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Zehntes Kapitel.

Eines Morgens ließ sich Martine von Doktor Pascal eine Quittung über fünfzehnhundert Franken geben, um damit wie alle Vierteljahre zum Notar Grandguillot zu gehen und »ihre Renten«, wie sie sich auszudrücken pflegte, zu holen. Er schien erstaunt, daß der Termin schon wieder da war; er kümmerte sich ja niemals um diese Geldangelegenheit, sondern hatte die Sorge dafür ganz auf die alte Martine abgeladen. Und er befand sich gerade mit Clotilde unter den Platanen, sie freuten sich ihres Lebens, köstlich erfrischt durch den ewigen Gesang der Quelle, als die alte Haushälterin ganz bestürzt und verstört durch einen außergewöhnlichen, aufregenden Vorfall zurückkam.

Sie konnte nicht sofort sprechen, so sehr war ihr der Atem ausgegangen.

»Ach, mein Gott! Ach, mein Gott! Herr Grandguillot ist fort!«

Pascal verstand sie zuerst nicht.

»Nun, das eilt ja nicht. Alte, dann wirst Du eben an einem andern Tage noch einmal hingehen.«

»Aber nein! Aber nein! Er ist fort, so verstehen Sie mich doch recht, er ist ganz fort!«

Und wie das Wasser bei einem Röhrenbruch, so sprudelten die Worte jetzt hervor, ihre heftige Erregung machte sich Luft.

»Ich komme in die Straße und sehe von weitem schon viele Menschen vor seiner Thüre stehen ... Es überläuft mich kalt; ich fühle, daß ein Unglück geschehen ist. Und die Thür ist verschlossen, nicht eine einzige Jalousie offen, ein Haus des Todes ... Die Leute haben mir sogleich erzählt, daß er durchgegangen sei, daß er nicht einen Sou zurückgelassen hätte, daß dies der Ruin für viele Familien wäre...«

Sie legte die Quittung auf den steinernen Tisch.

»Hier! Da haben Sie Ihr Papier wieder! Jetzt ist es aus, wir haben keinen Sou mehr, wir können verhungern!«

Ihre Thränen begannen zu fließen, sie jammerte und weinte herzzerbrechend in der Trauer ihres geizigen Charakters, bestürzt über den Verlust eines Vermögens und zitternd vor dem drohenden Elend.

Clotilde war auch heftig erschrocken, sie sprach kein Wort, die Augen auf Pascal gerichtet, der im ersten Augenblicke noch ein ungläubiges Gesicht machte. Er versuchte die alte Martine zu beruhigen. Nur Ruhe! Ruhe! Man dürfe sich nicht gleich so aus der Fassung bringen lassen. Wenn sie die Sache nur von den Leuten auf der Straße wüßte, so hätte sie vielleicht nur müßige Klatschereien mitgebracht, die alles übertrieben. Herr Grandguillot durchgegangen, Herr Grandguillot ein Dieb, das müsse natürlich Aufsehen erregen wie etwas ganz Ungeheuerliches, etwas Unmögliches! Ein Mann von so großer Ehrbarkeit! Ein seit mehr als einem Jahrhundert in ganz Plassans so beliebtes und so angesehenes Haus! Das Geld wäre da, wie man zu sagen pflegte, viel sicherer als auf der Banque de France.

»Ueberlege doch, Martine, eine derartige Katastrophe tritt nicht ein wie ein Blitzstrahl, da würden schon lange vorher schlimme Gerüchte im Umlauf gewesen sein ... Zum Teufel! Eine alte Rechtschaffenheit fällt nicht in einer Nacht!«

Da machte sie eine verzweifelte Bewegung mit der Hand.

»Ach, Herr Doktor, sehen Sie, das ist es ja gerade, was mir am meisten Kummer verursacht, weil es mich etwas verantwortlich für Ihren Verlust macht ... Schon vor mehreren Wochen habe ich dergleichen Geschichten in der Luft herumschwirren hören ... Sie beide natürlich, Sie hören nichts, Sie wissen ja nicht einmal mehr recht, ob Sie leben ...«

Pascal und Clotilde konnten nicht umhin zu lächeln, denn es war ganz richtig, daß ihre Liebe sie ganz von der übrigen Welt trennte und sie so hoch und so weit davontrug, daß nicht eines der gewöhnlichen Geräusche des Lebens bis zu ihnen drang.

»Da diese Geschichten aber sehr gemein waren, so wollte ich Sie weiter nicht damit belästigen; ich glaubte außerdem, es wären Erfindungen, Lügen.«

Dann erzählte sie schließlich, daß, wenn die einen Herrn Grandguillot nur beschuldigten, er spiele an der Börse, die anderen versicherten, er hielte sich in Marseille Frauenzimmer. Auch spräche man von Orgien und anderen abscheulichen Leidenschaften. Und sie fing wieder an zu jammern:

»Mein Gott! Mein Gott! Was soll nun aus uns werden? Wir müssen also Hungers sterben!«

Da geriet Pascal ebenfalls in Aufregung; es schmerzte ihn tief, sehen zu müssen, wie sich auch die Augen Clotildens mit Thränen füllten. Er versuchte, sich aller Einzelheiten zu erinnern und etwas Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Früher, zu der Zeit, als er noch in Plassans die ärztliche Praxis ausübte, hatte er durch mehrere Einzahlungen bei dem Notar Grandguillot die hundertundzwanzigtausend Franken niedergelegt, deren Zinsen schon seit sechzehn Jahren zu seinem Lebensunterhalte genügten; und jedesmal hatte ihm der Notar eine Empfangsbescheinigung über die eingezahlte Summe gegeben. Dies würde ihn ohne Zweifel in den Stand setzen, als persönlicher Gläubiger aufzutreten. Dann erwachte eine unbestimmte Erinnerung in seinem Gedächtnis: ohne daß er das Datum genau bestimmen konnte in Betreff der Anfrage und gewisser Erklärungen des Notars, hatte er diesem eine Vollmacht erteilt des Inhalts, das ganze Geld oder auch nur einen Teil desselben in Hypotheken anzulegen; und er erinnerte sich sogar ganz genau, daß in dieser Vollmacht der Name des Bevollmächtigten unausgefüllt geblieben war. Aber er wußte nicht, ob man von diesem Schriftstücke Gebrauch gemacht hatte, da er sich ja niemals darum bekümmert und zu erfahren gesucht hatte, wie seine Gelder angelegt sein könnten.

Von neuem fing jetzt Martine in der Angst ihres Herzens zu klagen an und rief:

»Ach, Herr Doktor, Sie sind hart bestraft für das, was Sie sich haben in dieser Richtung zu Schulden kommen lassen! Wer gibt aber auch sein Geld so leichtsinnig hin wie Sie! Ich, sehen Sie, ich erfahre alle drei Monate den Stand meines Vermögens fast bis auf einen Centime, und ich könnte Ihnen deshalb auch die Nummern und die Wertpapiere bis auf die kleinste Zahl genau angeben.«

Trotz ihrer Verzweiflung erschien auf ihrem Gesichte ganz unbewußt ein Lächeln. Das war die befriedigte Leidenschaft, der sie schon seit langen Jahren eigensinnig frönte, die Befriedigung darüber, daß ihre vierhundert Franken Lohn, die sie seit dreißig Jahren sparte, anlegte und kaum anrührte, schließlich durch das Hinzukommen der Interessen zu der ungeheuer großen Summe von einigen zwanzigtausend Franken angewachsen waren. Und dieser Schatz war ganz und unberührt beiseite gelegt und an einem sicheren Orte deponirt, den niemand kannte. Sie strahlte vor Entzücken darüber, vermied es jedoch, dies allzu sehr merken zu lassen.

Pascal erhob Einspruch gegen die Worte der alten Martine.

»Ach was! Wer sagt Dir denn, daß unser ganzes Geld verloren ist! Herr Grandguillot besaß auch Privatvermögen; ich denke mir, er wird sein Haus und seinen übrigen liegenden Besitz nicht auch mitgenommen haben. Man wird es schon erfahren, denn man wird Klarheit in die Sache bringen; ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, ihn für einen gemeinen Dieb zu halten ... Das einzig Langweilige ist, daß wir werden warten müssen.«

Er sagte dies, um Clotilde zu beruhigen, deren Unruhe, wie er merkte, immer größer wurde. Sie sah ihn an, sie betrachtete die Souleiade ringsherum, einzig mit seinem Glücke beschäftigt, mit dem heißen Wunsch, hier immer leben zu dürfen wie in der vergangenen Zeit, ihn immer lieben zu dürfen in dieser geliebten Einsamkeit. Und er selber hatte, da er sie beruhigen wollte, seine schöne Sorglosigkeit wiedergewonnen: er hatte ja niemals für das Geld gelebt und niemals gedacht, daß es ihm fehlen und daß man deshalb schwer leiden könnte.

»Aber ich habe ja noch Geld!« rief er schließlich aus. »Warum sprichst Du denn immer davon, Martine, daß wir keinen Sou mehr hatten und daß wir Hungers sterben müßten?«

Und fröhlich erhob er sich und zwang sie alle beide, ihm zu folgen.

»Kommt, so kommt doch! Ich will es euch zeigen, das Geld. Ich werde dann der alten Martine davon geben, damit sie uns heute abend ein gutes Diner dafür bereitet.«

Und oben in seinem Zimmer schlug er vor ihnen triumphirend die Klappe seines Sekretärs zurück. Dort war es, wo er in eine Schublade seit beinahe sechzehn Jahren das Gold und die Kassenscheine hineingeworfen, die ihm seine letzten Patienten aus freien Stücken gebracht hatten, da er niemals etwas von ihnen forderte. Und er hatte auch niemals genau die Gesamtsumme dieses kleinen Schatzes gewußt; er nahm nach Belieben davon weg, sein Taschengeld, das Geld für seine Experimente, für seine Almosen und für seine Geschenke. Seit einigen Monaten machte er dem Sekretär häufiger ernste Besuche. Aber er war so sehr daran gewöhnt, dort die Summen zu finden, die er nötig hatte, daß er schließlich nach Jahren weiser Sparsamkeit, in denen er fast gar keine Ausgaben gehabt hatte, seine Ersparnisse für ganz unerschöpflich hielt.

Er lachte vor Vergnügen.

»Ihr werdet sehen! Ihr werdet sehen!«

Und er war ganz betroffen, als er nach einem fieberhaften Herumsuchen unter einem Haufen von Rechnungen und Fakturen nur mit Mühe die Summe von sechshundertundfünfzehn Franken zusammenbringen konnte, zwei Kassenscheine zu je hundert Franken, vierhundert Franken in Gold und fünfzehn Franken in kleiner Münze. Er schüttelte die anderen Papiere aus, er fühlte mit dem Finger in alle Ecken der Schublade, wobei er immer von neuem rief:

»Aber, mein Gott, das ist ja gar nicht möglich! Ich habe doch immer Geld darin gehabt! Es war doch dieser Tage noch ein ganzer Haufen Geld darin! Es müssen diese alten Rechnungen hier gewesen sein, die mich getäuscht haben. Ich schwöre euch, daß ich vergangene Woche noch viel Geld darin gesehen habe, daß ich noch viel davon mit meiner Hand berührt habe.«

Er war in seinem guten Glauben so komisch, er erstaunte sich mit einer solchen Einfalt eines großen Kindes, daß Clotilde nicht umhin konnte zu lächeln. Ach, der arme Meister! Was war er für ein bedauernswürdiger Geschäftsmann! Als sie dann die angstvolle Miene der alten Martine bemerkte, deren vollständige Verzweiflung über das wenige Geld zum Lebensunterhalt für sie alle drei, wurde sie von einer heftigen Rührung ergriffen, ihre Augen füllten sich mit Thränen, wahrend sie leise murmelte:

»Mein Gott! Ich bin es, für die Du alles ausgegeben hast, ich bin das Verderben, ich bin die einzige Ursache, wenn wir nichts mehr haben!«

Er hatte schon ganz das Geld vergessen, das er für die Geschenke herausgenommen hatte. Daß das Geld nicht mehr da war, darüber konnte kein Zweifel herrschen. Das weckte auch seine Lebensgeister wieder. Und als sie in ihrem Schmerze davon sprach, daß sie alles den Kaufleuten zurückgeben wolle, wurde er unwillig.

»Was ich Dir geschenkt habe, das willst Du wieder zurückgeben? Aber da würdest Du ja ein Stück von meinem Herzen wieder mit zurückgeben! Nein, nein! Dann wollte ich doch lieber vor Hunger sterben, ich will Dich so, wie es mir gefällt!«

Dann aber kehrte ihm das Vertrauen zurück, und er sah eine unbegrenzte Zukunft sich öffnen.

»Uebrigens, wir brauchen doch heute abend noch nicht zu verhungern, nicht wahr, Martine! Mit diesem Gelde hier können wir weit kommen!«

Martine hob den Kopf empor. Sie verpflichtete sich, zwei, vielleicht sogar drei Monate mit dem Gelde zu langen, wenn man sehr vernünftig sein wollte, aber nicht länger. Früher, da wäre die Schublade gespeist worden, etwas Geld wäre immer eingegangen, während jetzt gar keine Einnahmen mehr vorhanden seien, seitdem der Herr Doktor seine Patienten aufgegeben hatte. Er durfte also auf keine Unterstützung rechnen, die von außerhalb käme. Und sie schloß, indem sie sagte:

»Geben Sie mir die beiden Hundertfrankenscheine! Ich will versuchen, es so einzurichten, daß sie einen ganzen Monat reichen. Später werden wir dann sehen ... Aber seien Sie jetzt vernünftig und rühren Sie die anderen vierhundert Franken in Gold nicht an! Schließen Sie das Geld in die Schublade und öffnen Sie diese nicht wieder!«

»O, gewiß!« rief der Doktor. »Du kannst ganz ruhig sein! Ich würde mir eher die Hand abhauen!«

So war denn alles geordnet. Martine behielt die freie Disposition über dieses letzte Geld; und man konnte sich vollständig auf ihre Sparsamkeit verlassen, man war sicher, daß sie mit den Centimes haushälterisch umgehen würde. Was Clotilde betraf, die niemals einen eigenen Geldbeutel gehabt hatte, so würde sie gar nichts von dem Fehlen des Geldes bemerken. Nur allein Pascal würde darunter leiden, daß er nicht mehr einen offenen, unerschöpflichen Schatz hatte. Aber er hatte sich ausdrücklich verpflichtet, alles durch die Haushälterin bezahlen zu lassen.

»Ach! Das war eine saure Arbeit!« rief er erleichtert und glücklich aus, als ob er gerade ein gewaltiges Geschäft erledigt hatte, das für immer ihre Existenz sichern sollte.

Eine Woche verfloß; auf der Souleiade schien sich nichts geändert zu haben. In dem Entzücken ihrer Liebe schienen weder Pascal noch Clotilde an das drohende Elend zu deuten. Und eines Morgens, als Clotilde mit Martine ausgegangen war, um sie auf den Markt zu begleiten, empfing der Doktor, der allein zurückgeblieben war, einen Besuch, der ihn zuerst mit einem gewissen Schrecken erfüllte. Es war die Verkäuferin, bei der er das Mieder von alten Alençonspitzen gekauft hatte, jenes Wunderwerk, sein erstes Geschenk. Er fühlte sich so schwach gegen eine mögliche Versuchung, daß er schon bei dem bloßen Gedanken daran zitterte. Bevor noch die Händlerin ein Wort ausgesprochen hatte, wehrte er sich dagegen: Nein! nein! er könnte nichts, er wollte nichts kaufen! Und mit vorgestreckten Händen suchte er sie abzuhalten, irgend etwas aus ihrer Ledertasche hervorzuholen. Die gemütliche, dicke Frau lachte jedoch, ihres Sieges nur zu gewiß. Mit ihrer eintönigen, einschläfernden Stimme fing sie zu reden an und erzählte ihm eine ganze Geschichte. Ja, eine Dame, die sie nicht nennen konnte, eine der vornehmsten Damen von Plassans, sei von einem schweren Unglücksfalle betroffen und dadurch gezwungen worden, ein Schmuckstück zu verkaufen; da hatte sie von der günstigen Gelegenheit gehört, einen Schmuckgegenstand zu erwerben, der mehr als zwölfhundert Franken gekostet hätte und den man jetzt für fünfhundert Franken mit schwerem Herzen hergeben wollte. Ohne sich irgendwie zu übereilen, hatte sie ihre Tasche geöffnet trotz der Bestürzung und der wachsenden Unruhe des Doktors; sie zog daraus eine seine Halskette hervor, die vorn ganz einfach mit sieben Perlen besetzt war. Aber die Perlen hatten einen wunderbaren Glanz, eine vollendete Rundung und Durchsichtigkeit. Sie waren sehr sein, sehr rein und von einer außerordentlichen Frische. Sofort hatte er dieses Collier an dem zarten Halse Clotildens gesehen wie den natürlichen Schmuck dieses seidenweichen Fleisches, dessen Blumengeschmack er noch auf seinen Lippen bewahrte. Ein anderer Schmuckgegenstand würde ihn unnötigerweise belastet haben, diese Perlen dagegen würden nur von ihrer Jugend sprechen. Und schon hatte er es zwischen seine zitternden Finger genommen, und eine tödliche Pein erfaßte ihn bei dem Gedanken, es zurückgeben zu müssen. Dennoch wehrte er sich noch immer dagegen; er schwur, daß er keine fünfhundert Franken mehr hatte, während die Verkäuferin fortfuhr, mit ihrer eintönigen Stimme den guten Kauf, der wirklich ›eräw lleer‹ herauszustreichen. Nach einer weiteren Viertelstunde, als sie ihn fest zu haben glaubte, erklärte sie sich plötzlich bereit, ihm das Collier für dreihundert Franken lassen zu wollen. Und dem konnte er nicht widerstehen, seine Geschenkwut, sein Verlangen, seinem Idol ein Vergnügen zu bereiten und es zu schmücken, war zu stark. Als er die fünfzehn Goldstücke aus der Schublade herausnahm, um sie der Verkäuferin zu bezahlen, war er fest davon überzeugt, daß die Sachen bei dem Notar in Ordnung gebracht werden würden und daß man bald wieder viel Geld haben würde.

Als dann Pascal wieder allein war mit dem Schmuckstück in der Tasche, empfand er eine geradezu kindliche Freude, und gepeinigt von Ungeduld, während er die Rückkehr Clotildens abwartete, bereitete er seine kleine Ueberraschung vor. Und als er sie von weitem erblickte, da pochte sein Herz zum Zerspringen.

Sie hatte sehr heiß, da nie glühende Augustsonne den Himmel in Flammen setzte. Sie wollte daher ihre Kleider wechseln und erzählte, glücklich über ihren Spaziergang, lachend von dem guten Kaufe, den Martine soeben gemacht hatte, zwei Tauben für achtzehn Sous. Er war ihr, halb erstickt von seiner Auflegung, in ihr Zimmer gefolgt. Als sie nur noch das Unterleibchen an hatte und ihre Arme und Schultern nackt waren, da that er so, als ob er etwas an ihrem Halse bemerkte.

»Halt! Was ist denn das, was Du da hast? Laß einmal sehen!«

Er hatte das Collier in der Hand und es gelang ihm, es ihr umzulegen, indem er zum Scheine mit seinem Finger an ihrem Halse herumfühlte, um sich zu versichern, daß sie nichts hätte. Lustig wehrte sie sich dagegen.

»So komm doch endlich zu Ende! Ich weiß ganz genau, daß nichts da ist! Ja, was treibst Du denn nur? Was hast Du nur, was mich so kitzelt?«

Er umfaßte sie zärtlich und führte sie vor den großen Stehspiegel, in dem sie ihre ganze Gestalt erblickte. An ihrem Halse sah die feine Kette nur wie ein Goldfaden aus, und die sieben Perlen glänzten wie sieben milchweiße Sterne, die auf ihrer seidenweichen Haut entstanden waren und dort in sanftem Lichte erstrahlten. Das bereitete ihr eine kindliche, Freude, das war köstlich. Sie brach sofort in ein entzücktes Lachen aus, das dem Girren einer koketten Taube glich, die sich aufbläst.

»O, Meister! Meister! Wie gut Du bist! Denkst Du denn immer nur an mich? Wie Du mich glücklich machst!«

Und die Freude, die aus ihren Augen strahlte, die Freude der liebenden Frau, die entzückt ist, schön zu sein und angebetet zu werden, belohnte ihn göttlich für seine Thorheit.

Sie hatte den Kopf zurückgewendet und bot ihm strahlend ihre Lippen. Er beugte sich zu ihr herab, sie küßten sich.

»Bist Du zufrieden?«

»O ja, Meister! Zufrieden, sehr zufrieden! Sie sind so zart, sie sind so rein, diese Perlen! Und sie kleiden mich so gut!«

Einen Augenblick noch bewunderte sie sich in dem Spiegel in unschuldiger Eitelkeit über die lichte Blüte ihrer Haut unter den schimmernden Perlentropfen. Dann gab sie, als sie die alte Haushälterin in dem nebenan liegenden Saale herumhantiren hörte, dem Verlangen nach, sich zu zeigen, entschlüpfte aus seinen Armen und eilte, nur mit dem Unterleibchen bekleidet und im bloßen Halse, zu ihr hinüber.

»Martine! Martine! Sieh doch nur, was mir soeben der Meister wieder geschenkt hat! Nun, bin ich jetzt nicht schön?«

Aber bei der strengen und plötzlich erschreckten Miene der alten Haushälterin wurde ihr die Freude ganz verdorben. Vielleicht hatte sie eine Ahnung von dem eifersüchtigen Schmerze, den ihre strahlende Schönheit diesen: armen Wesen bereiten mußte, das in der stummen Ergebenheit seiner dienenden Stellung alt geworden war in anbetender Verehrung seines Meisters. Es war dies übrigens nur eine Empfindung, die kaum eine Sekunde anhielt und die für die eine ganz unbewußt war und von der andern kaum verspürt wurde. Was aber zurückblieb, das war die deutlich sichtbare Mißbilligung der alten sparsamen Haushälterin, das sofort als kostbar erkannte und verurteilte Geschenk.

Clotilde wurde von einem leichten Schauder ergriffen.

»Der Meister hat also wieder einmal seinen Sekretär durchstöbert,« murmelte sie ... »sie sind sehr teuer, diese Perlen, nicht wahr?«

Pascal befand sich in großer Verlegenheit; er machte Einwendungen dagegen, sprach von der vortrefflichen Gelegenheit und berichtete in einem wahren Wortschwall von dem Besuche der Verkäuferin. Ein unglaublich guter Kauf! Es wäre gar nicht möglich gewesen, nicht zu kaufen.

»Wie viel?« fragte das junge Mädchen mit einer wahren Todesangst.

»Dreihundert Franken.«

Und Martine, die bis dahin ihren Mund noch gar nicht geöffnet hatte und in ihrem hartnäckigen Stillschweigen geradezu schrecklich war, konnte den Schrei nicht zurückhalten:

»Großer Gott! Wovon sollen wir denn sechs Wochen lang leben? Wir haben ja nicht einmal mehr Brot!«

Große Thränen stürzten aus Clotildens Augen. Sie würde das Collier von ihrem Halse gerissen haben, wenn Pascal es nicht verhindert hätte. Sie sprach davon, es sofort wieder zurückgeben zu wollen, und stotterte ganz außer sich die Worte hervor:

»Es ist wahr, Martine hat ganz recht ... Der Meister ist ein Narr und ich bin selbst eine Närrin, es auch nur eine einzige Minute zu behalten in der Lage, in der wir uns befinden ... Es würde mir die Haut verbrennen. Ich bitte Dich inständig darum, laß es mich wieder zurückbringen!«

Er wollte das durchaus nicht zugeben. Dann wurde er ebenso wie die beiden Frauen tief betrübt; er gab seinen Fehler zu, sagte, daß er unverbesserlich sei und daß man ihm das ganze Geld hätte wegnehmen sollen. Und darauf eilte er nach seinem Sekretär, brachte die hundert Franken herbei, die noch übrig waren, und zwang die alte Martine, sie zu nehmen.

»Ich sage Dir, daß ich nicht einen einzigen Sou mehr haben will! Ich würde ihn ja doch wieder ausgeben ... Nimm das Geld, Martine, Du bist die einzige Vernünftige! Du wirst das Geld schon so lange zu halten wissen, davon bin ich fest überzeugt, bis unsere Angelegenheiten wieder in Ordnung sind ... Und Du, geliebter Schatz, behalte das Collier, plage mich nicht mehr damit! Umarme mich und zieh Dich an!«

Es war nicht weiter die Rede von diesem Vorfall. Aber Clotilde hatte das Collier an ihrem Halse behalten unter dem Kleide; und es war ein so reizendes Geheimnis, dieser kleine Schmuckgegenstand, so fein und so allerliebst, von dem niemand etwas wußte, den sie nur ganz allein an sich fühlte. Zuweilen, bei einer zärtlichen Scene, lächelte sie Pascal an und zog die Perlen aus ihrem Mieder hervor, um sie ihm zu zeigen, ohne jedoch dabei ein Wort zu sagen. Und mit derselben raschen und geschickten Handbewegung verbarg sie sie wieder an ihrem lebenswarmen Busen in lieblicher Erregung. Das war ihre Liebesthorheit, daß sie ihm mit einer verwirrten Dankbarkeit einen Strahl immer lebhafter Freude hervorrief. Niemals mehr legte sie die Perlen ab.

Von da an begann ein Leben der Einschränkung, das aber trotz allem angenehm war. Martine hatte ein genaues Verzeichnis der Vorräte des Hauses gemacht, und das war sehr traurig ausgefallen. Nur der Vorrat an Kartoffeln war allein nennenswert. Unglücklicherweise ging der Oelkrug auf die Neige, ebenso wie das letzte Weinfaß leer wurde. Die Souleiade hatte keine Rebstücke und keine Olivenbäume mehr; sie brachte nur noch einige Gemüse und Fruchtarten hervor; Birnen, die nicht reif waren, und Spaliertrauben sollten ihre einzige Nahrung sein. Endlich mußte täglich Brot und Fleisch gekauft werden. Von dem ersten Tage an setzte die alte Haushälterin auch die täglichen Rationen für Pascal und Clotilde fest; die Crêmes und das feine Backwerk ließ sie ganz weg und führte die Platten auf eine bestimmte Zahl zurück. Sie hatte ihre ganze Autorität von früher wieder gewonnen und behandelte Pascal und Clotilde ganz wie Kinder, die sie nicht einmal mehr nach ihren Wünschen und nach ihrem Geschmacke fragte. Sie war es, die die Speisezettel zusammenstellte, die besser als sie selbst wußte, was ihnen zuträglich, was ihnen nötig war, und sorgte im übrigen mütterlich für beide, umgab sie mit unendlicher Sorgfalt, ja, sie vollbrachte sogar das Wunder, ihnen für das armselige Geld auch noch Genüsse zu bereiten, und zankte sie nur zu ihrem eigenen Besten aus, wie man kleine Kinder auszankt, die ihre Suppe nicht essen wollen. Und es schien, als ob diese sonderbare Mutterschaft, diese Selbstaufopferung, dieser Frieden der Einbildung, mit dem sie ihre Lieben umgab, auch sie etwas befriedigte und sie der dumpfen Verzweiflung entriß, der sie anheimgefallen war. Seitdem sie auf diese Weise über sie wachte, hatte sie das Aussehen einer kleinen weißen Nonne wieder gewonnen, die sich der Ehelosigkeit geweiht hat, mit ihren ruhigen Augen von aschgrauer Farbe, die deutlich die Ergebenheit ihrer Dienstbarkeit von dreißig Jahren aussprachen. Wenn sie nach den ewigen Kartoffeln und dem kleinen Kotelette zu vier Sous, das sich ganz zwischen dem Gemüse verlor, an bestimmten Tagen dazu kam, ihnen mit Krapfen aufzuwarten, dann triumphirte sie, dann war sie hoch erfreut über ihre lachenden Gesichter.

Pascal und Clotilde fanden alles sehr gut, was sie aber trotzdem nicht verhinderte, über sie zu lachen, wenn sie nicht da war. Die alten Spöttereien über ihren Geiz begannen auf das schönste von neuem; sie erzählten sich, daß sie die Pfefferkörner zählte, so und so viele Körner für jede Platte, eine geradezu lächerliche Sparsamkeit; wenn an den Kartoffeln allzu sehr das Oel fehlte, und wenn die Koteletten auf einen einzigen Bissen zusammenschrumpften, so tauschten sie einen verständnisinnigen Blick aus und warteten, bis sie hinausgegangen war, um ihre Heiterkeit in ihren Servietten zu ersticken. Sie amüsirten sich über alles, sie lachten wie unschuldige Kinder über ihr Unglück.

Am Ende des ersten Monates dachte Pascal an den Lohn der alten Martine. Für gewöhnlich entnahm sie selbst ihre vierzig Franken aus der gemeinschaftlichen Kasse, die sie führte.

»Meine arme Alte,« sagte er zu ihr, »wie sollst Du denn nun zu Deinem Lohne kommen, da wir kein Geld mehr haben?«

Sie blieb einen Augenblick stumm, die Augen zur Erde gesenkt und mit verstörtem Gesichte.

»Ja, Herr Doktor, dann werde ich wohl warten müssen!«

Aber er sah wohl, daß sie nicht alles sagte, daß sie an ein Arrangement dachte, aber nicht recht wußte, auf welche Weise sie es vorbringen sollte. Er ermutigte sie.

»Dann würde ich es vorziehen, daß mir der Herr Doktor, im Falle, daß Sie damit einverstanden sind, einen Schein unterzeichnet!«

»Wie? Einen Schein?«

»Ja, einen Schein, auf dem mir der Herr Doktor jeden Monat durch seine Namensunterschrift bestätigt, daß er mir vierzig Franken schuldig ist.«

Pascal gab ihr sofort den Schein, und sie war darüber sehr glücklich; sie schloß ihn sorgfältig ein, als wenn er schönes und gutes Geld gewesen wäre. Aber dieser Schein wurde für den Doktor und seine Gefährtin ein neuer Gegenstand der Verwunderung und des Spottes. Worin bestand denn eigentlich die außergewöhnliche Gewalt, die das Geld auf ihre Seele ausübte? Dieses alte Mädchen, welches sie auf den Knieen bediente und besonders ihn so verehrte, daß sie freudig für ihn ihr Leben hingegeben hätte, nahm jetzt diese schwache Sicherheit, diesen elenden Fetzen Papier, der ganz wertlos war, wenn er sie nicht bezahlen konnte!

Uebrigens hatten weder Pascal noch Clotilde ein großes Verdienst daran, daß sie ihre Heiterkeit im Unglück bewahrten, denn sie fühlten dasselbe gar nicht. Sie lebten in stolzer Erhabenheit über demselben in dem reichen und glücklichen Bereich ihrer Leidenschaft. Bei Tische wußten sie nicht, was sie aßen; sie konnten sich einbilden, sie verspeisten auf silbernem Geschirr ein königliches Mahl. Sie hatten kein Bewußtsein von der Leere rings um sie herum; sie bemerkten nicht, wie die alte Haushälterin immer mehr abmagerte, da sie sich mir von dem nährte, was sie übrig ließen; und sie schritten durch das öde Haus wie durch einen mit allen Kostbarkeiten überladenen Palast. Das war sicherlich die glücklichste Epoche ihrer Liebe. Das Zimmer war eine Welt, das mit altem, fein bedrucktem, orangefarbenem Kattun tapezirte Zimmer, wo sie das Unendliche, das Glück ohne Ende nicht erschöpfen konnten, sich einander in den Armen zu halten. Dann bewahrte der Arbeitssaal so viele Erinnerungen an die Vergangenheit, daß sie die Tage dort verbrachten, wie verschwenderisch von der Freude umhüllt, dort schon so lange zusammen gelebt zu haben. Dann war es draußen in den verstecktesten Winkeln der Souleiade der königliche Sommer, der sein blaues, von Gold strahlendes Zelt ausbreitete. Am Morgen führten sie auf den von Harz duftenden Wegen des Fichtenwaldes, zu Mittag unter dem dunklen Schatten der Platanen, erfrischt durch den Gesang der Quelle, und am Abend auf der Terrasse, wo ein kühler Luftzug wehte, oder aus dem großen, freien Platz, der noch warm und in dem blauen Licht der ersten Sterne gebadet war, mit Entzücken ihr Dasein als Arme spazieren, deren einziger Ehrgeiz war, immer zusammen leben zu können, in der vollständigen Verachtung alles übrigen. Die Erde gehörte ihnen mit allen ihren Schätzen und ihren Festen, mit allen ihren Reichen von dem Augenblicke an, wo sie sich einander ganz angehörten.

Gegen Ende August jedoch verschlimmerten sich die Verhältnisse noch. Es gab für sie zuweilen doch ein sehr unsanftes Erwachen aus diesem schrankenlosen Traumleben ohne Pflichten und ohne Arbeit, das ihnen so süß däuchte und doch so unmöglich, so ungut war, um es immer leben zu können. So erklärte ihnen eines Abends die alte Martine, daß sie nur noch fünfzig Franken hätte, und daß es sehr schwer halten würde, damit noch zwei Wochen auszukommen, selbst wenn sie auf das Weintrinken ganz verzichten wollten. Auch von anderer Seite wurden die Nachrichten immer trüber; der Notar Grandguillot war vollständig zahlungsunfähig, so daß selbst seine persönlichen Gläubiger nichts erhielten. Zuerst hatte man noch auf das Haus und auf zwei Pachtgüter rechnen können, die der Notar bei seiner Flucht gezwungen hatte zurücklassen müssen; aber es stand jetzt fest, daß diese Besitzungen auf den Namen seiner Frau eingetragen waren. Und während er, wie man sagte, in der Schweiz die Schönheit der Berge genoß, lebte sie sehr ruhig auf einem dieser Pachtgüter, das sie, fern von allen Unannehmlichkeiten des Bankerottes, als ihr spezielles Eigentum bewirtschaftete. Das aufgeregte Plassans erzählte sich, daß die Frau die Ausschweifungen des Gatten duldete und ihm sogar erlaubte, sich zwei Maitressen zu halten, die er an die großen Seen mitgenommen hatte. Und Pascal versäumte es in seiner gewohnten Sorglosigkeit selbst, zu dem Prokurator der Republik zu gehen und mit ihm über seinen Fall zu reden. Da er hinreichend von allem unterrichtet war durch das, was man ihm erzählte, fragte er sich, zu welchem Zwecke er diese gemeine Geschichte noch einmal aufwärmen sollte, da doch von seinem Eigentume nichts und ebenso wenig sonst etwas Nützliches dabei herauskommen konnte.

Damals erschien die Zukunft auf der Souleiade schwer bedroht. Die finstere Sorge herrschte da, und das war auch nur noch eine kurze Gnadenfrist. Und Clotilde, im Grunde sehr vernünftig, war die erste, die vor der Zukunft zitterte. Sie bewahrte ihre lebhafte Heiterkeit, so lange Pascal da war; aber in ihrer Zärtlichkeit als Frau umsichtiger als er, überkam sie ein wirklicher Schrecken, wenn er sie auf einen Augenblick allein ließ, und sie fragte sich, was aus ihm werden sollte in seinem Alter und mit diesem baufälligen Hause belastet. Ein Plan beschäftigte sie schon seit einigen Tagen im Geheimen; sie wollte arbeiten, sie wollte Geld verdienen, viel Geld verdienen mit ihren Bildern. Man hatte schon so und so vielemale von ihrem großen und eigenartigen Talente mit lauter Bewunderung gesprochen, daß sie schließlich die alte Martine ins Vertrauen zog und ihr eines schönen Tages den Auftrag gab, mehrere ihrer Phantasiebonquets dem Bilderhändler auf dem Corso Sauvaire zum Verkauf anzubieten, der, wie man versicherte, mit einem Pariser Maler in verwandtschaftlicher Beziehung stand. Die ausdrückliche Bedingung war, nichts in Plassans auszustellen, sondern alles so weit als möglich fortzuschaffen. Aber das Resultat war ein sehr trauriges; der Kaufmann war entsetzt über die Ungeheuerlichkeit der Erfindung, über den maßlosen Schwung der Komposition und erklärte, daß sich so etwas niemals würde verkaufen lassen. Clotilde war ganz verzweifelt, große Thränen traten ihr in die Augen. Zu was wäre sie denn nütze? Es wäre ein Jammer und eine Schande, zu gar nichts gut und brauchbar zu sein! Und die alte Haushälterin mußte sie trösten und mußte ihr auseinandersetzen, daß ohne Zweifel nicht alle Frauen zum Arbeiten geschaffen seien, daß die einen wie die Blumen in den Gürten hervorsprießten, um gut zu riechen, während die anderen dem Getreide der Erde gleichen, das man zerquetscht und das ernährt.

Martine indessen überdachte hin und her einen andern Plan, welcher darauf hinausging, den Doktor zu bestimmen, seine Praxis wieder aufzunehmen. Sie sprach schließlich mit Clotilde davon, die ihr aber sofort die Schwierigkeiten, die Unmöglichkeit eines solchen Versuches nachwies. Sie hatte gerade am vorhergehenden Abend mit Pascal darüber gesprochen. Er beschäftigte steh auch damit, er dachte auch an die Arbeit als die einzige Möglichkeit einer Rettung. Der Gedanke, sein Sprechzimmer wieder zu Konsultationen zu öffnen, mußte ihm zuerst gekommen sein. Aber er war seit so langer Zeit der Arzt der Armen gewesen! Wie konnte er es daher icht wagen, sich bezahlen zu lassen, da er schon seit so vielen Jahren kein Geld mehr gefordert hatte? War es denn übrigens auch nicht zu spät, in seinem Alter noch einmal mit einer Carrière zu beginnen, ganz abgesehen von den thörichten Geschichten, die über ihn im Umlauf waren, ganz abgesehen von dem sagenhaften Gerüchte, das man über ihn verbreitet hatte, es wäre bei ihm nicht ganz richtig im Kopfe? Er wurde sicher nicht einen einzigen Patienten wieder bekommen, und es wäre daher eine unnötige Grausamkeit, ihn auch nur zu einem Versuche zu zwingen, aus dem er nur mit zerrissenem Herzen und leeren Händen hervorgehen wurde. Clotilde bemühte sich im Gegenteile eifrig, ihn davon abzubringen, und Martine begriff diese gewichtigen Gründe und erklärte ebenfalls, daß man ihn abhalten müsse, damit er nicht Gefahr liefe, einen solchen schweren Kummer zu erleben. Aber während dieses Gespräches war ihr ein anderer Gedanke gekommen sie erinnerte sich an ein altes Verzeichnis, das sie in einem alten Schranke entdeckt und auf dem sie einstmals die Krankenbesuche des Doktors aufgeschrieben hatte. Viele Leute hatten ihn niemals bezahlt, und zwar waren es ihrer so viele, daß ihre Namen zwei große Seiten des alten Registers ganz ausfüllten. Warum sollte man denn jetzt nicht, wo man sich im Unglück befand, von diesen Leuten die Summen einfordern, die sie ihm schuldeten? Man könnte das ganz gut thun, auch ohne dem Herrn Doktor etwas davon zu sagen, da er es immer abgeschlagen hatte, sich an das Gericht zu wenden. Diesmal gab ihr Clotilde recht. Es war ein vollständiges Komplott: sie zog die schuldigen Summen aus dem Register und schrieb die Rechnungen, die die alte Martine forttragen mußte. Aber von keiner Seite erhielt sie auch nur einen einzigen Sou; an jeder Thüre bekam sie die Antwort, man werde die Rechnung nachsehen und später bei dem Doktor vorüberkommen. Aber zehn Tage vergingen, und niemand ließ sich sehen. Im Hause waren nur noch sechs Franken vorhanden, von denen man zwei bis drei Tage leben konnte.

Als Martine am folgenden Tage wieder mit leeren Händen von einem alten Patienten zurückkehrte, nahm sie Clotilde beiseite und erzählte ihr, daß sie soeben an der Ecke der Rue de la Banne mit Frau Felicité gesprochen hätte. Diese habe ihr ohne Zweifel aufgelauert. Sie hatte die Souleiade immer noch nicht wieder betreten. Selbst das Unglück, das ihren Sohn betroffen hatte, jener plötzliche Verlust seines Vermögens, von dem die ganze Stadt sprach, hatte sie ihm noch nicht wieder näher gebracht. Aber sie wartete mit einer leidenschaftlichen Ungeduld darauf, sie bewahrte die Haltung der streng urteilenden Mutter nur, weil sie gewiß war, daß Pascal schließlich doch auf ihre Gnade angewiesen sein würde, und zeigte sich auch deshalb gewissen Fehltritten gegenüber unversöhnlich, weil sie mit Bestimmtheit darauf rechnete, daß er eines schönen Tages ihre Hilfe anrufen wurde. Wenn er keinen Sou mehr hätte, dann wurde er schon an ihre Thüre klopfen, dann wurde sie aber ihre Bedingungen stellen, würde ihn zur Heirat mit Clotilde bestimmen, oder, was noch besser wäre, sie würde deren Abreise fordern. Die Tage gingen jedoch dahin, sie sah ihn nicht kommen Und deswegen hatte sie auch die alte Martine angehalten. Sie nahm eine von Mitleid bewegt Miene an, fragte nach Neuigkeiten und schien sich zu wundern, daß man ihre Kasse noch nicht in Anspruch genommen hatte, und gab dabei zu verstehen, daß ihre Würde es ihr verbiete, den ersten Schritt zu thun.

»Sie müssen mit dem Herrn Doktor darüber sprechen und ihn dazu bestimmen,« schloß die alte Haushälterin. »Und in der That, warum sollte er sich denn nicht an seine Mutter wenden? Das wurde doch nur ganz natürlich sein.«

Clotilde erhob aber lebhaften Widerspruch dagegen. »Niemals! Ich übernehme einen solchen Auftrag nicht Der Meister wurde böse werden, und er würde recht haben. Ich glaube bestimmt, er würde lieber vor Hunger sterben, all das Gnadenbrot aus den Händen von Großmama essen.«

Und als am übernächsten Morgen Martine sie beim Diner bediente und einen Rest von ausgekochtem Suppenrindfleisch auftrug, sagte sie zu ihnen:

»Jetzt habe ich kein Geld mehr, Herr Doktor, und morgen wird es nur Kartoffeln ohne Butter und ohne Oel geben ... Jetzt sind es nun schon drei Wochen, daß Sie nur Wasser trinken. Von heute an müssen Sie auch auf das Fleisch verzichten.«

Sie waren guter Dinge und scherzten sogar noch darüber.

»Hast Du denn noch Salz, meine brave Alte?«

»Ja, Herr Doktor, noch etwas!«

»Nun also! Kartoffeln mit Salz ist etwas sehr Gutes, wenn man Hunger hat!«

Sie ging in ihre Küche zurück, und sie fingen wieder ganz leise mit ihren Spöttereien über ihren außerordentlichen Geiz an. Niemals hatte sie ihnen das Anerbieten gemacht, ihnen zehn Franken vorschießen zu wollen, obgleich sie doch einen kleinen Schatz besaß, den sie irgendwo versteckt hielt an einem sicheren Orte, den niemand kannte. Sie lachten übrigens nur darüber, ohne ihr deswegen irgendwie böse zu sein, denn sie mußte jetzt wirklich schon daran denken, die Sterne vom Himmel herunterzuholen und sie ihnen zu serviren.

In der Nacht jedoch, als sie sich in das Bett gelegt hatten, bemerkte Pascal, daß Clotilde sich in fieberhafter Aufregung befand und von Schlaflosigkeit gequält wurde. Es war bei ihnen zur Gewohnheit geworden, daß er, wenn sie so eines in des andern Armen in der lauwarmen Finsternis dalagen, ihre Beichte anhörte; und sie wagte es diesmal, von ihrer Unruhe mit ihm zu sprechen, die sie seinetwegen, ihretwegen, ja des ganzen Hauses wegen empfand. Was sollte denn aus ihnen werden ohne alle Hilfsquellen? Einen Augenblick stand sie im Begriffe, mit ihm von seiner Mutter zu sprechen. Dann aber hatte sie doch nicht den Mut dazu und begnügte sich, ihm die Schritte zu gestehen, die sie beide, die alte Martine und sie selbst, gethan hatten: daß sie, nachdem sie das alte Verzeichnis aufgefunden, die Rechnungen herausgeschrieben und fortgeschickt, aber überall das Geld vergeblich gefordert hätten. Unter anderen Verhältnissen würde er bei diesem Geständnis großen Kummer empfunden haben und in heftige Aufregung geraten sein, erzürnt darüber, daß man dies ohne sein Wissen gethan hatte, da es so ganz im Widerspruch stand mit seinem bisherigen Verhalten während seiner ganzen Berufsthätigkeit. Er blieb zunächst still, und seine heftige Erregung bewies hinreichend, wie groß zeitweise seine geheime Angst war, wenn er sich auch so sorglos dem Elend gegenüber zeigte. Dann verzieh er Clotilden, indem er sie liebevoll an seine Brust drückte und sagte schließlich, daß sie recht gethan hätte, daß man nicht länger in dieser Weise leben könnte. Sie hörten endlich zu sprechen auf, aber sie merkte, daß er nicht schlief, daß er wie sie nach einem Mittel suchte, das für die täglichen Bedürfnisse notwendige Geld herbeizuschaffen. So verlief ihre erste unglückliche Nacht, eine Nacht gemeinsamen Leidens, in der sie in Verzweiflung war über die quälenden Gedanken, die er sich machte, während er sich nicht an den Gedanken gewöhnen konnte, sie ohne Brot zu wissen.

Am folgenden Morgen aßen sie zum Frühstück nur Früchte. Der Doktor war den ganzen Vormittag stumm geblieben, die Beute eines sichtbaren inneren Kampfes. Und es war schon beinahe drei Uhr, als er endlich einen festen Entschluß faßte.

»Jetzt also heißt es sich regen!« sagte er zu seiner Gefährtin. »Ich will nicht, daß Du auch heute abend noch hungerst ... Geh jetzt und setze Dir einen Hut auf, wir wollen zusammen ausgehen!«

Sie sah ihn an in Erwartung einer deutlicheren Erklärung.

»Ja, da man uns Geld schuldet und da man es euch nicht hat geben wollen, so werde ich jetzt gehen und sehen, ob man es denn auch mir verweigert.«

Seine Hände zitterten; der Gedanke, sich auf diese Weise bezahlen zu lassen, mußte ihm schreckliche Qualen verursachen, aber er bemühte sich zu lächeln und heuchelte großen Mut. Und ihr, die an dem Zittern der Stimme die Größe seines Opfers merkte, traten deswegen Thränen in die Augen.

»Nein, nein, Meister! Geh nicht hin, wenn es Dir zu viel Schmerz bereitet ... Martine konnte ganz gut noch einmal hingehen.«

Die alte Haushälterin, die auch da war, billigte dagegen den Entschluß Pascals sehr.

»Ja, warum soll denn der Herr Doktor nicht gehen? Es ist noch niemals eine Schande gewesen, das zu fordern, was man einem schuldet ... Ist es nicht so? Jedem das Seine ... Ich für meine Person finde es sehr gut, daß der Herr Doktor endlich einmal zeigt, daß er ein Mann ist.«

Dann ging ebenso wie früher in glücklichen Stunden der alte König David, wie sich Pascal zuweilen im Scherz nannte, am Arme der Abisaig aus. Weder das eine noch das andere von ihnen war ärmlich gekleidet; er trug wie immer seinen Ueberzieher fest zugeknöpft, während sie ihr hübsches leinenes Kleid mit den roten Punkten anhatte, aber das Bewußtsein ihres Elends drückte sie ohne Zweifel nieder und ließ sie glauben, daß sie nur noch zwei Arme wären, die nicht viel Platz einnehmen dürften und bescheiden an den Häusern entlang schleichen müßten. Die von der Sonne heiß beschienenen Straßen waren fast ganz leer. Einige Blicke belästigten sie, und dennoch beschleunigten sie ihre Schritte nicht, so sehr war ihnen das Herz beklommen.

Pascal wollte bei einem alten Beamten anfangen, den er während eines Nierenleidens behandelt hatte. Er ließ Clotilde auf einer Bank des Corso Sauvaire zurück und trat in das Haus seines ehemaligen Patienten ein. Aber es gewährte ihm eine große Erleichterung, als der Beamte, seiner Aufforderung zuvorkommend, erklärte, er bekäme seine Renten erst im Oktober und dann würde er ihn bezahlen. Bei einer alten gelähmten Dame von siebenzig Jahren verhielt sich die Sache anders; sie beschwerte sich darüber, daß man ihr die Rechnung durch eine Dienerin geschickt habe, die gar nicht höflich gewesen wäre, so daß er sich beeilte, eine Entschuldigung auszusprechen, und ihr die Frist gewährte, die sie haben wollte. Dann stieg er die drei Treppen zu einem Steuerbeamten hinauf, den er noch leidend fand und der ebenso arm war wie er selbst, so daß er es nicht einmal wagte, seine Forderung vorzubringen. Dann kamen der Reihe nach eine Kurzwarenhändlerin, die Frau eines Advokaten, ein Oelkaufmann, ein Bäcker daran, alles wohlhabende Leute; aber alle wußten sich der Bezahlung zu entziehen, die einen unter allen möglichen Vorwänden, die anderen einfach dadurch, daß sie ihn gar nicht empfingen; es war sogar einer dabei, der sich stellte, als ob er ihn gar nicht verstünde.

Es blieb nur noch die Marquise von Valqueyras übrig, die einzige Repräsentantin einer alten Familie, sehr reich und berüchtigt wegen ihres Geizes, die als Witwe mit ihrer kleinen zehnjährigen Tochter zusammen lebte. Er läutete zuletzt an ihrem altertümlichen Palais am Ende des Corso Sauvaire, einem monumentalen Bau aus der Zeit Mazarins. Und er blieb so lange darin, daß Clotilde, die unter den Bäumen auf und ab ging, von Unruhe ergriffen wurde.

Als er endlich nach Verlauf einer guten halben Stunde wieder erschien, rief sie ihm erleichtert und scherzend entgegen:

»Nun, hat sie vielleicht auch kein Geld gehabt?«

Und er hatte wirklich auch bei ihr wieder keinen Sou erhalten. Sie hatte sich über ihre Pächter beklagt, die sie nicht bezahlten.

»Denke Dir nur,« fuhr er fort, um ihr seine lange Abwesenheit zu erklären, »ihre kleine Tochter ist krank. Ich fürchte, es ist der Anfang eines Schleimfiebers ... Dann hat sie sie mir zeigen wollen, und ich habe die arme Kleine untersucht.«

Ein unbezwingliches Lächeln umspielte die Lippen Clotildens.

»Und Du bist zu einer Untersuchung bereit gewesen?«

»Ohne Zweifel! Konnte ich denn anders handeln?«

Sie hatte sehr bewegt seinen Arm ergriffen, und er fühlte, wie sie ihn zärtlich an ihr Herz drückte. Eine Zeit lang gingen sie noch aufs Geratewohl weiter. Jetzt war es zu Ende, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit leeren Händen wieder nach Hause zurückzukehren. Aber er sträubte sich dagegen, da er es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihr etwas anderes als nur Kartoffeln und Wasser, die sie erwarteten, zu verschaffen. Als sie den Corso Sauvaire wieder hinaufgegangen waren, wendeten sie sich nach links, der neuen Stadt zu; und es schien, als ob das Unglück es auf sie ganz besonders abgesehen habe und sie ganz dem Verderben preisgeben wolle.

»Höre,« sagte er endlich, »ich habe einen Gedanken ... Wenn ich mich an Ramond wendete, er würde uns ganz gewiß gern tausend Franken leihen, die man ihm dann wieder zurückgeben würde, wenn unsere Angelegenheiten sich geordnet hätten.«

Sie antwortete nicht sofort. Ramond, den sie abgewiesen hatte, und der jetzt verheiratet war, bewohnte ein Haus in der neuen Stadt und galt als der schöne Modearzt, der sich bald ein großes Vermögen erwerben würde. Sie kannte ihn glücklicherweise als einen rechtlich gesinnten und offenherzigen Mann. Wenn er nicht wieder zu ihnen gekommen war, um sie zu besuchen, so hatte er sicher nur aus Zartgefühl so gehandelt. Wenn er sie traf, so grüßte er sie mit einer so freudig erstaunten und über ihr Glück befriedigten Miene.

»Sollte das Dir vielleicht unangenehm sein?« fragte Pascal ganz unbefangen, der dem jungen Arzte sein Haus, seinen Geldbeutel und sein Herz geöffnet haben würde.

Dann antwortete sie hastig:

»Nein, nein! Es hat ja stets zwischen uns nur aufrichtige Freundschaft bestanden. Ich glaube, ich habe ihm viel Kummer verursacht, aber er hat mir verziehen ... Du hast recht, wir haben keinen andern Freund: Ramond ist der einzige, an den wir uns wenden können.«

Das Unglück verfolgte sie; Ramond war abwesend, er war zu einer Konsultation nach Marseille gereist, von wo er erst am folgenden Abend wieder zurückkehren würde. Die junge Frau Ramond war es, die sie empfing, eine alte Freundin von Clotilde, drei Jahre jünger als sie. Sie schien etwas verlegen, aber zeigte sich doch sehr liebenswürdig. Der Doktor sprach jedoch sein Anliegen natürlich nicht aus, sondern begnügte sich, seinen Besuch damit zu erklären, daß er sagte, Ramond fehle ihm.

Auf der Straße fühlten sich Pascal und Clotilde von neuem wie verlassen und verloren. Wohin sollten sie sich jetzt wenden? Welchen Versuch sollten sie jetzt machen? Und sie mußten sich wieder auf gut Glück auf den Weg machen.

»Meister, ich habe Dir noch gar nicht gesagt,« wagte Clotilde ihm zuzuflüstern, »es scheint, daß die alte Martine die Großmama getroffen hat ... Ja, Großmama ist unsertwegen in Unruhe; sie hat gefragt, warum wir nicht zu ihr kämen, wenn wir uns in Verlegenheit befänden ... Ach sieh! Dort unten ist ja gerade ihre Thüre ...«

Sie waren wirklich auf der Rue de la Banne, von wo man eine Ecke des Platzes der Unterpräfektur sehen konnte. Aber er verstand sie sofort und brachte sie sogleich zum Schweigen.

»Niemals, hörst Du! Und auch Du, Du wirst nicht hingehen. Du sagst mir dies, weil Du Schmerz darüber empfindest, mich so auf dem Trockenen zu sehen. Auch mir ist das Herz schwer, daß Du da bist und daß Du leidest. Allein es ist besser zu leiden, als etwas zu thun, worüber man sich fortwährend Vorwürfe machen würde ... Ich kann nicht, ich kann nicht!«

Sie verließen die Rue de la Banne und wandten sich nach dem alten Quartier.

»Ich will mich tausendmal lieber an Fremde wenden ... Vielleicht haben wir noch Freunde, aber die befinden sich unter den Armen.«

Und entschlossen, um Almosen zu bitten, setzte der König David am Arme der Abisaig seine Wanderung fort; der alte König ging von Thür zu Thür betteln, gestützt auf die Schulter seiner geliebten Sklavin, deren Jugend seine einzige Stütze war. Es war fast sechs Uhr, die große Hitze ließ nach, und die engen Straßen füllten sich mit Menschen, und in diesem bevölkerten Viertel, in dem sie sehr beliebt waren, grüßte man sie und lächelte ihnen zu. Ein wenig Mitleid mischte sich auch in die Bewunderung, denn jeder kannte ihren Ruin. Dennoch schienen sie von einer noch größeren Schönheit zu sein, er ganz weiß, sie ganz blond, in ihrer tiefen Niedergeschlagenheit sich innig an einander anschmiegend. Man fühlte, daß sie noch fester vereinigt und verbunden waren; sie trugen ihren Kopf aufrecht, stolz auf ihre strahlende Liebe, aber dennoch niedergedrückt von dem Unglück. Er war sehr erschüttert, während sie tapferen Herzens ihn bedauerte. Arbeiter in Halbkitteln gingen an ihnen vorüber, die gewiß mehr Geld in der Tasche hatten als sie. Niemand wagte es, ihnen einen Sou anzubieten, den man denjenigen nicht verweigert, die Hunger haben. In der Rue Canquoin wollten sie bei der alten Guiraude vorsprechen, aber sie war in der vorhergehenden Woche gestorben. Auch zwei andere Versuche, die sie machten, scheiterten. Von da an begannen sie darüber nachzudenken, von wem sie zehn Franken entlehnen könnten. Seit drei Stunden wanderten sie nun schon in der Stadt herum.

Ach, dieses Plassans mit dem Corso Sauvaire, der Rue de Rome und der Rue de la Banne, welche die Stadt in drei Teile teilen, dieses Plassans mit den immer geschlossenen Fenstern, diese von der Sonne verbrannte Stadt mit dem totenähnlichen Aussehen, die unter dieser Ruhe ein ganzes Nachtleben von Gesellschaften und von Spiel verbarg, hatten sie nun schon dreimal in immer langsamerem Tempo durchschritten in der schwülen Dämmerung des heißen Augusttages! Auf dem Corso standen ausgespannt altertümliche Landkutschen, die nach den benachbarten Gebirgsdörfern fuhren; und unter dem dunklen Schatten der Platanen, vor den Thüren der Cafés sahen ihnen die Gäste, die man dort seit sieben Uhr morgens bemerkte, lächelnd nach. Ebenso verspürten sie in der Neustadt, wo sich die Dienstboten auf den Schwellen der vornehmen Häuser aufpflanzten, weniger Sympathie als in den verlassenen Straßen des Viertels Saint-Marc, wo die alten Paläste ein freundliches Stillschweigen beobachteten. Sie kehrten in das alte Viertel zurück und gingen bis zur Kathedrale Saint-Saturnin, deren Apsis der Garten des Kapitels beschattete, ein Winkel köstlichen Friedens, aus dem ein Armer, der um ein Almosen bat, sie vertrieb. Man baute viel auf der Seite nach dem Bahnhofe hin, wo ein neuer Faubourg im Entstehen begriffen war, und dahin begaben sie sich jetzt. Dann gingen sie noch ein letztesmal bis zum Platze der Unterpräfektur zurück, in der plötzlich erwachenden Hoffnung, in dem Gedanken, sie könnten schließlich doch noch jemand treffen, der ihnen Geld anbieten würde. Aber sie stießen in der Stadt überall nur auf lächelndes Mitleid, sie so vereinigt zu sehen. Die Kieselsteine der Viorne, das kleine, spitzige Pflaster machte ihnen die Füße wund. Und so mußten endlich beide zusammen mit leeren Händen nach der Souleiade zurückkehren, der alte bettelnde König und seine unterwürfige Sklavin Abisaig in der Blüte ihrer Jugend, die den alten König David, der sein Hab und Gut verloren hatte und müde war von dem nutzlosen Hin- und Herlaufen in den Straßen, heimgeleitete.

Es war acht Uhr. Martine, die sie erwartete, sah ein, daß sie an diesem Abend nichts mehr in der Küche zu thun haben würde. Sie behauptete, schon gegessen zu haben; und da sie leidend zu sein schien, schickte Pascal sie sofort zu Bett.

»Wir können Dich ganz gut entbehren,« wiederholte Clotilde. »Da die Kartoffeln am Feuer stehen, so können wir sie uns selbst nehmen.«

Die alte Haushälterin, die sehr übler Laune war, folgte der Aufforderung. Sie murmelte einige nur halb verständliche Worte: wenn man alles gegessen hat, warum soll man sich dann noch zu Tisch setzen. Dann sagte sie noch, bevor sie sich in ihr Zimmer einschloß:

»Herr Doktor, es ist kein Hafer mehr für Bonhomme da. Ich habe ihn heute sehr sonderbar gefunden, und es würde jedenfalls besser sein, wenn der Herr Doktor noch einmal nach ihm sehen wollte.«

Pascal und Clotilde begaben sich sogleich, von Unruhe ergriffen, in den Stall. Das alte Pferd lag in der That schlaftrunken auf seinem Stroh. Seit sechs Monaten hatte man es gar nicht mehr herausgelassen seiner Beine wegen, die vom Rheumatismus ganz verkrümmt waren, und es war auch vollständig blind geworden. Niemand begriff übrigens, warum der Doktor das alte Vieh so lange unterhielt. Selbst Martine war schließlich so weit gekommen, daß sie sagte, man müsse es schon aus bloßem Mitleid tot schlagen lassen. Aber Pascal und Clotilde erhoben dagegen lebhaften Einspruch und gerieten in heftige Aufregung, als wenn man ihnen gesagt hätte, sie sollten einen alten Verwandten auf die Seite bringen, der nicht schnell genug wegsterben wollte. Nein, nein! Bonhomme hatte ihnen länger denn ein Vierteljahrhundert treue Dienste geleistet und sollte daher bei ihnen eines schönen, ruhigen Todes sterben wie ein braver Kerl, der er immer gewesen sei. Und an diesem Abend unterließ es der Doktor nicht, ihn auf das sorgfältigste zu untersuchen. Er hob die Hufe in die Höhe, er sah das Zahnfleisch an und zählte die Schläge des Herzens.

»Nein, ihm fehlt nichts!« sagte er schließlich. »Es ist einfach nur das Alter ... Ach, mein armer Alter! Wir werden nicht mehr zusammen durch die Straßen fahren.«

Der Gedanke, daß das Heu fehlte, quälte Clotilde. Aber Pascal versicherte sie immer wieder, daß ein Tier in diesem Alter, das nicht mehr arbeitete, nur sehr wenig Nahrung nötig habe. Sie nahm daher eine Handvoll Heu von einem Haufen, den die alte Martine dort liegen gelassen hatte; und es bereitete ihnen allen beiden eine große Freude, als sie sahen, daß Bonhomme aus guter Freundschaft das Heu gern aus ihrer Hand fraß.

»Aber Du hast ja noch Appetit,« sagte sie lachend. »Da ist es nicht nötig, daß wir gerührt werden ... Gute Nacht! und schlafe ruhig!«

Und sie überließen ihn wieder seinem Schlummer, nachdem ihm beide wie gewöhnlich noch einen langen Kuß auf die rechte und auf die linke Seite seiner Nase gegeben hatten.

Die Nacht sank herab, und sie kamen auf einen Gedanken, um nicht unten in dem öden Hause bleiben zu müssen, und der war, alles zu verschließen und ihr Essen hinauf in das Zimmer zu tragen. Rasch schaffte sie die Schüssel mit Kartoffeln sowie das Salz und eine schöne Karaffe voll reinen und klaren Wassers hinauf, während er sich mit einem Korbe Weintrauben belud, die er heute als die ersten von einem frühreifen Spalierstocke unten an der Terrasse abgepflückt hatte. Sie schlossen sich ein und stellten das Essen auf einen kleinen Tisch, die Kartoffeln in die Mitte zwischen das Salzfaß und die Wasserkaraffe und den Korb mit den Weintrauben auf einen neben dem Tische stehenden Stuhl. Und es war ein wundervolles Festessen, das sie an das ausgezeichnete Diner erinnerte, welches sie sich am Tage nach ihrer Hochzeit selbst zubereitet hatten, als die alte Martine sich hartnäckig geweigert hatte, ihnen eine Antwort zugeben. Sie zeigten dasselbe Entzücken darüber, daß sie allein waren, daß sie sich selbst bedienten und daß sie beide eng aneinander geschmiegt aus derselben Schüssel aßen. Dieser Abend nach dem unglücklichen Tage, an dem sie alles gethan hatten, um ihr Dasein zu verbessern, brachte ihnen noch die glücklichsten Stunden. Seitdem sie wieder heimgekommen waren, seitdem sie sich wieder in dem traulichen großen Zimmer befanden, verwischte sich, als ob sie hundert Meilen von dieser gleichgiltigen Stadt entfernt wären, die sie soeben durchirrt hatten, die Traurigkeit und die Furcht bis auf die Erinnerung an diesen häßlichen Nachmittag, den sie mit unnützen Gängen verschwendet hatten. Sie machten sich wieder nicht die geringste Sorge um das, was nicht ihre Liebe betraf; sie wußten nicht mehr, daß sie arm waren, daß sie am folgenden Tage wieder einen Freund zu suchen haben würden, um zu Abend essen zu können. Warum sollten sie das Elend fürchten, warum sollten sie sich Kummer machen, da es ihnen genügte, beisammen zu sein, um das ganze mögliche Glück genießen zu können?

Dennoch war er unruhig.

»Mein Gott! Wir hatten so große Furcht vor diesem Abend! Ist es denn auch vernünftig, so glücklich zu sein? Wer weiß, was uns morgen erwartet?«

Aber sie legte ihm ihre kleine Hand auf den Mund.

»Nein, nein! Morgen werden wir uns lieben, wie wir uns heute lieben ... Liebe mich mit Deiner ganzen Kraft, wie ich Dich liebe!«

Und niemals hatten sie so gern gegessen. Sic zeigte den Appetit eines gesunden jungen Mädchens mit einem gesunden Magen, sie biß mit dem ganzen Munde in die Kartoffeln, nannte sie lachend wunderbar und besser als die herrlichsten Gerichte. Auch er hatte den guten Appetit eines dreißig Jahre alten Mannes wieder gefunden. Die großen Schlucke reinen Wassers kamen ihnen göttlich vor. Dann erquickten sie sich zum Dessert an den frischen Weintrauben, dem Blute der Erde, das die Sonne vergoldet hatte. Sie aßen zu viel, sie waren trunken von dem Wasser und den Früchten, vor allem vor Freudigkeit. Sie erinnerten sich nicht, jemals zusammen ein solches Festmahl verzehrt zu haben. Selbst ihr erstes Frühstück mit all dem Luxus von Koteletten, Brot und Wein hatte nicht diese Trunkenheit bei ihnen hervorgerufen; dieses Glück am Leben, bei dem allein die Freude, beisammen zu sein, genügte, verwandelte das einfache Porzellan in goldenes Tafelgeschirr, das erbärmliche Essen in eine himmlische Küche, wie sie nicht einmal die Götter genossen hatten.

Es war vollständig Nacht geworden, und sie hatten keine Lampe angezündet, glücklich, sich sofort ins Bett legen zu können. Aber die Fenster blieben ganz geöffnet nach dem weiten Sommerhimmel hinaus, der Nachtwind drang ein, noch immer heiß und geschwängert mit einem leichten Lavendelgeruch. Am Horizont war soeben der Mond emporgestiegen, so voll und so groß, daß das ganze Zimmer in seinem silbernen Licht gebadet erschien und sie sich in einer traumhaften, unendlich lichten und sanften Klarheit sahen.

Und dann setzte sie mit nackten Armen, nacktem Halse und nackter Brust dem Feste, das sie ihm gab, die Krone auf dadurch, daß sie ihm das königliche Geschenk ihres Körpers machte. In der vorhergehenden Nacht hatte sie zum erstenmale ein Schauer der Unruhe, ein instinktiver Schrecken ergriffen über das drohende Nahen des Unglücks. Und jetzt schien wieder einmal die ganze übrige Welt vergessen zu sein; es war, als wenn eine tiefe Nacht äußerster Glückseligkeit auf sie herabgesunken sei, die die gütige Natur ihnen gewährt hatte, in ihrer Blindheit allem gegenüber, was nicht zu ihrer leidenschaftlichen Liebe gehörte.

Sie hatte ihre Arme geöffnet, sie überlieferte sich ihm, sie gab sich ihm ganz hin.

»Meister! Meister! Ich habe für Dich arbeiten wollen, aber die traurige Erfahrung machen müssen, daß ich zu gar nichts nütze bin, daß ich unfähig bin, auch nur einen Bissen Brot, den Du issest, zu erwerben. Ich kann Dich nur lieben, mich Dir nur schenken, ich kann nur Dein Vergnügen für einen Augenblick sein ... Und es genügt mir, Dein Vergnügen zu sein, Meister! Wenn Du nur wüßtest, wie zufrieden ich bin, daß Du mich schön findest, da ich Dir diese ganze Schönheit zum Geschenke machen kann! Ich habe nur sie allein, und ich bin so unendlich glücklich, Dich damit glücklich zu machen.«

Er hielt sie in himmlischem Entzücken umschlungen und flüsterte:

»O ja! Schön, die Schönste und die Begehrenswerteste! Alle jene armseligen Schmuckstücke, mit denen ich Dich geschmückt habe, das Gold, die Steine, sind alle zusammen nicht so viel wert wie das kleinste Stückchen Deiner sammetweichen Haut. Einer Deiner Nägel, eines Deiner Haare sind unschätzbare Kostbarkeiten. Ich werde inbrünstig die Wimpern Deiner Augenlider küssen, eine nach der andern.«

»Und merke wohl, Meister: meine größte Freude ist, daß Du alt bist, und daß ich jung bin, weil das Geschenk meines Körpers Dich deshalb um so mehr beglückt. Würdest Du jung sein wie ich, so würde Dir das Geschenk meines Körpers weniger Vergnügen bereiten, und ich würde weniger glücklich darüber sein ... Auf meine Jugend und auf meine Schönheit bin ich nur Deinetwegen stolz und freue mich nur deswegen darüber, weil ich sie Dir weihen kann.«

Er wurde von einem heftigen Zittern ergriffen, und seine Augen füllten sich mit Thränen, sie so ganz und gar die Seine zu wissen und so anbetungswürdig und so köstlich.

»Du machst aus mir den reichsten, den mächtigsten Herrn, Du überschüttest mich mit allen Gütern, Du gießest über mich aus das himmlischste Wohlbehagen, welches das Herz eines Mannes erfüllen kann.«

Und sie gab sich noch mehr hin, sie gab sich hin bis auf das Blut ihrer Adern.

»So nimm mich doch, Meister, daß ich verschwinde, daß ich ganz in Dir aufgehe! Nimm meine Jugend, nimm sie ganz mit einemmale, in einem einzigen Kusse und trinke sie ganz auf einen Zug, erschöpfe sie, daß davon nur noch ein wenig Honig auf den Lippen übrig bleibt! Du machst mich so unendlich glücklich, und ich bin Dir so dankbar dafür! Meister, nimm meine Lippen, da sie frisch sind, nimm meinen Atem, da er rein ist, nimm meine Brust, da sie weich ist, an Deinen Mund, daß er sie küßt, nimm meine Hände, nimm meine Füße, nimm meinen ganzen Körper, da er eine noch kaum aufgebrochene Knospe ist, ein zarter Sammet, ein Wohlgeruch, an dem Du Dich berauschest! Hörst Du, Meister, ich bin ein lebendes Bouquet, und Du sollst meinen Duft einatmen! Ich bin eine junge, köstliche Frucht, und Du sollst mich kosten! Ich bin ein unendliches Meer von Zärtlichkeit, und Du sollst Dich darin baden! Ich bin Dein Eigentum, die Blume, die zu Deinen Füßen hervorsprießt, um Dir zu gefallen, das Wasser, das dahinfließt, um Dich zu erfrischen, die Kraft, die emporsprudelt, um Dir eine Jugend wieder zu geben! Und ich bin nichts, gar nichts, Meister, wenn ich nicht Dein bin!«

Und sie gab sich ihm hin, und er nahm sie. In diesem Augenblicke beleuchtete ein Mondstrahl sie in ihrer herrlichen Nacktheit. Sie erschien wie die Schönheit der Frau selbst in ihrem unsterblichen Frühling. Niemals noch hatte er sie so jung, so weiß, so göttlich gesehen. Und er dankte ihr für das Geschenk ihres Körpers, gleich als ob sie ihm alle Schätze der Erde gegeben hätte. Kein königliches Geschenk kann sich mit dem eines jungen Weibes vergleichen, das sich hingibt und das den Lebensstrom gibt, vielleicht das Kind. Sie dachte an das Kind, ihr Glück wurde dadurch noch vergrößert bei diesem königlichen Jugendfeste, das sie ihm bereitete, und um das ihn Könige beneidet haben würden.


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