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6. Kapitel

Cordula war von dem fürstlichen Besuch nicht sehr erbaut, was sie auch nicht verfehlte beim Abendtisch zu verkündigen.

»Den Herzog möchte man eher für einen kleinen Beamten halten als für einen Souverän«, dozierte sie. »Und die Herzogin paßt nun schon ganz und gar nicht für ihre hohe Stellung. Schon ihre ganze Ausdrucksweise ist direkt unpassend. Und erst ihre Toilette! Eine regierende Fürstin läuft doch nicht in einem weißen Leinenkleide Besuche machen wie ein Schulmädchen! Nun, sie hat ja dafür freilich immer noch die Entschuldigung ihrer Jugend; aber gerade diese beanstande ich! Es sollte gesetzlich verboten sein, daß solch ein unreifes Geschöpf eine Stellung einnimmt, die reife Menschen dazu zwingt, Devotionen zu erweisen, die ihnen gebührten. Sie weiß sich ja gar nicht zu benehmen!«

»Ist mir nicht aufgefallen«, schaltete Reudnitz ein, als Cordula Atem schöpfte. »Ich fand das Benehmen der Herzogin ganz reizend. Mir gegenüber war es jedenfalls alles, was man nur wünschen kann, und auch dir hat sie doch alle die Ehren erwiesen, die einem älteren Gaste des Hauses gebühren.«

»So? Nun, ich fand es direkt unpassend, daß sie Sabine den ersten Platz neben sich einräumte«, behauptete Cordula mit erhöhter Stimme.

»Ich muß dir leider widersprechen«, erklärte Reudnitz ruhig. »Sabine steht als erwachsene Tochter unzweifelhaft an der Stelle ihrer leider fehlenden Mutter.«

Cordula wollte auffahren, besann sich aber eines Bessern.

»Nun, lassen wir das«, sagte sie abwehrend. »Wenn du deiner Tochter Raupen in den Kopf setzen willst, so ist das deine Sache, und ich wasche meine Hände. Übrigens scheint die Herzogin bei aller ihrer großen Unzulänglichkeit noch große Sonderbarkeiten zu haben, die fast auf eine erbliche Belastung schließen lassen. Ich pflückte im holländischen Garten für sie den Strauß Rosen, den sie beim Abschied in der Hand hatte. Während ich damit beschäftigt war, nahm sie in der Taxusnische Platz, und dort sah und hörte ich sie die ganze Zeit über mit geradeaus gerichtetem Blick immerzu vor sich hinpappeln. Was sie redete, konnte ich natürlich nicht verstehen. Sie hörte damit erst auf, als ich wieder zu ihr zurückkehrte. Solche laute Selbstgespräche deuten bei einer so jungen Person denn doch schon auf eine Art von Blödsinn – warum lachen Sie, Fräulein Zöllner? Was kommt Ihnen bei einem solchen traurigen Zustand komisch vor?«

Theo hätte nicht um die Welt umhin gekonnt, zu lachen, besonders, da sie sich im Geiste schon darauf freute, der Herzogin die in der Taxusnische gezeigte geistige Minderwertigkeit vorzuhalten.

»Ja«, gestand sie unumwunden ein. »Ich muß darüber lachen, daß die hohe Dame – gepappelt hat. Pappelnde Menschen sind mir immer sehr komisch vorgekommen.«

»Das zeugt allerdings für ihr eigenes – unqualifizierbares Gemüt«, versetzte Cordula verächtlich, fuhr aber wie gestochen auf, als auch der Kommerzienrat und Sabine sich vor Lachen schüttelten.

»Nun, ich sehe, daß ich im Begriff bin, in diesem Kreise fremd zu werden«, sagte sie pikiert, indem sie die Serviette zusammenfaltete. »Ich werde mich jetzt lieber zurückziehen. Der Tag war anstrengend, und sein Schluß ist – degoutant!«

»Versteht sich, liebe Schwägerin«, meinte Reudnitz gemütlich. »An solche Scherze muß man sich erst sachtchen wieder gewöhnen. Besonders angreifend sind sie, wenn man sich dazu in ungewohnte Gala wirft, wie du es für nötig befunden hast. Mich hat mein guter Stern gottlob noch vor dem Frack gerettet; sonst wäre ich jetzt auch so gut wie erschossen, und die Herrschaften hätten sich auch noch über den ehemaligen Schlossergesellen mokiert, der den Schniepel für den Höhepunkt höfischen Schliffes hält. So aber hat der herzogliche Besuch mich sehr erfrischt, und meine lange Unterhaltung mit dem Herzog war für mich durch die Intelligenz, mit der er das technische Thema behandelte, ein wahrer Genuß.«

»Nun, dann war es ja gut, daß du ihn ausgenutzt hast; denn er wird wohl nicht mehr wiederkehren«, bemerkte Cordula giftig.

»Im Gegenteil – der Herzog verhieß mir eine Fortsetzung bei sich«, berichtete Reudnitz behaglich. »Und auch die Herzogin sagte zu Sabine ›Auf Wiedersehen bei uns auf dem Weißenfels!‹«

»Redensarten!« brummte Cordula deutlich genug. »Freilich«, setzte sie achselzuckend hinzu, »die Herzogin betonte ja wiederholt, daß sie auf den Weißenfels ein paar Wochen gewissermaßen inkognito, frei vom Hofzwang, zu verleben wünschen, und darum ist ja auch nicht ausgeschlossen, daß im Punkt der Hoffähigkeit einmal ein Auge zugedrückt werden könnte, was in der Residenz natürlich ganz ausgeschlossen wäre.« –

Am nächsten Morgen beim Frühstück, an welchem Cordula trotz ihrer Drohung immer noch verschmähte teilzunehmen, erklärte Reudnitz, nach der Stadt fahren zu müssen, da er auf dem dortigen Bankhause Geschäfte zu erledigen habe.

»Darf ich mitfahren?« fragte Theo lebhaft. »Ich muß nämlich mal auf der Post nachsehen, ob Briefe für mich da sind; denn da ich nicht genau wußte, ob meine Stellvertretung auch wirklich angenommen werden würde, habe ich mir Nachrichten über meine Freundin und auch andere Korrespondenzen postlagernd nach Weißenfels bestellt. Ich sehne mich danach, zu hören, wie es der armen Anna geht.«

»Natürlich, kommen Sie nur mit – soll mir sogar sehr angenehm sein«, sagte Reudnitz sofort. »Und du auch, Sabine. Ob du darfst? Na, wenn ich dir's sage –! Wozu solltest du dich hier auch alleine mopsen?«

Und so fuhren die drei bald nach dem Frühstück ab, und ein ganz vergnügtes Trio war's, das in dem fast lautlos dahingleitenden Auto durch den herrlichen warmen Morgen der Stadt zueilte. Während Reudnitz seine Geschäfte im Bankhaus erledigte, begaben sich die jungen Damen auf das Postamt, wo Theo zwei Postkarten des Sanitätsrats und ein dicker Brief aus Berlin ausgehändigt wurden. Daß dieser das zurückgesandte Kartenspiel enthielt, daran zweifelte Theo nicht, und sie steckte den Brief mit einem leisen Gefühl der Enttäuschung zu sich; denn eine so rasche Erledigung konnte wohl nur einen Fehlschlag bedeuten. Hingegen erfüllten die Nachrichten über ihre Freundin sie mit großer Freude; denn nach einigen sehr kritischen Tagen war ihr Zustand besser geworden, ohne freilich eine baldige Genesung zu verheißen.

Theo schrieb auf der Post rasch eine Antwort und wiederholte darin ihre Bitte, alles Erforderliche zum Behagen der Kranken zu tun und sie selbst für die Kosten verantwortlich zu machen.

Wieder im Amönenhof in ihrem Zimmer angelangt, erbrach Theo mit großer Spannung den Brief des Professors Findelkind, der zwar sehr eingehend war, aber auch, wie erwartet, eine Enttäuschung brachte.

*

» Es handelt sich«, schrieb er , »bei den beifolgend zurückgehenden Karten um eine im achtzehnten Jahrhundert in Italien entstandene und beliebte Geheimschrift, die aber ohne den dazu absolut notwendigen Schlüssel, der auch wieder Vorbedingungen erfordert, jeder Bemühung zu ihrer Entzifferung spottet, und wenn man hundert Jahre darüber raten und grübeln wollte. Die Sache ist folgende: Zunächst muß die Person, für welche die Mitteilung auf den Karten bestimmt ist, eingeweiht sein, daß heißt, sie muß wissen, daß die Karten in einer bestimmten Reihenfolge auszulegen sind; auch wie die daraufgeschriebenen Buchstaben gelesen, beziehungsweise aneinandergereiht werden müssen, damit Worte entstehen. Das ist die erwähnte Vorbedingung. Der Schlüssel, welcher dem Empfänger das ›Wie‹ sagt, ist natürlich dann in einem Kryptogramm eingekapselt, das man allein nach vorheriger Verabredung entziffern kann; die Anweisung, wie, in welcher Reihenfolge nach Farbe, beziehungsweise Zeichen (Coeur, Careau, Pique, Treff) und dem aufgedruckten Werte nach die Karten ausgelegt werden müssen, ist in irgendeiner offenen, scheinbar ganz harmlosen Mitteilung enthalten, die durchaus nicht in Chiffren geschrieben zu sein braucht, sondern einfach in der Landessprache abgefaßt sein kann. Der getroffenen Abrede zufolge weiß dann der Empfänger, mit welchem der in senkrechten Reihen geordneten Buchstaben er beginnen muß. Ob aber dabei Reihen übersprungen werden müssen, ob von oben oder unten begonnen wird, ob nur Buchstaben ausgezählt werden sollen – das würde selbst der Schlüssel, wenn er noch vorhanden sein sollte, nicht verraten; denn das ist eben Sache der Verabredung. Das Coeur-As weist, abgesondert, einen Buchstaben mehr als die methodisch auf den anderen Karten verteilten auf. Es kann den Anfang anzeigen, kann aber ebensogut den Schluß bedeuten infolge eines überzähligen Buchstabens, der sich in der Gleichzahl der in den Reihen enthaltenen nicht mehr unterbringen ließ. Der Namenszug auf der Rückseite dieser Karte braucht nicht unbedingt als Unterschrift unter den Schluß gedeutet zu werden. Er ist möglicherweise unabhängig von der Sache selbst einmal auf die Karte geschrieben worden; gewissermaßen als ein ›Exlibris‹, da viele Leute, zu denen ich selbst gehöre, es lieben, durch ihren Namen, wo er sich anbringen läßt, ordnungsgemäß ihr Eigentumsrecht kundzutun. Wäre ich im Besitz des Schlüssels, so könnte ich vielleicht durch hartnäckig verfolgte Proben die Schrift schließlich entziffern; aber die Frage wäre nur die: Lohnte es die Mühe und die aufgewendete Zeit? Namentlich bei dem augenfälligen Alter der Schrift?! Sie machen in Ihrem Briefe Andeutungen über einen verlorenen oder verborgenen Schatz, über dessen Verbleib das Kartenrätsel möglicherweise Aufschluß geben könnte. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach sind solche Schätze aber nicht wie Chimären, die nur in den Köpfen der Menschen spuken, die einen solchen Schatz brauchen könnten, und sich in Romanen schön und spannend verwerten lassen, sonst aber schon längst zum ausgedroschenen Stroh gehören. Stammen die Karten, wie es die Unterschrift ja beglaubigt, aus schwerbewegter Zeit und ist die Schrift darauf auch aus jenen Tagen – was ich annehmen möchte, da die benutzte Tinte mich als Kenner darauf hinführt – so glaube ich eher, daß sie irgendwelche politische Mitteilung enthalten könnten; aber auch ein ›Familiengeheimnis‹ braucht darum nicht ausgeschlossen zu sein. In beiden Fällen wäre der Nutzen einer Entzifferung heut nicht mehr einzusehen, es müßte denn sein, daß die erstere Annahme von historischem Wert für die Zeitgeschichte wäre.«

*

Mit einem kleinen Seufzer der Enttäuschung versteckte Theo die Karten zunächst wieder an ihrem alten Platz, überlas den Brief des Professors noch einmal und zog die Stirn in krause Falten.

»Hätte man nur wenigstens den Schlüssel«, dachte sie zum soundsovielten Male. »Ist das dumme Gedicht dieser Schlüssel? Was sollte es sonst sein, wenn's die Urgroßmutter als heiliges Vermächtnis dem Sohn auf dem Sterbebette übergab? Aber, wenn der Professor recht hat, was nützte es ohne die Vorbedingungen! Ob Leo Zimburg nicht darauf vergessen wird, es mir zu leihen? Nein, sicher nicht! Ich weiß zwar nicht, woher ich diese Zuversicht habe, aber ich habe sie eben. Und ich brenne darauf, den Schatz zu finden – Feuer und Flamme bin ich! Eigentlich ist das dumm; denn wenn er wirklich der Bruder Leichtfuß ist, als welcher er gemalt wird, dann würde er es schnell genug wieder verjuxen. Aber ich weiß nicht – ich kann ihn nicht dafür halten; denn wenn er mir auch nicht gerade wie ein ›höheres Wesen‹ vorkommt, wie der gute Willig dem kleinen Schäfchen Sabine, so ist's doch gerade seine ganze Menschlichkeit, die mich zu ihm hinzieht, die treuen, klaren, reinen Augen, mit denen er einen anschaut. Ja, reine Augen sind es, bei deren Blick man an Leichtsinn oder gar Laster nicht glauben möchte; Augen, die –– – Herrschaft, der Tisch-Tamtam dröhnt! Erst wird der Brief aber verschlossen, ehe dieser Liebling der Götter, die holde Adelheid, wieder die geputzten Schuhe bringt, die ich eben anhabe.« –

Adelheid hatte die Schuhe gestern zwar wirklich nicht gebracht, dafür aber etwas mitgenommen, was sie natürlich wieder zurückbringen beabsichtigte, also gewissermaßen nur als Zwangsanleihe betrachtete, die sie gerade noch unter die Schürze stecken konnte, als Theo ihr die Tür gegen den Kopf schlug. Eigentlich war es nichts von Bedeutung, was sie nur für ihre Herrin »zum Zeigen« ohne Erlaubnis mitgenommen hatte; nur eine Photographie Theos, die sie heim Durchsuchen der Sachen in dem offenen, äußeren Seitenfach der Reisetasche »entdeckt«, dieser Reisetasche aus Krokodilleder, deren Wert auch nicht zu der Stellung einer bezahlten Gesellschafterin stimmen wollte! Besagte Photographie war auf einen Karton aufgezogen, dessen Rückseite den Namen eines bekannten Berliner Hofphotographen trug, was Adelheid allerdings nichts sagte: aber vielleicht interessierte sich das gnädige Fräulein – oder wie Adelheid sie zu ihrem Privatgebrauch abkürzend nannte – »die Alte« für das Bild, und man stieg damit wieder um eine Stufe höher in ihrer Gunst. Also nahm sie es mit, um es gelegentlich wieder an seine alte Stelle zurückzutragen.

Cordula interessierte sich wirklich sehr für dieses Bild, das sie ohne Mühe als eine unretuschierte Liebhaberphotographie erkannte, wozu aber der Karton nicht recht stimmen wollte – indes konnte das Bild in Ermangelung eines anderen Kartons darauf aufgezogen worden sein. Ja, das Bild war wirklich recht interessant. Auf dem Hintergrund eines prächtigen Parks, der den Blick auf einen Teil eines schloßartigen Gebäudes frei ließ, stand »diese Zöllner«, angetan mit einer »Toilette«, die vor lauter Einfachheit ordentlich die Adresse einer erstklassigen Schneiderwerkstatt herausschrie, eine »Toilette«, die einen hübschen Groschen Geld gekostet haben mußte. Und das spielte hier Gesellschafterin? Nun, diese Photographie war ganz wertvoll als Stein für das Mosaik, das sich immer mehr zum Bilde zusammenfügte. Noch ein, zwei Steinchen mehr, und dann – –

Cordula mußte sich dieses Bild immer und immer wieder betrachten und machte dabei eine neue Entdeckung: Die Amateurphotographie war über eine andere geklebt, die jedenfalls wohl ursprünglich zu dem Karton gehört; man konnte das ganz deutlich an den Rändern erkennen, die zwei Schichten zeigten. Da Cordula ohnedies nicht die Absicht hatte, das Bild seiner Besitzerin zurückzustellen, so zögerte sie auch nicht, es sofort in ein Wasserbad zu legen, das die Ablösung der oberen Photographie schnell genug bewirkte, während die darunter geklebte noch fest auf dem Karton haftete. Und diese letztere enthüllte abermals ein Bild »dieser Zöllner«, und zwar eines, das noch mehr überraschte. Warum es unter der anderen verborgen wurde, war nicht schwer zu erraten. Das Original hatte seinen Namen darunter schreiben wollen, aber beim »T« hatte die Feder gespritzt und einen tüchtigen Tintenklecks gemacht, wodurch das Bild zum Verschenken nicht mehr geeignet erschien. Und es zeigte sie in »großer Toilette«, in ausgeschnittenem Kleide von weißem, silberbesticktem Chiffon, und an den Schultern war eine Courschleppe befestigt von schwerer, weißer Seide, mit – mit, wahrhaftig, mit echten Spitzen besetzt und mit Tuffs von Maiglöckchen verziert. Vom Hinterkopf fiel, gehalten durch einen diademartigen Kamm, der ganz nach Brillanten aussah, zurückgehalten durch Maiglöckchenzweige, ein duftiger Schleier herab, und um den schlanken Hals war ein sogenanntes »Hundehalsband« von Perlen mit Brillantschließen gelegt, während eine lange Schnur großer Perlen von der Büste bis über das Leibchen lang herabfiel!

»Courtoilette!« sagte Cordula, ganz starr vor Staunen. »Theaterschmuck wohl eher! Nun, das wäre ja ganz interessant, wenn diese Pracht nichts als Theaterflitter wäre; und was sollte es wohl anders sein? Natürlich stellt es sie in irgendeiner Rolle dar, in der sie sich hat photographieren lassen, wie es so üblich bei den Theaterpinzessinnen ist. Dahinter muß man also kommen! Und ich werde dahinterkommen, so wahr ich Cordula von Ganting heiße und Gan-Erbin von Burg Ganting bin!« –

Am nächsten Tag hatte Theo »frei«. Cordula hatte gefunden, daß Sabine denn doch einer Ergänzung ihrer Garderobe für etwaige Einladungen bedürfe, da sie nun einmal doch »schon erwachsen« sein sollte, und war zu diesem Zweck mit ihr nach Weißenfels gefahren: die Begleitung Theos lehnte sie ab, da sie auf deren Geschmack eifersüchtig war und eigensinnig darauf bestand, ihn »theatralisch« zu nennen. Dazu kam noch, daß Theo sich erlaubt hatte, einige leise Zweifel in die Fähigkeiten einer Schneiderin in einem kleinen Nest zu setzen, und die Adresse einer großen Werkstatt in Berlin genannt hatte, der man auf Grund eines Maßkleides eine Bestellung auch aus der Ferne mit Ruhe anvertrauen dürfe. Cordula hatte sich die Adresse wohl gemerkt, aber dagegen eingewendet, daß nach ihren Angaben eine kleinstädtische Schneiderin befriedigend arbeiten würde.

So war Theo denn allein zurückgeblieben, hatte ein paar Briefe geschrieben, und nachdem sie dieselben durch den briefkastenartigen Schlitz in die verschlossene Posttasche in der Halle gesteckt, schlenderte sie mit einem Buche hinaus in den Park und durch die Ulmenallee am See entlang einer Bank zu, auf der sie lesen und träumen konnte, bis der »Dienst« sie wieder ins Haus zurückrufen würde.

Nach Erreichung der Bank aber spürte sie Lust, noch ein wenig weiter zu wandeln. Es war so traumhaft ruhig und still hier, und ein schmaler, schattiger Pfad, der aus der Allee um das Ostende des Sees zu führen schien, war so verlockend zum Dahinwandeln, weil er immer wieder köstliche Durchblicke auf den tiefgrünen, glitzernden See gewährte, über dem schillernde Libellen gaukelten.

Aber Theo, die diesen Pfad zum erstenmal betrat, bemerkte bald zwischen den Bäumen ein Drahtnetz, das jedenfalls wohl eine Grenze zu bedeuten hatte oder zum Schutz gegen das Wild gezogen war. Ob der Park jenseits dieses Drahtnetzes noch zum Amönenhof gehörte, wußte sie nicht. Wenn sie den Pfad trotzdem noch weiter verfolgte, so geschah es nur, um zu sehen, ob er nicht doch noch um den See führte; denn sie wußte, daß ein schmaler Streifen des Waldes am anderen Ufer noch zu dem Besitz gehörte.

Aber eine jähe Biegung nach links brachte sie vor eine verschlossene Lattenpforte, an deren anderer Seite, eine kurze Pfeife rauchend, Graf Leo Zimburg lehnte.

»Ich war neugierig, zu sehen, wem das weiße Kleid gehört, das ich durch die Bäume leuchten sah«, rief er grüßend herüber. »Offen gesagt, ich hatte einen Ahnimus, daß Sie es sein könnten, Fräulein Zöllner, und wartete darum, ehe ich vor diesem Hindernis auf meinem Spaziergang wieder kehrtmachte.«

»Und ich hoffe an dem Drahtzaun vorbei ans andere Ufer gelangen zu können«, erwiderte sie, ihm durch die Latten die Hand reichend. »Ich vermute, daß dies die Steinauer Grenze ist.«

»Ja, sie ist eine Errungenschaft der letzten Zeit, denn früher war hier nichts von einem Drahtgitter zu sehen«, erklärte Zimburg. »Die Grenze lag vor ein paar Jahren noch weiter zurück, aber nachdem mein Vater an Mühling diese Parzelle verkauft hatte, wurde das Gitter um so viel vorgeschoben. Womit denn auch das bißchen jagdbarer Wald, der früher zum Amönenhof gehörte, zum Gewesenen zu rechnen ist, wie für mich jetzt der ganze Besitz. Das Gewesene scheint überhaupt ein Hauptfaktor im Kreislauf des Lebens zu sein«, schloß er mit einem Seufzer.

»Wenn man bedenkt, daß die vorige Stunde schon zum Gewesenen gehört, so ist dagegen nichts einzuwenden«, versetzte Theo nachdenklich. »Aber ich meine, was man richtig benutzt hat, bleibt trotzdem das unsere. Das ist ja freilich schön und leicht in der Theorie gesagt, aber in der Praxis sieht's doch anders aus. Du lieber Himmel, wieviele Stunden bleiben ungenutzt hinter uns liegen und keine Macht der Erde bringt sie wieder zurück.«

»Ich möchte sie auch gar nicht wiederhaben mit all dem Stroh, das darin gedroschen wurde, mit all ihren Irrtümern und Bitternissen«, sagte Zimburg grimmig. »Es soll ja wahr sein, daß man auch daraus Weisheit und Erfahrung gewinnen kann, aber ich finde, daß der Gewinn recht teuer bezahlt ist.«

»Je höher der Preis, um so wertvoller der Gewinn – sagt man«, nickte Theo. »Ich habe auch mal irgendwo gelesen, daß dieser Gewinn ein Kapital ist, das erst später im Leben Zinsen trägt. Das hat mir eingeleuchtet.«

»Wer's erlebt, kann sich ja darauf freuen«, meinte er achselzuckend. »Aber das Warten darauf scheint mir denn doch eine verflixt langwierige Geschichte zu sein. Ich bilde mir ein, daß ein Mensch, der allein die Schuld daran trägt, wenn's abwärts mit ihm geht, durch diese Erkenntnis neue Tatkraft in sich spüren müßte, weil doch jeder anständige Mensch das Bestreben hat, oder es haben sollte, sich und andern den Beweis zu liefern, daß er imstande ist, begangene Irrtümer wieder wettzumachen. Aber wenn nun ein Mensch positiv nichts dafür kann, daß er vor die Hunde gegangen ist, dann geht das Gewesene doch heftig an die Nieren, und es ist wirklich verteufelt hart, für anderer Schuld büßen zu müssen.«

»Das mag wohl sein, aber –«

»Aber ich glaub's nicht, daß es so ist, wollen Sie sagen!« fiel Zimburg ein. »Vielleicht haben Sie recht, wenn Sie meinen, daß jeder immer einen Teil der Schuld des anderen mitträgt, sei's durch sorgloses In-den-Tag-Hineinleben, sei's durch dumme, sträfliche, jedenfalls falsche Rücksichtnahme. – Fräulein Zöllner, Sie haben sehr beredte Augen, in denen ich einmal viel Verständnis für mich und meine Gefühle las und in denen ich jetzt eben den Gedanken lese: Was will er mit dem ganzen Gerede? Will er sich weiß waschen von der Tatsache, daß er Haus und Hof durch seine Schuld verloren und nun mit dem Rest seiner Habe ein Bummlerleben führt und seinen Freunden auf der Tasche liegt?«

Theo trat einen Schritt zurück, besann sich aber und trat wieder näher.

»Das ist ja schrecklich, daß meine Augen Worte reden, die mein Kopf nicht denkt!« sagte sie freundlich, aber ernst. »Erstens habe ich gar kein Recht, Anklagen zu denken, für die mir jeder Beweis fehlt, und dann –«

»Ach, ich weiß es ja nur zu genau, was die Leute über mich reden«, unterbrach er sie. »Wenn Sie's gehört haben, wär's ja gar nicht anders möglich, als daß Sie's glaubten.«

»Das ist's ja gerade eben! Ich glaub's nicht«, versicherte sie eigentlich ganz gegen ihren eigenen Willen, aber getrieben durch eine innere Überzeugung, auszusprechen, wofür sie keine Beweise hatte.

»Warum glauben Sie es nicht?« fragte er nach einer Pause.

»Ja, warum nicht?« wiederholte sie. »Ich kann das wirklich nicht sagen. Es ist nur ein Gefühl, das mich zwingt, an Sie zu glauben – ein Instinkt meinetwegen! Dagegen kann man nichts tun.«

»Gott segne Sie für dieses gute Wort!« rief er herzlich, indem er ihr seine braune Sportfaust durch das Gatter entgegenstreckte und ihre Hand so fest drückte, daß es sie fast schmerzte. »Sie glauben gar nicht, wie wohl es tut, wenn einem jemand sagt, daß er an einen glaubt, trotzdem dem Anschein nach alle Beweise gegen ihn sind. Darf ich Ihnen ungeschminkt und unverblümt sagen, wie es gekommen ist, daß ich das Erbe meiner Väter verkaufen mußte – oder langweilt es Sie?«

,,Sicher nicht«, erklärte Theo freundlich. »Wenn es Sie erleichtert, mir, einer Fremden gegenüber, darüber zu sprechen –«

,,Nachdem Sie mir gesagt haben, daß Sie das Gerede über mich instinktiv nicht glauben, sind Sie keine Fremde mehr für mich«, fiel er fast fröhlich ein. »Die Geschichte ist übrigens kurz genug: Wir Zimburgs von Amönenhof waren früher sehr reich; aber dieser Begriff hat schon durch die schwere Not der Kriege im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts eine wesentliche Einschränkung erfahren. Dennoch aber blieb uns noch genug, um als sehr wohlhabend zu gelten; doch allerlei Verluste, besonders ein schwerer durch einen Bankkrach, haben unter meinem Großvater auch das recht beschnitten, wie ich jetzt erst weiß; denn mein Vater, der wohl geglaubt hatte, das Verlorene wieder ersetzen zu können, ließ mich in dem Glauben, daß unsere finanzielle Lage eine sehr gute sei. Viele Väter haben das so an sich, ihre Söhne nur um Gottes willen keinen Einblick in ihre Verhältnisse tun zu lassen, gerade so wie es traditionell ist, daß Monarchen ihre Thronerben möglichst fernab von ihren Regierungsgeschäften halten. Na, mein Vater huldigte eben auch diesem Grundsatz! Er war einer von den vielen Vätern, die immer nur den schuldigen Respekt von ihren Söhnen verlangen, ihnen aber kein Vertrauen einflößen und auch keins gewähren. Mein Großvater hatte es auch so gehalten, folglich mußte es das Richtige sein! Was mich betrifft, so habe ich keineswegs, etwa durch die Unkenntnis der Lage verführt, Mißbrauch mit der Annahme getrieben, daß wir als reiche Leute uns nichts abgehen zu lassen brauchten. Ich bin kein Spieler und kein Trinker, habe mich auch nie dazu verleiten lassen, mein Geld für Ballettmädel wegzuwerfen, was mir immer als der Höhepunkt der Dummheit vorgekommen ist. Ich hatte keine sogenannten ›noblen Passionen‹, aber, in einem teuern Regiment stehend, das mein Vater selbst für mich ausgesucht, habe ich für den Rennsport viel verbraucht – immer in dem schönen Wahne, daß wir's ja dazu hätten. Das aber hätte immer noch zu keiner Katastrophe geführt; denn wenn mein Rennstall auch einen hübschen Groschen kostete, so habe ich doch meist Glück mit meinen Pferden gehabt, und meine persönlichen Schulden waren nicht der Rede wert – Läpperschulden ist dafür der Kunstausdruck. Aber was ich nicht wußte, sondern erst nach dem Tode meines Vaters erfuhr: Er hatte für einen Freund gutgesagt, und dieser edle Zeitgenosse wußte genau, daß er nicht zahlen konnte, sondern meinen Vater mit einer Summe hineinritt, die ihm nahezu sein ganzes Kapital kostete. Wenn ich also von der ›Schuld anderer‹ sprach, so meinte ich in der Hauptsache diesen falschen Freund, kann meinen seligen Alten aber auch nicht ganz freisprechen; denn er hätte wissen müssen, was eine Bürgschaft bedeutet, sich erkundigen sollen, wie es um die Sicherheit stand, und mir reinen Wein einschenken müssen, als die Sache zum Klappen kam. Nichts von allem geschah. Ich lebte in glänzender Unwissenheit der Lage weiter, mein Vater grämte sich zu Tode und schämte sich vielleicht auch, mir seine Leichtgläubigkeit einzugestehen – kurz und gut, als er starb, fand ich außer dem Luxusbesitz, der der Amönenhof doch nun einmal ist, nicht nur nichts, sondern auch noch die Schulden, die mein Vater machen mußte, um so weiterleben zu können wie vor der Katastrophe mit der Bürgschaft. Was blieb mir übrig, als den Amönenhof zu verkaufen? Ich kann ja noch von Glück sagen, daß ich so schnell einen Käufer vom Kaliber des Kommerzienrats Reudnitz fand, der die Kaufsumme bar auszahlte! Damit habe ich dann meines Vaters und meine eigenen paar Schulden bezahlt, habe die liebe, alte Uniform ausgezogen und -«

»Theo! Theo!« zirpte ein dünnes Stimmchen aus der Ferne; aber wenig sonor, wie's klang, hörten's in der Ruhe der Natur die beiden am Grenzzaun doch, und Zimburg brach kurz ab.

»Die Pflicht ruft!« sagte Theo mit Bedauern. »Also genug denn für heute, Graf Zimburg! Ich danke Ihnen herzlich für das, was Sie mir erzählten. Es hat meine instinktive Auffassung Ihres Falles ja nur bestätigt und – wenn ich es aussprechen darf, meine Sympathie vertieft. Auf Wiedersehen!«

Wortlos zog er den Hut; aber diesmal waren es seine Augen, die so dankbar auf sie herabsahen und noch manch anderes dazu sagten, daß sie sich schnell abwendete, um ihren Rückweg anzutreten. Sie war aber erst ein paar Schritte weit gegangen, als er ihr halblaut nachrief:

»Fräulein Zöllner, bitte, noch ein Wort! Es betrifft das Gedicht meines Urgroßvaters, das Sie gern sehen wollten. Ich hab's nämlich gefunden und zu mir gesteckt. Darf ich's Ihnen geben?«

»O ja, bitte«, sagte sie zurückkehrend und nahm ein vielfach gefaltetes, mürbes und vergilbtes Blatt von dem groben, rauhen Papier jener Tage in Empfang, das er ihr über den Zaun reichte.

»Danke vielmals! Ich werde es gut verwahren und Ihnen ehrlich zurückerstatten.

»Daran zweifle ich nicht. Aber ich möchte die Bitte aussprechen, das Ding nicht für die Allgemeinheit zu verwerten. Ich meine –«

»Ich soll's für mich behalten. Gewiß, Sie haben darüber zu bestimmen. Ich werde es niemand zeigen und verstehe ganz gut Ihre Beweggründe.«

»Sie verstehen mich überhaupt! Wenn ich Ihnen nur sagen könnte, wie wohl das tut –«

»Theo! Theo!« klang es bedeutend näher von der Allee her. Theo schob rasch das Papier in die Hülle ihres Buches wie in eine Tasche, nickte nochmals freundlich zurück, und hinter der Biegung des Weges verschwindend, rief sie laut: »Sabine! Hier bin ich!«

Als das weiße Kleid nicht mehr durch die Bäume leuchtete, rührte sich Leo Zimburg erst von der Stelle, aber ehe auch er ging, streichelte er leise die Stelle der Latte, auf welcher Theos Hand geruht.

,,Dummer Kerl!« redete er sich selbst dabei an. »Aber was nutzt's, daß ich mir Ehrentitel gebe? Gar nichts nutzt's! Wie heißt's im ›Trompeter‹? ›Den Mann hat's.‹ Heute weiß ich's ganz gewiß, daß es mich ›hat‹. Vorher war's nur so ein Ahnen, so ein dumpfes Gefühl. Aber jetzt, wo ich's so todsicher weiß, muß ich doch sehr genau mit mir ins Gebet gehen; denn was hab' ich ihr denn zu bieten, als mein ehrliches Herz und meinen Titel, für den kein Jude mir mehr einen Pfennig gibt, auf den ›drüben‹ die Leute bloß pfeifen. Vielleicht pfeift sie auch drauf, und das wäre noch das beste. Aber da ich ihr leider kein Bett von Rosen bieten kann, sondern im besten Falle höchstens eine Seegrasmatratze, so muß ich mich doch sehr prüfen, ob das auch recht von mir wäre – – Mühlings Wink mit dem Zaunpfahl, der ja auch der Grund seiner Einladung an mich war, von wegen des kleinen Goldfischleins drüben im Amönenhof, war ja gut gemeint, aber – hol's der Deixel – verkaufen kann ich mich nicht. Ich bring's nicht über mich! Hab's ja oft bei anderen gesehen und – was dabei herauskommt. Ich schäme mich schon, daß ich mich zu dem höchst überflüssigen Besuch da drüben habe pressen lassen. Ja, und dabei freut's mich doch, daß ich so schwach war; denn sonst hätte ich ja die – die andere nicht kennengelernt. Vielleicht wär's ja besser gewesen, ich hätte sie nie gesehen, und doch, und doch – im schlimmsten Falle bleibt's eine schöne Erinnerung fürs ganze Leben. Wie heißt's in dem Liede, das mir immer so albern vorkam? ›Die Engel nennen es Himmelsfreud', die Teufel nennen es Höllenleid, die Menschen nennen es Liebe!‹ Nein, albern ist das denn doch nicht. Vorläufig halte ich's noch mit der Auffassung der Engel.«

Und an seiner Pfeife ziehend, ohne es zu merken, daß sie längst kein Feuer mehr hatte, ging er waldein. –

Theo konnte kaum abwarten, bis sie am Abend endlich allein in ihrem Zimmer war, und da hatte sie auch noch einen Besuch Sabinens und einen minutiösen Bericht auszuhalten über den Besuch bei der Schneiderin in Weißenfels. Dies erledigt, war Theo sich endlich selbst überlassen; aber als sie sich Rechenschaft ablegen wollte über die Ursache ihrer Sympathie für Leo Zimburg, gelang es ihr nicht.

»Was braucht man erst lange nach Gründen für seine Sympathien und Antipathien zu suchen?« überlegte sie mit dem schönen Optimismus, der ihr angeboren war. »Die ganze Weisheit ist die: Antipathien sollen einen nicht zu Ungerechtigkeiten verleiten und Sympathien nicht zur Unüberlegtheit. Wenn's nämlich geht – das ist der Kasus!«

Damit holte sie das alte, vergilbte Blatt hervor, das Zimburg ihr gegeben, faltete es vorsichtig auseinander und las, nicht ohne Kopfschütteln, die verblichene, altväterische Schrift, wie folgt:

 

»Es war einmal (Tatsache ist's, darum habt Acht!)
Ein Bube, der hat sich zum Sprichwort gemacht.
Zu den Damen hat es ihn mächtig getrieben,
Er hatte der Bräute nicht wen'ger wie Sieben!
Man behauptet sogar (doch ich hab's nicht gelesen),
Es wären Neun oder Zehn gar gewesen.
Doch der Krug geht solange zum Brunn, bis er bricht,
Und so kam für den Trefflichen auch das Gericht.
Er hat sich, verschmäht, verfolgt und verlacht,
Noch zur knappen Not aus dem Staube gemacht.
Da so Viele auf ihn ihre Pique verhängt,
Ward' ihm der Name ›Freyer- König‹ geschenkt.
Nun sitzt er allein, denn er lebt noch zur Stund',
Hat niemand als seinen Karo, den Hund.
Die Moral ist sehr einfach: Wenn Trumpf ist Herz-As,
dann macht's einen Stich und nicht mehr, merk' dir das!
Dies ist der Schlüssel zum Rätsel des Lebens,
Steck' ihn in die Tasche, sonst suchst du vergebens.«

 

Zwei-, dreimal las Theo das »dumme und schlechte Gedicht« aufmerksam durch, und je öfter sie's las, um so heller wollte ihr der Schimmer vorkommen, den sie zu sehen meinte. »Natürlich«, überlegte sie glühend vor Eifer, »natürlich, wenn man von den Karten nichts weiß und sie nicht hat, dann muß einem dieses Gedicht ja schrecklich dumm und albern vorkommen. Ich wundere mich nur, daß von den Herren Sachverständigen keiner daraufgekommen ist, den Bezug auf ein Kartenspiel herauszutüfteln! Freilich, hätte ich selbst sie nicht gefunden und dem guten Professor nicht geschickt, dann stünde ich wohl ebenso ratlos vor diesem verkapselten Familiengeheimnis wie die drei Generationen der Zimburger vom Amönenhof selbst! Mehr noch: Ohne des Professors Erklärung stünde ich vor den Karten ebenso ratlos da, wie zuvor. Aber nur langsam! Daß der Urgroßvater seinem Diener das Blatt nicht mit den Karten übergeben hat, dafür liegt der Grund nahe genug; denn bei ihm gefunden, hätten die gezeichneten Blätter begründeten Verdacht erregen müssen, während das spaßige Gedicht dem Besitzer höchsten Spott eintragen konnte. Also versteckte der Urgroßvater die Karten an einem Ort, den er am Schlusse seines Poems unverständlich für einen dritten, aber deutlich genug für seine Frau gekennzeichnet hatte, in die Tasche dort hinter der Falte des Vorhangs. Hätte ich sie nicht zufällig gefunden, oder vorbestimmt, wie man's auffassen will, so würde mir die Schlußzeile ebensowenig sagen, wie den Zimburgern und ihren teuern Experten. Infolge meiner leicht errungenen Weisheit meine ich auch in den doppelt unterstrichenen Worten ›Trefflichen‹, ›Pique‹, ›Karo‹ und ›Herz‹ die Reihenfolge zu sehen, in welcher die Farben der Karten ausgelegt werden sollen. Die Geschichte, die darum herumgesponnen worden ist, dient ja nur dazu, diese vier Worte – Treff, Pique, Careau, Coeur – zu umkleiden und für Unberufene unverständlich zu machen. Also machen wir mal eine Probe. Genau betrachtet, habe ich wohl eigentlich kein Recht, hinter ein Familiengeheimnis von Leuten zu dringen, die mich so gut wie nichts angehen; uneigentlich aber will ich mir selbst dieses Recht verleihen! Nicht aus nackter und schnöder Neugier, die freilich in mir rumort, sondern um zu wissen, ob sich's lohnt, Leo Zimburg, dem amen Kerl, die Geschichte kundzutun. Mach ich die Probe nicht und gebe ich ihm das Gedicht mitsamt den Karten zurück, dann werden in ihm am Ende nur falsche Hoffnungen geweckt, und die Enttäuschung ist um so größer, wenn's nichts damit ist, sondern am Ende gar etwas Unangenehmes. Das würde ich viel leichter ertragen können als er, selbst wenn's schon über hundert Jahre alt ist. Also – die Probe!«

Theo holte die Karten aus ihrem Versteck heraus und legte sie auf dem Tisch in der Reihenfolge aus, wie das »Gedicht« sie angab; zu oberst die Treffreihe, darunter die Piques, unter diese die Careaux, und zuletzt die Coeurs, und zwar in der Folge, wie sie bei allen Spielen üblich ist: As, König, Dame, Bube, Zehn, Neun, Acht, Sieben. Dann probierte sie alle nur möglichen Lesearten, um aus den Buchstaben Worte zu bilden; von oben nach unten, von unten nach oben, durch überspringen von Zeichen und Reihen, durch Beginn mit dem überzähligen T auf dem Coeur-As, auf das ja das Gedicht noch besonders hinwies. Aber alles war umsonst. Trotz aller Geduld verstrichen Stunden, nach deren Verlauf sie so klug war wie zuvor. Ganz erhitzt von der geistigen Anstrengung, gab sie für heute die Hoffnung auf die Lösung des Rätsels auf.

»Der Professor wird schon recht haben! Ohne die Verabredung zu wissen, könnte man hundert Jahre darüber sitzen, ohne zu einem Resultat zu kommen«, dachte sie noch im Einschlafen. »Und doch und doch – ich gebe die Sache noch nicht auf, sie hat mich gepackt. Warum, weiß ich freilich nicht; denn was geht mich denn in aller Welt die ganze Geschichte an?« –


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