Heinrich Zschokke
Der Freihof von Aarau
Heinrich Zschokke

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34.
Die Schlacht bei St. Jakob.

Während die Greise im Turm von Rore Bilder und Geschichten aus ihrer Jugendzeit auffrischten, ihre späteren Abenteuer und Glückswechsel einander vertraulich mitteilten und ihre Bekehrungsversuche fortsetzten, verbreiteten sich seit der letzten Augustwoche sehr widersprechende und beunruhigende Gerüchte über den Verlauf des Krieges, so daß sich bald alle Aufmerksamkeit dahin wendete. Der Dauphin von Frankreich, hieß es, sei mit ungeheurer Kriegsmacht über Basel gegen den Jura vorgedrungen; habe bei dieser Stadt ein Heer der Eidgenossen, 4000 Mann stark, bis auf den letzten Mann niedergehauen, so daß keiner entkommen wäre, und rücke nun unaufhaltsam vor, um das ganze Schweizerland einzunehmen. Man zeigte zur Bestätigung dessen nicht nur die Abschrift eines Briefes, den Thüring von Hallwyl der Ältere an den Markgrafen Wilhelm von Hochberg nach Zürich gesandt haben sollte, vor; sondern mehrere Flüchtlinge auf dem Gebiete von Basel betätigten das unglückliche Ereignis und teilten zugleich mit, daß die Belagerung des Schlosses Farnsburg aufgehoben und die Eidgenossen in vollständiger Flucht wären. Es kam sogar eine Nachricht, daß sich die Berner und Solothurner von Zürich nach Baden und Lenzburg zurückgezogen hätten, daß die Gebirgsvölker von Glarus, Schwyz und Unterwalden, auch die von Zug und Luzern, über den Albis heimgingen und daß alles verloren sei.

Viele gutgesinnte Bürger Aaraus rieten zu stärkerer Befestigung der Stadt und sprachen den festen Vorsatz aus, in verzweifelter Wehr für ihre und die Freiheit Berns unter dem Schutte ihrer Wohnungen und Tempel sterben zu wollen. Viele der achtbarsten Männer des Rates kamen in den Freihof, um sich mit Herrn Rüdiger zu beraten. Die Gemeinde ernannte den Junker Gangolf zum Kriegsobersten; von ihm war jedoch, seit er mit den Eidgenossen vor Farnsburg gelagert, keinem Kunde mehr angelangt. Dem allgemein verbreiteten Gerüchte nach sollte er in der Schlacht bei Basel gefallen sein.

Der gewaltige Schrecken über die Niederlage an der Grenze milderte sich jedoch bald durch neuere Nachrichten. Die anfängliche Wut des Volkes verwandelte sich bald in trotzigen Stolz und der ausgesprochene Fluch über die Feigheit der besiegten Krieger ging in Bewunderung ihres Heldengeistes über. Man vernahm nämlich, daß nicht 4000, sondern kaum 2000 Eidgenossen einen unglaublich heldenmütigen Kampf gegen die gesamte französische Kriegsmacht bestanden hätten; daß darauf der Dauphin, statt gegen das Juragebirge zu ziehen, sein Volk zurück, in den Elsaß und Schwarzwald gelegt habe. Er soll, so wurde erzählt, auf seine Ehre versichert haben, daß er ein standhafteres Volk als die Eidgenossen nie gesehen; daß er sie nicht weiter versuchen wolle, weil er sie ihrer Tapferkeit wegen hochachten müsse. Man hörte sogar, daß Frankreich von dem österreichischen Bündnisse zurückgetreten, daß für den Beginn der Friedensverhandlungen zwischen Frankreich und den Eidgenossen schon ein Tag bestimmt sei.

Indessen konnte Herr Rüdiger Trüllerey, weil mehrere Wochen ohne jede Nachricht von ihm verstrichen waren, seine wachsende Unruhe um Gangolf's Schicksal nicht verbergen. Obwohl er sich im stillen für einen bessern Christen hielt als seinen wiedergefundenen Freund Jörg, dessen Reden nur allzu sehr nach ärgerlicher Ketzerei schmeckten, mußte er doch zugestehen, daß er von dessen felsenfestem Glauben und der harmlosen Zuversicht auf Gott noch weit entfernt war. Der Lollhard hielt ihm daher auch vergebens sein eigenes Beispiel darüber vor, daß er nämlich um das Loos der verlornen und geliebten Tochter ohne Bekümmernis lebe, dieweil er wisse, sie sei in Gottes Hand; sie werde eher freiwillig das Leben hingeben, als die Tugend meiden; doch sei der Tod kein Übel, sondern das Ende aller Übel. Rüdiger dachte nur daran, was er jedoch dem Bruder Jörg, als den Hauptgrund seines stillen Kummers nicht gestehen wollte, daß Gangolf der letzte vom Stamme der Trüllerey im Aargau sein würde.

Das Geräusch ankommender Pferde, welches eines Nachmittags von der Zugbrücke des Burggrabens im Freihofe gehört wurde, endete alle Bekümmernisse des Vaterherzens. Gangolf und Isenhofer sprangen, nebst den Knechten, von denen sie begleitet waren, frisch und wohlgemut aus dem Sattel der Pferde. Die Nachbarn liefen erfreut herbei, um die Ankommenden und besonders den wackern schönen Junker zu sehen und ihn freundschaftlich zu bewillkommnen. Herr Rüdiger, sonst selbst gegen den Sohn gebieterisch und einsilbig, überließ sich diesmal seiner vollen Freude und trat ihm unter der Turmpforte mit ausgebreiteten Armen entgegen. Und doch empfand er schwerlich so große Freude, als Gangolf beim Anblick der noch nie gesehenen Heiterkeit seines Vaters und dessen inniger Traulichkeit mit dem Lollhard. Wegen seines langen Ausbleibens und des seine Angehörigen beunruhigenden Schweigens entschuldigte sich der Jüngling mit so gewichtigen Gründen, daß ihm die väterliche Verzeihung nicht vorenthalten bleibe konnte. Nach Aufhebung der Belagerung von Farnsburg hatte er die entführte Tochter des Lollhard mehrere Wochen lang in den Thälern des Jura, vom Weißenstein bis zum Bötzberg, in allen Richtungen, doch mit sehr vergeblicher Mühe gesucht. Nicht die geringste Spur vom Dasein der schönen Beguine war zu entdecken gewesen. Ein geringer Trost war ihm von Farnsburg aus geworden, nämlich die Gewißheit, daß sie durch Thomas von Falkenstein niemals dahin gebracht worden sei. Das hatte er von Männern erfahren, die, um wegen Übergabe zu unterhandeln, ins Lager der Eidgenossen gekommen waren.

Während der gegenseitigen Mitteilung der Erlebnisse der letzten Zeit hatte sich die Sonne hinter die Tannen des Gebirges niedergesenkt und der Abendstern leuchtete hell über den Wartburgtrümmern. Herr Rüdiger führte seine Gäste in den Speisesaal. In der Mitte stand der Tisch mit vielen Gedecken, von Speisen aller Art fast überladen; daneben ein altmodischer Schenktisch mit Weinkannen von schwerer Silberarbeit. Herr Rüdiger wollte die Wiederkehr seines Sohnes mit einem stattlichen Mahle feiern und verkündete im voraus seinen Zorn, wenn Bruder Jörg den vergnügten Kreis vor Mitternacht verlassen würde. »Denn,« sagte er, »das arme Leben hat gar wenige frohe Minuten, laßt sie uns genießen! Ich habe sie viele Jahre entbehrt und die lautere Freudigkeit ist in meinem Herzen fremder geworden, als die Schwalbe dem Winter. Aber liebwerte Herren und Freunde, nun sehe ich mich mit dem Himmel und mit mir selbst versöhnt; meines alten Freundes Jörg Herz mir zugewendet; meinen schon totgesagten Sohn froh und munter unter uns und die gesamten teuren Eidgenossen ehrenhaft von ihrem schwersten Feinde erlöst. Sollen wir uns dessen nicht freuen? Mein ganzes Haus soll ein Fest feiern, der Keller diese Nacht hindurch nicht geschlossen sein, und was Küche und Speisekammer vermögen, sei Dienern, Knechten und Mägden preisgegeben.«

Darauf, nachdem Gangolf die schweren, vergoldeten Becher mit altem Burgunderwein gefüllt hatte, faßte Herr Rüdiger seinen Kelch mit beiden Händen, hob ihn hoch empor und rief: »Vor allen Dingen aber, liebwerte Herren und Freunde, trinket mit mir zur Anerkennung der tapfern That unserer zwölfhundert Brüder und Eidgenossen, die in der Schlacht an der Grenze den Hochmut der Franzosen zurückwiesen und für uns in den Tod gingen. Fürwahr, wir säßen heute nicht friedlich beisammen und würden in Gefahr und Sorge sein und das Land voll fremden Mordgesindels haben, wären nicht jene an der Pforte der Eidgenossenschaft so treue Wächter gewesen!«

Alle stimmten ein, und nur Meister Isenhofer verzog dabei seiner Gewohnheit nach die Miene etwas schalkhaft, obgleich er den Becher bis auf die Neige leerte.

»Scheint's doch fast,« sagte Herr Rüdiger, als er es bemerkte, »daß Meister Isenhofer von Waldshut die blutigen Heldentaten der Eidgenossen nicht gebührend preisen mag.«

»Gestrenger Herr,« antwortete Isenhofer lächelnd, »nehmt's nicht so genau. Ich bin nun einmal des Glaubens, der Mensch thue selten große Dinge, sondern das Schicksal allein. Der Mensch ist mit freiem Wollen begabt, er handelt aber nicht immer mit Überlegung. Oft beginnt er sein Werk klug und endet es albern, dann wird er gescholten. Besser, er beginnt es närrisch und sucht nachher einen guten Ausgang zu erzielen, wie die Schweizer bei St. Jakob, alsdann wird er hoch geachtet.«

»Verstehe ich Deine Sprüche, Meister,« entgegnete der alte Herr, »so wäre die Schlacht an der Grenze . . .«

»Ein dummer Streich gewesen . . . richtig! . . . aus dem sich Eure Landsleute am Ende wie Ehrenmänner herauszogen,« unterbrach ihn Isenhofer.

»Laß uns hören!« sagte Rüdiger. »Auf die verschiedenste Weise wird über diese Schlacht geurteilt, sodaß man kaum weiß, was zu glauben steht.«

»Wir lagen unserer etwa drei bis viertausend vor der Farnsburg,« so hob, nach mancherlei Zwischenrede, Meister Isenhofer zu seiner Rechtfertigung zu erzählen an; »drinnen saß der faule Fuchs Hans von Rechberg und lachte in die Faust, wenn die Schweizer gegen das riesenhafte Schloß auf dem hohen Gebirgsscheitel vergeblich anrannten. Uns wurde die Zeit lang, gegenüber den Felsen, schroff wie Mauern, und den Mauern, die stark wie Felsen waren. Als aber die große Büchse der Stadt Basel nebst vielem Schießbedarf anlangte, zog der Rechberg andere Saiten auf und sprach von Übergabe bei günstigen Bedingungen. Wir hörten nicht darauf; da, ehe wirs uns versahen, war er in einer finstern Nacht entwischt, hinüber zu den Franzosen; hatte Filz unter die Hufe seines Pferdes gebunden und sich so durchs Lager geschlichen. Wir sahen auf dem nächsten Berge einen Heustall brennen; dieses war für die Seinigen in der Burg ein Zeichen, daß er glücklich entkommen sei.«

»Das ist des Rechberg Kunst, darin thuts ihm keiner gleich,« sagte Gangolf. »Der alberne Wicht ist mit Kopf und Fuß allezeit geschwinder gewesen, als mit dem Arm.«

»Plötzlich hörten wir das Geschrei,« fuhr Isenhofer fort, »der Dauphin ziehe mit unzählbarer Macht von Mümpelgard, durch den Sundgau, herauf gen Basel. Er habe siebenzig-, neunzig-, andere sagten sogar über hunderttausend Mann unter seinem Befehle. Das wollte anfangs keiner von uns glauben; doch wurde ein Bote ins Lager der Eidgenossen vor Zürich gesandt, und man schickte uns von da eine Verstärkung von sechs- bis siebenhundert Mann. Richtig, aber standen die Franzosen alle an der Grenze? Der Dauphin mit seiner Hauptmacht, über vierzigtausend Mann stark, blieb dort hinter der Birs vor der Stadt Basel; zehntausend schickte er voran bis Muttenz; achttausend zu Pferde und zu Fuß führte der Graf Dammartin in die Prattelner Wiesen, um uns von Farnsburg zu verjagen. Als wir diese Nachricht von Liestal her vernahmen, entstand im Lager ein Höllenlärm und eine Verwirrung ohne Ende. Die Tollköpfe wollten dem Feinde entgegen, ohne seine Stärke zu kennen, die Vernünftigen rieten, ihn in den Bergen zu erwarten. Endlich kam man nach vielem Streiten und Toben zu dem Beschluß: ein Häufchen gegen die Prattelner Wiesen auszuschicken, um eine Rekognoszierung vorzunehmen. Demzufolge machten sich zwölf- bis sechszehnhundert Mann auf, und standen morgens acht Uhr im Angesichte des Feindes.«

»An welchem Tage war das?« fragte der Lollhard, welcher jetzt mit großer Aufmerksamkeit zuhörte.

»Am Mittwoch nach St. Bartholomäustag, den sechsundzwanzigsten August,« antwortete der Berichterstatter. »Die Schweizer betrachteten die Schlachtordnung des Marschalls Dammartin und nahmen Stellung vor den Armagnaken zu Fuß. Hundert Reiter, die der französische Heerführer neckend gegen sie vorschickte, waren bald weggeblasen. Die Schweizer folgten mit festem Schritte und schrieen: Da sind sie ja, die armen Gecken, die armen Schnacken. Vertilgt das Ungeziefer vom Schweizerboden! Damit warfen sie sich auf die feindlichen Stücke und brachen, ihrer nur zwölfhundert, die übrigen blieben ihnen im Rücken, in die Reihen der achttausend Franzosen. Das war ein tolles Unternehmen! . . . Doch sie zerrissen deren Stellung, wie der Eisgang im Strom die langen Brückenjoche stürzt. Graf Dammartin zog, von dem unglaublichen Stoß geworfen, auf Muttenz zurück; die Zwölfhundert jedoch folgten ihm auf den Fersen. Dort, im offenen Felde, standen wohlgeordnet zehntausend Armagnaken zu Fuß und zu Pferde, an die sich Dammartin mit den Seinen anschloß, doch fröhlich und unverzagt drang Speer, Schwert und Kolben der Schweizer in die dichte Menge. Die eine Hälfte des Feindes war schon beinahe in die Flucht geschlagen, die andere, durch diesen Anblick geschreckt, focht eine gute Weile, doch ohne Zuversicht; der Sieg blieb unser. Es wurde den Armagnaken viel Volk, viel Roß und Troß erschlagen, viele der schönen Banner und köstlich Gut entrissen. Gleich einem Strome ergoß sich die Menge der Fliehenden gen Basel und über die Birs, festen Schrittes folgte ihnen die Schar der Zwölfhundert. Nun erst recht begierig auf den Kampf, rannten die Sieger vom Birsrain durchs Wasser unaufhaltsam gegen des Dauphins Macht. Das war Raserei! Der Dauphin mit vierzigtausend Mann ausgeruhten Fußvolks, die in vier Haufen geteilt waren, erwartete sie jenseits des Flusses.«

»Halt!« rief Gangolf dazwischen. »Wars doch nicht der Hauptleute Schuld! Auf dem Birsrain schon ermahnten sie das Volk. keinen Schritt weiter zu thun. Es war allen bei Ehre und Eid untersagt worden, über die Birs zu gehen, und bei Pratteln hatten die Führer schon verboten, sich ernstlich einzulassen, aber die Mannschaft war taub gegen alle Vorstellungen, sah nur den Feind, rannte ohne Ordnung in die Birs und erkletterte das jenseitige steile Ufer im Angesicht der ganzen Heermacht des Dauphin.«

»Drum war's ein unüberlegtes Beginnen, und die Schlacht ein wahrhafter Narrenstreich, wider alle Mannszucht angefangen,« erwiderte Isenhofer. »Noch hatten sich die Zwölfhundert jenseits der Birs nicht völlig geordnet, da ließ der Dauphin alle seine Geschütze gegen sie los; da fuhr Hans von Rechberg mit sechshundert deutschen Rittern auf sie ein. Ihm folgten achttausend Herren und Bewaffnete auf schweren Pferden, so daß die Schlachthaufen der Eidgenossen schnell getrennt wurden Nun sahen sie ihren übelbedachten Streich wohl ein, aber sie beschlossen, ihn glänzend zu enden. Ein Teil der Ihrigen, bei fünfhundert, zog wieder gegen die Birs hinab, und von da auf eine vom Wasser umgebene Au. Dort, umringt von Tausenden, fielen sie, grimmig kämpfend, ein Mann nach dem andern, von Kugeln und Pfeilen aus der Ferne erlegt. Ein anderer Teil, ebenfalls bei fünfhundert, wandte sich anfangs gegen Basel, Beistand aus der Stadt erhoffend. Die Hilfe kam wohl, konnte aber nicht mehr bis zu ihnen gelangen. Dann begaben sie sich, bei fortwährendem heftigen Gefecht, von der Stadt hinweg zum Siechenhaus und dem Garten zu St. Jakob. Dort, hinter dem Mauerzaun, schlugen sie des Dauphins Sturm dreimal furchtlos zurück; dann fielen sie zweimal mörderisch aus und kehrten siegreich zurück. Der Abend brach herein, doch neue Schlachthaufen des Feindes wälzten sich heran. Des Dauphins Geschütz warf die Mauer des Baumgartens nieder. Haus, Kapelle und Turm standen in hellen Flammen. Obwohl jede Schutzwehr verschwunden, stritten die Schweizer, unter Blut und Wunden, wenn auch müde vom Tagewerk, dennoch, als begönne der Kampf erst eben; sie würgten wie Löwen. Dem Ruhme des Schweizerlandes wollte jeder das Leben zum Opfer bringen. Mehr als achttausend erschlagene Feinde bedeckten schon das weite Schlachtfeld. Da endlich traten die letzten Eidgenossen zusammen, drangen über den Mauerschutt hervor und stürzten, dem Tode sich weihend, zum letzten Streit in des Feindes dichte Reihen. Fechtend fielen alle; keiner verlangte, keiner behielt das Leben. Der Dauphin selbst war von der großen Tapferkeit der Schweizer, die man ihm wie feige Buben geschildert hatte, gerührter als durch den Tod der vielen tausend Seinen. Glaubt mir, ich erzähle Euch kein Märchen.«

»Also keiner dem Tode entronnen von den zwölfhundert frommen, tapfern Männern?« sagte Herr Rüdiger.

»Die Baseler fanden auf der Wahlstatt,« antwortete Isenhofer, »zweiunddreißig Verwundete noch atmend. Keiner war flüchtig geworden. Sie zeigten den Feinden an der Grenze, was ferner zu erwarten sein würde, und den Eidgenossen, was sie zu thun hätten, um ein freies Vaterland zu behaupten.«

Die Unterhaltung der Herren wurde jetzt lebhafter. Der große Gegenstand begeisterte sie, wie er heute, nach Jahrhunderten, noch die stolzen Enkel begeistert. Man sah den Krieg schon für so gut als beendigt an. Was vermochte der römische König, dem die Deutschen selbst den Beistand versagten, sobald der französische Hof sich von ihm trennte und Frieden mit den Eidgenossen schloß? Das abtrünnige Zürich mußte nun, früh oder spät, dem Bunde mit Österreich entsagen und der verzweifelnde Adel konnte froh sein, wenn man ihm nicht die letzten Burgen niederbrannte.

Seit vielen Jahren zum ersten Male erschollen die alten Gewölbe der Veste vom ungewohnten Geräusch fröhlichen Gesanges, Scherzes und Gelächters.

35.
Freund und Feind.

Obwohl Gangolf mit seinen Gedanken zuweilen abwesend war, gewährte ihm der Anblick dieser traulichen Abendgesellschaft doch zuletzt den höchsten Genuß. Er, von allen der nüchternste, geriet in Versuchung, sich für den einzigen zu halten, dessen Einbildung durch ein Räuschchen gesteigert sei. Die wunderbare Weise, in welcher die Verhältnisse seines Vaters mit den Schicksalen des Lollhard verflochten gewesen, machte ihn schon zum Zweifler an der Richtigkeit seiner Sinneswerkzeuge oder seines Verstandes. Und doch bestätigte ihm jede Antwort auf seine wiederholten Fragen umständlich das schon erfahrene. Mehr aber als alles andere setzte ihn die unglaubliche Verwandlung seines Vaters in Erstaunen, den er von jeher als einen strengen, mürrischen Mann gekannt hatte, und der jetzt, sich heiter bewegend, das vormals traurige Leben mit dem Mute, ja Mutwillen eines Jünglings vertauscht hatte.

»Lustig, Junker!« rief Isenhofer und füllte Gangolfs Silberbecher bis zum Rande. »Was träumet und sinnet Ihr? Jetzt ist's Zeit, fröhlich und guter Dinge zu sein. Glühen nicht selbst dem wohlehrwürdigen Bruder Lollhard die Wangen vom heiligen Feuer, wie ein himmlisches Morgenrot?«

»Du bist ein glücklicher Mann, der sich den frohen Sinn becherweise aus dem Weinfasse zapft,« sagte Gangolf lächelnd. »Das ist eine neue Lehre.«

»Mit nichten, Freund! Die Lehre ist uralt, denn Noah lebte schon vor den Propheten,« erwiderte der begeisterte Sänger von Waldshut. »Sehet, ich war vor Zeiten auch ein Zweifler, und konnte nicht einmal begreifen, ob es wohlgethan sei, daß man den Wein erfunden habe, der doch den Weisesten zum Narren machen und die ganze Welt auf den Kopf stellen kann. Später erst ging mir ein Licht auf, als ich lernte, daß nur gute Leute froh und nur frohe Menschen gut sein können. Der Wein erhebt über alle Armseligkeit des Alltaglebens, versöhnt Feinde, gleicht in allgemeiner Verbrüderung das Fremde aus, giebt dem Feigen Mut, dem Thoren Witz, dem Greise Jugend, dem Heuchler Wahrheit, dem Müden Kraft, dem . . .«

»Halt!« unterbrachen plötzlich die Stimmen aller den Lobredner des Weines. »Was ist das? – Hört!«

Ein anhaltendes, durchdringendes Wehgeschrei, wie aus einer weiblichen Kehle, ließ sich aus dem unteren Saale vernehmen. Die Dienerschaft, welche vorher gejubelt hatte, war mitten in ihren Gesängen verstummt. Man horchte, indem man sich gegenseitig fragende Blicke zusandte. In die weite Burg, die noch eben von ausgelassener Lust wiedergehallt hatte, schien die Ruhe des Todes eingekehrt zu sein. Man hörte nur das einförmige Rauschen der Aar, und das allmählich wachsende und schwindende Gerassel des Steingerölles unter dem Schlag ihrer Wellen.

»Unten ist ein Unglück geschehen,« rief Herr Rüdiger mit Zeichen ernsthafter Besorgnis.

»Ich werde zusehen,« sagte Gangolf und wollte aufstehen, Isenhofer zog ihn aber wieder auf seinen Sitz und bemerkte, warum man das Ding so ernst nähme? Vermutlich habe im wiederhergestellten Paradiese irgend eine Eva zu hohe Bocksprünge gemacht. Man horchte von neuem. Es war ein seltsames, dumpfes Getöse, das bald wieder verscholl, und welchem dann der langanhaltende Schmerzensschrei oder das erschütternde Gebrüll einer Mannesstimme folgte.

»Lassen wir uns nicht störe!« redete Isenhofer den Gästen zu. »Die Leute machen sich auf ihre eigene Weise lustig! Rohes Volk geht nicht zufrieden vom Wein, wenn es nicht eine blutige Stirn und Nase mitnehmen kann, um sich wenigstens vierzehn Tage lang der genossenen Ergötzlichkeit zu erinnern. Sie lieben ein buntes Angedenken; gönnen wir's den guten Leuten!«

»Ich glaube beinahe, sie haben eine Schlägerei,« stimmte Herr Rüdiger ein. »Also ein Sündenfall in Isenhofers Paradies! Mehr nicht. Still! Ich höre des Meisters Langenhardt Schritte auf der Stiege. Er wird uns Auskunft über die Ereignisse in der Unterwelt erstatten.«

Wirklich trat der Hofmeister des Burgherrn, ein kugelrunder kleiner Mann, mit so verstörtem Gesichte herein, daß er sich Mühe geben mußte, die gehörige Amtsmiene wieder zu finden. Dreimal verbeugte er sich, so tief er konnte, ohne ein Wort zu sprechen.

»Was giebt's, Langenhardt?« redete ihn Herr Rüdiger an. »Macht Ihr unten Schädelproben? Sendet die Streitsüchtigen zu Bett, wiewohl es noch früh ist, und haltet die andern zum Frieden an.«

»Meine gnädigen Herren wollen geruhen,« sagte der Hofmeister und verstummte wieder, rieb sich die Stirn, als wenn ihm der rechte Ausdruck für sein Vorbringen entfallen wäre, und fuhr mit einer abermaligen Verbeugung fort: »Ich glaube . . . Gott sei meiner armen Seele gnädig! . . . der Teufel ist los. Behüte der Himmel! Keiner von Ihro Gnaden Leuten hat etwas verfehlt. Ich saß, beständig aufmerksam, zuoberst am Tische, und meine Gegenwart hielt das Hausgesinde in den Schranken geziemender Ehrbarkeit. Da stürzte Knall und Fall allerlei fremdes Volk durch den Hof in den Turm und hätte einander vor unsern Augen unfehlbar kläglich ermordet, wären wir nicht dazwischen gesprungen.«

»Was für Volk? Fremdes Gesindel wohl? Hat man's gefangen?« fragte der alte Herr auffahrend.

»Ein Schwarzwälder, Ihro Gnaden zu dienen, liegt fest gebunden im Zwinger. Das war ein schweres Stück Arbeit,« antwortete der Haushofmeister, »An des Teufels Großmutter aber wagte sich selbst der Jäger nicht, und die beiden lustigen Töchter kann man unbesorgt stehen lassen.«

»Was Schwarzwälder, Teufels Großmutter und lustige Töchter?« schrie Herr Rüdiger mit verdrießlichen Mienen. »Du bist, wie man deutlich sieht, des Weines voll. Berichte über den Hergang in schicklicher Ordnung. Vielleicht treiben lustige Gesellen aus der Stadt, die Euer Jubilieren anlockte, einen kleinen Scherz mit Euch.«

»Wenn Ihro Gestrengen und Gnaden mir gestatten,« versetzte Meister Langenhardt, indem er tief Atem schöpfte, »so werde ich kurz berichten, wie es kam. Wir andern saßen in bester Eintracht beisammen, trieben allerlei Kurzweil und stimmten, wie es Ihro Gnaden ausdrücklich erlaubt haben, ein fröhliches Liedchen an. Da stand unversehens ein fremdes Weibsbild unter uns; keiner hatte es zur Pforte hereinkommen sehen. Es ist eine alte Person, scheußlich anzuschauen, wie die Sünde, hat Geierkrallen an den Händen und im Kopfe feurige Augen, wie ein Kater. Alle erschraken vor dem Unholde. Das Tier redete viel, was ich nicht verstand . . . Darauf traten zwei junge Bauermädchen herein und grüßten sittsam und züchtig. Aber, Ihro Gnaden, als das jüngste mich nach Euer Gnaden fragte, wurde mir fast bange, denn sie gleicht der heiligen Jungfrau Maria am Altar der St. Ursulakapelle wie ein Ei dem andern, und ist noch viel schöner. Es ist wahrscheinlich die Mutter Gottes in unserer Landestracht; ich lüge nicht.«

Bei dieser treuherzigen Versicherung konnten sich die Herren insgesamt des lauten Lachens nicht erwehren.

Der Hofmeister sah die Zuhörer verblüfft an, verbeugte sich mehrmals und fuhr fort: »Ich lüge nicht. Sage ich ein falsches Wort, möge es mir an Leib und Leben gehen. Auch wollte ich Ihro Gestrengen und Gnaden schon gleich Meldung von dem Vorfall machen. Da fuhr aber ein Schwarzwälder Bauer, den niemand von uns kennt, plötzlich herein, warf seine roten Koboldsaugen unter dem Strohhute nach links und rechts, sprang gegen besagte Jungfrau und hätte sie bei einem Haar erwischt, wäre nicht Heini Entfelder dazwischen gesprungen. Nun gab es einen Teufelslärmen. Ihro Gnaden haben zweifelsohne hier oben vernehmen mögen, wie die beiden Töchter kläglich das Freihofs-Recht anriefen, währenddessen das alte Höllenweib einen gellenden Schrei ausstieß, dann mit einem Satz auf den Tisch, zwischen die Speisen, sprang, gegen den Schwarzwälder Basiliskenaugen machte und ein langes Messer gegen ihn zückte. Der vierschrötige Bauernkerl seinerseits richtete seinen Dolch auf die Alte und wollte zum Tische vorgehen, doch Heini, Irni Fäsen, Hemman, wir alle fielen über den Schurken her, entrissen ihm das Messer, warfen ihn zu Boden, knieten auf ihn und hielten ihn, bis Frau Elsbeth das dicke Seil brachte. Der gelbe Schwarzkittel brüllte wie ein Stier, der einen Fehlschlag empfangen hat. Jetzt aber ist er festgeschnürt, knirscht mit den Zähnen, verdreht die Augen und schäumt als habe er die fallende Sucht.«

Die Herren sahen einander zweifelhaft an und schienen nicht zu wissen, ob sie ernst bleiben oder ihrer zurückgehaltenen Lachlust freien Lauf gestatten sollten.

»Meister Langenhardt,« sagte endlich Herr Rüdiger, »Deine Reden haben einen Stich vom guten, alten Rotwein und ich mag's Dir nicht verargen. Laß die Brücken aufziehen und die Pforten schließen. Den wütigen Bauerntölpel werft auf ein Bund Stroh in den festen Gewahrsam links von dem Keller, wo er den Rausch verschlafen mag. Morgen wird er wegen des frevelhaften Einbruchs in diesen gefreieten Hof Rede und Antwort geben können. Ebenso sperre des Teufels Großmutter ein; wir wollen uns mit ihrem Liebreiz den Appetit nicht verderben. Hingegen Deine heilige Jungfrau in Bauerntracht und ihre Begleiterin, welche Beide das Freihofrecht angerufen haben, führe zu uns. Ich hoffe, ihr Anblick wird den lieben Herren und Freunden hier den Wein nicht versäuern.«

»Vortrefflich!« rief Meister Isenhofer. »Ihr urteilet, Herr Ritter, wie dem Rittersmann zum Schutz zarter Mägdlein, und einem gastfreundlichen Hauswirt zur Versüßung unseres Mahles gebührt.«

Der Hofmeister verbeugte sich nach empfangenem Befehl seines Herrn und eilte, ihn gehorsam zu vollstrecken. Er erschien bald wieder, öffnete die Thür, durch welche zwei junge Bäuerinnen schüchtern hereintraten, die ihre Gesichter, beschattet von einem buntberänderten, kleinen tellerförmigen Strohhut, auf die Brust gesenkt hatten und sehr verlegen schienen. Sie waren sonntäglich gekleidet, in schneeweißen, bauschichten Hemdärmeln, mit silbergesticktem Mieder und Brustlatz, über welchen an breiten versilberten Haften eben solche Ketten hin- und hergeschnürt waren. Der kurze Rock, breit von den Hüften abstehend, mit tausend eingenähten kleinen Falten, die obere Hälfte zeisiggrün, die untere Hälfte schwarz, ließ nicht nur die scharlachfarbene Einfassung des Unterrocks, sondern auch den schwarzen Lederriemen sehen, welcher die roten Strümpfe unter den Knieen festhielt.

»Saget, Ihr Mädchen, warum ruft Ihr das Freihofs-Recht an? Was habt Ihr gesündigt, daß man Euch verfolgt?« sprach Herr Rüdiger Trüllerey mit der ihm angeborenen Würde und ohne seinen Wappenstuhl zu verlassen,

Die eine der Bäuerinnen verneigte sich mit einem seltenen Anstande, erhob das Antlitz zum Burgherrn und wollte reden. Doch als sie aufblickte, versagte ihr plötzlich die Stimme und, wie von einem Wunder geblendet, saß auch die ganze Tischgesellschaft unbeweglich und stumm, die Augen zu der ländlichen Schönen gewendet. Meister Langenhardt hatte das rechte Wort gewählt. Es war eine Madonna in schlichter Bauerntracht, doch eine unverkennbare Himmelskönigin.

Der Zauber, welcher diese Totenstille hervorbrachte, währte jedoch nur einen flüchtigen Augenblick; denn Gangolf sprang vom Sessel auf und rief: »Veronika!« Die junge Bäuerin kniete im gleichen Augenblick am Stuhl des Lollhard, legte die weißen Arme um den Greis und sagte freudig weinend: »O lieber Vater!«

»Was giebt's denn?« rief Herr Rüdiger.

Von Allen jedoch, die ihn hörten, konnte Keiner antworten. Der Lollhard hielt, bis zu Thränen erschüttert, sein Kind lautlos in den Armen, und Gangolf, seitwärts von den Knieenden, schien vom Erstaunen zur Bildsäule verwandelt zu sein. Herr Rüdiger wiederholte sein: »Was giebt's denn?« noch einigemale vergebens. Er mußte sich gedulden, bis der erste Sturm einer bis zum Schmerz gesteigerten Freude vorübergegangen war. Dann führte der Lollhard selbst die Jungfrau zum Lehnsessel des Ritters und sprach: »Großes hat der Herr an mir gethan, er, der des Wurmes im Staube gedenkt. Gelobt sei sein Name in Ewigkeit! Siehe, dies ist meine Tochter. Sie ist mir wiedergegeben, gegen welche der Höllendrache seine Anschläge gemacht hatte.«

Veronika neigte sich, des Ritters Hand zu küssen. Er aber drückte seine Lippen segnend auf ihre helle Stirn und pries den Vater glücklich, wie sich selbst, daß sie in seinem Hause dem Greise wiedergegeben worden sei. Der Lollhard aber stellte ihr nun den ehrwürdigen Rüdiger, als den geliebten Freund aus seinen Jugendtagen vor; dann auch den freundlichen Sänger aus Waldshut. Als sie sich nach diesem aber grüßend gegen Gangolf verneigen wollte, floß ein rötlicher Schein über ihr Antlitz, und die Augen, die sich zum Himmel erheben wollten, kehrten sich verschämt zur Erde, da sie auf ihrer zitternden Hand das Brennen seiner Lippen empfand.

Während des fröhlichen und anhaltenden Durcheinanders von gegenseitigen Erklärungen, Glückwünschen, Freudenbezeugungen und Fragen, stand der Haushofmeister in strenger Ehrerbietung, ohne eine Geberde zu ändern, auf einer Seite der Thür, auf der andern die Begleiterin Veronikas, eine junge Bäuerin, aus Furcht oder Rührung bitterlich weinend. Man hatte des armen Mädchens ganz vergessen, bis Herr Rüdiger dasselbe wieder gewahr wurde.

»Wer ist denn Eure Begleiterin dort?« fragte er die Tochter seines beglückten Freundes.

»Gnädiger Herr,« nahm Veronika das Wort, »es ist das Kind meiner Retterin, meiner Pflegerin, der ich ewigen Dank schuldig bin. In der Nacht, in welcher wir auf der Hard von den Bösewichten überfallen wurden und ich meinen Vater verlor, irrte ich mit unserer Magd, die mich aus der Hütte gerissen hatte, lange im Walde umher. Sie schleppte mich in der Angst fort, ich wußte nicht, wohin? Sobald ich aber den ersten Schrecken in mir überwunden hatte, kehrte ich zur Hütte meines Vaters zurück, um sein Schicksal mit ihm zu teilen. Die treue Magd mahnte vergebens dagegen. Ich fand unser Haus verödet; ich suchte und rief Euch, lieber Vater, tausendmal und ohne Trost. Dann ging ich, die Magd im Walde aufzusuchen; sie war jedoch verschwunden. Nun blieb ich einige Zeit bewußtlos liegen; dann irrte ich bei finsterer Nacht durch Wald und Gebirge, bis nach einigen Stunden ein einzelnes Bauernhaus im Gebüsche vor mir sichtbar wurde. Meine Kraft war zur Neige gegangen und so legte ich mich auf die hölzerne Bank vor die Thür der Hütte. Dort fanden mich die Leute am Morgen schlafend und nahmen mich in's Haus, wo ich ihnen mein Unglück erzählte. Die Eigentümerin des Hofes, eine Witwe, und Mutter von sieben Kindern, hatte Erbarmen mit mir; ich war ihr achtes Kind, und die gute Gritli meine liebe Schwester.«

»Heda!« rief Herr Rüdiger der weinenden Bäuerin zu. »Tritt herzu, mein Kind. Du bist keine Fremde in diesem Hause. Sei willkommen! Setze Dich zu uns und labe Dich an meinem Tische.«

Gritli, ihre Augen mit dem Zipfel der grünen Sonntagsschürze trocknend, blieb verschämt an der Thür stehen, bis Gangolf und dann auch Veronika schmeichelnd zu ihr traten und sie mit sanfter Gewalt zum Tische zogen. Isenhofer holte Stühle herbei und alle nahmen ihre Plätze ein; Veronika neben Gritli und ihrem Vater. Man füllte den Jungfrauen die herbeigebrachten Becher und legte ihnen vom besten vor. Aber sie berührten die Speisen nicht und nur nach vielem Bitten netzten sie ihre Lippen mit dem Weine

Nach einer ziemlich langen Unterbrechung der Erzählung Veronika's, wobei auch Gangolf bewies, daß er vom Entzücken über die Madonna in Bauerntracht keineswegs die Sprache ganz verloren habe, setzte die Begutte auf Verlangen ihres Vaters den Bericht ihrer einfachen Abenteuer fort.

»Gritli's erwachsene Brüder,« sagte sie, »durchzogen mehrmals die Hard und die umliegenden Dörfer, ohne Nachricht von Euch, lieber Vater, zurückzubringen. Auch kam niemand zu dem abgelegenen Berghofe, als dann und wann ein Bettler, umherstreichende Wahrsager oder Zigeuner, von denen wir aber nichts vernahmen. Mein Herz jedoch verzagte nicht und büßte nie den Glauben an das Welten der göttlichen Vorsehung ein.«

»Und Ihr vergaßet dabei mich, Euren und Eures Vaters treuen Freund,« sagte Gangolf, indem er der Erzählerin einen Blick des zärtlichsten Vorwurfs zusandte. »Ihr vergaßet mich, und hattet keinen Eurer Boten für den Freihof von Aarau?«

Veronika errötete und schwieg.

»Du hast die alte Wahrsagerin zu nennen vergessen,« flüsterte ihr Gritli leise in's Ohr, um nach ihrer Meinung dem Gedächtnis der Erzählerin zu helfen.

»Eben wollte ich ihrer erwähnen,« sagte Veronika, die noch eine kleine Verwirrung in sich zu besiegen hatte. »Gritli's Mutter nämlich erfuhr durch eine Wahrsagerin aus Ägypten, daß Euch, lieber Vater, der grausame Freiherr von Falkenstein im Schlosse Gösgen gefangen halte; daß er auch mir nachstelle und geschworen habe, mich an sich zu bringen, und müßte er alle Schluchten und Höhlen des Gebirges durchsuchen. Deshalb hielten sie mich in der Berghütte verborgen, bis die Zigeunerin am heutigen Morgen in der ersten Tagesdämmerung wieder erschien, Sie erzählte zu unserm großen Schrecken, Falkenstein schleiche seit Tagen, als Viehhändler verkleidet, durch die Berge in der Nähe umher; ich müsse von hier fort, und mit ihr zum Freihof von Aarau, wo Ihr, lieber Vater, schon wochenlang bei Herrn Trüllerey lebtet. Alle warnten mich; ich aber ging, Euch zu suchen, sobald es Abend wurde. Die Zigeunerin wanderte als des Weges Kundige und der Sicherheit wegen voran. Gritli begleitete mich in treuer Liebe; Gritli's Brüder folgten uns in einiger Entfernung bewaffnet, bis wir zum Dorfe Küttigen hinabgelangten. Auf der finstern Aarbrücke kam die Zigeunerin fröhlich herbei und meldete, daß das Stadtthor noch offen und es nicht zu spät sei. In diesem Augenblicke trat aber ein Mann zu uns, den wir im Dunkeln nicht erkannten, und sprach die Ägypterin an. Dieselbe antwortete ihm jedoch nicht, sondern zupfte uns erschrocken und heftig, als sollten wir eilig fliehen, sie selbst lief schnell davon. Wir ahmten ihrem Beispiele nach und sahen sie, uns noch einmal winkend, in der Stadt, innerhalb der Mauern des Freihof's verschwinden. Atemlos erreichten auch wir dieses Haus, doch der Fremde folgte uns auf den Fersen. Anfangs bedrohte seine Gewalt mich allein, später aber schien er die Ägypterin zu erkennen und zu hassen. Ja, ohne den Beistand der Männer unten würde er das Weib umgebracht haben.«

Schärfer horchend, um keine Silbe zu überhören, und schneller atmend, hatte sich Gangolf, während der letzte Reden der schönen Begutte, mit funkelnden Augen am Tische aufgerichtet »Das ist einer von Falkensteins ausgesandten Spür- und Mordhunden,« schrie er. »Herauf mit ihm! Er muß das blutige Schelmenstück bekennen, zu dem er gedungen worden ist, oder wir lassen ihm das Geständnis in der Marterkammer unterm Turmdach aus der Seele haspeln.«

»Gemach, gemach! Der Kerl, wer er auch sei, wird uns nicht entkommen,« sagte Gangolfs Vater.

»Es ist einer von Thomanns Bande. Wahrscheinlich der Raubmörder einer, die das Heiligtum in der Hard zerstört haben,« rief der Junker mit Heftigkeit und Ungeduld.

»Zuerst wollen wir die treue Zigeunerin vor uns rufen. Langenhardt, führe das ägyptische Weib herbei,« sagte der greise Trüllerey mit Nachdruck und Würde, und fuhr, sobald sich der Hofmeister hinwegbegeben hatte, fort zu reden: »Gangolf, dieses Weib hat meinem frommen Freunde die Tochter wiedergegeben und vermutlich noch mehreres gethan, was meine ganze Erkenntlichkeit verdient. Ich denke, es sei die alte Ilsel. Gangolf, zwar sagt man, die Rache sei süß, aber süßer ists noch, dem Wohlthäter danken zu können. Ich bin einer Zigeunerin Schuldner. Sie brachte mir meinen Ring, Bruder Jörg, von Dir zurück; durch sie wurdest Du entdeckt.«

Der Lollhard schüttelte das graue Haupt und sprach: »Den Ring hat die Heidin wohl eher entwendet als gefunden, und mich selbst hat sie eher dem Falkenstein als Dir entdeckt und überantwortet. Nicht ihr, sondern Gott gebührt unser Loblied, der unsern Fuß wunderbar leitete durch die Finsternis der Zeit. Laß die Heidin ziehen in Frieden und belohne sie nach Deinem besten Ermessen. Denn wer einem Sterblichen unverdienten Dank bringt, der danket nur Gott; so wie derjenige, welcher einen Menschen verflucht, dem heiligen und unerforschlichen Rat der Vorsehung flucht.«

Die Fortsetzung dieses Gespräches wurde nach einiger Zeit durch das Eintreten der herbeigebrachten Ilsel unterbrochen. Herr Rüdiger fand es, bei ihrem Erscheinen, angemessen, dem Hofmeister zu befehlen, sich aus dem Saale zu entfernen. Er wollte wahrscheinlich nicht zu viel von den Geheimnissen des Hauses laut werden lassen.

Die Alte ließ ihre Späheraugen schnell im Kreise der Anwesenden herumlaufen, und trat dann mit einer Freundlichkeit, in der sie fast noch häßlicher war als im Zorne, dem Tische näher.

»Schön gemacht, schön gemacht, Väterchen!« sagte sie mit geläufiger Zunge, indem sie das hagere Gesicht Herrn Rüdiger zuwendete. »Alle beisammen! Siehst Du? Der Herr von Ende bei Günther von der Weide. Denke an den Goldreif! Habe ich meine Sache gut gemacht, alter Schatz? Und die schmucke Braut habe ich Dir gebracht, Goldsöhnchen, weil Du mir lieb bist,« sagte sie zu Gangolf, der beinahe so sehr als Veronika errötete, während Isenhofer, um sein Lächeln zu verbergen, trinkend sein Gesicht in den Weinbecher versteckte.

»Schweige, Alte!« rief Herr Rüdiger. »Ich begehre nicht unzeitiges Geschwätz zu hören, sondern erwarte Antwort. Hast Du diesen ehrwürdigen Bruder hier (er zeigte auf den Lollhard) an Thomas von Falkenstein verraten und ausgeliefert?«

»Was ausgeliefert, alter Schatz? Nicht verraten; ich ließ ihn fahren, weil er nichts von Dir und mir wissen wollte, nichts von Günther von der Weide. Mir gleich, dachte ich, und ließ ihn fahren. Daß ihn der Drache in sein Nest zog, ist seine Schuld! Aber Junkers schmucke Braut, nicht den Lollhard, begehrte der Falkenstein zu fangen. Die warnte ich und rettete sie; denn Jünkerchen ist mir lieb. Und als der Falkenstein Aarau niederbrennen wollte, da habe ich den Bluthund unterwegs, in der Gewitternacht, vor dem Freihof gewarnt, als er gegen die Stadt zog. Das habe ich gethan, schmuckes Goldsöhnchen, denn lieb habe ich Dich. Suchte auch das verflogene Täubchen so lange, bis meine Leute sein Nestchen fanden. Der Falke war schon auf des Täubchens Spur.«

»Was?« schrie Gangolf. »Falkenstein hatte Anschläge auf Aarau gemacht, und Du konntest schweigen? Hättest wohl das Morden sehen mögen, wie zu Brugg?«

»Nun denn, Goldkind, hast Du mich bezahlt, Dir alles zu sagen, was ich weiß? Mir gleich, wäre das Städtchen in Feuer aufgegangen, ich hätte gelacht, denn es hat es wohl verdient an mir. Haben meine Jungen hier nicht oft hungern müssen, gefangen im Notstall? Und darf ich bei Tage hier auf der Straße wandern, daß mir die Voigte nicht auf den Hacken sitzen? Und doch wäre ich mit in die Stadt gezogen und hätte Deiner wahrgenommen, Goldsöhnchen! Kein Faden Deines Gewandes wäre gesengt worden, so lieb habe ich Dich. Und gestern verkündete mir mein Ghyr: Junker Gangolf zieht zum Freihof heim. Husch ich zum Nest auf dem Berge und Dir das Täubchen gebracht. Habe ich nicht einen guten Lohn verdient?«

Herr Rüdiger unterbrach das Weib mit lauter Stimme und sprach: »Schweige und gieb andere Beweise für des Falkensteins Mordanschlag, als die sind, die aus Deinem Lügenmunde hervorgehen.«

Die Alte lachte laut auf und rief: »Andere? Alter Schatz, Du hast ja den Wolf in der Falle, schäle ihn selbst aus. Frage ihn.«

»Wen soll ich fragen?« erwiderte Herr Rüdiger verdrossen.

»Hast Du den Falkenstein nicht im Turme?« versetzte die Zigeunerin. »Frage ihn, folt're ihn, quäle ihn, tropfenweise zapfe ihm das Blut ab, faserweise reiße ihm das Herz aus. Du hast ihn ja in Deiner Hand.«

»Bist Du von Sinnen?« fuhr Rüdiger sie an.

»Hast ihn ja. Laß ihn Dir herbringen. Am Bilgerihof sah ich ihn gestern Abend im Zwielicht, Ich erkannte den Schwarzwälder schnell, mich sah er nicht. Hui, dachte ich, erst rette meinem Junker das Bräutchen; dann rufe ich meine Jungen und wir machen auf den wilden Eber Jagd, Es ist aber keine Stunde her, da stand er schon wieder vorm Aarthore, setzte mir nach und lief von selbst in die Falle, sobald er das Täubchen sah.« Sie zeigte mit dem langen, dürren Finger auf Veronika.

»Wer, wer?« riefen alle Männer zugleich.

»Falkenstein!« schrie die Zigeunerin. »Blind war er, wie der Auerhahn zur Balzzeit.«

»Ich glaube es nicht, Du Lügenweib,« sprach Rüdiger, »Mein Sohn, rufe den Langenhardt!«

Die Ägypterin wiederholte ihre Aussage unter vielen Beteuerungen, während Gangolf und Langenhardt herbeikamen. Rüdiger befahl, das Weib in Gewahrsam zu bringen, kein Wort mit demselben zu wechseln oder wechseln zu lassen, es jedoch mit Speise und Trank aufs beste zu versehen. Zugleich gebot er, den gefangenen Schwarzwälder heraufzuführen. Keiner von allen jedoch maß den Worten der Zigeunerin Glauben bei. Das Erscheinen des Todfeindes in solch abenteuerlicher Vermummung, nach so großen Freveln und innerhalb der Mauern einer Stadt, welche zur schwersten Rache Recht und Lust haben mußte, das war selbst der Leichtgläubigkeit des Hasses zuviel zugemutet.


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