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3. Kapitel

Kaum hatte Theo die Tür des Vorzimmers zu Fräulein von Gantings Salon geschlossen, so packte Adelheid eiligst ihre Näharbeit zusammen, klopfte an, und trat, ohne die Einladung dazu abzuwarten, bei Ihrer Herrin ein, was diese in ihrem Nachdenken, in das sie versunken war, durchaus nicht zu stören schien. Die Kammerjungfer machte sich allerlei zu schaffen, rückte Stühle zurecht, hob einen Faden vom Teppich auf und räusperte sich dann energisch.

»Schöne junge Dame, die Gesellschafterin«, begann sie endlich vor ihrer Herrin stehenbleibend.

»Findest du? Nun, das ist Geschmacksache«, erwiderte Cordula als hätte sie auf diese Einleitung gewartet.

»Freilich, freilich« bestätigte Adelheid zustimmend. »Es gibt viele Leute, besonders Männer, die so was sehr schön finden. Die schlanke Figur, die weiße Haut, das prachtvolle Haar –«

»Unnatürlich, dieses Gelb!« murmelte Fräulein von Ganting vor sich hin.

»Wie'n Kanarienvogel!« setzte Adelheid sofort eine Hyperbel auf das Stichwort, nach welchem sie vorsichtig geangelt hatte, um sich danach zu richten. »Freilich ist die gelbe Farbe unnatürlich, wie gnädiges Fräulein mit Ihrem Scharfblick gleich zu erkennen geruhten. Aber so was fällt eben auf. Sieht wie eine verkleidete Prinzessin aus, das Fräulein.«

»Warum nicht gar!« »Na, es gibt doch verschiedene Sorten von Prinzessinnen, zum Beispiel Theaterprinzessinnen«, meinte Adelheid in sondierendem Drumherumreden. Und als ihre Herrin, aufmerksam geworden, sie erstaunt ansah, fuhr sie ermutigt fort: »Mit aller Untertänigkeit erlaube ich mir zu bemerken: Das Fräulein hat so was – was vom Theater an sich. Womit ich natürlich nichts gesagt haben will. Aber wenn das gnädige Fräulein mich fragen: Sie trägt mir den Kopf zu hoch und wird doch für ihre Dienste genau so bezahlt wie ich. Womit ich aber nichts gesagt haben will.«

Cordula behielt für sich, wie sie über diese dreiste Bemerkung dachte, ließ sie aber ungerügt, was Adelheid mit vollem Recht für eine Zustimmung nahm. Sie wußte sehr genau, daß ihre Herrin Stellung gegen eine Gesellschafterin ihrer Nichte genommen hatte, und erriet auch den Grund dazu; sie war schlau genug, zu ermessen, daß mit einem schwindenden Einfluß Fräulein von Gantings auch ihr eigener Platz an den Fleischtöpfen Ägyptens gefährdet war. Durch die immer näher rückende Möglichkeit einer Verheiratung Sabinens schwebte ohnedem das Schwert des Damokles über der Herrscherherrlichkeit Tante Cordulas im Hause des Kommerzienrats, der nach Adelheids Dafürhalten ›das gnädige Fräulein anscheinend doch nicht zu heiraten beabsichtigte, wie diese es wohl gewünscht und erwartet hatte‹.

Was Reudnitz betraf, so hatte Adelheid bezüglich der Wünsche ihrer Herrin jedenfalls einen größeren Scharfblick bewiesen wie in Bezug auf sich selbst, indem sie sich dem süßen Wahne hingab, dem Herrn des Hauses ein nicht unangenehmer Anblick zu sein, eine Selbsttäuschung, der ja so viele Leute verfallen, die sich allmählich fest einbilden, was sie selbst gern möchten und voraussetzen.

In Bezug auf Adelheids Ideen über Fräulein von Gantings geheime Wünsche und Hoffnungen mag es dahingestellt bleiben, ob die schlaue Person recht damit hatte; Tatsache jedoch war, daß sie ein mal gelegentlich einer Verstimmung ihrer Herrin über eine ihr ungelegene Anordnung des Kommerzienrats den ebenso kühnen wie unverschämten Trost gewagt hatte: »Nun, nun, das kann ja alles wieder geändert werden, wenn gnädiges Fräulein erst Frau Kommerzienrat sind!« Zwar hatte Cordula kurz gesagt: »Rede nicht solchen Unsinn!« aber die Zurechtweisung hatte so mild und – nun ja, so geschmeichelt geklungen, daß Adelheid triumphierend dachte: »Also doch! Freilich, wozu wäre sonst auch die neue, sündhaft teure Perücke notwendig gewesen, wo doch die alte noch so hübsch, wenn auch ein bissel fuchsig war?«

Daß zwei Jahre seit dem Tode von Frau Reudnitz vergangen waren, ohne daß Fräulein von Ganting auch dem Namen nach die Stelle ihrer Schwester einnahm, war nach Adelheids Meinung kein Grund, die Sache als gescheitert zu betrachten; aber immerhin mußte doch damit gerechnet werden, daß der Kommerzienrat nicht gewillt war, Cordula zu seiner zweiten Frau zu machen. Adelheid aber blickte noch weiter, als ihre Herrin es vielleicht selbst tat, und war entschlossen, ihr darüber einen Wink zu geben, wozu sie jetzt den Augenblick gekommen sah, da ihre Bemerkung über die Gesellschafterin, die den Kopf zu hoch trägt, keine Zurechtweisung erhielt.

»Na, wie gnädiges Fräulein und untertänigst auch ich über dieses Fräulein Zöllner denken mögen – lassen muß man es ihr schon, daß sie doch eine sehr auffallende Person ist, genau das, was die Männer allemal besticht. Die dunklen Augenbrauen und Wimpern mögen ja gefärbt sein und die Haare auch, wohinter ich schon noch kommen werde; aber den Männern verschlägt so was nicht, wenn's nur sonst gut aussieht. Ich war einmal in meiner Jugend in Stellung bei einem Witwer, das heißt, natürlich nur bei seinen erwachsenen Töchtern. Für die kam auch so'n Fräulein zum Französischparlieren ins Haus. Hübsch war sie ja, das mußte ihr der Neid lassen, und was war das Ende vom Liede? Der Herr hat sie geheiratet. Geheiratet! Denken das gnädige Fräulein mal bloß! Das fiel mir gleich ein, wie ich Fräulein Zöllner vorhin zum ersten Male sah. Und der Herr, von dem ich spreche, war noch weit älter wie der Herr Kommerzienrat. Ja, ja, die Männer! Alter schützt vor Torheit nicht, besonders, wenn so ein hübsches, junges Lärvchen daherkommt. Und was ich eigentlich fragen wollte: »Was wünschen gnädiges Fräulein heute abend anzuziehen?«

Es war ein sehr diplomatischer Zug von Adelheid, daß sie die grausige Geschichte von dem alten Witwer nicht weiter ausspann, sondern nur sein Alter mit dem des Kommerzienrates verglich und dann zur Alltäglichkeit überging; ihrer durchaus klugen Meinung nach durfte man die Wirkung seiner Winke nicht durch allzuviel Drum und Dran abschwächen. »Zuviel Wasser verfault das Samenkorn; aber wenn man es in Ruhe läßt, keimt es ganz von selbst.« Am Ende war das gnädige Fräulein noch gar nicht auf eine solche Möglichkeit gekommen; und vorgewarnt ist so gut wie vorgebeugt.

Cordula hatte indes diesen Gedanken ganz von selbst gehabt und ihn, wie wir wissen, dem Kommerzienrat sogar schon angedeutet, aber es machte sie doch sehr stutzig, daß auch andere schon dasselbe gedacht hatten, daß sie es denken konnten; die äußere Erscheinung der »Stellvertreterin«, die ihr Amt dazu auf so ganz unbestimmte Zeit antrat, hatte ihren Befürchtungen neue Nahrung gegeben. Es wegzuleugnen, daß dieses Fräulein unbestreitbar ein sehr schönes Mädchen war, das brachte Cordula trotz aller Voreingenommenheit im tiefsten Schreine ihres Herzens vor sich selbst nicht fertig; auch das alles »echt« an ihr war, hatte ihr sonst so getrübtes Auge sehen müssen. Wenn sie vor ihrer Kammerjungfer grundsätzlich den allgemein günstigen Eindruck abzuschwächen suchte, so hatte das den Zweck, einer etwaigen Parteinahme für den »Eindringling« vorzubeugen. Auch ihr Stillschweigen zu der impertinenten Kritik ihrer Dienerin verfolgte dieses Ziel, weil Fräulein von Ganting sich in dem seligen Glauben wiegte, daß ihr Urteil das Ausschlaggebende für ihre Untergebene sein mußte. Es wiederholte sich damit eben wieder einmal Bürgers köstliche Ballade vom »Kaiser und vom Abt«, dem Abt, der bekanntlich ein sehr gelehrter Herr gewesen – »nur schade, sein Schäfer war klüger als er!«

Beim Abendtisch trugen der Kommerzienrat und Theo ziemlich allein die Kosten der Unterhaltung. Sabine, die Theo sichtlich bemüht war dauernd ins Gespräch zu ziehen, trug nur wenig dazu bei, weil die Gegenwart ihrer Tante sie schüchtern und befangen machte; denn Fräulein von Ganting hüllte sich in tiefes Schweigen, das sie in den letzten Tagen für eine wirkungsvolle Waffe gehalten hatte. Erst beim Nachtisch und als die beiden Diener den Speisesaal verlassen hatten, ging sie zu einer Offensive über, für welche die Gelegenheit ihr günstig schien.

»Fräulein Zöllner!« nahm sie nach einem einleitenden, die Aufmerksamkeit fordernden Räuspern das Wort. »Habe ich mich vorhin verhört oder haben Sie meine Nichte wirklich mit dem Vornamen angeredet?«

»Gewiß, gnädiges Fräulein, Sie haben ganz richtig gehört«, erwiderte Theo mit liebenswürdigster Bereitwilligkeit. »Sabine hat mir die Freude gemacht, mich zu fragen, ob sie mich mit meinem Vornamen nennen dürfte.«

»Das war von meiner Nichte sehr – impulsiv, um nicht zusagen voreilig und aufdringlich«, sagte Cordula scharf mit einem so verweisenden Blicke auf die arme Sabine, daß diese ganz blaß vor Angst wurde. »Daß Sie aber Ihre Stellung so – falsch auffassen konnten, so ohne weiteres Gleiches mit Gleichem zu erwidern, das ist doch wohl etwas reichlich und mir ein Beweis, daß Ihnen die Umgangsformen unserer Kreise nicht hinreichend geläufig sind.«

Der Kommerzienrat, der seiner Schwägerin mit einem sonderbaren Gemisch von Grimm und Belustigung in den Augen zugehört und sie ruhig hatte ausreden lassen, öffnete schon den Mund zu einer Entgegnung, als Theo ihm zuvorkam.

»Wenn gnädiges Fräulein mir die Kenntnisse der Formen Ihrer Kreise nicht zutrauen, so ist das ja freilich schmerzlich, entschuldigt mich anderseits aber auch«, sagte sie im liebenswürdigsten Unterhaltungston, als handle es sich gar nicht um eine persönliche Sache, sondern nur um ein allgemeines Argument. »Wenn Sabine Ihre Kammerzofe – nur um ein Beispiel anzuführen – mit Vornamen anredet, ob gebeten oder ungebeten, und die Dienerin erwidert Gleiches mit Gleichem, so wäre das natürlich eine glatte Unverschämtheit. Da ich aber nicht als Sabinens Kammerjungfer, sondern als ihre Gefährtin mit ausdrücklicher Betonung der Gleichberechtigung hierhergekommen bin, so würde ich mich doch in ein sehr sonderbares Licht setzen, wenn ich mich von ihr ›Theo‹ nennen ließe und sie mit ›Fräulein Reudnitz‹ oder gar mit ›gnädiges Fräulein‹ anreden wollte. Ich wette, Sie wären in diesem Falle die erste, die mich auf eine solche Unschicklichkeit aufmerksam machen würde. Wofür ich Ihnen ja noch obendrein zum größten Dank verpflichtet sein müßte.«

Tante Cordula, die wieder einmal das Gefühl hatte, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen, gab das Gefecht trotzdem noch nicht verloren, weil sie das Schweigen ihres Schwagers total mißverstand und in ihm eine Zustimmung ihrer Auffassung zu erblicken vermeinte.

»Sabine«, sagte sie hochmütig, »du wirst von Stund' an deine – mundfertige Gefährtin wieder ›Fräulein Zöllner‹ nennen!«

»Warum nicht gar!« fiel Reudnitz ruhig ein. »Meine Schwägerin, liebes Fräulein Zöllner, hat die Sachlage noch nicht recht verstanden, das ist die ganze Geschichte. Erstens, daß ich für Sabine keinen Schicketanz oder Prügeljungen wünschte, sondern eine Gefährtin, die ihr auch eine Freundin ist. Zweitens sind Sie, Fräulein Zöllner, freiwillig zu uns gekommen und damit auch in einer vollständig unabhängigen Lage. Ich erkenne es Sabine dankbar an, daß sie mit ihrer Bitte, Fräulein Zöllner beim Vornamen nennen zu dürfen, gleich den rechten Ton getroffen hat, und wünsche, daß es dabei bleibt und ich von dir, liebe Schwägerin, aufs kräftigste und wärmste darin unterstützt werde.«

Cordula war klug genug, einzusehen, daß ihr gar nichts anderes übrigblieb, wenn sie es nicht zu einem offenen Zerwürfnis kommen lassen wollte. Sie machte daher gute Miene zum bösen Spiel und sagte nach einem kurzen Kampfe mit sich selbst sauersüß:

»Alles verstehen, heißt alles verzeihen. In dieser Darstellung hat die Angelegenheit allerdings ein anderes Gesicht, und wenn ich mich vielleicht schärfer ausgedrückt haben sollte, als ich es tatsächlich gemeint, so trifft die Schuld dich, lieber Schwager. Warum hast du mir das alles nicht schon früher erklärt?«

»Ja, warum?« brummte Reudnitz grimmig, »Na, Schwamm drüber! Schmal, wie ich sonst bin, ist mein Rücken immer noch breit genug, um sich die ganze Schuld aufhucken zu lassen. Bist du fertig, Cordula? Na, dann erlaube, daß wir aufstehen, um den Rest des schönen Abends im Freien zu genießen, Fanfaro, junges Volk, Signal zum Schwärmen!«

Aus dem Speisesaal, der zu ebener Erde unmittelbar unter dem Zimmer Sabinens lag und gleichfalls die im Amönenhof beliebte ovale Form aufwies, trat der kleine Kreis durch die offene, hohe Glastür hinaus auf die Terrasse vor dem See, und während Fräulein von Ganting sich mit fieberhaft jagenden Gedanken auf einen bequemen, mit Kissen belegten Rohrsessel setzte, gingen die jungen Damen, begleitet von dem Kommerzienrat, der sich eine Zigarre angezündet hatte, auf und ab. Der Widerschein des letzten Abendsonnengoldes lag noch auf den Wipfeln der Bäume am anderen Ufer, während er in vollem Glanze die darüberragenden Berge beleuchtete und das große, mit Türmen flankierte Viereck eines weißen Schlosses, das auf einer dieser Anhöhen lag, rosig überhauchte.

»Das ist Schloß Weißenfels«, erklärte der Kommerzienrat auf Theos Frage. »Seit dem Tode des letzten Herzogs der jüngeren Linie, dessen Tochter und Erbin den regierenden Herzog der älteren geheiratet hat, ist der kolossal große Bau nicht mehr bewohnt worden. Natürlich ist ein Schloßhauptmann darin, – ja, Cordula, dabei fällt mir ein, wir werden bei ihm, beziehungsweise seiner Frau wohl endlich einen freundnachbarlichen Besuch machen müssen. Groß ist der Verkehr für den Amönenhof in der Gegend ja nicht, aber was er bietet, wollen wir natürlich mitnehmen, und da die letzten Handwerker zum Glück endlich zum Tempel hinaus sind, haben wir auch keinen Grund mehr, unsere Höflichkeitsbesuche noch länger hinauszuschieben.«

»Gewiß, wenn du es wünschest, bin ich bereit dazu«, erwiderte Fräulein von Ganting. »Mit Auswahl natürlich«, setzte sie hinzu.

»Na, von Auswahl ist hier eigentlich nicht die Rede«, meinte Reudnitz. »Wer es als nachbarliche Aufmerksamkeit von uns erwarten darf, wird mit unserem Besuch beglückt. Die Liste dazu ist kurz genug. Zu unserm nächsten, unmittelbaren Nachbarn von Mühling auf Steinau fahre ich natürlich allein, weil er Junggeselle ist und daneben ein großer Jägersmann. Mir macht's gelegentlich auch mal Spaß, einen Bock zu schießen – einen vierbeinigen, Notabene!

»Bitte, Böcke haben keine Beine, sondern Läufe«, fiel Theo lachend ein.

»Richtig! Na, dann hätten wir ja schon den ersten Bock geschossen«, meinte Reudnitz gut gelaunt. »Wie gut, daß Sie das Jägerlatein ebensogut verstehen, wie das der alten Römer, Fräulein Zöllner! Ja, ja, mache nur große Augen, Sabinchen, mein Kind, sie versteht's wirklich. Sie hat mich auf dem Heimweg heute nachmittag beinahe damit in Verlegenheit gebracht! Um auf unsere Besuchsliste zurückzukommen – – da käme für uns also in Betracht der schon genannte Schloßhauptmann, der Regierungspräsident in Weißenfels und der Amtsgerichtsrat ebendaselbst. Das wäre alles. Hoffentlich sind's nette, umgängliche Leute, denn ich denke mir einen gemütlichen Landverkehr als etwas recht Angenehmes, weil ich im ganzen ein geselliger alter Knabe bin und es auch für Sabine ganz gut wäre, wenn sie mal zunächst im kleineren Kreise die Kraft ihrer Schwingen erprobte.«

»Oh – Sabine hat jetzt ihre – Gefährtin«, bemerkte Fräulein von Ganting nicht ohne Schärfe. »Es würde sich wohl besser für sie schicken, wenn sie im nächsten Winter zuerst in den Stadtkreisen ausgeführt würde, was ich aber durchaus noch nicht für notwendig halte und keineswegs befürworten möchte.«

»Sabine ist achtzehn Jahre alt und kann nicht ewig in der Kinderstube bleiben«, versetzte Reudnitz ruhig. »Ich kann dir ja vollständig nachfühlen, daß dir vor der Rolle der Ballmutter auf dem ›Drachenfels‹ graut, aber das mutet dir ja auch kein Mensch zu, verehrte Schwägerin. Ich werde mich mit Heldenmut als Ballvater opfern und meine Tochter pflichtgemäß ausführen. Es wird's einer alten Dame, die nicht die Mutter ist, niemand übelnehmen, wenn sie sich von solchen anstrengenden Scherzen drückt.«

Cordula von Ganting antwortete nicht gleich; denn ihr war bei der Ankündigung dieser neuen »Kaltstellung« kein schlechter Schrecken in die Glieder gefahren. Natürlich bediente sie sich dem anscheinend ganz harmlos gemachten Vorschlage gegenüber keines so frivolen Ausdruckes, aber sie empfand ihn doch als einen Schlag ins Gesicht, und die »alte Dame« trug nicht dazu bei, ihn erträglicher zu machen. Indes war sie klug genug, sich nichts davon merken zu lassen, das gelang ihr jedoch wohl nur bei der unschuldigen Sabine; denn gar so harmlos hatte es der Kommerzienrat nun doch nicht gemeint, und Theo erriet unschwer die Gefühle, die er mit seinen Worten im Busen seiner Schwägerin erweckte.

»Nun, soweit sind wir ja noch nicht. Darüber kann man seinerzeit noch reden«, sagte Cordula beherrscht. »Also willst du, daß Sabine uns bei den Besuchen begleitet?«

»Ja, das will ich. Sabine und Fräulein Zöllner – mitgefangen, mitgehangen – begleitet uns. Platz für vier ist ja im Auto«, erklärte Reudnitz sehr bestimmt.

»Fräulein Zöllner?!« wiederholte Cordula aufhorchend. »Aber lieber Jakob, welche Rolle soll denn Fräulein Zöllner bei unseren Besuchen spielen?«

»Die Rolle unseres Gastes und der Freundin Sabinens«, versetzte der Kommerzienrat ruhig.

»Lieber Jakob, könnten wir das nicht besser unter vier Augen besprechen?« fragte Cordula sanft und eindringlich.

»Wieso unter vier Augen?« erkundigte sich Reudnitz ruhig. »Du hast eine Frage gestellt, die allerdings besser unter vier Augen auszusprechen gewesen wäre, und ich habe dir die Antwort darauf gegeben. Womit die Sache wohl erledigt ist. Wo waren wir denn eigentlich stehengeblieben? Richtig, bei den Besuchen, die uns also nicht allzusehr anstrengen werden. Übrigens hätte ich fast vergessen, daß in der Haupt- und Residenzstadt Weißenfels noch eine alte Oberhofmeisterin der letzten seligen Herzogin lebt, der man, wie mein Gewährsmann, der Schloßhauptmann, mir sagte, unbedingt einen Besuch machen muß. Eigentlich ist es doch recht schade, daß dieses schöne, große Schloß dort oben immer leer steht und damit so allmählich vermodern und verfallen wird.«

»Es stand aber heute im Weißenfelser Tagblatt, daß der Herzog, die Herzogin und der Erbprinz demnächst zu längerem Aufenthalt hier einzutreffen gedenken«, wagte Sabine einzuwenden. »Ich habe auch heute alle Fenster des Schlosses geöffnet gesehen – wollten Sie etwas sagen, Theo?« unterbrach sie sich, als die letztere eine unwillkürliche Bewegung machte.

»Ich wollte nur sagen, es sei alles mögliche, daß auch der Erbprinz ›gedenkt‹, sich an dem Aufenthalt zu beteiligen«, sagte Theo rasch gefaßt. »Er ist nämlich, soviel ich weiß, erst ein Jahr alt.«

»Hofjargon, liebes Fräulein«, lächelte der Kommerzienrat. »Je kleiner der Hof, um so bombastischer der Stil und um so strenger das Zeremoniell. Ich wette, daß es bei diesem Duodezfürsten zugeht, wie am spanischen Hofe von Anno Tobak! Die Wette wird freilich wohl unausgetragen bleiben müssen, da wir ja als nicht ›hoffähig‹ auch nicht in die Lage kommen werden, uns persönlich zu überzeugen.«

Das konnte Cordula von Ganting denn doch nicht unberichtigt lassen. »Wenn du das ›wir‹ auf dich und deine Tochter beziehst, so hast du wohl recht, obschon es ja jetzt Sitte geworden ist, auch die Vertreter der Großindustrie an die Höfe zu ziehen«, bemerkte sie hochmütig. »Ich für mein Teil aber bin hoffähig und halte es durchaus nicht für ausgeschlossen, daß ich mich zur Vorstellung bei der Herzogin melden werde.«

»Des Menschen Wille ist sein Himmelreich«, sagte Reudnitz lachend. »Wenn's dich also glücklich macht, so tue was du glaubst nicht lassen zu können.«

Damit nahm er seinen Abendspaziergang mit den beiden jungen Mädchen wieder auf und überließ Cordula ihren Gedanken, die sich natürlich wieder um den Pol drehten, der jetzt ihr ganzes Sinnen und Trachten beschäftigte. Daß dieser »fremden Person«, dieser Zöllner, auf dem so sorgsam vorgezeichneten Wege nicht beizukommen war, hatte sie zum Glück schon in den ersten Stunden eingesehen. Sie sagte sich selbst noch einmal »zum Glück«, trotzdem ihre ersten Angriffe jedesmal mit einer empfindlichen Niederlage geendet hatten. Erstens war ›dieses Mädchen‹ ihr an Schlagfertigkeit überlegen und dabei doch so merkwürdig schwer von Begriffen, und zweitens wurde sie durch Reudnitz unterstützt. Drittens aber – und das schien in Cordulas Augen die größte Gefahr zu sein – ›schwärmte‹ Sabine mit der ganzen Torheit ihrer achtzehn Jahre bereits für diese Fremde, die dem »dummen Mädel« natürlich durch ihre Überlegenheit, ihre ›freche Haltung‹ und durch ihr Äußeres imponierte. Wäre die Stellvertretung ›dieser Person‹ nur eine kurz vorübergehende gewesen, so hätte man sich damit abfinden können; weil Typhus jedoch eine langwierige und gefährliche Krankheit und die Genesungsperiode noch langwieriger ist, so mußten eben Mittel und Wege gefunden werden, die gefährliche Stellvertretung zu entfernen, ehe sie volle Gewalt über Sabine gewann und womöglich den alten Narren, Jakob Reudnitz, in ihre Netze zog.

Cordula hatte sich bisher viel auf ihre ›Konsequenz‹ zugute getan und damit allerdings auch vieles erreicht, besonders das warme Nest im Hause ihres Schwagers; aber nun begann sie einzusehen, daß eine Änderung der Taktik nicht nur von größtem Vorteil sein konnte, sondern direkt geboten war. Nachdem sie das bei sich erwogen hatte, war sie für den Rest des Abends bis zum Auseinandergehen für die Nacht nicht mehr ausgesprochen ungnädig und beim ›gute Nacht‹ sogar ganz liebenswürdig, in welche angenehme Stimmung sogar Theo eingeschlossen wurde, was diese als etwas ganz Selbstverständliches hinnahm, Sabine selig machte, den Kommerzienrat aber mit düsteren Ahnungen erfüllte; denn er kannte ›seine Pappenheimer‹. Also überlegte er, entweder will sie sich in den Status quo finden, und das bedeutet dann einen Status quo in aeternum, oder sie hat noch andere Eisen im Feuer. Na, werden's ja sehen! Jedenfalls: das famose Mädel, die Zöllner, wird gehalten; denn erstens scheint sie ganz die Richtige für Sabine zu sein, und zweitens – überhaupt!


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