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Drittes Kapitel.

Einen Monat dauerte die Mißstimmung, und Clotilde litt besonders darunter, daß sie sehen mußte, wie Pascal neuerdings seine Schubladen mit dem Schlüssel verschloß. Er hatte in sie nicht mehr das stille Vertrauen von früher; sie fühlte sich dadurch so schwer getränkt, daß sie, wenn sie den Schrank offen gefunden hatte, die Aktenbündel sicherlich ins Feuer geworfen hätte, wie ihre Großmutter Felicité sie immer antrieb zu thun. Und die Zwistigkeiten begannen wieder von neuem, oft redeten sie zwei Tage lang nicht mit einander.

Eines Morgens nach einem Streite, der am vorgestrigen Abend begonnen hatte, sagte Martine, als sie das Frühstück servirte:

»Gerade als ich über den Platz der Unterpräfektur ging, sah ich in das Haus der Frau Felicité einen Fremden eintreten, den ich wieder zu erkennen glaubte ... Ja, ich würde gar nicht überrascht sein, Fräulein, wenn es Ihr Bruder wäre.«

Mit einem Schlage fanden Pascal und Clotilde die Sprache wieder.

»Dein Bruder? Erwartete Großmama ihn denn?«

»Nein, ich glaube nicht mehr auf sein Kommen ... Es sind jetzt schon mehr als sechs Monate, daß sie wartet. Ich weiß, daß sie ihm kürzlich geschrieben hat, es war vor acht Tagen.«

Und sie bestürmten Martine mit Fragen.

»Ja, mein Gott, Herr Doktor! Ich kann Ihnen gar nichts sagen, denn seit den vier Jahren, wo ich Herrn Maxime gesehen habe, damals als er zwei Stunden bei uns war, ehe er nach Italien reiste, hat er sich wahrscheinlich sehr verändert ... Ich glaubte aber dennoch ihn wiederzuerkennen, wenn ich ihn auch nur von hinten gesehen habe.«

Das Gespräch ging weiter; Clotilde zeigte sich ganz beglückt über diesen Vorfall, der endlich das dumpfe Stillschweigen brach.

Doktor Pascal beendete die Unterhaltung mit den Worten:

»Nun gut! Wenn er es ist, wird er auch zu uns kommen.«

Es war wirklich Maxime. Nach monatelanger Weigerung gab er endlich den dringenden Bitten der alten Frau Rougon nach, die mich auf dieser Seite eine alte Wunde der Familie zu schließen hatte. Die Geschichte war schon alt und wurde mit jedem Tage immer schlimmer.

Im Alter von siebenzehn Jahren – es waren seitdem schon fünfzehn Jahre verflossen – hatte er mit einer von ihm verführten Dienstmagd ein Kind gehabt, ein dummer Streich eines frühreifen Burschen, den sein Vater Saccard und seine Stiefmutter Renée, die letztere, ärgerlich über seine unwürdige Wahl, sich begnügt hatten, zu belachen. Die Dienstmagd, Justine Mégot, stammte gerade aus einem der benachbarten Dörfer, ein junges blondes Mädchen von ebenfalls siebenzehn Jahren, fügsam und sanft; man hatte sie nach Plassans zurückgeschickt. Mit einer Rente von zwölfhundert Franken, um den kleinen Charles zu erziehen. Drei Jahre später hatte sie dort einen Sattler in der Vorstadt, Namens Anselm Thomas einen guten Arbeiter und anständigen Burschen, geheiratet, den die Rente angezogen hatte. Sie hatte sich übrigens vortrefflich entwickelt, war stark geworden und von einem Husten geheilt, der eine unangenehme Erbschaft befürchten ließ, die einer ganzen, dem Alkoholismus verfallenen Ascendenz zu verdanken gewesen wäre. Und zwei neue Kinder, in dieser Ehe geboren, ein Knabe im Alter von zehn und ein kleines Mädchen von sieben Jahren, dick und rot, befanden sich außerordentlich wohl, so daß sie die geachtetste und glücklichste Frau gewesen wäre, ohne die Unannehmlichkeiten, welche ihr Charles in ihrer Häuslichkeit verursachte. Thomas verwünschte nämlich trotz der Rente diesen Sohn eines anderen und stieß ihn überall herum, was der Mutter Schmerz bereitete, aber als unterwürfige und schweigsame Gattin verheimlichte sie ihren Kummer. Sie würde Charles daher auch gern, obgleich sie ihn sehr lieb hatte, der Familie des Vaters überlassen haben.

Charles sah mit seinen fünfzehn Jahren kaum wie ein Knabe von zwölf aus, und sein Verstand war dabei auch wie der eines fünfjährigen Kindes. Von einer außerordentlichen Ähnlichkeit mit seiner Urahne, der Tante Dide, der Irren von Les Tulettes, hatte er eine schlanke, zierliche und feine Gestalt, gleich einem jener kleinen entnervten Könige, die ein Geschlecht abschlossen, das Haupt umwallt von langen blonden Locken, weich wie von Seide. Seine großen hellen Augen waren leer, und über seiner beunruhigenden Schönheit lag ein düsterer Schatten ausgebreitet. Er besaß weder Verstand noch Herz, er war wie ein kleiner Hund voller Untugenden, der sich an den Leuten rieb, um sich einzuschmeicheln. Seine Urgroßmutter Felicité, gewonnen durch seine Schönheit, in der sie sich einbildete, ihr Blut wiederzuerkennen, hatte ihn zunächst auf die Schule geschickt und ihn in ihre Pflege genommen; aber schon nach einem halben Jahre hatte man ihn fortjagen müssen unter der Beschuldigung unnennbarer Laster. Sie war in dieser Hinsicht so eigensinnig, daß sie ihn dreimal die Pensionen wechseln ließ, um ihn immer auf dieselbe schimpfliche Weise zurückgeschickt zu bekommen. Dann mußte man ihn, da er nicht lernen wollte und auch wirklich nicht dazu fähig war und da er ganz verwilderte, bewachen, und er wurde von dem einen zum andern Familienmitgliede herumgestoßen. Doktor Pascal hatte, von Mitleid bewegt, an eine Heilung gedacht, diese unmögliche Kur aber dann, nachdem er ihn fast ein ganzes Jahr bei sich im Hause gehabt hatte, wieder aufgegeben aus Angst für Clotilde wegen Ansteckung. Und seht, da Charles nicht mehr bei seiner Mutter war, wo er nicht mehr hatte bleiben wollen, fand man ihn bei Felicité oder einem andern Verwandten, kokett gekleidet und überhäuft mit Spielzeug, ein Leben führend wie ein kleiner verweichlichter Dauphin eines alten, dahingegangenen Geschlechtes.

Indessen verursachte dieser Bastard der alten Frau Rougon viele unangenehme Stunden, und ihr Plan war, ihn dem Geschwätz der Klatschbasen in Plassans zu entziehen, indem sie Maxime bestimmte, ihn mit sich zu nehmen und ihn in Paris erziehen zu lassen. Das wäre also noch eine häßliche Geschichte der Familie. Aber lange Zeit hatte sich Maxime taub gezeigt in der fortwährenden Angst, die ihn immer quälte, seiner Stellung dadurch zu schaden. Seit dem Tode seiner Frau ein reicher Mann, war er nach dem Kriege in sein Hotel in der Avenue du Bois de Boulogne zurückgekehrt, um dort in vernünftiger Weise sein Vermögen zu verzehren, gequält von seinem ererbten Leiden, das ihn jung ins Grab bringen mußte; durch seine jugendlichen Ausschweifungen halte er eine heilsame Furcht vor dem Vergnügen gewonnen und war besonders immer darauf bedacht, alle Aufregungen und jede Art von Verantwortlichkeit zu vermeiden, um sein Leben so viel wie möglich zu verlängern. Heftige Schmerzen in den Beinen, wie er glaubte, rheumatische, peinigten ihn seit einiger Zeit; er sah sich schon kontrakt, an einen Krankenstuhl gefesselt; und seines Vaters plötzliche Rückkehr nach Frankreich, die neue Thätigkeit, die Saccard entwickelte, hatten nun vollends noch dazu beigetragen, ihn in Angst zu versetzen. Er kannte ihn sehr gut, diesen unersättlichen Vergeuder von Millionen, er zitterte, ihn wieder in seiner Nahe, in seiner gewohnten fieberhaften Thätigkeit zu sehen, ihn, den guten, braven Kerl mit seinem freundschaftlichen Grinsen. Würde er nicht ganz aufgerieben werden, wenn er eines Tages seiner Gnade überlassen wäre in Folge der Schmerzen, die seine Glieder durchdrangen? Und die Angst vor dem Alleinsein hatte ihn dermaßen ergriffen, daß er endlich auf den Gedanken, seinen Sohn wiederzusehen, einging. Wenn der Kleine ihm sanft, intelligent und von gutem Betragen zu sein scheine, warum sollte er ihn denn nicht mit sich nehmen? Er würde dann einen Freund, einen Erben haben, der ihn gegen die Unternehmungen seines Vaters schützen würde. Nach und nach sah sein Egoismus sich geliebt, sorgsam gepflegt und beschützt. Und dennoch hatte er sich vielleicht noch nicht zu einer solchen Reise entschlossen, wenn ihn nicht sein Arzt in die Bäder von Saint-Gervais geschickt hätte. Von dort aus hatte er nur einen Abstecher von einigen Meilen zu machen, und so war er denn am Morgen ganz unerwartet bei der alten Frau Rougon erschienen mit der festen Absicht, an demselben Abend wieder abzureisen, wenn er sie um Rat gefragt und das Kind gesehen hätte.

Gegen zwei Uhr – Pascal und Clotilde befanden sich noch bei der Fontäne unter den Platanen, wo sie ihren Kaffee getrunken hatten – kam Felicité mit Maxime.

»Meine Liebe, welche Ueberraschung! Ich bringe Dir hier Deinen Bruder.«

Bewegt hatte sich das junge Mädchen vor diesem hageren Fremden mit dem gelben Gesichte, den sie kaum wieder erkannte, erhoben. Seit ihrer Trennung im Jahre 1854 hatte sie ihn nur zweimal wiedergesehen, das erstemal in Paris und das zweitemal in Plassans. Und sie bewahrte von ihm ein deutliches Bild, elegant und lebhaft. Jetzt war sein Gesicht abgemagert, sein Haar gebleicht und von silbernen Fäden durchzogen. Dennoch erkannte sie ihn schließlich wieder mit seinem hübschen, feinen Kopfe, seiner beunruhigenden mädchenhaften Zartheit selbst in seiner vorzeitigen Hinfälligkeit.

»Wie Du gut aussiehst!« sagte er einfach, seine Schwester umarmend.

»Ja, man muß in der Sonne leben!« antwortete sie. »Ah, wie bin ich glücklich, Dich zu sehen!«

Pascal hatte mit dem Blick des Arztes seinen Neffen sofort bis auf den Grund durchschaut. Auch er umarmte ihn.

»Guten Tag, mein Junge ... Ja, sie hat recht, man gedeiht nur in der Sonne richtig, ganz wie die Bäume.«

Felicité war lebhaft bis zum Hause hingegangen. Dann kam sie zurück und rief:

»Ist denn Charles nicht hier?«

»Nein,« sagte Clotilde. »Wir haben ihn gestern gesehen. Onkel Macquart hat ihn mitgenommen, und er soll einige Tage in Les Tulettes bleiben.«

Felicité ärgerte sich sehr. Sie war nur hierher gekommen in dem festen Glauben, das Kind bei Pascal zu finden. Was nun machen? Der Doktor schlug in seiner ruhigen Weise vor, daß man an den Onkel schreibe, er solle ihn morgen früh wieder zurückbringen. Als er dann erfuhr, daß Maxime durchaus mit dem Zug um neun Uhr wieder abreisen wolle, ohne hier über Nacht zu bleiben, hatte er eine andere Idee. Er wollte einen Landauer bei einem Wagenvermieter holen lassen, und dann sollten sie alle vier zusammen hinausfahren und Charles beim Onkel Macquart aufsuchen. Das würde eine angenehme Spazierfahrt sein. Es waren nur drei Meilen von Plassans nach Les Tulettes: eine Stunde hin, eine Stunde zurück, und dann würde man noch fast zwei Stunden für den Aufenthalt dort haben, wenn man um sieben Uhr wieder zurück sein wollte. Martine würde inzwischen das Diner gerichtet und Maxime noch vollständig Zeit haben, zu essen und seinen Zug zu erreichen.

Aber Felicité schwankte, sichtlich beunruhigt über diesen Besuch bei Macquart.

»Ah, das wäre noch schöner! Nein, nein! Glaubt ihr etwa, ich würde jetzt, wo ein Gewitter im Anzuge ist, dort hinfahren? Da ist es doch viel einfacher, jemand hinzuschicken, der Charles hierher bringen soll.«

Pascal schüttelte den Kopf. Man konnte Charles nicht immer hinführen, wohin man wollte. Er wäre ein Kind ohne Vernunft, das wie ein ungezähmtes Tier jeder Laune nachgäbe.

Und die alte Frau Rougon, wütend, daß sie nichts hatte vorbereiten können, mußte überwunden sich fügen und notgedrungen die Sache dem Zufalle überlassen.

»Nun gut, wie ihr wollt! Mein Gott, wie sich doch die Geschichte schlecht anläßt!«

Martine lief eiligst, um einen Landauer herbeizuholen, und es hatte noch nicht drei Uhr geschlagen, als die beiden Pferde die Straße von Nizza einschlugen, welche den bis zur Brücke über die Viorne abfallenden Abhang hinabführte. Man wendete sich dann nach links, um ungefähr zwei Kilometer weit an den bewaldeten Ufern des Flusses entlang zu fahren. Darauf zog sich die Straße durch die Schluchten der Seille, ein enges Defilé zwischen zwei riesigen, von den brennenden Sonnenstrahlen durchglühten und vergoldeten Felsenwänden. In den Spalten waren Fichten emporgewachsen, Buschwerk, von unten kaum so dick wie Grasbüschel, umsäumte die Kanten und hing über die Abgründe hinab. Und es war ein furchtbares Chaos, eine wild zerrissene Berglandschaft, ein Zugang zur Unterwelt mit seinen wirr durcheinander führenden Gängen und den Flecken roter Erde, die jeden Riß ausfüllte, mit seiner trostlosen Einsamkeit, die höchstens einmal der Flügelschlag eines Adlers störte.

Felicité that ihren Mund nicht auf, ihr Kopf arbeitete, ihre Züge waren finster infolge ihrer Gedanken. Es herrschte eine schwüle Stimmung, die Sonne brannte hinter einem Schleier von großen, bleigrauen Wolken hervor. Pascal sprach fast ganz allein in seiner leidenschaftlichen Liebe für diese glühende Natur, eine Liebe, die er sich auch bemühte, seinem Neffen mitzuteilen. Aber er hatte gut reden, er konnte sich noch so sehr in begeisterten Ausrufungen ergehen, ihm die Vorliebe der Oliven- und Feigenbäume und der Brombeersträuche erklären, auf felsigem Boden zu wachsen, und das Leben dieser Felsen selbst, dieses kolossalen und mächtigen Gerippes der Erde, von dem man ein Rauschen aufsteigen hörte: Maxime blieb kalt; ein dumpfes Angstgefühl hatte sich seiner bemächtigt im Angesicht dieser Felsenblöcke von solch wilder Majestät, deren Masse ihn bedrückte. Und er zog es vor, seine Augen auf seiner Schwester ruhen zu lassen, die ihm gegenüber saß. Sie entzückte ihn immer mehr und mehr, wie er sie so gesund und glücklich vor sich sah, mit ihrem hübschen, runden Kopf, ihrer geraden Stirn und in ihrem ruhigen Gleichmaße. Für Augenblicke trafen sich ihre Blicke, und sie hatte dann stets ein zärtliches Lächeln, von dem er sich jedesmal gestärkt fühlte.

Die Wildheit der Schlucht ließ aber endlich nach, die beiden Felswände wurden niedriger, und der Weg zog sich zwischen kleineren Hügeln hin mit sanften Abhängen, die mit Thymian und Lavendel bestanden waren. Es war immer noch eine Wüstenei mit öden, grünlichen und blaßvioletten Landstrichen, von denen der leiseste Luftzug einen scharfen Geruch aufsteigen ließ. Dann fuhr man plötzlich nach einer Biegung des Weges in das Thal von Les Tulettes hinab, das reichliche Quellen bewässerten. Im Hintergrunde dehnten sich weite, von Baumreihen durchschnittene Wiesenflächen aus. Das Dorf lag auf der Mitte des Abhanges unter Olivenbäumen, und das kleine Landhaus befand sich, etwas abgelegen, auf der linken Seite im vollen Sonnenschein. Der Landauer mußte den Weg fahren, der nach dem Irrenhause führte, dessen weiße Mauern man vor sich erblickte.

Das Stillschweigen von Felicité war noch düsterer geworden, denn sie liebte es nicht, den Onkel Macquart zu zeigen. Noch einer, an dessen Todestage die Familie erleichtert aufatmen würde! Für ihrer aller Ruhm wäre es gut gewesen, wenn er schon seit langem unter der Erde geruht hätte. Aber er war unverwüstlich, er trug seine dreiundachtzig Jahre als alter, vom Trinken übersättigter Säufer, den der Alkohol zu erhalten schien. In Plassans hatte er schreckliche Erinnerungen als Lump und Landstreicher hinterlassen, und die Greise erzählten sich heimlich die abscheuliche Geschichte von den Leichnamen, die sich zwischen ihm und den Rougons zugetragen hatte, ein Verrat in den unruhigen Dezembertagen des Jahres 1851, ein hinterlistiger Ueberfall, bei dem er die Kameraden mit durchschossenem Leibe auf dem blutigen Boden hatte liegen lassen. Später, als er wieder nach Frankreich zurückgekehrt war, hatte er der guten Stellung, die er sich hatte versprechen lassen, das kleine Pachtgut von Les Tulettes vorgezogen, das ihm Felicité gekauft hatte. Dort lebte er seitdem in angenehmen Verhältnissen, er hatte nur noch den Ehrgeiz gehabt, sein Besitztum zu vergrößern, indem er immer von neuem gute Gelegenheiten dazu ausspähte oder ein Mittel ausfindig machte, sich ein schon lange begehrtes Feld schenken zu lassen. Auch war er seiner Schwägerin behilflich gewesen als diese Plassans von den Legitimisten hatte wieder erobern sollen – eine andere schreckliche Geschichte, welche man sich ebenfalls nur heimlich ins Ohr erzählte: von dem Verrückten, der während der Nacht hinterlistigerweise aus dem Irrenhause gelassen, hinweggelaufen war, um sich zu rächen, und sein Haus angezündet hatte, wobei vier Personen in den Flammen ums Leben gekommen waren. Aber das waren glücklicherweise alte Geschichten und Macquart jetzt wieder rangirt, nicht mehr der alles beunruhigende Lump, vor dem die ganze Familie gezittert hatte. Er benahm sich jetzt ganz mustergiltig, war ein schlauer Diplomat geworden und hatte nichts behalten von früher als ein gewisses spöttisches Lächeln, das ihm das Aussehen gab, als ob er sich über die ganze Welt lustig machte.

»Der Onkel ist zu Hause,« sagte Pascal, als man näher kam.

Das Landhaus war eines jener provençalischen Bauwerke mit einer einzigen Etage, von farblosen Ziegeln, die vier Mauern mit lebhafter gelbbrauner Farbe angestrichen. An der Vorderseite entlang erstreckte sich eine enge Terrasse, welche alte Maulbeerbäume, ihre verdrehten und gekrümmten Aeste in Gestalt von Lauben herabhängen lassend, beschatteten. Dort war es, wo der Onkel während des Sommers seine Pfeife zu rauchen pflegte. Und als er jetzt den Wagen hörte, war er an den Rand der Terrasse getreten und hatte sich dort aufgepflanzt, seine hohe Gestalt kerzengerade aufgerichtet, sehr sorgfältig in einen Anzug, von blauem Tuch gekleidet, die unvermeidliche Pelzmütze auf dem Kopfe, die er jahraus jahrein zu tragen pflegte.

Als er die Besucher erkannt hatte, grinste er freudig und rief:

»Welch' angenehme Gesellschaft haben wir denn da! Es ist sehr lieb von euch, daß ihr gekommen seid, um hier frische Luft zu schöpfen.«

Aber die Anwesenheit von Maxime störte ihn. Wer war dieser Mann? Weswegen war er gekommen? Man nannte ihm dessen Namen, und sofort prägte er sich die Erklärungen, welche man hinzufügte, fest in seinem Kopfe ein, um mit ihrer Hilfe sich in den verwickelten Verwandtschaftsverhältnissen zurechtzufinden.

»Der Vater von Charles, ich weiß, ich weiß ... Der Sohn meines Neffen Saccard, wahrhaftig! Der, der eine so gute Partie gemacht hat, und dessen Frau gestorben ist ...«

Er betrachtete Maxime genau und war sehr glücklich, ihn schon mit zweiunddreißig Jahren so abgelebt zu finden, die Haare und den Bart schon mit Schnee bestreut.

»Ja, ja,« fügte er hinzu, »wir werden alle alt ... Ich allerdings, ich brauche mich noch nicht zu sehr zu beklagen, denn ich bin noch fest ...«

Und triumphirend schlug er sich mit Nachdruck auf seine Schenkel, sein Gesicht glühte wie das feurige Rot eines Kohlenbeckens. Seit langem schon galt ihm der gemeine Schnaps für reines Wasser, nur der »Troisfix« kitzelte noch seine ausgepichte Kehle; er trank davon solche Quantitäten, daß er damit ganz angefüllt, sein Fleisch davon getränkt und durchdrungen war wie ein vollgesogener Schwamm. Seine Haut schwitzte ordentlich Alkohol aus. Bei dem geringsten Hauch, der aus seinem Munde kam, wenn er sprach, entströmte ihm zugleich auch eine ganze Wolke von Alkoholdunst.

»Ja, gewiß! Du bist fest, Onkel!« sagte Pascal aufs höchste amüsirt. »Und Du hast doch gar nichts dafür gethan und vollkommen recht, Dich über uns lustig zu machen ... Siehst Du, ich fürchte nur das eine, daß Du eines schönen Tages, wenn Du Dir Deine Pfeife anzündest, Dich selbst anzündest wie eine Punschbowle.«

Macquart lachte geschmeichelt aus vollem Halse.

»O, Du kleiner Spaßmacher! Ein Glas Cognac ist mehr wert als Deine schrecklichen Arzneien ... Und ihr werdet doch alle ein Gläschen trinken, nicht wahr? Damit ihr doch auch sagen könnt, daß euch euer Onkel alle Ehre angethan hat. Ich, ich mache mich lustig über alle die Schandmäuler. Ich habe Getreidefelder, ich habe Olivenbäume, ich habe Mandelbäume, Weinberge und ein Landgut ebenso wie ein Bürger. Im Sommer rauche ich meine Pfeife im Schatten meiner Maulbeerbäume, und im Winter, da lehne ich mich dort an die Mauer und rauche sie in der Sonne. Nicht wahr, über einen Onkel, wie ich einer bin, braucht man nicht zu erröten? Clotilde, ich habe auch Sirup, wenn Du welchen willst. Und Du, meine liebe Felicité, ich weiß, daß Du Anisette vorziehst. Es ist von allem da, sage ich euch, bei mir ist von allem da!«

Er machte mit den Armen eine Bewegung, als wollte er sein ganzes Besitztum umfassen, der alte Lump, der jetzt zu einem Einsiedler geworden war, während Felicité, die er einen Augenblick mit der Aufzählung seiner Reichtümer in Schrecken gesetzt hatte, die Augen nicht von ihm ließ, immer bereit, ihn zu unterbrechen.

»Danke, Macquart, wir werden nichts nehmen, wir haben Eile ... wo ist denn Charles?«

»Charles, gut, gut! Sogleich! Ja, ja, ich verstehe schon, der Papa ist gekommen, um das Kind zu sehen. Aber das soll uns nicht hindern, einen Schluck zu trinken.«

Und als man es ihm rundweg abschlug, fühlte er sich beleidigt und sagte mit seinem bösen Lachen:

»Charles ist nicht hier, er ist im Asyl bei der Alten.«

Dann führte er Maxime an das Ende der Terrasse und zeigte ihm die großen weißen Gebäude, deren von hohen Mauern umschlossene Gärten Gefängnishöfen glichen.

»Dort, lieber Neffe, siehst Du drei Bäume vor uns. Oberhalb desjenigen zur Linken ist eine Fontäne in einem Hofe; wenn Du dem Parterre folgst, so ist das fünfte Fenster zur Rechten dasjenige der Tante Dide, und dort ist auch der Kleine ... Ja, ich habe ihn vorhin hingebracht.«

Das geschah mit stillschweigender Erlaubnis der Administration. Während der einundzwanzig Jahre, die sich die alte Frau in dem Asyle befand, hatte sie ihrer Wärterin gar keine Mühe gemacht. Sehr ruhig, sehr still verbrachte sie, unbeweglich in einem Lehnstuhle sitzend, die Zeit damit, vor sich hinzustarren, und da sich das Kind dort gefiel und sie sich selbst für den Kleinen zu interessiren schien, so drückte man ein Auge zu und duldete stillschweigend dieses Zuwiderhandeln gegen die Hausordnung. Man ließ ihn zuweilen zwei bis drei Stunden dort, wo er sich eifrig mit Ausschneiden von Bildern beschäftigte.

Aber diese neue Widerwärtigkeit hatte die schlechte Laune der Frau Felicité voll gemacht, und als Macquart vorschlug, sie sollten alle fünf zusammen den Kleinen im Asyl aufsuchen, da machte sie ihrem Aerger Luft.

»Welcher Gedanke! Geh allein hin und komm rasch zurück mit ihm ... Wir haben keine Zeit zu verlieren!«

Dieser Zornesausbruch schien den Onkel höchlich zu amüsiren, und nun blieb er, da er merkte, daß es ihr unangenehm sei, hartnäckig mit höhnischem Grinsen bei seinem Vorschlag.

»Wahrhaftig, meine lieben Kinder! Wir werden dann bei der Gelegenheit auch gleich die alte Mutter sehen, die Mutter von uns allen. Ich brauche ja nicht weiter davon zu reden, ihr wißt es ja selbst, wir stammen alle von ihr, und da wäre es denn gar nicht höflich, wenn wir nicht hingehen würden und ihr guten Tag wünschen, da außerdem mein Großneffe, der von so weit herkommt, sie vielleicht noch niemals gesehen hat ... Ich, ich verleugne sie gewiß nicht! Zum Teufel, nein! Gewiß, sie ist verrückt; aber das sieht man nicht oft, alte Mütter, die die Hundert überschritten haben, und es lohnt sich daher schon der Mühe, daß man sich gegen sie etwas aufmerksam benimmt.«

Ein allgemeines Stillschweigen trat ein. Etwas wie ein eisiger Schauer überlief alle. Und Clotilde war es, die, bis dahin eine stumme Zuhörerin, endlich mit lauter Stimme erklärte:

»Du hast recht, lieber Onkel, wir wollen alle zusammen hingehen.«

Felicité selbst mußte zustimmen. Man stieg wieder in den Landauer. Macquart setzte sich neben den Kutscher. Ein gewisses Unbehagen hatte das müde Gesicht von Maxime ganz leichenblaß gemacht; während der kurzen Fahrt fragte er Pascal über Charles aus mit der Miene väterlichen Interesses, unter der er seine wachsende Unruhe verbarg. Der Doktor, durch die gebieterischen Blicke seiner Mutter beeinflußt, milderte die Wahrheit. Mein Gott! Das Kind hatte eben keine sehr kräftige Gesundheit, und das war es gerade, warum man es gerne wochenlang bei dem Onkel auf dem Lande ließ, aber es hatte auch keine bestimmte Krankheit. Pascal fügte nicht hinzu, daß er sich eine kurze Zeit in dem Traume gewiegt, ihm den Verstand und die Lebenskraft verleihen zu können, indem er ihn mit Einspritzungen seines Elixirs behandelte; aber er hatte sich durch die jedesmaligen Folgen davon abbringen lassen: die geringsten Einspritzungen riefen bei dem Kleinen stets Blutergüsse hervor, die er jedesmal durch Kompressen zum Stillstand bringen mußte. Es war eine Erschlaffung der Gewebe, an der die Degeneration schuld war; eine blutige Feuchtigkeit bildete auf der Haut Perlen, und vor allem trat ein so heftiges und starkes Nasenbluten ein, daß man es nicht wagte, ihn allein zu lassen, aus Angst, das ganze Blut konnte aus seinen Adern herausströmen. Und der Doktor schloß mit den Worten, daß er, wenn auch der Verstand des Knaben jetzt noch träge wäre, trotzdem hoffe, daß er sich noch entwickeln würde bei einer lebhafteren Gehirnthätigkeit.

Man war vor dem Asyl angekommen. Macquart, der alles mit angehört hatte, stieg vom Kutscherbocke herab und sagte:

»Er ist ein lieber, süßer Bursche. Und dann ist er auch so sehr schön, ein Engel!«

Maxime, der noch immer sehr bleich aussah und trotz der erstickenden Hitze mit den Zähnen klapperte, stellte keine Fragen mehr. Er betrachtete die weiten Baulichkeiten des Asyls, die Flügel der verschiedenen Abteilungen, durch Gärten von einander geschieden, der der Männer und der der Frauen, der der ruhigen Irren und der der Tobsüchtigen. Eine große Reinlichkeit herrschte überall, eine traurige Einsamkeit, welche nur durch das Geräusch von Schritten und das Klappern der Schlüssel gestört wurde. Der alte Macquart kannte alle Wächter. Auch vor Doktor Pascal öffneten sich die Pforten, den man mit der Behandlung einiger der Insassen betraut hatte. Man verfolgte eine Galerie und bog dann in einen Hof ab; dort war es eines der Parterrezimmer, ein mit einer hellen Papiertapete austapezierter Raum, einfach mit einem Bett, einem Schrank, einem Tisch, einem Lehnstuhl und zwei anderen gewöhnlichen Stühlen ausgestattet. Die Wärterin, die ihre Pflegebefohlene niemals verlassen sollte, war gerade einmal fortgegangen. In dem Zimmer befanden sich nur an den beiden Seiten des Tisches die Irre, starr und stumm in ihrem Lehnstuhl sitzend, und das Kind auf einem gewöhnlichen Stuhl, eifrig mit dem Ausschneiden von Bildern beschäftigt.

»Tretet nur ein, tretet nur ein!« rief Macquart mehreremale. »O, es hat keine Gefahr, sie ist ganz brav!«

Die Urahne, Adelaide Fouque, die ihre Enkelkinder und überhaupt das ganze weitverzweigte Geschlecht, das von ihr stammte, nur mit dem Kosenamen »Tante Dide« nannten, wendete nicht einmal den Kopf bei dem Geräusch. Schon seit ihrer Jugend hatten hysterische Störungen ihre Gesundheit ins Schwanken gebracht. Heißblütig, leidenschaftlich in der Liebe, von Krankheitsanfällen geplagt, hatte sie so das hohe Alter von dreiundachtzig Jahren erreicht, als ein furchtbarer Schmerz, ein moralischer Schlag sie wahnsinnig machte. Seitdem, seit einundzwanzig Jahren, war bei ihr ein Stillstand in der Verstandesthätigkeit eingetreten, eine starke Schwächung, die jede Wiederherstellung unmöglich machte. Heute lebte sie hier, einhundertundvier Jahre alt, wie eine Vergessene, eine ruhige Irre mit verknöchertem Gehirn, bei welcher der Wahnsinn immer stationär bleiben konnte, ohne den Tod herbeizuführen. Indessen war das Greisenalter jetzt gekommen, welches ihr die Muskeln nach und nach absterben ließ. Ihr Fleisch war wie durch das Alter ausgezehrt; sie hatte überhaupt keins mehr, nur die Haut hing noch um die Knochen, und man mußte sie aus dem Bette auf ihren Lehnstuhl tragen. Und so als gelblichbraunes Skelett, ausgetrocknet wie ein Jahrhunderte alter Baum, von dem nur noch die Rinde übrig geblieben ist, hielt sie sich trotzdem noch aufrecht, gegen die Rückenlehne ihres Sessels gestützt, wenn auch nur die Augen in dem langen, abgemagerten Gesicht noch Leben verrieten. Sie beobachtete Charles scharf.

Clotilde war, ein wenig zitternd, naher getreten.

»Tante Dide, wir sind da, wir wollten Sie besuchen ... Erkennen Sie mich denn nicht mehr? Ihre Urenkelin, die öfter hierher kommt, um Sie zu umarmen.«

Aber die Irre schien nichts zu hören. Ihre Blicke verließen das Kind nicht, dessen Schere gerade mit dem Ausschneiden eines Bildes, eines Königs in einem purpurnen und goldenen Mantel, beschäftigt war.

»Nun, Mama,« sagte jetzt Macquart, »machen Sie doch keine Dummheiten! Sie können uns schon ansehen. Hier ist ein Herr, ein Urenkel von Ihnen, der expreß aus Paris hierher gekommen ist.«

Beim Klange dieser Stimme wendete die Tante Dide endlich ihren Kopf. Sie ließ langsam ihre hellen, leeren Augen über alle hingleiten, dann kehrten sie wieder zu Charles zurück, und die Greisin fiel von neuem zurück in ihren früheren Zustand. Niemand sprach mehr.

»Seit dem schrecklichen Schlage, der sie getroffen hat,« erklärte Doktor Pascal mit leiser Stimme, »ist sie so. Aller Verstand, alle Erinnerung scheint in ihr erloschen zu sein. Meistens schweigt sie; zuweilen stottert sie aber einen ganzen Schwall unverständlicher Worte hervor. Sie lacht, sie weint ohne Grund; sie ist eine Sache, welche durch nichts mehr berührt wird ... Und dennoch würde ich nicht zu behaupten wagen, daß die Umnachtung eine vollständige, daß nicht in ihr noch Erinnerungen erhalten geblieben seien ... Ach, die arme alte Mutter, wie ich sie bedauern würde, wenn ihr Geist wirklich noch nicht vollständig abgestorben wäre! An was könnte sie alles denken in einundzwanzig Jahren, wenn sie sich noch an etwas erinnerte?«

Er machte eine Bewegung mit seiner Hand, als wolle er diese schreckliche Vergangenheit, die er kannte, beiseite schieben. Er sah sie wieder jung vor sich, ein großes, schlankes und blasses Wesen mit ängstlich in die Welt blickenden Augen, wie sie sich damals als Witwe des plumpen Gärtners Rougon, den sie nicht hatte zum Gatten haben wollen, noch vor dem Ende der Trauerzeit in die Arme des Schmugglers Macquart warf, den sie mit der Liebe einer Wölfin liebte und doch nicht heiratete. So hatte sie fünfzehn Jahre lang gelebt mit einem ehelichen und zwei unehelichen Kindern mitten in all dem Lärm und all der Willkür, oft wochenlang verschwindend und dann zerschunden und zerschlagen, mit braunen Armen zurückkehrend. Dann war Macquart in einem Zusammenstoße von einem Gendarmen wie ein Hund erschlagen worden, und unter diesem ersten Schlage war sie wie erstarrt; mit erloschenen Augen in ihrem todbleichen Gesichte betrachtete sie schon damals alle Menschen und zog sich vor der Welt in ein altes, baufälliges Haus zurück, das ihr Geliebter ihr hinterlassen hatte. Dort lebte sie vierzig Jahre lang wie eine Nonne, von schrecklichen nervösen Anfällen geplagt. Aber erst der zweite Schlag sollte sie ganz niederschmettern, sie zum Wahnsinn bringen, und Pascal rief sie sich ins Gedächtnis zurück, jene furchtbare Scene, deren Augenzeuge er gewesen war: ein armes Kind, das die Großmutter zu sich genommen hatte, ihr Enkelsohn Silvère, das Opfer blutigen Hasses und blutiger Streitigkeiten in der Familie, dessen Kopf ein Gendarm durch einen Pistolenschuß während der Unterdrückung der aufständigen Bewegung vom Jahre 1851 zerschmetterte.

Felicité war inzwischen zu Charles herangetreten, der so in seine Bilder vertieft war, daß ihn alle diese Leute nicht störten.

»Mein lieber Kleiner, dieser Herr dort ist Dein Vater ... Umarme ihn!«

Und alle beschäftigten sich seitdem mit Charles. Er war sehr nett angezogen mit einer kurzen Jacke und Hosen aus schwarzem Sammet mit Goldschleifen besetzt. Weiß wie eine Lilie, glich er wirklich einem jener Könige, die er ausschnitt, mit seinen großen, matten Augen und dem Geringel seiner blonden Lücken. Was aber vor allem in diesem Augenblicke jedem auffiel, das war seine Ähnlichkeit mit Tante Dide, jene Ähnlichkeit, die drei Generationen übersprungen hatte, und von dem vertrockneten Gesicht der Hundertjährigen, von diesen stumpfen Zügen auf jene zarte Kindergestalt übergegangen war, wenn sie auch schon sehr verwischt und durch die Abnutzung des Geschlechtes undeutlich geworden war. Wenn man beide so vor sich sah, so erschien dieses schwache Kind mit seiner Schönheit des Todes wie das Ende der mit der Ahne, der Vergessenen, beginnenden Geschlechtsreihe.

Maxime beugte sich herab, um einen Kuß aus die Stirn des Kleinen zu drücken; aber sein Herz blieb kalt, die Schönheit des Knaben beunruhigte ihn, sein Unbehagen hatte sich in dieser Irrenzelle vergrößert, wo ein menschliches Elend seit langem atmete.

»Wie schön Du bist, mein Liebling! Hast Du mich ein wenig lieb?«

Charles sah ihn an, verstand ihn aber nicht und machte sich wieder mit seinen Bildern zu schaffen.

Aber alle waren tief ergriffen. Ohne daß sich der Ausdruck ihres starren Gesichtes verändert hätte, weinte Tante Dide; ein Strom von Thränen rann aus ihren lebenden Augen über ihre abgestorbenen Wangen herab. Ihre Blicke ruhten fortwährend auf dem Kinde, und sie weinte langsam, unaufhörlich.

Diese Scene rief in Pascal eine außerordentliche Erregung hervor. Er hatte Clotildens Arm ergriffen, er drückte ihn heftig, ohne daß diese verstehen konnte, warum. Es geschah, weil sich vor seinen Augen das ganze Geschlecht, der echte und der unechte Zweig, die diesem, schon von der Nervenkrankheit ergriffenen Stamme entsprossen waren, vor seinen Augen wieder erstand. Die fünf Generationen waren hier anwesend, die Rougons und die Macquarts, zuerst Adelaide Fouque, dann der Onkel, der alte Bandit, dann er selbst, dann Clotilde und Maxime und endlich Charles. Felicité füllte die Stelle ihres verstorbenen Gemahls aus. Es war keine Lücke vorhanden, die Kette entrollte sich in ihrer logischen und unbarmherzigen Entwicklung. Und welch eine lange Reihe von Jahren fand sich hier zusammen in diesem traurigen Raume, wo jenes von fern her überkommene Elend atmete, in einem solchen Entsetzen, daß alle trotz der erstickenden Hitze schauderten.

»Was ist Dir denn, Meister?« fragte die zitternde Clotilde ganz leise.

»Nichts, nichts!« murmelte der Doktor. »Ich werde es Dir später sagen.«

Macquart, der allein sein gewöhnliches spöttisches Lächeln bewahrt hatte, zürnte der alten Frau.

»Was ist das wieder einmal für ein Gedanke, die Leute mit Thränen zu empfangen, wenn sie sich der Mühe unterziehen, Ihnen einen Besuch zu machen! Das war gar nicht höflich!«

Dann wandte er sich zu Maxime und Charles.

»Endlich sehen Sie ihn, mein Neffe, Ihren Jungen! Ist er nicht reizend und macht er Ihnen nicht trotz allem Ehre?«

Felicité beeilte sich, dazwischen zu treten, sehr unzufrieden mit der Wendung, die die Dinge genommen hatten, und nur noch darauf bedacht, so schnell wie möglich fort zu kommen.

»Er ist gewiß ein schönes Kind und er ist auch weniger zurück, als man glaubt. Sieh nur, wie geschickt er mit seinen Händen ist! Und Du wirst sehen, wie er erst aufleben wird, wenn er in Paris ist, nicht wahr? Ganz anders, als es hier bei uns in Plassans möglich ist.«

»Ohne Zweifel, ohne Zweifel!« murmelte Maxime. »Ich werde darüber nachdenken.«

Er blieb betreten und fügte hinzu:

»Sie begreifen, ich bin nur hierher gekommen, um ihn zu sehen ... Ich kann ihn jetzt nicht mitnehmen, da ich noch einen Monat in Saint-Gervais bleiben muß. Wenn ich nach Paris zurückgekehrt bin, werde ich mir die Sache überlegen und Ihnen schreiben.«

Und darauf zog er seine Uhr und rief:

»Teufel! Schon fünf und ein halb Uhr ... Sie wissen, daß ich um nichts in der Welt den Zug um neun Uhr versäumen möchte.«

»Ja, ja, gehen wir,« sagte Felicité, »wir haben hier nichts mehr zu thun.«

Macquart versuchte vergebens mit allen möglichen Geschichten sie zurückzuhalten; er erzählte von den Tagen, wo Tante Dide gesprächig war, er versicherte, daß er sie eines Morgens angetroffen habe, wie sie gerade eine Romanze aus ihrer Jugendzeit sang. Uebrigens hätte er den Wagen nicht nötig, er würde das Kind auch zu Fuß zurückführen, da man es ihm ja noch ließe.

»Umarme Deinen Papa, mein Kleiner, da man wohl weiß, wann man sich sieht, aber man weiß niemals, ob man sich wieder sehen wird.«

Mit einer zugleich überraschten und gleichgiltigen Bewegung hatte Charles seinen Kopf erhoben, und Maxime drückte ihm verstört einen zweiten Kuß auf die Stirne.

»Sei klug und gut, mein Liebling! Und habe mich ein wenig lieb!«

»Gehen wir, gehen wir! Wir haben keine Zeit zu verlieren!« wiederholte Felicité.

Aber da kam die Wärterin zurück. Es war ein dickes, kräftiges Mädchen, welches besonders mit der Bedienung der Irren beauftragt war. Sie holte sie morgens aus dem Bett und brachte sie abends wieder hinein, sie gab ihr zu essen und wusch sie wie ein kleines Kind. Sogleich ließ sie sich in ein Gespräch mit Doktor Pascal ein, der sie ausfragte. Einer der ganz besonderen Lieblingsträume des Doktors war, die Irren durch Behandlung nach seiner Methode durch Einspritzungen zu heilen. Da es bei ihnen das Gehirn war, welches sich in Unordnung befand, warum sollten denn ihnen nicht Einspritzungen mit seiner Gehirnsubstanz Widerstands- und Willenskraft verleihen, indem sie die Schaden, die dieses Organ gelitten, heilten? Einen Augenblick hatte er auch daran gedacht, sein Heilverfahren an der alten Mutter zu erproben, dann aber waren ihm Bedenken gekommen, eine Art heiliger Scheu hatte ihn ergriffen, ganz abgesehen davon, daß der Wahnsinn in diesem Alter der vollständige, unaufhaltsame Verfall war. Auch hatte er sich ein anderes Objekt gewählt, einen Hutmacher, Sarteur mit Namen, der sich seit einem Jahre im Asyl befand, wohin er selbst mit der flehentlichen Bitte gekommen war, ihn einzuschließen, um ihn an einem Verbrechen zu hindern. Bei seinen Anfällen ergriff ihn ein solches Verlangen nach Mord, daß er sich auf den ersten besten geworfen haben würde. Klein, mit dunkelbraunen Haaren, zurückweichender Stirn, einem Vogelgesichte, mit einer großen Nase und einem sehr kurzen Kinn, war seine linke Backe, wie man deutlich sehen konnte, viel dicker als seine rechte. Und der Doktor erzielte bei diesem impulsiven Menschen wunderbare Resultate, der schon seit einem Monat keine Anfälle mehr gehabt hatte. Gerade antwortete die Wärterin auf die Frage des Doktors, daß Sarteur sich ruhig verhielte und daß es ihm immer besser und besser gehe.

»Du hörst, Clotilde,« sagte Pascal entzückt. »Ich habe nicht Zeit, ihn heute abend zu besuchen, aber wir werden morgen wiederkommen. Morgen ist mein Besuchstag ... Ah! Wenn ich es wagte ... wenn sie noch jung wäre ...«

Seine Blicke glitten zur Tante Dide hin. Aber Clotilde, die über seinen Enthusiasmus lächelte, sagte sanft!

»Nein, nein, Meister! Du kannst das Leben nicht wieder erwecken ... Komm, wir wollen gehen, wir sind die letzten.«

Es war richtig, die anderen waren schon fortgegangen. Macquart sah mit seiner gewöhnlichen, alles bespöttelnden Miene von der Schwelle aus Maxime und Felicité nach, wie sie sich rasch entfernten. Und Tante Dide, die Vergessene, blieb in ihrer erschreckenden Verfallenheit unbeweglich sitzen, die Augen von neuem auf Charles geheftet, auf sein weißes, lebensmattes Gesicht unter dem königlichen Haarschmucke.

Die Heimfahrt war sehr ungemütlich. In der Hitze, welche die Erde aushauchte, rollte der Landauer schwerfällig dahin. An dem gewitterschwangeren Himmel breitete sich die Dunkelheit in grauen und kupferfarbenen Wolken aus. Zuerst wurden noch einige leere Worte gewechselt; dann aber, als man die Schlucht der Seille erreicht hatte, ruhte alle Unterhaltung unter dem beängstigenden Drohen der riesenhaften Felsen, deren Wände sich immer enger zusammenzuschließen schienen. War das nicht das Ende der Erde? Stand man nicht gerade im Begriff, in die unbekannte Tiefe eines Abgrundes zu rollen? Ein Adler schwebte vorüber und stieß einen lauten Schrei aus.

Weiden kamen wieder zum Vorschein, und man fuhr an dem Ufer der Viorne entlang, als Felicité ohne jeden Uebergang, gleich als ob sie nur ein begonnenes Gespräch weiter fortsetzen wollte, wieder zu sprechen anfing:

»Du hast keine Weigerung von seiten der Mutter zu befürchten. Sie liebt Charles sehr, aber sie ist eine sehr vernünftige Frau, und sie versteht vollkommen, daß es im Interesse des Kindes ist, wenn Du es mitnimmst. Ich muß Dir übrigens auch sagen, daß der arme Kleine sich bei ihr nicht sehr glücklich fühlte, da ihr Mann seinen eigenen Sohn und seine eigene Tochter immer vorzog, wie es ja auch ganz natürlich ist. Du mußt doch schließlich alles erfahren.«

Und so fuhr sie zu erzählen fort, da sie ohne Zweifel Maxime zu einem bindenden Versprechen bringen wollte. Bis Plassans sprach sie fortwährend. Dann rief sie mit einemmale, gerade als der Landauer in die Vorstadt einfuhr:

»Aber sieh, die dort, das ist die Mutter ... Jene dicke blonde Frau unter der Thüre dort!«

Es war auf der Schwelle eines Sattlerladens, wo Sattel- und Zaumzeug hing. Justine saß, frische Luft schöpfend, auf einem Stuhle und strickte dabei an einem Strumpf, während ihr kleines Mädchen und ihr kleiner Junge zu ihren Füßen auf der Erde spielten, und hinter ihnen im Schatten des Ladens bemerkte man Thomas, einen kräftigen Mann mit dunkler Gesichtsfarbe, der gerade damit beschäftigt war, einen Sattel zuzuschneiden.

Maxime hatte den Kopf emporgehoben, ohne jede Bewegung, einfach aus Neugierde. Er war sehr erstaunt, als er diese starke Frau von zweiunddreißig Jahren vor sich sah, mit einem so vernünftigen und spießbürgerlichen Aeußern, an dem nichts mehr von dem tollen Mädchen geblieben war, mit der er die Frucht der Erkenntnis genossen hatte, als sie beide in dem gleichen Alter standen und kaum das siebenzehnte Lebensjahr angetreten hatten. Vielleicht empfand er nur eine Herzbeklemmung, er, der Kranke und Abgelebte, als er sie jetzt so hübsch, so ruhig und so gesund wiederfand.

»Ich würde sie niemals wieder erkannt haben,« sagte er.

Und der Landauer, der immer weiter rollte, bog in die Rue de Rome ein. Justine verschwand, die Erscheinung aus der Vergangenheit, die sich so sehr verändert hatte, und mit ihr verschwanden in dem unbestimmten Lichte der Dämmerung Thomas, die Kinder und der Laden.

Auf der Souleiade stand der Tisch schon gedeckt da. Martine hatte einen Aal aus der Viorne, ein Kaninchenragout und eine Hammelkeule. Es schlug gerade sieben Uhr. Man hatte also noch hinreichend Zeit, um in aller Ruhe speisen zu können.

»Sorge Dich nur nicht ab,« sagte Doktor Pascal wiederholt zu seinem Neffen, »wir werden Dich zur Eisenbahn begleiten; es ist nicht zehn Minuten weit ... Von dem Augenblicke an, wo Du Deinen Reisekoffer abgegeben hast, brauchst Du Dir nur noch das Billet zu lösen und in den Zug zu springen.«

Als er dann mit Clotilde im Vestibül zusammentraf, wo sie ihren Hut und ihren Sonnenschirm aufhängte, sagte er zu ihr mit leiser Stimme:

»Du weißt, daß Dein Bruder mich beunruhigt?«

»Warum denn?«

»Ich habe ihn genau beobachtet; die Art, wie er geht, gefällt mir gar nicht. Das hat mich noch niemals getäuscht ... Um es kurz zu sagen, er ist ein Mann, dem Lähmung bevorsteht.«

Sie wurde totenbleich und wiederholte:

»Ataxie!«

Ein schreckliches Bild hatte sich vor ihr erhoben, das eines Nachbars, eines noch jungen Mannes, der zehn Jahre lang in einem Wagen von einem Bedienten herumgefahren wurde, wie sie selbst gesehen hatte. War das nicht das schlimmste aller Uebel, die Gebrechlichkeit, der Axthieb, der den Lebenden vom Leben trennt?«

»Aber,« sagte sie leise, »er klagt doch nur über rheumatische Schmerzen.«

Pascal zuckte mit den Achseln und ging, indem er einen Finger auf seine Lippen legte, in den Speisesaal, wo Felicité und Maxime schon am Tische saßen.

Das Diner verlief sehr angenehm. Die plötzliche Unruhe, die Clotildens Herz erfaßt, hatte sie zärtlich für ihren Bruder gestimmt, der neben ihr saß. In liebenswürdigster Weise sorgte sie für ihn und zwang ihn, sich die besten Stücke zu nehmen. Zweimal rief sie Martine zurück, welche die Gerichte zu schnell abservirte. Und Maxime wurde mehr und mehr von dieser so guten, so gesunden, so vernünftigen Schwester verführt, deren Reiz ihn wie durch Schmeichelworte umstrickte. Sie nahm ihn in einem solchen Grade für sich ein, daß nach und nach, zuerst unbestimmt, ein Plan in ihm reifte. Da sein Sohn, der kleine Charles, ihn so sehr durch seine Schönheit erschreckt hatte, durch sein vornehmes und zugleich krankhafte Schwäche verratendes Aeußere, warum sollte er da nicht seine Schwester Clotilde mitnehmen? Der Gedanke, ein weibliches Wesen in seinem Hause zu haben, erschreckte ihn wohl, denn er fürchtete sie alle, da er sie zu jung genossen hatte, aber diese hier erschien ihm wirklich wie eine Mutter. Wenn aber andererseits eine ehrbare Frau in seinem Hause wäre, so würde das manches ändern und für ihn gut sein. Sein Vater würde dann wenigstens nicht mehr wagen, ihm Mädchen zuzuschicken, wie er ihn im Verdacht hatte, um ihn zu Grunde zu richten und mit einem Schlage sein Geld zu bekommen. Die Furcht vor seinem Vater und der Haß gegen denselben bestimmten ihn.

»Verheiratest Du Dich denn nicht?« fragte er in der Absicht, das Terrain zu sondiren.

Das junge Mädchen fing an zu lachen.

»O, das eilt nicht!«

Dann fügte sie in einer launischen Anwandlung hinzu, indem sie Pascal, der den Kopf erhoben hatte, ansah:

»Kann man das wissen? Ich werde niemals heiraten.«

Aber Felicité erhob dagegen Einspruch. Als sie sah, daß sich Clotilde so eng an den Doktor anschloß, wünschte sie oft eine Heirat ihrer Enkelin, die ihn von dem jungen Mädchen befreien und so ihren Sohn einsam lassen würde, in seinem Innern verbittert, und wo sie selbst dann wieder allmächtig, die Herrin der Situation werden könnte. Sie rief ihn auch zum Zeugen auf: ob es nicht wahr wäre, daß eine Frau heiraten müßte, daß es gegen die Natur wäre, ein altes Mädchen zu bleiben? Und er stimmte bei, ohne die Augen von Clotilde abzuwenden.

»Ja, ja, man muß heiraten ... Sie ist zu vernünftig, sie wird sich verheiraten.«

»Bah!« unterbrach ihn Maxime, »wird sie dann aber auch wirklich richtig handeln? Vielleicht nur, um unglücklich zu werden, denn es gibt so viele schlechte Ehen!«

Und einen festen Entschluß fassend, setzte er hinzu:

»Du weißt nicht, was Du thun sollst? – Nun, ich will es Dir sagen: Du sollst nach Paris kommen und dort mit mir leben ... Ich habe es mir überlegt; der Gedanke, bei meinem Gesundheitszustande die Sorge für ein Kind zu übernehmen, erschreckt mich. Bin ich nicht selbst ein Kind, ein Kranker, der Pflege nötig hat? Du wirst mich pflegen, Du wirst da sein, wenn ich den Gebrauch meiner Beine ganz und gar verlieren sollte.«

Seine Stimme zitterte in Rührung über seine eigene Gebrechlichkeit. Er sah sich krank, er sah sie als barmherzige Schwester an seinem Bette; und wenn sie einwilligte, unverheiratet zu bleiben, dann würde er ihr gern sein Vermögen hinterlassen, damit es sein Vater nicht bekäme. Die Angst, die er vor dem Alleinsein hatte, die Notwendigkeit, eine Krankenpflegerin zu haben, in der er sich bald befinden würde, verliehen seinen Worten einen herzbewegenden Klang.

»Es würde von Deiner Seite sehr edelmütig sein, und Du würdest Deinen Entschluß gewiß niemals zu bereuen haben.«

Martine, die gerade die Hammelkeule servirte, war auf das tiefste ergriffen, und der Vorschlag verursachte auch am Tisch dasselbe Erstaunen. Felicité war die erste, die ihn billigte, da sie fühlte, daß dieser Weggang Clotildens ihren Plänen außerordentlich förderlich sein würde. Sie sah das junge Mädchen, das noch immer stumm und wie geistesabwesend dasaß, sehr scharf an, während Doktor Pascal sehr blaß auf Antwort von Clotilde wartete.

»O, mein lieber Bruder, mein lieber Bruder!« stotterte das junge Mädchen verlegen hervor, da sie zunächst nichts anderes zu sagen wußte.

Dann mischte sich die Großmutter hinein.

»Ist das alles, was Du zu sagen hast? Aber es ist sehr gut, was Dein Bruder vorschlägt. Wenn er sich fürchtet, jetzt Charles zu sich zu nehmen, so kannst Du mit ihm gehen, und später kannst Du dann den Kleinen nachkommen lassen ... Wirklich, das macht sich ja ganz ausgezeichnet. Dein Bruder wendet sich an Dein Herz ... Pascal, schuldet sie ihm da nicht eine gute Antwort?«

Der Doktor war mit Mühe wieder Herr seiner selbst geworden. Man fühlte aber dennoch die eisige Kälte, die ihn ergriffen hatte. Er sprach langsam.

»Ich wiederhole euch, daß Clotilde vernünftig ist, und daß sie den Vorschlag, wenn sie ihn annehmen muß, auch annehmen wird.«

In seiner Bestürzung empörte sich das junge Mädchen dagegen.

»Meister, willst Du mich denn fortschicken? – Gewiß, Maxime ist sehr gut, und ich bin ihm aus tiefstem Herzen dankbar. Aber alles verlassen, mein Gott! alles verlassen, was mich liebt, alles, was ich bis jetzt geliebt habe!«

In ihrer Fassungslosigkeit hatte sie eine Bewegung gemacht, als wollte sie alle lebenden Wesen und alle Sachen um sich her, als wollte sie die ganze Souleiade umarmen.

»Und,« nahm Pascal wieder das Wort, indem er sie scharf dabei ansah, »wenn nun Maxime Dich notwendig brauchte?«

Ihre Augen wurden feucht, und sie zitterte einen Augenblick heftig, denn sie allein hatte ihn verstanden. Die grausame Erscheinung zeigte sich von neuem: Maxime gelähmt, von einem Bedienten in einem kleinen Wagen gefahren, wie der Nachbar, den sie oft getroffen hatte. Aber ihre Leidenschaft erhob Einspruch gegen ihre Rührung, hatte sie wirklich eine Verpflichtung diesem Bruder gegenüber, der ihr fünfzehn Jahre lang fremd geblieben war? War ihre Pflicht nicht da, wo ihr Herz war?

»Höre, Maxime, laß auch mir Zeit zur Ueberlegung. Ich werde darüber nachdenken ... Sei aber überzeugt, daß ich Dir sehr dankbar bin. Und wenn Du mich eines Tages wirklich brauchen solltest, dann werde ich mich ohne jedes Bedenken dazu entschließen.«

Man konnte nichts weiter von ihr erlangen. Felicité erschöpfte sich, in ihrer fortwährenden fieberhaften Aufregung, in allen möglichen Vorstellungen, während der Doktor jetzt sich stellte, als ob sie ihr Wort gegeben hätte. Martine dagegen, die gerade die Crême hereinbrachte, dachte nicht daran, ihre Freude zu verbergen. Das Fräulein mit fortnehmen! Das wäre ein Gedanke! Daß der Doktor vor Traurigkeit sterben würde, wenn er so ganz allein bliebe! Und das Ende des Diners wurde so durch diesen Zwischenfall hinausgezogen. Man war noch beim Dessert, als es halb neun Uhr schlug. Maxime wurde unruhig, er scharrte ungeduldig mit seinen Füßen und wollte aufbrechen.

Auf dem Bahnhofe, wohin ihn alle begleiteten, umarmte er seine Schwester zum letztenmale.

»Denke daran!«

»Habe keine Angst,« erklärte Felicité, »wir sind da, um sie an ihr Versprechen zu erinnern.«

Der Doktor lächelte, und alle schwenkten ihre Taschentücher, als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte.

An diesem Tage kehrten Doktor Pascal und Clotilde, nachdem sie die Großmutter bis zu ihrer Thüre begleitet hatten, langsam nach der Souleiade zurück und verbrachten dort einen köstlichen Abend. Die Verstimmung der vorhergehenden Wochen, der stumme Antagonismus, der sie schied, schien verschwunden zu sein. Noch niemals hatten sie ein ähnliches Wohlbehagen verspürt, sich so eins, so unzertrennlich zu fühlen. Es war, als ob in ihnen wie beim Erwachen der Gesundheit nach langem Kranksein neue Lebenshoffnung und neue Lebensfreudigkeit emporsprießte. Sie blieben lange in der heißen Nacht unter den Platanen und hörten dem leisen Plätschern der Fontäne zu. Sie sprachen sogar nicht, sie genossen nur ganz und voll das Glück, beisammen zu sein.


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