich ihr Gesicht, färbte sich ihre feingeschnittenen Lippen rot, und trug dazu noch eine kastanienbraune, schön frisierte Perücke, deren Preis ein riesiges Loch in ihre Ersparnisse gerissen haben mußte. Natürlich täuschte sie mit diesen Künsten niemand anders, als sich selbst; denn der natürliche Verfall der Züge wird durch künstliche Mittel nicht verhüllt, sondern nur um so auffallender.

Nach der ersten Schlacht, die Cordula mit ihrem Schwager um die Herrschaft über ihre Nichte geschlagen und verloren hatte, zog sie andere Saiten auf. Zunächst spielte sie die Rolle der Beleidigten, wozu sie nach seinem direkten Angriff Berechtigung zu haben glaubte und in seinen Augen wohl auch haben durfte; denn als er sie zum ersten Male danach wiedersah, gab er ihr die Hand und sagte gutmütig, wie er überhaupt war:

»Na, nichts für ungut, Schwägerin! Laß dir's zur Lehre dienen, daß man die Leute nicht reizen soll. Ich bin wahrhaftig der letzte, der jemand etwas vorwerfen würde, was ihm eigentlich nur zur Ehre gereichen kann. – Im übrigen bleibt's natürlich dabei.«

Cordula war viel zu klug und zu berechnend, um nicht einzusehen, daß dies eine Entschuldigung sein sollte, und daß es unweise wäre, sie nicht für eine solche anzunehmen. Da sie darnach die Rolle der Beleidigten nicht mehr spielen konnte, fiel sie auf die der »geknickten Lilie«. Sie sprach nicht, sie aß nicht – wenigstens nicht, wenn der Kommerzienrat dabei war – sie tat, als hörte sie nicht, wenn er mit ihr sprach, und zeigte sich ständig mit geröteten Augenlidern, deren Farbe höchst verdächtig der ihrer Lippen glich, nur etwas weniger stark aufgetragen. Damit erreichte sie auch, daß Reudnitz sie nach ein paar Tagen fragte, »was denn los sei? Ob ihr etwas fehle?« Und nach einem geschickten Zögern gestand sie, »es zehre an ihr, daß man ihr Sabine entfremden und entziehen wolle«.

»Stuß!« hatte der Kommerzienrat darauf gesagt und keine Notiz mehr von ihr genommen. Da sie aber der Meinung war, daß steter Tropfen den Stein höhlt, und die Zeit zudem drohend vorrückte, so beharrte sie in ihrer Rolle und erreichte damit glücklich jenen Zustand permanenter Ungemütlichkeit, von dem in dieser wahren Geschichte bereits die Rede war, ohne jedoch damit zu erreichen, was sie wollte.

Die ungemütliche Mittagsmahlzeit verlief genau nach dem Schema ihrer Vorgänger, seit die bevorstehende Ankunft von Fräulein von Ried als drohende Wolke den Horizont des Amönenhofs verdunkelte. Fräulein von Ganting schien den Höhepunkt ihrer melancholischen Niedergeschlagenheit erreicht zu haben, und wenn sie bisher von den ihr gereichten Speisen ein Minimum genommen, um es dann auf ihrem Teller unberührt liegen zu lassen, so lehnte sie heute auch das ab, so daß Sabine, die bisher nur eine stumme Zuschauerin war, nicht umhin konnte, ängstlich zu bemerken, »daß Tante es wirklich doch so nicht weiter treiben könnte, ohne ernstlichen Schaden an ihrer Gesundheit zu nehmen«. Kaum aber, daß Tantchen mit einem wehmütigen Lächeln und vielsagendem Kopfschütteln ihre Meinung mit ersterbender Stimme durch ein »Laß mich, Kind!« eingeleitet hatte, bemerkte der Kommerzienrat gemütlich:

»Zum Essen muß man niemand zwingen, Sabine, wenn er keinen Appetit hat. Die menschliche Natur weiß in solchen Fällen am besten, was ihr not tut. Wenn ich mir aber einen Rat erlauben darf, so wäre es der, es einmal mit Rizinusöl zu probieren.«

Cordula faltete ergeben ihre immer noch schönen, weißen, wohlgepflegten Hände, an denen einige alte Gantingsche Familienringe blitzten, und schlug ihre dunklen, schimmernden Augen zur Decke auf.

»Mir bricht das Herz, und dagegen wird mir – nein, ich kann es nicht wiederholen, was, verordnet!« hauchte sie im Theaterflüsterton.

»Siehste, das ist auch ein Zeichen innerer Störungen«, meinte Reudnitz teilnehmend. »Der Franzose nennt solche Zustände sehr treffend ›mal du coeur‹, weil man dabei das Gefühl des Herzbrechens hat. Solltest du kein Rizinusöl besitzen, – ich habe welches in meiner Hausapotheke. Es war das Allheilmittel meiner Mutter selig. Gut schmeckt's ja nicht, aber wenn man schwarzen Kaffee nachtrinkt, dann –«

Weiter kam er mit seiner Belehrung nicht, denn der Diener trat ein und überreichte ihm ein Telegramm. Reudnitz aß ruhig seine Erdbeeren auf, öffnete dann die Depesche, las sie, las sie noch einmal, machte dann »Hm!«, sah sich im Kreise um und zog die Augenbrauen hoch, was bei ihm immer ein Zeichen war, daß irgend etwas nicht ganz nach Wunsch ging.

»Doch nichts Unangenehmes, Vater?« fühlte Sabine sich verpflichtet ängstlich zu fragen.

»Hm!« machte der Kommerzienrat noch einmal. »Wie man's nehmen will. Telegraphiert mir da ein Sanitätsrat – wie heißt er? Müller! – ›Anna von Ried an typhösen Erscheinungen erkrankt im Städtischen Hospital. Krankheitsdauer unbestimmbar, voraussichtlich für längere Zeit dienstunfähig. Stellvertreterin mit besten Referenzen trifft wie verabredet Amönenhof ein ‹ – Da haben wir die Bescherung.«

»Die Arme!« wagte Sabine ihrer Teilnahme Worte zu geben.

» Ja, ja! Natürlich tut mir das arme Mädel auch sehr leid«, rief Reudnitz ungeduldig. »Mit der ›Bescherung‹ meinte ich ja auch nur –«

»Die Stellvertreterin«, fiel Tante Cordula mit wesentlich gestärkter Stimme ein. »Kennst du diese – Ungenannte?«

»Woher soll ich sie denn kennen? Man macht doch kontraktlich nicht gleich eine Stellvertretung aus, wenn man eine Person engagiert!« rief der Kommerzienrat heftig, fuhr aber dann ruhiger fort: »Es ist ja sehr nett und rücksichtsvoll von dem armen Mädel, daß sie einen nicht im Stich lassen will und gleich einen Ersatz abschickt, aber eigentlich – na ja, eigentlich hätte dieser Sanitätsrat doch erst anfragen müssen, ob's einem auch recht ist. Gegenorder nützt nichts mehr, denn der Ersatz, wer immer es auch ist, muß schon seit zwei Stunden unterwegs sein und trifft in weiteren zwei Stunden und zwanzig Minuten auf der Station Weißenfels ein. Hm! Da bleibt nichts anderes übrig, als daß ich selbst zur Abholung fahre; das heißt, ich werde mir die Stellvertreterin mal erst ansehen und ihr auf den Zahn fühlen. Ist nichts mit ihr, dann gibt man ihr das Reisegeld und meinetwegen auch eine Entschädigung und schickt sie mit dem nächsten Zuge wieder zurück. So wird's gemacht.«

»Ich will dir das sehr, sehr gern abnehmen, lieber Jakob«, sagte Tante Cordula liebenswürdig und mit scheinbar ganz wieder hergestellten Lebensgeistern.

»Ich danke vielmals, aber der liebe Jakob wird sich sehr, sehr gern selbst bemühen«, erwiderte Reudnitz verbindlich und kniff dabei ein Auge zu. »Erstens habe ich volles Vertrauen zu meiner Menschenkenntnis, und zweitens ordnet ein Mann Geschäftsfragen, wie sie sich notgedrungen ergeben, falls die Dame mir irgendwie nicht passen sollte, entschieden besser. Ich habe auch darin einige Erfahrung. Und drittens – überhaupt! Ich fürchte nämlich, daß die Ungenannte unter keinen Umständen Gnade vor deinen Augen finden dürfte.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, legte der alte Herr seine Serviette zusammen und stand auf.

»Schlage meinen Rat nicht ohne weiteres mit jugendlichem Übermut in den Wind, Cordula, sondern nimm Rizinusöl«, schmunzelte er mit funkelnden Äuglein und entfernte sich, um bei einer Zigarre die neue Lage mit Ruhe zu überlegen.

Nicht ohne eine gewisse Spannung fand er sich mit seinem Auto zu dem mit Fräulein von Ried verabredeten Schnellzuge auf der Station des Städtchens Weißenfels ein. Über seiner Handvoll Häuser mit dem uralten Rathaus in der Mitte, thronte auf waldigem Hügel die Stammburg und ehemalige Residenz der jüngeren Linie der nun vereinten Herzogtümer Weißenfels malerisch und imponierend.

Der Reiseverkehr von Weißenfels ist auch zur Zeit, da Sommerfrischler gern das idyllisch gelegene Städtchen aufsuchen, nicht gerade überwältigend, und da aus dem heransausenden Schnellzuge nur drei Personen ausstiegen, zwei Geschäftsreisende und eine Dame, so wurde es dem Kommerzienrat leicht gemacht, die Erwartete gleich festzustellen. Das tat er denn auch mit einem nur halb unterdrückten »Donnerwetter noch mal!«

Man macht sich von unbekannten Personen, mit denen man zusammenkommen soll, gern vorher ein ungefähres Bild, und dieses hatte bei Reudnitz sonderbarerweise die Gestalt einer eckigen und etwas ruppig aussehenden, »älteren jungen Dame« angenommen. Die Dame, die ihm auf dem Bahnsteig entgegentrat, sah wirklich wie das aus, was man unter dieser Bezeichnung versteht, vor allem aber war sie das Bild blühender Jugend, keineswegs »eckig« und von einer Schönheit, welche die mehr liebliche Erscheinung der erkrankten Anna von Ried sehr in den Schatten stellte.

Tannenschlank, im einfachen, aber tadellos gearbeiteten grauen Kostüm mit weißer Hemdbluse wäre sie bei ihrer aufrechten Haltung selbst im Gedränge nicht leicht zu übersehen gewesen. Der Kopf mit dem wundervollen, wie reife, goldene Ähren leuchtenden Haar unter dem einfachen Panamahut aber war wirklich bezaubernd; das reine Oval des Gesichtes wurde belebt und anziehend durch den Ausdruck innerer, echter Liebenswürdigkeit und Klugheit.

»Donnerwetter!« murmelte der Kommerzienrat noch einmal vor sich hin, und indem er den Hut zog, trat er ihr in den Weg und sagte mit leichter Unsicherheit: »Mein Name ist Reudnitz. Ich habe doch das Vergnügen, die – die Stellvertreterin von Fräulein von Ried vor mir zu sehen?«

»Ja, die bin ich«, erwiderte die junge Dame ohne jede Verlegenheit. ''Es ist wirklich sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie selbst gekommen sind, Herr Kommerzienrat. Da ich nichts über eine Abholung erfahren hatte, so habe ich mich schon gefragt, wie man eigentlich nach Amönenhof gelangen könnte – per pedes oder mit Wagen.

»Letzteres ist unter Umständen wegen der Entfernung von reichlich zehn Kilometern vorzuziehen«, versetzte Reudnitz mit wachsendem Wohlgefallen; denn auch die wohlklingende Altstimme der immer noch Namenlosen tat seinem Ohre wohl. Aber er wollte und durfte sich nicht ohne weiteres durch solche Äußerlichkeiten beeinflussen lassen und setzte hastig hinzu: »Wenn es Ihnen also recht ist Fräulein – hm – Fräulein – –«

»Ich heiße Theodora Zöllner«, fiel sie lächelnd ein.

»Ah!« machte der Kommerzienrat. »In dem Telegramm des Sanitätsrats Müller war nämlich kein Name genannt. Tatsächlich nicht; es ist wohl in der Eile übersehen worden. Also, wenn es Ihnen recht ist, Fräulein Zöllner, dann wollen wir zunächst mal hier in den sogenannten Wartesaal erster Klasse eintreten und uns mit einer Tasse Tee, die ich dorthin bestellt habe, für den staubigen Weg nach Amönenhof stärken.«

»Und dabei erst mal schauen, wes Geistes Kind ich bin«, vollendete sie lachend. »Aber natürlich wollen Sie das, und ich finde es auch ganz gerechtfertigt. Wenn einem jemand so ohne Vorrede ins Haus geschickt wird, wie ich, da will man doch wissen, was das eigentlich für ein Geschöpf ist.«

»Nun«, meinte Reudnitz schmunzelnd, indem er die Tür zu dem wenig einladenden Raum öffnete, in dessen Mitte ein sauber gedeckter Teetisch stand. »Sie scheinen jedenfalls eine junge Dame zu sein, mit der sich's reden läßt. Da Sie die Sachlage ohne jede Ziererei beim rechten Namen nennen, so stehe ich nicht an zu sagen, daß mir das gefällt, ausnehmend gefällt. Vor allem aber: Welche Nachrichten bringen Sie von Fräulein von Ried mit?«

»Leider keine guten«, erwiderte Fräulein Zöllner, indem ein Schatten über ihr Gesicht flog. »Sanitätsrat Müller fürchtet, daß es im besten Falle eine langwierige Sache werden wird – – – Und das bringt mich auch gleich zu der Erklärung, die ich Ihnen schulde. Ich kam auf der Durchreise nach meiner Heimat nach X. mit der Absicht, meine Schulfreundin Anna von Ried aufzusuchen und ein paar Tage mit ihr zu verleben. Ich wußte natürlich, daß sie nach dem Verlust ihres Vermögens durch einen gewissenlosen Vormund mit Sprachunterricht ihren Lebensunterhalt verdiente, aber es war mir unbekannt, daß sie inzwischen – zunächst für den Sommer – eine Stellung als Gesellschafterin Ihrer Tochter, Herr Kommerzienrat angenommen hatte und dadurch in die Lage kam, den Ausfall der Stunden durch die Reisezeit nicht nur auszugleichen, sondern durch den Landaufenthalt auch ihre Gesundheit zu stärken, die in letzter Zeit schon viel zu wünschen übrig ließ. Tatsächlich fand ich das arme Ding in einem Zustand vor, der mich mit größter Besorgnis erfüllte; denn sie hatte meines Erachtens starkes Fieber und klagte auch über fast unerträgliche Kopfschmerzen. Trotzdem packte sie ihren Koffer, das heißt, sie schleppte die Sachen ziel- und zwecklos herum wie ein Mensch, der nicht mehr weiß, was er tut. Die Idee krank sein zu sollen, wies sie ordentlich angstvoll ab und meinte, es würde morgen alles wieder in Ordnung sein, müßte es sogar, denn sie könnte sich ihrer Verpflichtung nicht entziehen; es sei fast eine Lebensfrage für sie und so weiter. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich denn auch Ihre Adresse, Herr Kommerzienrat, und wann Anna bei Ihnen erwartet wurde. Als ich dann in der Frühe des nächsten Tages wieder zu ihr kam, fand ich sie, unfähig aufzustehen, mit einem schrecklichen Fieber im Bette vor, und mein erstes war nun, nach einem Arzt zu schicken. Annas Pensionsgeberin, eine freundliche ältere Dame, die wohl sah, wie die Sache stand, telephonierte gleich an das städtische Hospital, dessen Chefarzt, Sanitätsrat Müller, rasch genug erschien und den sofortigen Transport der Kranken in das Hospital anordnete. Zufällig fand ich in Doktor Müller einen alten Freund, der mich schon als Kind gekannt und meinen Vater in seiner letzten Krankheit behandelt hat; daß er inzwischen nach Y. übergesiedelt war, hatte ich nicht gewußt. Er machte zu dem Zustande meiner Freundin ein recht bedenkliches Gesicht und erklärte ihn für typhös. Jedenfalls hatte sich ihr Befinden, als ich am Nachmittag im Hospital Erkundigungen über sie einzog, merklich verschlechtert, wozu auch ihre Unruhe beitrug, an der Abreise nach Amönenhof verhindert zu sein. Das brachte mich dann auf den Gedanken, ihr die Stellung dadurch zu sichern, daß ich für sie einsprang, und besprach es mit Doktor Müller, der sich dadurch auch eine relative Beruhigung der Kranken versprach und ihr die Sache in einem klaren Moment beibrachte – denn sie phantasierte, abwechselnd mit völligem Bewußtsein. Das Resultat war dann das Telegramm an Sie, Herr Kommerzienrat. Das ist in Kürze der Sachverhalt, und wenn Sie meinen, mich nicht brauchen zu können, so muß ich eben betrübt wieder abreisen und zusehen, wie ich das arme Wurm in dem Wahn lassen kann, daß ihr die Stelle bei Ihnen durch mich erhalten bleibt, bis sie wieder so weit ist, die Wahrheit vertragen zu können.«

Reudnitz hatte aufmerksam zugehört und die Sprecherin dabei scharf beobachtet. Der dabei gewonnene Eindruck war ein durchaus günstiger; denn, den Freibrief ihrer unleugbaren Schönheit ganz beiseite lassend, konnte er nicht umhin, sich zu gestehen, daß die einfache offene und klare Art, mit der sie ihre schlichte Erklärung abgab, sehr für sie einnahm. »Nun, ob ich Sie als Ersatz für Fräulein von Ried für wünschenswert halte, möchte ich gern mit ja beantworten«, sagte er freundlich. »Ich würde sogar nicht anstehen, Ihnen den Vorschlag zu machen, sofort nach Amönenhof zu fahren; denn mit ihrer Entschlossenheit scheinen Sie mir ganz die richtige Person für den Zweck zu sein, den ich mit Fräulein von Ried für meine Tochter im Auge hatte, aber –Sie müssen mir schon noch ein paar Fragen gestatten und sie im rechten Sinne auffassen. Daß Sanitätsrat Müller Ihre Anmeldung übernahm, dürfte ja eigentlich eine genügende Empfehlung sein; sein Telegramm erwähnte aber noch besonders ›beste Referenzen‹.«

»Damit meinte er wohl, dafür einstehen zu können, daß ich aus gutem Hause bin und mich des besten Leumunds erfreue, denn ich war bisher nie in Stellung«, erwiderte Fräulein Zöllner, rot werdend, was Reudnitz auf das Eingeständnis ihrer Unerfahrenheit schob. »Sie werden das vielleicht als ein Hindernis betrachten, was Doktor Müller übrigens auch tat. «

»Keineswegs«, beeilte sich der Kommerzienrat einzufallen. »Fräulein von Ried war ja auch bisher nicht in Stellung gewesen, und mir liegt sogar viel daran, meiner Tochter eine Gefährtin – verstehen Sie wohl, eine Gefährtin – zu geben, nicht aber, was man unter einer Gesellschafterin versteht, die schon in soundso viel Familien oder bei einzelnen Damen ihre Prüfungszeit der Selbstverleugnung abgelegt hat und, wie man so sagt, mit allen Hunden gehetzt ist. Der Ausdruck ist ja vielleicht ein bißchen drastisch –«

»Aber treffend«, versicherte Fräulein Zöllner lachend. »Mein Vater war Offizier und hat mich an ›drastische‹ Ausdrücke gewöhnt. Als er starb, kam ich zu einer Pate, die wegen ihrer Kraftausdrücke eine gewisse Berühmtheit genoß, und wenn ich die nicht vertragen hätte, wär's mit unserer Freundschaft aus gewesen. Sie ist auch vor einem Jahr gestorben und hat mir ihre paar Kröten hinterlassen, die mich in die Lage versetzt haben, in relativer Unabhängigkeit zu leben, so daß ich nicht gezwungen bin, irgendeine Stellung zu suchen. Und damit möchte ich noch einmal betonen, daß mein einziges Motiv, mich Ihnen aufzudrängen, der Wunsch und die Absicht war, meiner erkrankten Freundin den Posten bei Ihnen warm zu halten. Sie sehen, ich bin ganz offen, damit Sie nicht meinen, daß etwa Gewinnsucht oder die Notwendigkeit die Mutter des Gedankens war.

»Diese Offenheit macht Ihnen Ehre, Fräulein Zöllner, und ich stehe nicht an, Ihnen zu sagen, daß Ihre Erklärungen mir genügen. Da ja Doktor Müller jedenfalls auch die Verantwortung für Ihre Person übernimmt, so können wir unseren Vertrag für abgemacht erklären«, sagte Reudnitz, und rieb sich befriedigt die Hände. »Außerdem glaube ich mich auf meine ersten Eindrücke verlassen zu dürfen, –tja! Und was nun den finanziellen Teil der Sache betrifft, so wird Fräulein von Ried Ihnen jedenfalls gesagt haben, unter welchen Bedingungen sie ihr Amt in meinem Hause übernommen hat.

»Ja, das hat sie getan, aber ich möchte Sie bitten, das ausgemachte Gehalt nicht mir zu geben, sondern auf das Sparguthaben meiner Freundin in X, einzuzahlen«, erwiderte sie einfach. »Den kleinen Kampf, den ich darob mit ihr zu bestehen haben werde, will ich gern auf mich nehmen. Ich selbst brauche ja bei Ihnen nichts und setze demnach auch nichts zu.«

»Nun, wie Sie wollen. Das ist Ihre Privatsache und geht mich nichts an«, meinte Reudnitz. »Aber noch eins, ehe wir uns auf die Fahrt begeben: ich hatte mit Fräulein von Ried eine persönliche Unterredung, in welcher ich ihr vertraulich auseinandersetzte, um was es sich in ihrer Stellung handelte. Hat sie Ihnen darüber Mitteilungen gemacht?«

»Nicht ein Wort! Anna ist nicht die Person, vertrauliche Mitteilungen unterm sogenannten Siegel der Verschwiegenheit auszuplaudern, und ich darf wohl hinzufügen, daß ich auf dem gleichen Standpunkt stehe«, versicherte Theodors Zöllner sachlich.

»Um so besser!« rief Reudnitz befriedigt. »Da wir nun aber nicht wissen können, wie lange Ihre Stellvertretung dauern wird, so wird es schon notwendig sein, auch Sie einzuweihen. Das läßt sich jedoch mit drei Worten nicht gut machen, und der Weg bis Amönenhof ist mit meinem ›Daimler‹ rasch zurückgelegt; überdies möchte ich nicht, daß mein Fahrer hört, was ich Ihnen zu sagen habe, andererseits aber wäre es mir lieb, wenn Sie wüßten, wie der Hase läuft, ehe Sie mein Haus betreten. Sind Sie sehr ermüdet von der Reise?«

»Keine Spur!« verneinte sie lachend.

»Sie sehen auch nicht aus, als ob ein paar Stunden Eisenbahnfahrt Sie gleich umwerfen könnten«, bestätigte er zufrieden. »Ich schlage Ihnen also vor, daß wir an einem bestimmten Punkt aussteigen und den Rest des Weges durch den Wald zu Fuß zurücklegen, was bei dem schönen Maiwetter einen prächtigen Spaziergang von etwa einer halben Stunde ergibt. Sind Sie damit einverstanden?«

»Mit Vergnügen!« rief sie aus, und da der Tee, der nach dem Urteil beider nach Heusamen schmeckte, keine Sehnsucht nach mehr erweckte, so bestiegen sie das wartende Auto und fuhren davon.

»Ich glaube, der Amönenhof wird Ihnen gefallen«, sagte Reudnitz, als sie das holprige Pflaster von Weißenfels hinter sich hatten. »Ich habe den Besitz, der landwirtschaftlich gleich Null und eigentlich mehr ein Luxusartikel ist, vor einigen Monaten von einem Grafen Zimburg gekauft, in dessen Familie er seit mehreren Jahrhunderten war. Unter etwas sonderbaren Bedingungen gekauft, – doch davon gelegentlich mal später! Nachdem ich mich von meinen Geschäften etwas zurückgezogen und nur noch gewissermaßen die Hand darüber halte, kam mir die Sehnsucht nach frischer Luft, fern vom Werk und Büro und da wurde ich denn auf den Amönenhof aufmerksam gemacht. Das Haus und sein schöner Park gefielen mir gleich sehr gut; das Schloß wirkte auf meine Einbildungskraft, die Sie mir trockenem Geschäftsmenschen wahrscheinlich gar nicht zutrauen würden.«

»Warum nicht?« rief Fräulein Zöllner lebhaft. »Ich selbst besitze nämlich auch ein gutes Teil von dieser Gabe und möchte behaupten, daß ein Mensch ohne sie kein höher gestecktes Ziel erreichen kann. Sie hätten es sicher nicht zu dem gebracht, was Sie sind, wenn Sie sich in Ihrem Herzen nicht ein frisches, grünes Fleckchen erhalten und gepflegt hätten, auf das Sie sich vom Strudel der Welt und aus den Reihen trockener Ziffern zurückziehen und erholen könnten. Ich habe nämlich auch ein Paar ganz helle Augen, Herr Kommerzienrat, und damit in Ihnen bereits dieses grüne Eiland latenter Romantik entdeckt.«

»Wahrhaftig?« sagte Reudnitz lächelnd, aber bewegt. »Da müssen Sie wohl ein Sonntagskind sein. Nun, auf alle Fälle danke ich Ihnen herzlich für das gute Wort. Ja, ja, das grüne Eiland wäre wohl vorhanden, aber von vielen ist's in mir noch nicht entdeckt worden, darauf können Sie sich verlassen. Na, kurz und gut, das alte, verträumte Schloß – mit seiner bizarren Architektur, seiner Lage im Park und am See tat es mir an, und ich kaufte es. Innen wie außen trug es die Spuren großer Vernachlässigung, die aber ein genialer Architekt mit liebevoller Treue und großem Verständnis beseitigt hat, und ich gehöre auch nicht zu den emporgekommenen Barbaren, die sich einen solchen Besitz mit modernem Kram verschandeln. Die Einrichtung, soweit sie alt war, habe ich an Ort und Stelle gelassen, die Lücken mit liebevoll gesammelten Altertümern ausgefüllt –«

»Ah, ein neuer Beweis für Ihre Einbildungskraft!« warf Fräulein Zöllner ein.

»Von anderen Leuten Antiquitätenfexerei genannt«, lachte Reudnitz gut gelaunt. »Na, ich freue mich, daß Sie es wenigstens auf den richtigen Wert taxieren. Ein wenig habe ich der Neuzeit aber doch Konzessionen gemacht und die Elektrizität im Amönenhof eingeschmuggelt. Daß ich mir aber erlaubte, andere moderne Einrichtungen und hygienische Anforderungen, zum Beispiel reichlich verteilte Badeeinrichtungen, so diskret wie möglich einzuführen, tut Ihrer guten Meinung von der ›latenten Romantik‹ in meinem Herzen hoffentlich keinen Abbruch.«

»Im Gegenteil, das vermehrt nur meinen Respekt und läßt mich ein Behagen ahnen, das ich schmerzlich vermißt hätte«, versicherte Fräulein Zöllner vergnügt. »Doch ich weiß nun zwar, daß ich im Amönenhof elektrisches Licht und Badewannen finden werde, aber sonst tappe ich noch sehr im Dunkeln. Natürlich finde ich Ihr Fräulein Tochter dort, die ja für mich der Ausgangspunkt meiner Tätigkeit ist. Wenn Sie aber die Güte haben wollten, mir zu sagen –«

»Wir kommen noch darauf«, fiel Reudnitz ein. »Und da sind wir auch an der Stelle angelangt, wo wir aussteigen wollen. Halten Sie am Eingang der Schneise, Lehmann!« befahl er dem Fahrer, und als die Maschine an dem bezeichneten Punkte stillstand, sagte er: »Melden Sie dem gnädigen Fräulein und meiner Tochter, daß Fräulein Zöllner angekommen ist und ich mit ihr durch den Wald heimgehen wollte, da ich heute meinen Spaziergang noch nicht gemacht habe.«

»So«, begann er, nachdem er mit seiner Gefährtin aus der Schneise nach wenig Schritten in einen breiten, schattigen Waldweg eingebogen war, »jetzt können wir plaudern, das heißt, ich möchte Ihnen die Mitteilungen machen, die ich für notwendig zum Verständnis der Sachlage halte. Ich bin Witwer und habe nur ein Kind, meine achtzehnjährige Tochter Sabine. Meine vor zwei Jahren verstorbene Frau, eine geborene Freiin von Ganting, war nicht mehr jung, als ich sie heiratete, was ich nur erwähne, um damit zu erklären, daß unsere einzige Tochter nicht die Kraft und Lebensfülle geerbt hat, die eine junge Mutter Ihrem Kinde zu spenden vermag. Sabine war ein schwächliches Kind und ist heute noch ein recht zartes Pflänzchen, das wohl gepflegt sein will. Ihre Mutter war eine vortreffliche Frau, aber viel zu ängstlich um die leibliche Gesundheit unseres Sorgenkindes bemüht, als daß sie daneben noch die geistigen Fähigkeiten Sabinens ans Licht gebracht und angefeuert hätte. Als sie dann ziemlich unerwartet nach kurzer Krankheit starb, war Sabine gerade auch in einem Zustand, der großer Aufmerksamkeit bedurfte, und darum hieß ich es stillschweigend für den Augenblick willkommen, daß die Schwester meiner Frau, Fräulein Cordula von Ganting, die zum Begräbnis meiner Frau eingetroffen war, mir diese Sorge abnahm. Ich war damals gerade in ein wichtiges Unternehmen verwickelt, das meine ganze Aufmerksamkeit und Tatkraft in Anspruch nahm, und schob darum die Entscheidung darüber, wem meine Tochter am besten anzuvertrauen wäre, auf die lange Bank, um so mehr, als meine Schwägerin für ihre Nichte, was ihre gesundheitliche Fürsorge anbetraf, es wirklich an nichts fehlen ließ, auch nicht etwa in moralischer Beziehung, gewiß nicht! Sie besitzt eine gewisse Bildung, weiß über alles gut und klug zu reden; aber sie ist in Vorurteilen und veralteten Ansichten erstarrt, und wenn ich nicht für ein gesundes Gegengewicht gesorgt hätte, so wäre aus Sabine eine jener gesellschaftlichen Drahtpuppen geworden, wie sie zu Fräulein von Gantings Jugendzeit Mode waren – eine Sorte, die mir in der Seele zuwider ist, der jede Natürlichkeit heraus ›erzogen‹ wird, die nicht jung sein darf und sich in den Schranken eines engen Horizontes im Kreise drehen muß. Nämlich – – na ja, zum Kuckuck, zuwider, wie mir's ist, es vor einer Fremden aussprechen zu müssen– meine Schwägerin hat sich ungebeten und unverlangt bei mir niedergelassen. Sie hat nach der ersten Zeit der Trauer mein Haus für das ihrige betrachtet, und ich bin so schwach gewesen – aus falscher Pietät gegen die Verstorbene –, es dabei zu lassen. Nun ich aber meine Ruhe habe und das Geschäft mich nur noch in beschränktem Maße ablenkt, ist mir die Sache denn doch zu nahe getreten, um nicht eine Änderung herbeiführen zu müssen. Sabine verhutzelt und verkrüppelt ja moralisch in der Gesellschaft von uns zwei alten Leuten! Hat meine Schwägerin schon in der Stadt dafür gesorgt, daß Sabine isoliert wurde und keinen Anteil hatte an der Gesellschaft gleichaltriger Mädchen, an ihren Studien, unschuldigen Freuden und Dummheiten, wie die Jugend sie nun einmal begehen muß, um frisch und jung zu bleiben – hier in dieser Einsamkeit, die an nachbarlichem Verkehr so gut wie nichts hat, muß sie ja vollends versauern. Und da dachte ich mir, wenn ich ihr eine recht frische, junge Gefährtin geben könnte – eine nach meiner Wahl, nicht nach der meiner Schwägerin. Heimlich ging ich ans Werk, und das Glück wollte es, daß ich in Fräulein von Ried die Gesuchte fand. – Wenn Sie, liebes Fräulein, aber die sind, für die ich Sie nach kurzer Bekanntschaft halten möchte, dann sage ich: Es lebe die Stellvertretung? Sie haben verstanden, was ich meine?«

»Aber die Sache ist ja sonnenklar!« rief Fräulein Zöllner aus. »Ich muß vor allem natürlich alles tun, um mir das Vertrauen und die Freundschaft von Fräulein Sabine zu erwerben, was hoffentlich nicht übermäßig schwer ist, falls sie nicht allzusehr gegen ihre Gefährtin – voreingenommen worden ist.«

»Na, sehen Sie, so wollte ich's aufgefaßt haben, so hatte mich Ihre Freundin verstanden, so hatte ich den ersten Eindruck von Ihnen, daß sie mich verstehen würden!« rief Reudnitz lebhaft. »Nein, mit Sabine dürfte es Ihnen nicht zu schwer fallen, falls Sie's richtig anfangen und das Mädchen ein wenig studieren. Aber ich warne Sie: Sie werden einen schweren Stand bei meiner Schwägerin haben! Sie hat sich mit Händen und Füßen und noch bis heute mittag durch passive Resistenz gegen eine Gefährtin für Sabine gesträubt und wird ihren Einfluß, ihre Macht nur nach hartem und – rücksichtslosem Kampfe mit einer anderen teilen oder ganz abtreten. Das ist das Motiv ihres Widerstandes.«

»Nun, diese Warnung war ja schon aus Ihrer ganzen Darlegung der Verhältnisse herauszuhören«, erklärte Fräulein Zöllner lachend. »Auch gegen Angriffe aus dem Hinterhalt kann man sich einigermaßen schützen, wenn man nur weiß, daß sie einem drohen. Die Warnung davor nimmt der Gefahr schon ein gutes Teil ihrer Stärke. Im offenen Kampfe traue ich mir zu, meinen Mann zu stehen, und – wenn ich Ihnen dabei die Tante aus dem Hause graulen sollte, dann schadet das weiter auch nichts, gelt?«

Reudnitz, in dessen Gesicht sich das Schmunzeln allmählich zum offenen Grinsen ausgebildet hatte, brach bei Fräulein Zöllners letzten Worten in ein schallendes Gelächter aus, das er nur mit Anstrengung sofort zu unterdrücken suchte.

»Halt! Halt! Nur nicht so hitzig, und, wenn ich bitten darf, unter keinen Umständen Gewaltmaßregeln oder schlechte Witze! Ich habe aus Pietät und Ritterlichkeit meiner Schwägerin nicht den Stuhl vor die Tür gesetzt und wünsche keinesfalls, daß sie sich als malträtiertes Opfer in die Arme ihrer Freunde stürzt und mich als Rohling und undankbaren Proleten ausposaunt – der ich ohnehin in ihren Augen bin. – Herr du meines Lebens – Sie sind mir ja beinahe zu hell und zu energisch!«

Fräulein Zöllner aber faßte die immer schärfer werdende Zurechtweisung als eine Bestätigung ihrer geschickten Probe des Gedankenlesens auf. Statt sich demütig in sich selbst zu verkriechen, fing sie an zu lachen.

»Haben Sie keine Furcht. Herr Kommerzienrat!« rief sie heiter. »Zum Tantenvernichter war meine Freundin offiziell ja auch nicht engagiert. Da ich aber leider immer noch nicht gelernt habe, mit meinen Gedanken hinterm Berge zu halten, so brauste diese schöne Lösung des Problems natürlich wieder mal etwas voreilig über meine Lippen. Sie haben aber Humor, Herr Kommerzienrat, und darum werden Sie meine kühne Idee auch richtig einschätzen. Nichts für ungut, nicht wahr?«

Reudnitz blieb stehen und sah seine Begleiterin mit schiefem Kopf und verdächtig funkelnden Augen scharf an. Sie hielt den Blick nicht nur aus – was ihm eigentlich etwas ganz Ungewohntes war; denn er pflegte damit im Reiche seiner Untergebenen Furcht und Zähneklappern zu erregen – nein, sie erwiderte ihn sogar mit vor Vergnügen und Übermut tanzenden Augen, was ihn veranlaßte, die Mütze abzunehmen und sich mit schlecht unterdrücktem Schmunzeln hinter den Ohren zu kratzen.

»Cinna, ex hodierno die inter nos amicitia incipiatur«, murmelte er halblaut vor sich hin.

»Ich danke vielmals und hoffe mich dessen würdig zu erweisen«, erwiderte sie ernsthaft.

»Waaaaas?« machte er zurückprallend, »Latein verstehen Sie auch?«

»Gewiß. Ich habe das Realgymnasium des Institutes besucht, in welchem ich mit Anna von Ried zusammen war, kann aber auch mit den modernen Sprachen aufwarten, auf die Sie Wert bei Anna legten. Sonst hätte ich wirklich nicht gewagt, mich als Stellvertreterin anzubieten«, antwortete sie ohne jede Überhebung.

»Fräulein Zöllner«, sagte Reudnitz nach einer kleinen Pause, »Pilatus sprach: ›Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben‹ – man weiß, daß das, was ich gesagt habe, von mir nur in den Fällen zurückgenommen wird, wo starres Festhalten nicht mehr Charakterstärke, sondern Eigensinn wäre, Eigenschaften, die leider sehr oft verwechselt werden. Ich will darum mein klassisches Zitat, das eigentlich nicht dazu bestimmt war, von Ihnen verstanden zu werden, als gesprochen betrachten.«

»Und den Dank, den ich dafür schon ausdrückte, wiederhole ich hiermit«, gab sie lächelnd zurück.

»Nun, wenn Sie den Mund immer so auf dem rechten Flecke haben, dann – Allheil!« meinte er schmunzelnd. »Aber nun vorwärts; sonst glauben sie daheim, daß wir unterwegs verunglückt sind!« Fräulein Zöllner blieb aber stehen.

»Noch einen Augenblick«, bat sie und wurde in rascher Folge rot und blaß. »Ich hätte nämlich auch noch etwas zu sagen, weil ich mich für einen anständigen Menschen halte, und weil Sie, Herr Kommerzienrat, mir, der Fremden, so großes Vertrauen geschenkt haben, und weil ich mit Ihnen gefühlt habe, wie ungern Sie dabei eine Person preisgeben mußten, die Ihrer verewigten Gattin so nahegestanden hat. Da komme ich mir dann recht übel vor, daß ich Ihnen gewissermaßen unter einer Maske unter die Augen getreten bin. Bitte, nein,– alles was ich Ihnen über die Geschichte meiner Stellvertretung sagte, war natürlich reine Wahrheit«, fuhr sie hastig fort, als Reudnitz mit sehr ernst gewordenem Gesicht eine Bewegung machte. »Auch die Angaben über meine Verhältnisse entsprechen vollkommen den Tatsachen, nur – nur mein Name bedarf einer Erklärung. Es ist wahr, daß ich Theodora Zöllner heiße, nur ist dies unser ursprünglicher Familienname, dem vor Olims Zeiten noch ein zweiter mit einem Titel angehängt wurde; obwohl wir ja die volle Berechtigung haben, beide Namen gleichzeitig zu führen, so ist doch der ›Zöllner‹ im Laufe der Zeit fast ganz fallen gelassen worden und wird nur noch in offiziellen Urkunden angewendet. Ich fürchtete, und auch Doktor Müller, Sie würden mich unter dem Namen, unter dem ich bekannt bin, am Ende nicht aufnehmen wollen. Nicht, daß etwa ein Makel oder eine traurige Berühmtheit daran haftete – er ist Gott sei Dank ganz rein und von gutem Klang. Ich heiße also –«

»Halt!« fiel Reudnitz mit erhobenem Finger ein. »Wenn Sie mir versichern, daß Sie ein Recht auf den Namen ›Zöllner‹ haben, so genügt mir das. Lassen wir es also ruhig beim Fräulein Zöllner.«

»Damit kommen Sie meinem Wunsche entgegen«, erwiderte sie erleichtert. »Das schließt aber doch nicht aus, daß Sie selbst erfahren, unter welchem Namen ich einem großen Kreise bekannt bin.«

»Ausschließen täte es das allerdings nicht«, gab Reudnitz zurück. »Aber ich habe meine Gründe, selbst in Unwissenheit darüber zu bleiben. Unter anderem möchte ich mit gutem Gewissen sagen, daß ich nur weiß, Sie heißen Theodora Zöllner. Ich bin ja meine eigene Behörde, Bürgermeister und Standesbeamter für Amönenhof. Sollten sich aus dem Inkognito Verwicklungen ergeben, dann ist es immer noch Zeit. Mit offenem Visier kann man den alten Reudnitz um den kleinen Finger wickeln; gegen alles Hinterhältige aber ist er ein ekliger Kunde. Außerdem«, schloß er lachend, »ersparen Sie mir einen vertraulichen Brief an Doktor Müller, der also nicht nur in der Eile, sondern mit Vorbedacht den Namen der Stellvertretung in seinem Telegramm überhupft hat. Und nun kommen Sie! Wir sollten längst im Amönenhof sein.«

»Sie haben's erraten«, erwiderte Theodora, rüstig neben dem alten Herrn einherschreitend. »Mit dem Namen waren wir nämlich bei der Abfassung des Telegrammes sehr im Zweifel. Ich wollte ihn – den wirklichen – nicht genannt haben, um der armen Anna nicht die Sache vorweg zu verpfuschen, und Doktor Müller wollte den anderen nicht schreiben, um mit seinem Namen nicht eine gewisse Täuschung zu decken. Da wählten wir denn den Ausweg, gar keinen zu nennen, und eigentlich machte es mir einen Riesenspaß, mal inkognito aufzutreten.«

»Das sei der Lohn für Ihre Offenheit, daß Sie jetzt Ihren ›Riesenspaß‹ mit Seelenruhe weiter genießen können«, lobte Reudnitz mit Wärme. »Wenn ich Ihnen aber einen guten Rat geben darf, so wäre er der: Spielen Sie nicht etwa die Rolle eines demütigen Opferlamms von einer Gesellschafterin. Das dürfte sich bei meiner Schwägerin nicht bewähren und Ihre Stellung von vornherein unhaltbar machen.«

»Mit der Opferlammrolle hätte ich also besser bei Ihnen anfangen müssen, wenn ich überhaupt imstande wäre, eine andere zu mimen als mich selbst«, lachte Fräulein Zöllner übermütig. »Sollte ich das wider Willen getan haben?«

»Nee, weiß Knöppchen, das haben Sie nicht getan«, versicherte Reudnitz gleichfalls lachend. »Und daß Sie's nicht taten, hat mir ausnehmend gut gefallen. So, dort durch die Bäume sehen Sie den Amönenhof liegen, in dem ich Sie hiermit feierlich willkommen heiße.

»Das Bild, welches sich durch eine Öffnung hoher, alter Buchen wie in einem Rahmen zeigte, entlockte Theo Zimburg einen Ausruf des Entzückens und der Überraschung – denn daß sie es ist, das haben wir ja nun schon erkannt. Am Ufer eines Sees, der kleiner aussah, wie er in der Tat war, lag, mit der Front ihm zugekehrt, das stattliche Schloß mit einer Terrasse davor, von der sich breite, steinerne Stufen direkt ins Wasser verloren. Es war ein einstöckiger Bau mit erhöhtem Erdgeschoß und reichverzierten Giebeln mit Ochsenaugenfenstern über der Belletage – ein Meisterwerk französischer Spätrenaissance. Von der Terrasse mit der steinernen Rampe führte die Treppe zum See herab, an beiden Seiten reich mit blühenden Pflanzen und Oleanderbäumen besetzt. Dem eleganten, durchweg mit altersgrauem Marmor verkleideten Bau gaben aufragende Berge mit dem abschattierten Grün gemischter Hölzer einen besonders reizvollen Hintergrund.

»Wie wunderschön!« wiederholte Theo. »Aber warum nannten Sie das Schloß ›bizarr‹? Der Stil ist doch meines Erachtens ganz rein und fern von jeder Übertreibung! «

»Das Wort ›bizarr‹ bezog sich nur auf die innere Einrichtung«, erwiderte Reudnitz. »Dort ist, wie Sie sehen werden, das Oval Stichwort gewesen. Was den Namen ›Amönenhof‹ betrifft, so vermute ich, daß eine Dame des Hauses Zimburg, deren Porträt sich noch hier befindet, die Urheberin war, falls man nicht, da ›Amöne‹ im Griechischen die Schöne heißt, das Schloß eigentlich ›den schönen Hof‹ nennen wollte.

»Amöne war früher ein beliebter Frauenname«, nickte Theo. »Unter meinen Vorfahren haben wir auch eine Amöne, die in der Geschichte mancher Familie eine Rolle, wenn auch keine sehr rühmliche, gespielt hat.«

Sie brach ab; denn ihnen entgegen kam eine junge Dame –Sabine Reudnitz. Ihr schmales, blutleeres Gesichtchen war vom raschen Gang und vielleicht auch von der Aufregung der Erwartung mit einer leichten Röte überhaucht, und in ihren allzuvergißmeinnichtblauen, immer etwas erschrockenen Augen war ein ungewohnter Glanz.

»Oh, Vater – endlich!« sagte sie schüchtern. »Ich hatte schon gefürchtet, es wäre etwas passiert, weil du so lange bliebst!«

»Na ja, Herzel, das Auto fährt halt eben schneller, wie dein alter Vater laufen kann«, meinte Reudnitz in dem Ton, wie man einem Kinde etwas erklärt. »Fräulein Zöllner, das ist meine Tochter Sabine; ich hoffe, ihr beide werdet gute Freundinnen werden.«

»Ich – ich hoffe es auch«, sagte Sabine ganz atemlos vor Beklommenheit, indem sie Theo ihr mageres Händchen reichte, das diese zu festem Drucke ergriff. Schüchtern blickte die Erbin von Millionen auf zu ihr, und als ihre Augen dem großen freundlichen, klaren Blick ihrer neuen »Gefährtin« begegneten, da geschah etwas, worüber der alte Herr erstaunt die Hände zusammenschlug: Sabine hob sich auf die Zehenspitzen, schlang ihre Ärmchen um Theos Hals und gab ihr einen Kuß, worauf sie, über ihre eigene Kühnheit erschrocken, förmlich in sich zusammenkroch. »Willkommen!« stotterte sie kaum hörbar.

»Bravo, Binchen!« rief der Kommerzienrat. »Das war nett von dir– so begrüßt man sich unter Gottes freiem Himmel. So wird's gemacht.«

»So wird's gemacht!« wiederholte Theo fröhlich. »Für dieses Willkommen danke ich Ihnen herzlichst, Fräulein Reudnitz, auch im Namen meiner Freundin, für die ich's wagte, ungefragt und unerlaubt in ihr Haus zu schneien. Aber da Sie mich so lieb und freundlich aufnehmen, so freut mich meine Keckheit. Denn Sie müssen wissen, daß ich eigentlich eine gräßliche Angst vor Ihnen hatte«, schloß sie lachend.

Daß irgendein Mensch in der Welt »gräßliche Angst« vor ihr haben könnte, machte Sabine auch lachen, was sie entschieden verschönte, und damit überwand sie ihre hilflose Schüchternheit besser, als irgendeine schöne Rede es zuwege gebracht hätte.

»Sind Sie immer so lustig?« rief sie impulsiv.

»Nun, wenn mir nicht gerad' mal etwas sehr Böses über die Leber läuft, darf ich mich über schlechte Laune nicht beklagen«, versicherte Theo. »Es gehört aber schon viel dazu, um mich in Harnisch zubringen. «

»Wobei mir Tante Cordula einfällt – ›sans comparaison‹ natürlich«, sagte Reudnitz unüberlegt, was der Nachsatz eigentlich erst zum Bewußtsein der Hörer brachte. »Weiß die Tante, daß du uns entgegengegangen bist, Binchen?«

»Ich – ich weiß nicht. Ich glaube nicht«, erwiderte Sabine mit solch ausgeprägtem Schuldbewußtsein, daß Theo nur mit Mühe ein Lächeln verbiß, während der alte Herr ein Gesicht schnitt. »Tantchen ist in ihrem Zimmer und wünscht Fräulein Zöllner dort zu empfangen.«

»Reudnitz spitzte die Lippen und pfiff leise vor sich hin: »Auf in den Kampf, Torero«, was Theo so belustigte, daß es ihr einfach unmöglich gewesen wäre, die Fortsetzung: »Mut in der Brust, siegesbewußt« nicht nachzupfeifen, was zwar für eine bezahlte Gesellschafterin reichlich ungewöhnlich war, den alten Herrn aber zu lautem Lachen reizte; Sabine, die ja nicht wußte, was dies sonderbare Konzert zu bedeuten hatte, stand mit großen erstaunten Augen daneben. Da ihr Vater aber lachte, so lachte sie etwas unsicher mit und fragte naiv:

»Mögen Sie die Musik zu ›Carmen‹ auch so gern, wie mein Vater? Oh, wenn ich ganz allein bin, habe ich auch schon versucht zu pfeifen, – jawohl, das habe ich! Tantchen dürfte es natürlich nicht hören. Ich glaube, sie fiele in Ohnmacht!«

»Wonach sich also zu richten ist«, meinte Reudnitz gutgelaunt. »Na also, vorwärts denn!«

Der kurze Weg bis zur Rückseite des Schlosses war schnell zurückgelegt, und durch ein säulengetragenes Portal, das zugleich als Unterfahrt diente, betraten sie die imposante Vorhalle, aus der eine doppelte Treppenflucht zu einem Vestibül emporführte. Die Zimmer im ersten Stock des Mittelbaues wurden von dem alten Herrn bewohnt. Rechts davon, aber getrennt durch ein schmales Vorzimmer, hatte Fräulein von Ganting ihre Gemächer, links, Sabine das Eckzimmer. Daneben lag ein ovaler, saalartiger Raum, in den Theo nun von der Tochter des Hauses geführt wurde. Er war erhellt durch drei hohe Fenster, von denen das in der Mitte zugleich als Tür für den Balkon diente; von ihm aus sah man ein Stück des Sees und überblickte den Blumengarten, der, in altholländischem Geschmack angelegt, den östlichen Teil des Schlosses umgab. Reichvergoldete Stuckornamente, wie man sie im Dogenpalast in Venedig sieht, zierten die Decke; die Wände waren mit grauseidenen, zartgeblümten Tapeten bespannt. Die Möbel schön geschnitzt, lackiert und vergoldet, gehörten der Epoche Ludwigs XVl. an, Stühle und Sofa waren mit verblaßtem hellgrünem Damast bezogen; derselbe kostbare Stoff schloß auch in schweren Falten dem Balkon gegenüber eine Nische ab, in deren Vertiefung ein Bett seinen Platz gefunden hatte. Die Ellipse des Zimmers schnitt von dem ursprünglichen Viereck vier Winkel ab, die durch fast unsichtbare, tapetenverkleidete Türen zu kleinen Räumen umgewandelt waren und jetzt durch elektrisches Licht erhellt werden konnten. Der eine rechts vom Balkon war mit kommodenartigen Kästen und Regalen ausgestattet, der links davon diente als Garderobe; rechts der Bettnische war ein Raum als Toilette mit Waschtisch und großem Spiegel, der andere links als Badekabinett hergerichtet.

Sabine zeigte ihrer neuen Gefährtin alle diese Herrlichkeiten mit vor Eifer zart glühendem Gesichtchen, und erhielt die Versicherung, daß keine Prinzessin sich zu schämen brauchte, dieses Zimmer zu bewohnen. Dann zog sie sich durch eine reich verzierte, vergoldete und lackierte Tür am südlichen Oval zurück, indem sie Theo bat, hier anzuklopfen, wenn sie so weit sei, um zu ›Tantchen‹ geführt zu werden.

Nicht ohne eine gute Dosis von Galgenhumor sagte sich diese: »Ich wollte, die Paradeaufstellung vor diesem Tantchen, das ja nach allem ein ausgewachsener Drache sein muß, wäre erst glücklich vorüber. ›Mut in der Brust‹ hätten wir schon, aber mit dem Siegesbewußtsein sieht's noch etwas unsicher aus. Na, schließlich kann sie einen ja nicht gleich fressen, und das ist immerhin ein Trost. Und wenn mir's zu bunt wird – nein, es wird ausgehalten, das bin ich dem armen kranken Wurm schuldig, und wer A gesagt hat, muß auch B sagen können. Gerechter Strohsack, wenn mich Elisabeth so sehen könnte! Und noch jemand anderes! Als stellvertretende Gesellschafterin bei Kommerzienrats! Übrigens ein famoser alter Herr – was der nicht alles zwischen den Zeilen gesagt hat –«

Schon nach sehr kurzer Zeit klopfte Theo an der bezeichneten Tür an; denn sie hatte nur ihre Jacke und den Hut abgelegt, sich die Hände gewaschen und das Haar etwas geordnet, und betrat nun das Zimmer Sabinens, das in der Größe und in der Anordnung des Raumes dem ihren ganz gleich war.

»Herein!« piepste Sabinens schwaches Stimmchen, und als Theo bei ihr eintrat, trotz ihres einfachen grauen Rockes mit weißer Hemdbluse sehr vornehm aussehend; hätte sie sich eigentlich sehr geschmeichelt fühlen müssen von der unverhehlten Bewunderung, die ihr aus den hellen Augen ihrer ›Brotherrin‹ entgegenleuchtete. Aber es rührte sie mehr, als es ihr schmeichelte, und das sprach für ihr Herz. Nach einer kurzen Vorstellung ihres Reiches führte Sabine ihre Gefährtin dann nach dem westlichen Flügel; sie fanden in dem schmalen Vorzimmer zu Fräulein von Gantings Gemächern eine ältliche Person in schwarzem Kleide, weißem Kragen und Häubchen vor, die am Fenster saß und nähte.

»Das gnädige Fräulein wünscht das Fräulein allein zu empfangen«, sagte sie, Sabine mit einer Insolenz in den Weg tretend, daß Theo darob das Blut in die Wangen schoß. Sabine mußte diese Art von Behandlung schon gewöhnt sein; denn sie kroch darunter förmlich in sich zusammen.

»O ja – natürlich«, erwiderte sie, und trat gehorsam zurück. »Wenn Tantchen Sie entläßt, Fräulein Zöllner, nicht wahr, dann kommen Sie zu mir herüber. Ich helfe Ihnen dann beim Auspacken.«

»Dazu hat das gnädige Fräulein mich befohlen«, erklärte die Person, die übrigens auf den Namen Adelheid hörte, dem im Dienerzimmer ein respektvolles »Fräulein« vorangesetzt wurde; denn sie war die Kammerfrau Fräulein von Gantings und führte in den »unteren Regionen« das große Wort.

Auf diesen Bescheid hin verschwand Sabine ohne Gegenrede, worauf Adelheid Theo, die zu begrüßen sie als überflüssig erachtet hatte, mit unverschämtem Kopfnicken aufforderte, ihr zu folgen, darauf eine Tür öffnete und mit gänzlich verändertem servilem Ton »Fräulein Zöllner« anmeldete.

Theo betrat das Zimmer. Auch in diesem Gemache dienten moderne Polstermöbel der größeren Bequemlichkeit, und in einem tiefen, niedrigen Lehnsessel saß Fräulein von Ganting, ein Buch in der Hand, das sie beim Eintritt Theos lässig auf ein Tischchen neben sich legte. Sie setzte einen Kneifer auf die klassische Nase, mit dessen Hilfe sie Theo nicht ohne Überraschung eingehend und ungeniert betrachtete, indem sie deren verbindliche, aber nicht allzu tiefe Verneigung durch ein leichtes Kopfnicken erwiderte.

»Ich habe Sie hier bei mir zu sprechen gewünscht, Fräulein – Zöllner, um Ihnen unter vier Augen die notwendigen Anweisungen für Ihr Amt zu geben«, begann sie nach beendeter Besichtigung. »Ich bitte also um Ihre volle Aufmerksamkeit; denn je besser Sie mich verstehen, um so leichter dürfte Ihnen Ihre Stellung hier im Hause fallen.«

Theo machte nochmals eine kleine Verbeugung, holte sich dann einen Stuhl und setzte sich mit verbindlichem Lächeln Fräulein von Ganting gegenüber, der durch ein jähes Aufrichten des Oberkörpers der Kneifer von der Nase fiel.

»Ich – ich kann mich nicht erinnern, Sie zum Sitzen aufgefordert zu haben«, sagte sie scharf.

»Oh, haben Sie es vergessen?« fragte Theo liebenswürdig. »Es tut aber wirklich nichts, es war mir ein Vergnügen, Ihren Wünschen zuvorzukommen. Selbstverständlich steht Ihnen, gnädiges Fräulein, meine ganze Aufmerksamkeit zur Verfügung; ich möchte mir nur erlauben, zu bemerken, daß der Herr Kommerzienrat schon die Güte hatte, mich auf dem Wege vom Bahnhof in meine Pflichten einzuweihen.«

Tante Cordula hatte sich bei Theos im harmlosesten Ton gesprochenen Worten auf die Lippen gebissen, fand es aber für gut, die Sitzfrage fallen zu lassen; denn sie empfand dunkel, daß sie es war, die eine Lektion im ›guten Ton‹ erhalten hatte, und daß »diese Person« denn doch aus einem anderen Holze geschnitten war, als sie sich's vorgestellt hatte. Auch daß ihr Empfang ›dieses Geschöpfes‹ ein Irrtum war, fühlte sie vage, fürchtete aber, sich etwas zu vergeben, wenn sie andere Saiten aufzog.

»Ah ja, es war mir in der Tat entfallen, daß mein Schwager für gut befunden hat, Sie selbst abzuholen«, sagte sie um einen Schatten herablassender. »Auch daß Sie ja nur in Stellvertretung hier sind, hatte ich für den Augenblick vergessen. Nun, für diesen vorübergehenden Zustand dürfte vielleicht genügen, was mein Schwager Ihnen gesagt hat – indes, ich habe so lange Mutterstelle bei meiner Nichte vertreten, und eine Frau sieht um so vieles klarer, wenn es sich um ein Mädchen handelt, als selbst der beste Vater es zu tun vermag. Wie kam es doch, daß Sie für Fräulein Ried eintraten?«

Theo wiederholte einfach und klar, nur wesentlich kürzer, was sie dem Kommerzienrat schon auf dem Bahnhof über das Wie und Warum mitgeteilt, und verfehlte auch nicht anzudeuten, daß der »vorübergehende« Zustand sich möglicherweise in die Länge ziehen könnte.

»Sie haben natürlich genügende Ausweise über Ihre Person und Ihre Leistungen mitgebracht?« fragte Fräulein von Ganting.

Theo nickte zustimmend, aber innerlich war sie doch nicht so ganz zuversichtlich, wie sie die Miene dazu machte.

»Der Herr Kommerzienrat hat sich befriedigt davon erklärt«, sagte sie ausweichend. »Sonst hätte ich auch wohl kaum den Vorzug hier zu sein«, setzte sie mit einem frohen Lächeln hinzu, und dieser glücklich gefundene Nachsatz schien auch seine Wirkung nicht zu verfehlen; denn Tante Cordula nickte zustimmend.

»Wollen Sie mir gelegentlich – es braucht nicht gleich zu sein – Ihre Zeugnisse zeigen?«

»Ich habe keine«, erklärte Theo ohne Zögern. »Ich war nie in Stellung; meine Stellvertretung ist der reine Freundschaftsdienst. Ich habe mit Fräulein Reudnitz ja noch keine zwei Dutzend Worte gewechselt, kann aber trotzdem schon sagen, daß die mir gestellte Aufgabe bei ihr nicht den Eindruck einer Sisyphusarbeit gemacht hat.«

»Nein – darin mögen Sie ja recht haben; indes ist meine Nichte bei ihrer zarten Konstitution doch nicht so einfach zu behandeln«, erwiderte Fräulein von Ganting zögernd. »Vor allem lege ich Wert darauf, daß – nach aller der Mühe, die ich mir gegeben habe, sie zu einer perfekten jungen Dame zu erziehen – ihre Manieren nicht etwa leiden und ordinär werden.«

»Da ich mir schmeicheln darf, daß die meinen es auch nicht sind, so wäre von mir in dieser Hinsicht nichts zu befürchten«, versetzte Theo trocken. »Ich esse nicht mit dem Messer, schneuze mich nicht in die Serviette oder ins Tischtuch und pflege mich überhaupt so gesittet zu benehmen, wie man es in den Kreisen Gebildeter erwarten darf.«

Fräulein von Ganting mochte wohl aus dem übrigens durchaus liebenswürdigen und sachlichen Ton Theos heraushören, daß sie abermals einen Mißgriff gemacht hatte, den sie besser hätte vermeiden sollen, und rief hastig:

»Nun ja, gewiß! So hatte ich es auch nicht gemeint. Indes, Ihre Aufklärung dieses wichtigen Punktes ist, um es gelinde auszudrücken, etwas drastisch, was mir den willkommenen Anlaß gibt, gegen diesen Ton im Hinblick auf meine Nichte, Verwahrung einzulegen. Diese burschikose Art droht den gewählten Ausdruck zu verdrängen, wie er in meiner Jugend zum guten Ton gehörte. Ich wünsche und verlange, daß meine Nichte diese freie Ausdrucksweise überhaupt nicht zu hören bekommt, und sollte es Ihnen unmöglich scheinen, meine Wünsche zu berücksichtigen, so möchte ich Ihnen in aller Güte zureden, Ihren Koffer nicht erst auszupacken, sondern – nicht gleich, aber sagen wir, morgen früh – den Amönenhof wieder zu verlassen.«

Theo lachte leise – sie lachte tatsächlich, wie es einem zu gehen pflegt, wenn man einen Gegner übers Ziel hinausschießen sieht.

»Ich danke Ihnen herzlichst für den guten Rat, gnädiges Fräulein«, erwiderte sie, mühsam ihre Heiterkeit unterdrückend. »Ich werde noch heute nacht Herz und Nieren prüfen und in meinem Lexikon verpönter Ausdrücke, bildlich gesprochen, nachblättern. Da die Frage meiner Abreise aber eigentlich doch nur von dem Herrn Kommerzienrat abhängt, so werde ich mich leider wohl nach ihm richten müssen«, schloß sie mit einem Seufzer, der Tante Cordula mit vollster Absicht irreführte; denn diese wußte in der Tat nicht, ob die »Person« ernsthaft gesprochen, oder sich herausgenommen hatte, ironisch zu werden.

»Nun ja«, pflichtete sie unsicher bei. »Wenn Sie meinem Schwager aber erklären, daß Sie sich Ihrer Aufgabe hier nicht gewachsenfühlen –«

»Das ist's ja eben! » rief Theo mit dem unschuldigsten Gesicht von der Welt. »Ich bilde mir ein, meiner Aufgabe ganz und gar gewachsen zu sein, und Sie werden doch sicher nicht wollen, daß ich dem Herrn Kommerzienrat wissentlich eine Unwahrheit sage. Gegen seine Überzeugung darf doch kein Mensch sprechen, er sei, wer er wolle, nicht wahr?«

»Gewiß nicht, gewiß nicht!« versicherte Fräulein von Ganting, für den Augenblick ganz von dem Argument überwältigt.

»Ich fühlte, daß ich an Ihren Edelsinn und Ihre Wahrheitsliebe nicht umsonst appellieren würde«, sagte Theo sanft mit schiefem Kopf.

»Nachdem dieser Punkt also zur gegenseitigen völligen Befriedigung erledigt wäre, bleibt mir nur noch die Versicherung, daß ich alles tun werde, mir auch in allem übrigen Ihre Zufriedenheit zu erwerben –«

»Halt!« fiel Tante Cordula ein, die sich von ihrer Betäubung inzwischen erholt hatte. »Soweit sind wir noch nicht. Ich habe noch einen anderen Punkt zu berühren. Ich verbiete von vornherein alle und jede Intimität mit meiner Nichte. Sie verstehen mich doch?«

»Ehrlich gesagt, nein«, erwiderte Theo harmlos. »Das liegt doch einzig und allein an Fräulein Reudnitz, wie ich es auffasse.«

Tante Cordula, die einsehen mußte, daß sie wieder einen Schlag ins Wasser gemacht hatte, gab es für jetzt auf, diese stupide oder gerissene Person – sie war sich darüber noch nicht ganz im klaren – entsprechend zu belehren. Sie tat aber noch mehr und legte sich mit dem Trost auf bessere Angriffe zunächst auf die gnädige Seite.

»Nun, Ihre Auffassung wäre ja an sich einwandfrei«, sagte sie herablassend. »Es ist immer erfreulich, wenn jemand seine Stellung richtig auffaßt. Ich will Sie also nicht länger aufhalten. Auf Wiedersehen beim Abendessen!«

Theo stand sofort auf, stellte ihren Stuhl wieder an seinen Platz machte eine tadellose Verbeugung, drehte sich auf dem Absatz herum und ging zur Tür.

»Fräulein Zöllner, bitte noch eins!« rief Fräulein von Ganting ihr nach. »Wo sagten Sie doch, daß Ihre Familie lebt?«

»Ich hoffe, im Himmel, gnädiges Fräulein«, erwiderte Theo, die Türklinke in der Hand. »Ich bin leider eine Waise.«

»Wie traurig!« machte Tante Cordula kopfschüttelnd. »Und ihr seliger Vater war –?«

»Offizier, gnädiges Fräulein.«

»Offizier!« wiederholte die alte – nicht doch, die ältere Dame. »Nun ja, es gibt beim Militär eine solche Menge Rangstufen – wie wurde ihr Vater von seinen Untergebenen genannt?«

Theos Augen funkelten vor Übermut. »Warum kann sie nicht geradezu fragen, was er war, welche Charge er innehatte?« dachte sie, laut aber sagte sie mit der größten Harmlosigkeit:

»Ganz genau kann ich das nicht sagen. Beim Militär wird ein Vorgesetzter je nach dem Grade des Wohlwollens, das er sich erwirbt, entweder kurzweg der ›Alte‹ oder auch ›der alte Kaffer‹ genannt. Ich, als seine Tochter, habe das natürlich direkt nicht gehört, aber man darf schon annehmen, daß auch mein Vater von seinen Untergebenen so oder so genannt wurde.«

Und ehe Fräulein von Ganting noch sagen konnte: »Sie mißverstehen mich«, war Theo nach einem erneuten Knicks schon hinter der Tür. In dem Vorzimmer saß Adelheid mit ihrer Näharbeit als Schildwache am Fenster, aber ein Streifen weißen Stoffes dicht neben der Tür verriet, daß sie dieser während der Audienz der Gesellschafterin bei Ihrer Herrin nicht zu fern gewesen sein konnte, und Theo konnte sich das Vergnügen nicht versagen, den weißen Verräter mit der Fußspitze beiseite zu schieben.

»Wollen Sie jetzt Ihren Koffer auspacken, weil ich gerade Zeit hätte?« fragte die Kammerjungfer von ihrem Platze aus, ohne das Manöver zu beachten.

»Sprechen Sie mit mir?« erkundigte Theo sich kühl. Aber Adelheid reagierte auf diesen deutlichen Wink keineswegs, sondern setzte, ohne sich zu rühren, hinzu:

»Zum Abendessen wird hier im Hause der Anzug gewechselt. Das gnädige Fräulein haben mir befohlen, Ihnen zu helfen und nachzusehen, daß Ihre Kleider ordentlich geputzt werden und so weiter.«

»Und so weiter«, wiederholte Theo trocken. »Ich bin dem gnädigen Fräulein sehr verbunden für diese Aufmerksamkeit und fühle mich außerordentlich geschmeichelt, daß sie mir einen Teil Ihrer kostbaren Dienste überlassen will; ich kann dieses Opfer aber nicht annehmen, denn ich helfe mir selbst.«

Und im Herausgehen gelobte sie sich, ›diese privilegierte Spionin ‹gründlich abzuwimmeln, – zum mindesten aber den Versuch dazu zu machen.«

Sie kehrte in das Zimmer Sabinens zurück, wie sie es versprochen hatte, traf sie zwar nicht an, fand jedoch dort den Kommerzienrat vor.

»Meine Tochter besorgt einen Gang für mich und kommt gleich wieder«, empfing er Theo mit einem prüfenden Blick auf ihr Gesicht. »Hm – Ihrer Miene nach, die mir etwas vom siegreichen Torero zu haben scheint, ist demnach die erste Audienz bei meiner Schwägerin ganz angenehm verlaufen!«

»Vorpostengefecht, Herr Kommerzienrat«, lachte sie. »Danke, ja; soweit war die Lage für mich nicht gerade ungünstig. An das erste Kreuzen der Waffen schloß sich dann eine ganz erbauliche Instruktionsstunde für mich an –«

»Das war vorauszusehen«, fiel Reudnitz ein. »Ich hätte Ihnen gleich sagen sollen, daß Sie sich dabei auf mich berufen möchten.«

»Ist auch geschehen«, versicherte Theo. »Trotzdem erhielt ich noch einige Winke, deren Auffassung von meiner Seite mir den guten Rat eintrug, nicht erst auszupacken, sondern morgen früh wieder abzureisen. Auch das erlaubte ich mir von Ihnen abhängig zumachen. Im großen ganzen darf ich aber ohne Überhebung sagen, daß ich, für heute wenigstens, als Siegerin aus der Löwengrube hervorgegangen bin. Das hat zum mindesten den Wert einer Geländeaufklärung für meine Freundin. Anna Ried ist trotz ihrer Sanftmut zwar eine ganz energische kleine Person, die den Kampf ums Dasein mutig aufgenommen hat, ob sie aber der überwältigenden Persönlichkeit Fräulein von Gantings gewachsen wäre, möchte ich doch sehr bezweifeln. Was Anna bestimmt eingeschüchtert und mutlos gemacht hätte, reizte mich aber unwiderstehlich zum Widerstand.«

»Na, das muß ja recht nett zugegangen sein!« rief Reudnitz schmunzelnd, indem er sich die Hände rieb »Aber, liebes Fräulein, welche Waffen Sie auch immer in Bereitschaft haben mögen: setzen Sie sich nicht ins Unrecht; denn da könnte ich Sie nicht mehr schützen und Ihnen den Rücken decken.«

»Darüber bin ich mir ganz klar«, erwiderte Theo. »Seien Sie ganz unbesorgt. Die Waffen, mit denen ich focht, haben nicht mich ins Unrecht gesetzt. Übrigens hat Fräulein von Ganting die große Liebenswürdigkeit gehabt, ihre eigene Kammerfrau zu meinem Dienst zu befehlen.«

»Waaaas?« machte Reudnitz zurückprallend. »Die Adelheid, die sonst für keinen Menschen im ganzen Hause einen Finger rühren darf? Hören Sie, Fräulein Zöllner –«, er brach kurz ab und rannte ein paarmal im Zimmer auf und ab, wobei Theo ihm sichtlich belustigt zusah. Aber sie hielt es für gut, mit ihren eigenen Kommentaren zurückzuhalten und abzuwarten, ob er selbst das Wort dazu ergreifen würde. Und das tat er denn auch wirklich; denn vor ihr stehenbleibend sagte er eindringlich: »Fräulein Zöllner, lassen Sie sich vor dieser Person warnen, die mir ein Greuel ist, weil sie im ganzen Hause herumspioniert und meiner Schwägerin, bei der sie lieb Kind ist, jeden Quark zuträgt. Das Frauenzimmer steht aber in ihrem persönlichen Dienst, und darum kann ich sie nicht gut an die Luft setzen, um so mehr, als sie sehr schlau ist und einem wie ein Aal durch die Finger schlüpft. Also –«

»Also – durch diesen recht durchsichtigen Schleier habe ich bereits einen Blick getan und die kostbaren Dienste der Jungfer Adelheid dankend abgelehnt«, fiel Theo lachend ein. »Daß sie an der Tür gehorcht hat, während ich bei Fräulein von Ganting war, hat mir ein stummer Zeuge verraten; ob meine Ablehnung ihrer Hilfe aber Erfolg haben wird, möchte ich dahingestellt sein lassen.«

»Ich auch«, brummte Reudnitz in den Bart und setzte nicht ohne eine gewisse Bitterkeit hinzu: »Sie werden einen netten Begriff von mir, beziehungsweise von meiner Hausherrlichkeit bekommen, weil ich Ihnen doch notgedrungen als ein alter Waschlappen erscheinen muß, der nicht mal so viel Autorität besitzt, sich eine Weiberherrschaft vom Halse zu schaffen, die ihm das Leben im eigenen Hause verbittert! Das kommt von der falschen Pietät und einer ungesunden Sentimentalität, die aus ganz dummem, sogenanntem Zartgefühl vor einem Ende mit Schrecken zurückscheut und dafür einen Schrecken ohne Ende erntet! Lassen Sie sich das zur Lehre dienen, daß man nie etwas aus ›Pietät‹ laufen lassen muß, was einem gegen das Gefühl geht.«

»Es kommt halt eben alles auf die Umstände an«, meinte Theo teilnahmsvoll. »Als im Märchen Sindbad, der Meerfahrer, aus purer Gutmütigkeit den Meergreis auf die Schulter nahm, dachte er auch nicht, daß der Gute diesen Platz nicht mehr zu verlassen wünschte. Bis die Stunde kam, wo Sindbad es nicht mehr aushielt ––«

Über Reudnitz' Züge ging ein Zucken wie Wetterleuchten, das sich alsbald zu einem ausgesprochenen Schmunzeln verdichtete.

»Sie sind eine kostbare junge Dame«, sagte er bewundernd. »Die Analogie stimmt ausnahmsweise mal aufs Haar, was man nicht immer behaupten kann. Ja, ich erinnere mich des Märchens. Ich lese heut noch gern welche; denn ich gehöre nicht zu denen, die sich einbilden, daß Märchen nur für Kinder geschrieben sind und ein kindliches Verständnis voraussetzen. Sie sind im Gegenteil eigentlich in erster Linie für Erwachsene zum Nachdenken geschrieben. Wieviele Sindbads laufen nicht mit ihrem Meergreis auf den Schultern herum! Wie war doch das Ende? Was hat Sindbad schließlich gemacht?«

»Er hat den Meergreis an einem Felsen zerschellt und war dann frei«, erwiderte Theo lächelnd. »Der Felsen ist wahrscheinlich auch nur ein Vergleich.«

»Natürlich, und ein recht drastischer dazu«, nickte der Kommerzienrat. »Als Alexander der Große den Gordischen Knoten, den er positiv anders nicht lösen konnte, mit dem Schwerte durchhieb, hat er auch bewiesen, daß drastische Mittel manchmal die einzigen sind, die zum Ziele führen.«

Sabinens Eintritt unterbrach die Unterhaltung, welche den alten Herrn sehr angeregt haben mußte; denn er war sichtlich in bester Laune, als er gleich darauf Miene machte, sich zurückzuziehen.

»Wollen wir etwa zusammen noch vor Tisch etwas ins Freie gehen?« fragte er an der Tür.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Sabine unentschlossen. »Wir haben noch eine reichliche Stunde bis zum Abendessen, und wenn Fräulein Zöllner etwa bis dahin ruhen will – oder möchten Sie lieber auspacken? Ich helfe Ihnen sehr gern dabei!« Theo sah den Kommerzienrat fragend an.

»Soll ich auspacken?«

»Unter allen Umständen«, erwiderte er mit Nachdruck. »Das heißt, natürlich nur, falls Sie die Büchse nicht heute schon ins Korn werfen wollen!«

Theo lachte hellauf und schob ihren Arm in den Sabinens.

»Ich nehme Ihre Hilfe mit Vergnügen an«, rief sie. »Ein Koffer im Zimmer ist so schrecklich ungemütlich.«


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