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Sechstes Kapitel.

Die Tage flossen dahin. Der Oktober war anfangs herrlich, ein heißer Herbst, eine glühende Sommerleidenschaft in reicher Reife, ohne eine Wolke am Himmel; dann aber wurde das Wetter schlecht, schreckliche Stürme tobten, ein letztes Gewitter verheerte durch Gießbäche die terrassenförmig sich hinabziehenden Gartenanlagen. Und in dem düsteren Hause auf der Souleiade schien das Nahen des Winters eine unendliche Traurigkeit heraufbeschworen zu haben.

Es war von neuem eine Hölle. Zwischen Pascal und Clotilde gab es keine lebhaften Streitereien mehr. Die Thüren wurden nicht mehr zugeschlagen, kein lauter Wortwechsel zwang Martine mehr, alle Stunden die Treppe hinaufzusteigen. Sie sprachen jetzt kaum noch mit einander; und mit keinem Worte wurde jener Vorgang in der Nacht berührt. Er wollte infolge eines unerklärlichen Bedenkens, einer eigentümlichen Scham, über die er sich keine Rechenschaft ablegen konnte, das Gespräch nicht wieder beginnen; er wollte die erwartete Antwort, ein Wort des Glaubens an ihn, ein Wort der Unterwerfung nicht erzwingen. Sie überlegte noch nach dem schrecklichen moralischen Schlag, der sie vollständig umwandelte, sie zögerte, sie war uneins mit sich selbst, indem sie der Lösung auswich in einer instinktiven Auslehnung, um sich nicht ergeben zu müssen. Und das Zerwürfnis dauerte fort in der bedrückenden Stille und Einsamkeit des düsteren Hauses, in dem das Glück nicht mehr wohnte.

Das war für Pascal eine der Epochen, wo er, ohne sich zu beklagen, entsetzlich litt. Dieser scheinbare Friede brachte ihm seine Ruhe nicht wieder, es hatte sich seiner im Gegenteil ein solch tiefes Mißtrauen bemächtigt, daß er sich immer einbildete, die Verschwörungen hinter seinem Rücken dauerten fort. Wenn man sich auch jetzt den Anschein gäbe, als ob man ihn in Ruhe lassen wollte, so geschähe dies nur deswegen, um im Geheimen die schwärzesten Komplotte anzuzetteln. Seine Besorgnisse waren aufs höchste gestiegen, er erwartete jeden Tag eine Katastrophe, wobei seine Papiere von einem sich plötzlich aufthuenden Abgrund verschlungen, die ganze Souleiade, in kleine Teile zerstückelt, davongetragen, hinweggefegt würde. Dieser fortwährende Ansturm gegen seine Gedanken, sein moralisches und intellektuelles Leben, wobei man sich so verstellte, machte ihn ganz nervös und wurde ihm fast unerträglich, daß er sich jeden Abend mit Fieber ins Bett legte. Zuweilen überfiel ihn eine plötzliche Angst; er stand wieder auf, da er glaubte, einen Feind hinter seinem Rücken bei der Arbeit überraschen zu können, um irgend etwas Böses auszuführen. Aber es war niemand außer seiner eigenen zitternden Gestalt im Dunkeln. Ein anderesmal blieb er, von plötzlichem Argwohn erfaßt, stundenlang auf der Lauer, hinter seinen Vorhängen versteckt oder in einem Gange verborgen, aber nichts rührte sich, er vernahm nur das heftige Klopfen seiner Schläfen. Er erschrak aber selbst darüber und legte sich nicht ins Bett, ohne vorher jedes Zimmer durchsucht zu haben; er schlief fast gar nicht mehr, denn das geringste Geräusch weckte ihn wieder auf; schwer atmend lag er da, immer bereit, sich zu verteidigen.

Und das, was die Leiden Pascals noch verschlimmerte, war der fortwährende Gedanke, daß ihm diese Wunde von dem einzigen Wesen, das er auf der Welt liebte, geschlagen wurde, von seiner angebeteten Clotilde, die er seit zwanzig Jahren in Schönheit und Anmut hatte heranwachsen sehen, deren Leben sich bis jetzt entfaltet hatte wie ein reicher Blumenflor, der das seine mit seinem Dufte verschönte. Mein Gott, sie war es, die sein Herz so ganz mit Liebe erfüllte, daß er sich seinen Zustand gar nicht ordentlich klar machte! Sie, die seine Freude geworden war, sein Mut, seine Hoffnung, ja, eine ganze neue Jugend, in der er sich selbst wieder aufleben fühlte! Wenn sie an ihm vorüberging mit ihrer feinen, runden und frischen Gestalt, wurde er ganz erquickt und von Gesundheit und Frohsinn durchdrungen wie bei der Wiederkehr des Frühlings. Uebrigens bewies sein ganzes Leben deutlich diese Besitzergreifung, dieses Eindringen in sein Wesen durch das junge Mädchen, das sich als kleines Kind in seine Liebe eingeschmeichelt, und dann, als sie größer wurde, den ganzen Räumen seinem Herzen eingenommen hatte. Seit seiner definitiven Niederlassung in Plasfans führte er das Leben eines Benediktiners, in seine Bücher vergraben, fern von dem Umgang mit Frauen. Man wußte nur von seiner Leidenschaft für jene Dame, die gestorben war, ohne daß er jemals ihr die Fingerspitzen geküßt hatte. Allerdings machte er zuweilen einen kleinen Abstecher nach Marseille und blieb die Nacht dort, aber das waren nur vorübergehende Abenteuer mit der ersten besten, ohne ein Morgen. Er hatte in dieser Hinsicht das Leben noch gar nicht genossen, er hatte sich noch seine ganze Manneskraft bewahrt, deren Wünsche jetzt bei der drohenden Nähe des Alters grollend nach Befriedigung verlangten. Und er würde sich für ein Tier leidenschaftlich begeistert haben, für einen draußen aufgelesenen Hund, der ihm die Hände, geleckt hätte; und das war jene Clotilde, die er liebte, das kleine Mädchen, das mit einem Schlage ein begehrenswertes Weib geworden war, das ihn jetzt vollständig in Besitz genommen hatte und ihn quälte dadurch, daß sie sich ihm so feindlich gegenüberstellte!

Der sonst so heitere und gutmütige Pascal verfiel damals in düstere Stimmung und wurde unerträglich rauh. Ueber das geringste Wort geriet er in Zorn, er zankte mit der alten Martine, die verwundert und demütig die Augen zu ihm aufschlug wie ein gezüchtigter Hund. Vom Morgen bis zum Abend führte er seine üble Laune durch das düstere Haus spazieren mit einem so bösen Gesicht, daß niemand an ihn das Wort zu richten wagte. Er nahm niemals mehr Clotilde mit, er machte seine Krankenbesuche allein. Von einem solchen Ausgange kam er eines Nachmittags ganz bestürzt von einem unglücklichen Vorfalle wieder heim, durch den er den Tod eines Menschen als zu kühn experimentirender Arzt auf dem Gewissen hatte. Er war zum Schenkwirt Lafuasse gegangen, um ihm Einspritzungen zu machen, dessen Ataxie so weit fortgeschritten war, daß er ihn für verloren hielt. Aber er blieb eigensinnig dabei, dagegen ankämpfen zu wollen, und fuhr mit seinen Heilversuchen fort; und das Unglück hatte gewollt, daß an diesem Tage die Spritze ein kleines, unreines Teilchen, das durch den Filter geschlüpft war, auf dem Boden des Glasfläschchens aufsaugte. Und gerade heute hatte sich ein Tropfen Blut gezeigt, gerade heute hatte er, um das Unglück voll zu machen, in eine Ader gestochen. Sofort hatte ihn eine große Unruhe erfaßt, als er sah, wie der Schenkwirt bleich wurde, wie er Erstickungsanfälle bekam und wie ihm große, kalte Schweißtropfen auf die Stirne traten. Und als dann der Tod wie ein Blitzschlag eingetreten war, da hatte er gewußt, warum die Lippen blau und das Gesicht schwarz war. Es war eine Embolie eingetreten, er konnte nur der Unvollkommenheit seiner Präparate, seiner ganzen, noch unfertigen Methode die Schuld geben. Lafouasse war ohne Zweifel verloren, er hätte vielleicht noch sechs Monate unter fürchterlichen Schmerzen gelebt. Aber die gräßliche Thatsache blieb nichtsdestoweniger bestehen, dieser entsetzliche Tod; und wie groß war sein Schmerz und seine Verzweiflung darüber, wie groß die Erschütterung seines Glaubens und sein Zorn gegen die ohnmächtige mörderische Wissenschaft! Er war totenbleich heimgekommen und hatte sich erst am nächsten Tage wieder sehen lassen, nachdem er sechzehn Stunden lang in seinem Zimmer eingeschlossen geblieben war und vollständig angekleidet, ohne sich zu rühren, auf seinem Bette ausgestreckt gelegen hatte.

An diesem Tage wagte es Clotilde, die in den Nachmittagsstunden bei ihm im Saale saß und nähte, das drückende Stillschweigen zu brechen. Sie hatte die Augen von der Arbeit erhoben und sah ihm zu, wie er in nervöser Aufregung ein Buch durchblätterte, um eine Notiz zu suchen, die er nicht finden konnte.

»Meister, bist Du krank? Warum sagst Du es mir nicht? Ich würde Dich pflegen.«

Er erhob das Gesicht nicht von seinem Buche, sondern murmelte mit dumpfer Stimme:

»Krank? Was macht Dir das? Ich habe niemand nötig.«

Besänftigend entgegnete sie:

»Wenn Du Sorgen hast und wenn Du sie mir nennen könntest, würde es Dir vielleicht Erleichterung verschaffen ... Gestern bist Du so traurig nach Hause gekommen. Man darf Dich nicht so mutlos werden lassen. Ich habe eine sehr unruhige Nacht verbracht, ich bin dreimal an Deine Thüre geschlichen, um zu horchen, von dem Gedanken gepeinigt, daß Du littest.«

So sanft sie auch gesprochen hatte, ihre Stimme traf ihn dennoch wie ein Peitschenschlag. In seiner krankhaften Schwäche ließ ihn ein plötzliches Aufwallen des Zornes das Buch zurückstoßen und sich zitternd erheben.

»Also Du spionirst mir nach? Ich kann mich also nicht einmal mehr in mein Zimmer zurückziehen, ohne daß man sofort kommt und das Ohr an die Wände legt ... Ja, man horcht sogar auf das Klopfen meines Herzens, man lauert auf meinen Tod, um hier alles zu plündern, alles zu verbrennen ...«

Und seine Stimme schwoll immer mehr an, und all sein ungerechtes Leiden machte sich in lauten Klagen und Drohungen Luft.

»Ich verbiete Dir, Dich mit mir zu beschäftigen ... Hast Du mir etwas anderes zu sagen? Hast Du Dich besonnen? Kannst Du Deine Hand in die meine legen und mir ehrlich und aufrichtig sagen, daß wir in Uebereinstimmung sind?«

Sie antwortete nicht, sie fuhr nur fort, ihn mit ihren großen, klaren Augen zu betrachten, fest entschlossen, sich ihre Freiheit noch zu wahren, während er noch erbitterter über diese Haltung wurde und seine Selbstbeherrschung vollständig verlor. Er stotterte vor Wut und wies nach der Thüre.

»Geh fort! Geh fort! Ich will nicht, daß Du bei mir bleibst! Ich will nicht, daß Feinde von mir in meiner Nähe weilen! Ich will nicht, daß man bei mir bleibt, um mich wahnsinnig zu machen.«

Sie hatte sich totenbleich erhoben. Stolz aufgerichtet ging sie, ihre Arbeit mitnehmend, hinaus, ohne sich noch einmal umzuwenden.

Während des Monats, der nun folgte, versuchte Pascal, zu einer Arbeit seine Zuflucht zu nehmen, die seine ganze Zeit beanspruchte. Er blieb jetzt eigensinnig ganze Tage lang allein in dem Arbeitssaal und verbrachte selbst die Nächte damit, alte Aufzeichnungen wieder vorzunehmen und alle Arbeiten über die Vererbung noch einmal umzuarbeiten. Man hätte sagen können, daß eine wahre Wut ihn ergriffen hatte, sich von der Richtigkeit seiner Hoffnungen zu überzeugen, die Wissenschaft zu zwingen, ihm die Gewißheit zu verschaffen, daß die ganze Menschheit könnte erneuert werden, daß sie endlich glücklich und auf eine höhere Stufe könnte emporgehoben werden. Er ging gar nicht mehr aus, er gab seine Krankenbesuche auf, er lebte nur noch in seinen Papieren, ohne frische Luft zu schöpfen und ohne sich Bewegung zu machen. Und am Ende eines Monats dieser unvernünftigen Lebensweise, die ihn furchtbar mitnahm, ohne seine Qualen zu mildern, verfiel er in eine so nervöse Erschöpfung, daß die Krankheit, die schon seit einiger Zeit im Keime in ihm geruht hatte, mit einer beunruhigenden Heftigkeit zum Ausbruch kam.

Pascal fühlte sich jetzt, wenn er morgens aufstand, ganz zerschlagen vor Müdigkeit, viel matter und träger, als am vorhergehenden Abend beim Zubettgehen. Es lag auch in seinem ganzen Wesen eine fortwährende Niedergedrücktheit, seine Beine versagten schon den Dienst, wenn er fünf Minuten lang gegangen war, der Körper brach bei der geringsten Anstrengung zusammen, und er konnte schließlich gar keine Bewegung mehr machen, ohne daß er davon nicht beängstigende Schmerzen bekam. Manchmal war es ihm, als ob der Boden unter seinen Füßen plötzlich ins Schwanken geriete. Fortwährendes Ohrensausen machte ihn ganz taub, Flimmern vor den Augen ließ ihn die Lider schließen wie vor dem drohenden Nahen eines Funkenstromes. Dabei hatte er einen wahren Abscheu vor Wein, er aß nichts mehr und verdaute schlecht. Dann zeigten sich in der Apathie dieser zunehmenden Schlaffheit plötzlich heftige Zornesausbrüche oder eine ganz fruchtlose fieberhafte Thätigkeit. Er hatte sein früheres schönes Gleichgewicht ganz verloren, seine reizbare Schwäche verfiel von einem Extrem in das andere ohne jeden Grund. Bei der geringsten Erregung füllten sich seine Augen mit Thränen. Schließlich kam es so weit, daß er sich bei solchen Verzweiflungsausbrüchen einschloß. Er weinte und schluchzte dann stundenlang herzzerbrechend, ohne daß ihm etwas direkt Kummer verursacht hätte, nur einzig und allein unter dem Drucke seiner unendlichen Traurigkeit.

Sein Leiden verschlimmerte sich besonders nach einem seiner Ausflüge nach Marseille, einer jener kleinen Vergnügungstouren des alten Junggesellen, die er zuweilen unternahm. Vielleicht hatte er eine starke Zerstreuung, eine Erleichterung von einer Ausschweifung erhofft. Er blieb nur zwei Tage weg und kehrte wie zerschlagen und verstört heim mit dem Aussehen eines Menschen, der seine ganze Manneskraft verloren hat. Es war eine Scham, die er nicht bekennen mochte, es war die Furcht, die diese Raserei der Versuche in Gewißheit verwandelt hatte und nur das wilde Verlangen des ängstlichen Liebhabers vergrößern konnte. Niemals hatte er dieser Sache irgend welche Wichtigkeit beigelegt. Von jetzt an beherrschte sie ihn gänzlich, sie brachte ihn vollständig aus aller Fassung und versetzte ihn in einen solch elenden Zustand, daß er sogar an Selbstmord dachte. Er hätte sich sagen können, daß dies ohne Zweifel vorübergehend sein würde, daß der Keim einer Krankheit in seinem Innern ruhen müßte: das Gefühl seiner Schwäche bedrückte ihn deswegen nicht weniger, und er war den Frauen gegenüber wie die zu jungen Burschen, die in ein verlegenes Stammeln und Stottern geraten.

In den ersten Tagen des Dezembers wurde Pascal von unerträglichen Nervenschmerzen gepeinigt. Das Klopfen in den Schädelknochen machte ihn glauben, daß sein Kopf jeden Augenblick zerspringen könnte.

Von seinem Zustande benachrichtigt, entschloß sich die alte Frau Rougon eines Tages, persönlich Nachrichten über das Befinden ihres Sohnes einzuziehen. Sie ging jedoch zunächst in die Küche, da sie erst mit der alten Martine sprechen wollte. Diese erzählte ihr mit bestürzter und trostloser Miene, daß der Herr Doktor sicherlich verrückt sein müsse, und sie sprach von seinem sonderbaren Benehmen, von dem ununterbrochenen Hin- und Herwandern in seinem Zimmer, daß er alle Schubladen sorgfältig verschlossen habe, von den Umgängen, die er von oben bis unten durch das Haus machte bis um zwei Uhr morgens. Sie hatte dabei Thränen in den Augen und sprach am Schluß die Meinung aus, es wäre vielleicht ein Teufel in den Körper des Herrn Doktors gefahren, und man thäte gut daran, wenn man den Pfarrer von Saint-Saturnin davon benachrichtigen würde.

»Ein so guter Mensch,« wiederholte sie, »für den man sich würde in Stücke zerhacken lassen! Ist es nicht traurig, daß man ihn nicht in die Kirche bringen kann? Das würde ihn gewiß sofort heilen.«

Da trat Clotilde ein, die die Stimme ihrer Großmutter Felicité gehört hatte. Auch sie irrte durch die leeren Räume und hielt sich dann am meisten im verlassenen Saale im Erdgeschoß auf. Sie sprach übrigens nicht, sondern hörte nur ruhig zu mit einer nachdenklichen und aufmerksamen Miene.

»Ah, Du bist es, Liebling! Guten Tag! Martine erzählt mir eben, daß Pascal von einem Teufel besessen sei, der in seinen Körper gefahren. Das ist auch meine Ansicht. Aber dieser Teufel nennt sich: Hochmut. Er glaubt, daß er alles weiß, er ist zu gleicher Zeit der Papst und der Kaiser, und da bringt es ihn natürlicherweise auf, wenn man nicht wie er spricht.«

Sie zuckte mit den Achseln, sie war ganz erfüllt von einer unendlichen Geringschätzung.

»Ich würde über die ganze Geschichte lachen, wenn sie nicht so traurig wäre ... Er ist ein Mensch, der reinweg gar nichts weiß, der nicht gelebt, der einfältigerweise immer in seine Bücher vergraben gewesen ist. Stellt ihn in einen Salon, er ist unerfahren wie ein neugeborenes Kind. Und die Frauen, er kennt sie nicht nur nicht ...«

Sie hatte ganz vergessen, vor wem sie sprach, vor einem jungen Mädchen und einer Dienerin. Sie dämpfte jetzt ihre Stimme und fuhr in vertraulichem Tone fort:

»Ja, bei Gott! Es bezahlt sich auch, zu klug zu sein! Weder Frau noch Maitresse, rein gar nichts! Das ist es, was ihm schließlich den Verstand verdreht hat!«

Clotilde rührte sich nicht. Ihre Lider senkten sich langsam über ihre großen, nachdenklichen Augen nieder, dann hob sie sie wieder und blieb in ihrer stummen, verschlossenen Haltung wie jemand, der nicht weiß, was in ihm vorgeht. Sie befand sich in vollständiger Verwirrung, in großer Erregung, in der sie ohne Zweifel nicht mehr klar sehen konnte.

»Er ist oben, nicht wahr?« fragte Felicité weiter. »Ich bin hergekommen, um mit ihm zu reden, denn das muß ein Ende nehmen, das ist doch zu toll!«

Sie ging hinauf, während sich die alte Martine wieder an ihre Töpfe machte und Clotilde von neuem durch das Haus umher irrte.

Oben in dem Saale saß Pascal, das Gesicht über ein offenes Buch geneigt und starrte wie geistesabwesend hinein. Er konnte nicht mehr lesen, die Worte tanzten vor seinen Augen hin und her, sie verschwanden ganz und verloren vollständig jeden Sinn. Aber er widersetzte sich dem hartnäckig und kämpfte so lange mutig dagegen an, bis er seine Arbeitskraft, die bisher so mächtig gewesen war, gänzlich verloren hatte.

Und seine Mutter zankte ihn sogleich aus, nahm ihm das Buch fort, das sie weit weg auf einen Tisch warf, und sagte, er wäre krank, er müsse sich pflegen. Er hatte sich mit einer zornigen Bewegung von seinem Platze erhoben, bereit, sie fortzujagen, wie er Clotilden fortgejagt hatte. Dann wurde er mit einer letzten Aufbietung seiner Willenskraft wieder der ehrerbietige Sohn.

»Liebe Mutter, Sie wissen genau, daß ich niemals mit Ihnen habe streiten wollen ... Lassen Sie mich in Ruhe, ich bitte Sie darum.«

Sie aber ließ nicht nach, sie packte ihn bei seinem fortwährenden Mißtrauen. Er wäre es selbst, der sich die quälende Unruhe bereite dadurch, daß er immer glaube, Feinde stellten ihm Fallen, lauerten ihm auf, um ihn zu berauben. Wäre es denn möglich, daß ein Mensch mit gesundem Verstande sich einbildete, man verfolge ihn auf diese Weise? Andererseits machte sie ihm den Vorwurf, er habe sich mit seiner neuen Entdeckung, seinem wunderbaren Mittel, mit dem er alle Krankheiten heilen wolle, den Kopf verdreht. Das wäre gar nichts wert, daß er sich für den lieben Gott hielte. Um so grausamer seien dann die Enttäuschungen. Dann machte sie eine Anspielung auf Lafouasse, jenen Mann, den er getötet hätte; sie sehe natürlich ein, daß ihm das nicht angenehm gewesen sein könnte, und deswegen müsse er sich jetzt ins Bett legen.

Pascal, der immer an sich gehalten hatte, begnügte sich auch jetzt noch damit zu wiederholen, während seine Augen zur Erde gesenkt blieben:

»Liebe Mutter, ich bitte Sie nochmals, lassen Sie mich in Ruhe!«

»Nein, nein, ich will Dich nicht in Ruhe lassen,« rief sie mit ihrer gewöhnlichen Heftigkeit trotz ihres hohen Alters. »Gerade deswegen bin ich hierher gekommen, um Dich etwas aufzurütteln, um Dich den krankhaften Ideen zu entreißen, mit denen Du Dich abquälst ... Nein, das kann nicht länger so fortgehen; ich will nicht, daß wegen Deiner Geschichten die ganze Stadt sich von uns Fabeldinge erzählt ... Ich will, daß Du Dich jetzt pflegst.«

Er zuckte die Achseln und sagte mit leiser Stimme, wie zu sich selbst, in einem Tone unruhiger Bestimmtheit:

»Ich bin nicht krank.«

Aber sofort sprang Felicité auf und rief ganz außer sich:

»Wie, nicht krank! Wie, nicht krank! Man braucht wahrhaftig kein Arzt zu sein, um das selbst zu sehen! Ja, mein armer Junge, allen denjenigen, die in Deine Nähe kommen, wird das sofort klar. Du wirst noch ganz verrückt vor Hochmut und Furcht!«

Diesmal hob Pascal lebhaft den Kopf in die Höhe und sah ihr gerade in die Augen, während sie zu sprechen fortfuhr:

»Das ist es, was ich Dir zu sagen hatte, da es sonst niemand übernehmen wollte. Nicht wahr, Du stehst doch jetzt in einem Alter, um zu wissen, was Du thun mußt ... Man wehrt sich dagegen, man denkt an etwas anderes, man läßt sich nicht von einer fixen Idee beherrschen, zumal wenn man zu einer Familie wie die unsrige gehört ... Du kennst sie. Nimm Dich in acht und schone Dich!«

Er war blaß geworden; er sah sie immer noch fest an, als ob er sie untersuchen wollte, um zu wissen, was von ihr in ihm vorhanden wäre. Und er begnügte sich zu antworten:

»Sie haben recht, liebe Mutter ... Ich danke Ihnen.«

Als er dann wieder allein war, sank er von neuem in seinen Stuhl vor dem Tische zurück und wollte die Lektüre seines Buches von frischem aufnehmen. Aber er kam nicht mehr wie vorher dazu, seine Aufmerksamkeit ganz zu konzentriren, um die Worte zu verstehen, deren Buchstaben vor seinen Augen hin- und hertanzten. Die von seiner Mutter gesprochenen Worte summten in seinen Ohren; das Angstgefühl, das schon seit einiger Zeit in ihm aufgestiegen war, wurde größer, befestigte sich und spiegelte ihm eine unmittelbare, genau bestimmte Gefahr vor. Er, der sich noch vor zwei Monaten triumphirend gerühmt hatte, nicht zu der Familie zu gehören, sollte er jetzt auf das schrecklichste Lügen gestraft werden? Sollte er jetzt den Schmerz erfahren, zu sehen, wie in seinem Mark der Schaden von neuem erstünde; sollte er dem Entsetzlichen entgegeneilen, sich von den Klauen des Ungeheuers der Vererbung ergriffen zu fühlen? Seine Mutter hatte es ihm gesagt: er wäre verrückt vor Hochmut und Furcht. Die leitende Idee, die begeisterte Gewißheit, daß er das Leiden hatte aus der Welt schaffen, daß er den Menschen Willenskraft hatte geben und eine gesunde und höher stehende Menschheit hatte wieder bilden wollen, das war sicher nur der Anfang des Größenwahns. Und in seiner Furcht vor einem Hinterhalte, in dem Verlangen, den Feinden aufzulauern, die, wie er fühlte, an seinem Verderben arbeiteten, erkannte er leicht die Symptome des Verfolgungswahnsinns. Seither liefen alle Vorkommnisse in der Familie auf dieses schreckliche Ende hinaus: den Wahnsinn für kurze Zeit, dann allgemeine Paralyse und schließlich den Tod. Seit diesem Tage war Pascal nicht mehr Herr über sich. Der zerrüttete Zustand seiner Nerven, den die Ueberanstrengung und der Kummer herbeigeführt hatten, überlieferten ihn widerstandslos jener fortwährenden Heimsuchung durch Wahnsinns- und Todesgedanken. Alle diese Krankheitsäußerungen, die sich bei ihm zeigten, die ungeheure Müdigkeit morgens beim Aufstehen, das Sausen in den Ohren und das Flimmern vor den Augen bis zu seiner schlechten Verdauung und bis zu den Weinkrämpfen, reihten sich eine an die andere, als sichere Beweise für die nahe bevorstehende Störung, von der er sich bedroht glaubte. Er hatte in Bezug auf sich selbst die feine Diagnose des beobachtenden Arztes verloren; und wenn er fortfuhr, Schlüsse zu ziehen, so hatte es nur den Erfolg, daß er alles verwirrte und alles verdrehte unter der moralischen und physischen Depression, in der er sich dahinschleppte. Er war nicht mehr Herr über sich selbst, er war wie wahnsinnig und überzeugte sich Stunde für Stunde in seinem Wahn davon, daß er es werden mußte.

Die Tage dieses grauen Dezembermonats wurden von ihm vollständig dazu verwandt, sich immer mehr und mehr in seine Leiden hineinzusteigern. Jeden Morgen wollte er sich der Heimsuchung durch seine finsteren Gedanken entziehen; aber er kam doch immer wieder dazu, sich in dem Arbeitszimmer einzuschließen, wo er dann den verwirrten Knäuel vom vorhergehenden Abend wieder vornahm. Das lange Studium, das er der Vererbung gewidmet hatte, seine bedeutenden Untersuchungen und Arbeiten vergifteten ihn vollends noch ganz und waren die Ursache zu immer neuer Aufregung. Für die Frage, die er sich fortwährend in Betreff seines Vererbungsfalles stellte, waren die Aktenstücke da, die für alle möglichen Kombinationen Antwort gaben. Sie boten sich ihm so zahlreich dar, daß er sich jetzt ganz darin verlor. Wenn er sich nun getäuscht hätte, wenn er sich nicht als einen bemerkenswerten Fall von Angeborensein betrachten konnte, mußte er sich dann zu den Fällen von rückgreifender Vererbung rechnen, die eine, zwei, ja sogar drei Generationen überspringt? Oder war sein Fall nicht vielmehr einfach ein Beispiel von versteckter Vererbung, was einen neuen Beweis für seine Theorie von dem keimbildenden Plasma gegeben hätte? Oder sollte er darin nur eine Besonderheit unter den aufeinander folgenden Aehnlichkeiten sehen, das plötzliche Erscheinen eines unbekannten Vorfahren beim Niedergange seines Lebens? Von diesem Augenblicke an hatte er keine Ruhe mehr, er beschäftigte sich nur noch mit der Ausfindigmachung seines Falles, indem er seine Aufzeichnungen durchblätterte und seine Bücher wieder durchlas. Und er zergliederte sich, er beobachtete genau die geringste seiner Empfindungen, um daraus Schlüsse zu ziehen, auf Grund derer er sich ein Urteil über sich selbst bilden konnte. An den Tagen, an denen sein Denkvermögen träger war, wo er glaubte, besondere Erscheinungen darzubieten, neigte er zu dem Vorwiegen eines ursprünglichen nervösen Schadens hin, während er sonst, wenn er an den Beinen litt und die Füße ihm schwer waren und ihn schmerzten, sich einbildete, unter dem Einfluß irgend eines von außen in die Familie gekommenen Vorfahren zu stehen. Aber alles verwickelte sich, er kam nicht mehr dazu, sich selbst zu erkennen unter den störenden Einbildungen, die seinen geschwächten Organismus erschütterten. Und an jedem Abende war der Schluß derselbe, an jedem Abend tönte in seinem Gehirn die gleiche Totenglocke! die Vererbung, die schreckliche Vererbung, die Angst, wahnsinnig zu werden.

In den ersten Tagen des Januar wohnte Clotilde, ohne daß sie es wollte, einer Scene bei, die ihr das Herz zerriß. Sie saß an einem der Fenster des Arbeitssaales und las, verdeckt von der hohen Rücklehne ihres Fauteuils, als sie Pascal eintreten sah, der seit dem vorhergehenden Abend sich in sein Zimmer eingeschlossen hatte und daher unsichtbar geblieben war. Er hielt mit beiden Händen ein großes Blatt von gelbem Papier offen vor sein Gesicht, in dem sie den Stammbaum wiedererkannte. Er war darin so vertieft und seine Augen waren so starr darauf gerichtet, daß sie aus ihrem Verstecke hätte heraustreten können, ohne daß er sie bemerkt hätte. Er breitete den Stammbaum auf dem Tische aus, er fuhr fort, ihn lange aufmerksam zu betrachten mit einer ängstlich fragenden Miene, die nach und nach ganz zerknirscht und demütig wurde, und mit thränenfeuchten Wangen. Mein Gott! Warum wollte denn der Stammbaum ihm keine Antwort geben? Warum wollte er ihm denn nicht sagen, von welchem Vorfahren er abhinge, damit er seinen Fall auf das für ihn bestimmte Blatt eintragen könnte wie bei den anderen? Wenn er wahnsinnig werden mußte, warum sagte es ihm der Stammbaum nicht direkt? Das hätte ihn beruhigt, denn er glaubte nur durch die Ungewißheit zu leiden. Aber die Thränen verschleierten ihm den Blick, und dennoch betrachtete er das Blatt immer weiter; er rieb sich ordentlich auf in dem Verlangen, zu erfahren, wo seine Vernunft schließlich straucheln würde. Plötzlich mußte sich Clotilde bücken, da sie sah, daß er auf den großen Schrank zuschritt und dessen beide Thüren weit öffnete. Er nahm die Aktenstücke heraus, warf sie auf den Tisch und durchblätterte sie mit fieberhafter Ungeduld. Es war die Scene in jener schrecklichen Gewitternacht, die sich jetzt wiederholte, ein rasch dahineilender, böser Traum, in dem alle jene wachgerufenen Gespenster, die aus der Masse der alten Papiere emportauchten, an ihm vorüberzogen. Und wie sie so vorbeihuschten, richtete er an jedes von ihnen eine Frage, eine heiße, flehentliche Bitte, in der er Aufklärung über den Ursprung seines Leidens forderte, in der Hoffnung auf ein Wort, ein Murmeln, das ihm Gewißheit geben sollte. Zuerst waren seine Worte nur ein undeutliches Stammeln, dann aber nahmen sie Gestalt an und bildeten kurze abgebrochene Sätze:

»Bist Du es? – Bist Du es? – Bist Du es? – O alte Mutter, die Du die Mutter von uns allen bist, bist Du es, die Du mir Deine Narrheit geben sollst? – Bist Du es, Onkel, Du alter Lump, der Du dem Alkohol ergeben bist, bist Du es, dessen veraltetes Uebel, das Saufen, ich bezahlen soll? – Bist Du es, galanter Neffe, oder Du, frommer Neffe, oder auch Du, blödsinnige Nichte, die ihr mir die Wahrheit bringt, indem ihr mir eine der Formen der Verletzung zeigt, an der ich leide? – Oder bist Du es vielleicht, Großneffe, der Du Dich erhängt hast, oder Du, Großneffe, der Du Dich getötet hast, oder Du, Großnichte, die Du Dein Ende durch Verfaulen gefunden hast, deren tragische Todesarten mir die meine verkünden, das Dahinsiechen in einer Irrenzelle, die gräßliche Zersetzung der Kräfte?«

Und das schnelle Vorbeiziehen dauerte fort, sie tauchten alle empor, die Gestalten und eilten im Sturmschritt vorüber. Die Aktenbündel belebten sich, sie wurden Menschen, sie drängten und stießen sich hin und her in diesem Gewühle leidender Menschheit.

»Ah, wer wird es mir sagen, wer wird es mir sagen, wer wird es mir sagen? Ist es derjenige, der im Wahnsinn gestorben ist, oder diejenige, die die Schwindsucht dahingerafft hat, oder der, dem die Lähmung das Ende bereitet hat, oder diejenige, die ihr physiologisches Elend schon in frühester Jugend getötet hat? – Von wem ist das Gift, an dem ich sterben soll? Und welcher Art ist es, Hysterie, Alkoholismus, Tuberkulose, Skrofeln? Und was wird es aus mir machen, einen Epileptiker, einen an Ataxie Leidenden oder einen Narren? Einen Narren! Wer ist es, der gesagt hat: einen Narren? Sie sagen es alle, einen Narren, einen Narren, einen Narren!«

Thränen erstickten seine Stimme. Er ließ seinen Kopf zitternd auf den Tisch hinabsinken mitten unter die Akten, er weinte ohne Aufhören, vom Schauder durchschüttelt. Und Clotilde, ergriffen von einer Art heiligen Schreckens, indem sie das Verhängnis vorüberziehen fühlte, das die Geschlechter beherrscht, ging leise fort, den Atem anhaltend, denn sie begriff vollständig, daß es für ihn sehr beschämend gewesen sein würde, wenn er eine Ahnung von ihrer Anwesenheit gehabt hätte.

Große Mattigkeit folgte. Der Januar war sehr kalt. Aber der Himmel war von einer wunderbaren Klarheit, die Sonne strahlte immer aus einem lichten Blau herab, und auf der Souleiade bildeten die nach Mittag hinausgehenden Fenster ein Gewächshaus und gaben dem Saale eine köstliche, warme Temperatur. Man machte sogar nicht einmal Feuer, denn die Sonne verließ das Zimmer nicht und warf ein mattgoldenes Strahlennetz hinein, in welchem die Fliegen, die der Winter verschont hatte, langsam hin und her flogen. Kein anderer Laut war zu vernehmen, als das Summen ihrer Flügel. Es herrschte eine einschläfernde, abgeschlossene Wärme, als ob ein Stück des Frühlings in dem alten Hause erhalten geblieben wäre.

Dort war es, wo Pascal eines Morgens das Ende eines Gesprächs mit anhörte, das sein Leiden noch verschlimmerte. Er verließ vor dem Frühstück sein Zimmer gar nicht mehr, und Clotilde hatte soeben den Doktor Ramond in dem Saale empfangen, wo sie sich neben einander niedergelassen hatten und leise mit einander sprachen im hellen Sonnenschein.

Schon zum drittenmale seit acht Tagen hatte Ramond vorgesprochen. Persönliche Verhältnisse, vor allem die Notwendigkeit, eine endgiltige Entscheidung über seine Niederlassung als Arzt in Plassans zu treffen, zwangen ihn, seine Verheiratung nicht länger mehr hinauszuschieben; er wollte jetzt von Clotilde eine bestimmte Antwort haben. Zu dreien hatten sie schon zweimal hier gesessen, aber gerade das hatte ihn abgehalten zu sprechen. Da er die Antwort von ihr selbst erhalten wollte, so war er entschlossen, sich in einem freimütigen Gespräch mit ihr darüber zu verständigen. Ihre Kameradschaft, ihr vernünftiger Sinn und ihre gegenseitige Offenheit ermächtigten ihn zu diesem Schritte. Und er schloß lächelnd, seine Augen fest in den ihrigen, mit den Worten:

»Ich versichere Sie, Clotilde, daß dies die klügste Lösung ist ... Sie wissen, daß ich Sie schon lange liebe. Ich hege für Sie eine innige Zuneigung und hohe Achtung ... Aber das würde vielleicht noch nicht ganz genügen: es ist nötig, daß wir uns vollständig verstehen, und dann bin ich fest davon überzeugt, daß wir zusammen sehr glücklich sein werden.«

Sie hatte den Blick nicht gesenkt, sie sah ihm offen ins Gesicht, ebenfalls mit einem freundschaftlichen Lächeln. Er war wirklich ein sehr schöner Mann in der vollen Jugendkraft.

»Warum heiraten Sie denn nicht Fräulein Lévêque, die Tochter des Rechtsanwalts?« fragte sie ihn. »Sie ist sehr hübsch und reicher als ich, und ich weiß, daß sie so glücklich sein würde ... Mein lieber Freund, ich habe Angst, daß Sie eine Dummheit machen, indem Sie mich wählen.«

Er wurde nicht ungeduldig, seine Miene drückte immer die feste Ueberzeugung von der Klugheit seines Entschlusses aus.

»Aber ich liebe ja Fräulein Lévêque nicht, ich liebe Sie ... Uebrigens habe ich mir das alles genau überlegt; ich wiederhole Ihnen, daß ich sehr gut weiß, was ich thue. Sagen Sie ›Ja‹, Sie können gar keinen besseren Entschluß fassen!«

Da wurde sie ernst, und ein Schatten flog über ihr Gesicht, der Schatten jener Ueberlegungen, jener inneren, fast unbewußten Kämpfe, die sie seit langen Tagen stumm machten.

»Mein lieber Freund, da die Sache eine sehr ernste ist, so erlauben Sie mir, daß ich Ihnen heute nicht antworte. Bewilligen Sie mir noch einige Wochen ... Der Meister ist wirklich sehr krank, ich fühle mich selbst sehr angegriffen, und Sie werden mich gewiß keiner Ueberrumpelung verdanken wollen ... Ich versichere Sie, daß ich meinerseits viel Zuneigung für Sie empfinde. Aber es wäre schlecht von mir gehandelt, wollte ich mich in diesem Augenblick entscheiden; das Haus ist zu unglücklich. Nicht wahr, Sie sehen das ein? Ich würde Sie sonst gewiß nicht so lange hinhalten.«

Und um das Gespräch zu ändern, fügte sie hinzu:

»Ja, der Meister macht mir Sorge. Ich wollte Sie schon aufsuchen, um mit Ihnen darüber zu sprechen. Gestern habe ich ihn überrascht, wie er heiße Thränen weinte, und es steht für mich fest, daß ihn die Furcht verfolgt, er würde wahnsinnig werden ... Vorgestern, als Sie mit ihm sprachen, habe ich gesehen, daß Sie ihn prüften. Sagen Sie mir jetzt offen, was denken Sie über seinen Zustand? Ist er in Gefahr?«

Doktor Ramond erhob dagegen lebhaft Einspruch.

»Aber keineswegs! Er hat sich nur überanstrengt, und seine Nerven sind überreizt, das ist alles! Wie kann sich nur ein Mann von seiner Bedeutung, der sich so viel mit Nervenkrankheiten beschäftigt hat, in diesem Punkte täuschen? Es ist betrübend, wenn die klarsten und gesündesten Köpfe auf solche Abwege geraten! In seinem Falle wäre seine Erfindung der Einspritzungen unter die Haut ein unfehlbares Mittel Warum macht er sich denn keine Einspritzungen?«

Und als das junge Mädchen in verzweifelten Worten ihm mitteilte, daß Pascal nicht auf sie hörte, daß sie sogar nicht einmal mehr das Wort an ihn richten dürfte, fügte er hinzu:

»Gut, dann werde ich mit ihm reden!«

Gerade in diesem Augenblick trat Pascal aus seinem Zimmer, angelockt von dem Klange der Stimmen. Aber als er sie so nahe bei einander erblickte, so lebhaft, so jung und so schön, in dem hellen Glänze der Sonne, wie umwoben von ihren lichten, freundlichen Strahlen, blieb er auf der Schwelle stehen. Und seine Augen erweiterten sich, sein bleiches Gesicht verzerrte sich.

Ramond hatte Clotildens Hand ergriffen, da er sie noch einen Augenblick zurückhalten wollte.

»Nicht wahr, ich habe Ihr Versprechen? Ich möchte, daß die Heirat noch in diesem Sommer stattfände ... Sie wissen, wie sehr ich Sie liebe, und ich erwarte voll Sehnsucht Ihre Antwort.«

»Gewiß,« antwortete sie, »noch bevor ein Monat vergangen ist, wird alles geregelt sein.«

Ein plötzlicher Schwindelanfall machte Pascal wanken. Da drang gerade jetzt dieser junge Bursche, ein Freund, ein Schüler, in sein Haus ein, um ihm sein Gut zu rauben! Er hätte eigentlich auf diese Lösung vorbereitet sein können, und nun überraschte ihn doch die plötzliche Kunde von einer möglichen Verheiratung Clotildens und schmetterte ihn nieder, wie eine unvorhergesehene Katastrophe, jetzt, da sein Leben sich dem Ende zuneigte. Dieses Wesen, das er gemacht hatte, das an ihn glaubte, würde nun ohne Bedauern von ihm gehen, sie würde ihn also allein in seinem Winkel den Todeskampf auskämpfen lassen! Am vorhergehenden Abende noch hatte sie ihm wieder so schweres Leid zugefügt, daß er sich gefragt hatte, ob er sich nicht von ihr trennen, ob er sie nicht zu ihrem Bruder schicken sollte, der sie immer für sich forderte. Einen Augenblick war er gar zu dieser Trennung fest entschlossen gewesen, zu ihrer beider Besten. Und jetzt sie hier so unerwartet mit diesem Manne anzutreffen, zu hören, wie sie ihm eine Antwort zu geben versprach, daran zu denken, daß sie sich verheiraten und ihn dann bald verlassen würde, das gab ihm einen Stich ins Herz.

Schwerfällig ging er weiter, die beiden jungen Leute drehten sich um und waren etwas betreten.

»Sieh da, Meister! Wir sprachen gerade von Ihnen,« sagte Ramond endlich in heiterem Tone. »Ja, wir haben sogar ein Komplott geschmiedet, ich muß es ihnen sagen, um Ihnen nichts zu verheimlichen ... Warum pflegen Sie sich denn eigentlich nicht? Ihnen fehlt ja durchaus nichts Ernstliches, schon in vierzehn Tagen würden Sie wieder auf den Beinen sein.«

Pascal, der sich in einen Stuhl hatte fallen lassen, fuhr fort, sie stumm zu betrachten. Er besaß die Kraft, sich zu bezwingen; keine Spur zeigte sich auf seinem Gesichte von der Wunde, die er soeben erhalten hatte. Er würde sicherlich daran sterben, und niemand auf der Welt würde etwas von dem Leiden ahnen, an dem er zu Grunde gegangen war. Aber das war für ihn eine Erleichterung, daß er jemand damit ärgern konnte, daß er hartnäckig und leidenschaftlich sich weigerte, auch nur einen Tropfen Arznei zu nehmen.

»Mich pflegen? Ja, warum denn? Etwa vielleicht, damit es noch nicht zu Ende gehen soll mit meinem alten Körper?«

Ramond ließ sich jedoch nicht abschrecken, sondern entgegnete mit dem überlegenen Lächeln eines ruhigen, ernsten Mannes:

»Sie sind viel gesünder als wir alle. Das ist nur eine zufällige, vorübergehende Verstimmung, und Sie besitzen ja selbst das Heilmittel dafür ... Machen Sie sich doch Einspritzungen ...«

Er konnte nicht weiter fortfahren, denn das Maß war zum Ueberlaufen voll. Pascal geriet ganz außer sich. Er fragte, ob man wollte, daß er sich tötete, sowie er Lafouasse getötet hätte. Seine Einspritzungen! Eine nette Erfindung, auf die er allen Grund hätte, stolz zu sein! Er verwünschte die ganze medizinische Wissenschaft, er schwor, niemals wieder einen Kranken anzurühren. Wenn man zu nichts mehr nütze wäre, dann sollte man ruhig sterben, und das würde für jedermann mehr wert sein. Und das wäre es übrigens, was er jetzt sich beeile zu thun, damit die ganze Geschichte doch endlich ein Ende nähme.

»Ach was!« sagte Ramond, der beschlossen hatte, sich zu verabschieden, aus Furcht, ihn noch mehr aufzuregen. »Ich überlasse Sie Clotildens sorglichen Händen und bin deswegen ganz ruhig ... Clotilde wird schon alles in Ordnung bringen.«

Aber Pascal hatte an diesem Morgen den schwersten Schlag erhalten. Er legte sich gegen Abend ins Bett und blieb bis zum folgenden Abend liegen, ohne die Thüre seines Zimmers zu öffnen. Schließlich fing Clotilde doch an, sich zu beunruhigen; sie pochte heftig mit der Faust gegen die Thüre; aber es war alles vergebens, sie erhielt keine Antwort. Auch die alte Martine kam herbei und bat flehentlich den Herrn Doktor durch das Schlüsselloch, ihr doch wenigstens nur zu sagen, ob er nichts nötig habe. Es blieb aber alles totenstill, es schien, als ob das Zimmer leer wäre. Dann, am Morgen des zweiten Tages, als das junge Mädchen zufällig einmal auf die Klinke drückte, öffnete sich die Thüre; sie war vielleicht schon seit Stunden nicht mehr verschlossen gewesen. Und sie konnte ungehindert in das Zimmer eintreten, in das sie noch niemals ihren Fuß gesetzt hatte. Es war ein großer Raum, den seine Lage nach Norden hinaus recht kalt machte, in dem sie mir ein kleines eisernes Bett ohne Vorhänge, in der Ecke einen Waschapparat und eine lange Tafel aus schwarzem Holze bemerkte, und auf dieser Tafel und auf Regalen, die sich an den Wänden entlang zogen, stand ein ganzes Laboratorium, Retorten, Mörser, Bestecke und andere Gegenstände. Pascal war aufgestanden und saß vollständig angekleidet auf dem Rande seines Bettes, das er sogar selbst mit vieler Mühe wieder in Ordnung gebracht hatte.

»Du willst also nicht, daß ich Dich pflege?« fragte sie ängstlich und bewegt, ohne daß sie wagte, näher zu treten.

Er machte eine müde Bewegung mit der Hand.

»O, Du kannst ruhig hereinkommen; ich werde Dich nicht schlagen, ich habe nicht mehr die Kraft dazu.«

Und seit diesem Tage duldete er sie um sich; er erlaubte ihr, ihn zu bedienen. Aber er hatte immer noch seine Launen. So wollte er nicht, daß sie hereinkam, wenn er im Bette lag, von einer krankhaften Scham ergriffen; und er zwang sie, ihm die alte Martine zu schicken. Uebrigens blieb er selten im Bette liegen; er schleppte sich von Stuhl zu Stuhl in seiner Unfähigkeit, irgend etwas zu arbeiten. Das Uebel hatte sich noch verschlimmert; er war dadurch zu einer vollständigen Verzweiflung gekommen, er wurde von Migräneanfällen und Magenkrämpfen geplagt, ohne die Kraft zu besitzen, wie er sagte, einen Fuß vor den andern zu setzen, und war jeden Morgen fest überzeugt, daß er sich am Abend in Les Tulettes ins Bett legen würde als Wahnsinniger. Er magerte ab, er hatte ein schmerzverzogenes Gesicht von tragischer Schönheit unter der Flut seiner weißen Haare, die er in einem letzten Anflug von Koketterie sorgfältig zu kämmen fortfuhr. Und wenn er es jetzt auch duldete, daß man sich mit ihm beschäftigte, so wies er doch jede Medizin heftig zurück infolge der Bedenken, die ihm in Betreff der Medizin gekommen waren.

Clotilde kannte damals keine andere Beschäftigung als nur mit ihm. Sie machte sich von allem übrigen frei; anfangs war sie noch in die stille Messe gegangen, dann aber hatte sie es ganz aufgegeben, die Kirche zu besuchen. In ihrer ungeduldigen Erwartung einer Gewißheit und des Glückes fing sie an, sich mit dieser Verwendung all ihrer Zeit zufrieden zu geben, mit der Pflege eines teuren Wesens, das sie gern wieder froh und heiter gesehen hätte. Es war eine vollständige Hingabe ihrer Person, ein gänzliches Vergessen ihrer selbst, das zwingende Verlangen, ihr Glück durch das Glück eines andern zu machen, und zwar unbewußt, nur unter dem Drange ihres Frauenherzens, inmitten jener Krisis, die sie durchmachte und durch die sie von Grund aus umgewandelt wurde, ohne daß sie darüber nachdachte. Sie schwieg gänzlich über den Streit, der sie entzweit hatte, sie kam noch nicht auf den Gedanken, sich ihm an den Hals zu werfen und ihm zuzurufen, daß sie ihm gehöre, daß er wieder aufleben könne, da sie sich ihm ergäbe. In ihren Gedanken war sie nur eine zärtliche Tochter die ihn pflegte, wie ihn auch eine andere Verwandte gepflegt haben wurde. Und das war sehr rein sehr keusch, das war eine zarte Sorgfalt, eine fortwährende Mühewaltung, eine solche Aufopferung ihres Lebens, daß die Tage jetzt rasch vergingen, daß sie ganz frei waren von der Qual um das Jenseits und ganz erfüllt von dem alleinigen Wunsch, ihn wieder gesund zu machen.

Einen harten Kampf aber hatte sie noch zu bestehen, ehe sie ihn dazu bestimmen konnte, sich Einspritzungen zu machen. Er geriet in heftige Erregung, verwünschte seine Erfindung und nannte sich einen Schwachkopf. Sie wurde auch ganz aufgeregt. Jetzt war sie es, die Glauben an die Wissenschaft hatte, die sich empörte, wie sie sah, daß er an seinem Genie zweifelte. Lange Zeit widerstand er, dann gab er der Herrschaft, die sie über ihn ausübte, in seinem geschwächten Zustande nach, da er einfach dem kleinen Streite aus dem Wege gehen wollte, den sie an jedem Morgen mit ihm suchte. Seit den ersten Einspritzungen verspürte er eine große Erleichterung, obwohl er es durchaus nicht eingestehen wollte. Der Kopf wurde frei, die Kräfte kehrten nach und nach zurück Auch sie triumphirte, erfüllt für ihn von lebhaftem Stolze und überschwenglicher Freude über seine Heilmethode, zugleich aber auch empört darüber, daß er nicht sich selbst bewunderte als ein Beispiel der Wunder, die er vollbringen konnte. Er lächelte, er fing jetzt an, in seinen Zustand genau hineinzusehen. Ramond hatte die Wahrheit gesagt, es konnte damals nichts anderes als nur eine starke Erschütterung seiner Nerven gewesen sein. Vielleicht würde er sich ebenso gut wieder erholen.

»Ja, Du bist es, die mich geheilt hat, mein liebes Kind,« sagte er, ohne seine Hoffnung eingestehen zu wollen. »Bei den Heilmitteln, siehst Du, da kommt es nur auf die Hand an, die sie uns reicht.«

Die Besserung hielt an und dauerte den ganzen Monat Februar hindurch. Das Wetter blieb hell und kalt; nicht einen einzigen Tag unterließ es die Sonne, den Saal durch die Flut ihrer bleichen Strahlen zu erwärmen. Und dennoch gab es Rückfälle in seine düstere Traurigkeit, Stunden, in denen der Kranke wieder seinen Schreckbildern anheimfiel; dann mußte sich seine trostlose Pflegerin an dem andern Ende des Zimmers ruhig niedersetzen, um ihn nicht noch mehr aufzuregen. Von neuem zweifelte er an seiner Heilung. Er wurde bitter, und seine beißende Ironie zeigte sich bei jeder Gelegenheit.

Es war an einem der schlechten Tage, als Pascal, der an ein Fenster herangetreten war, seinen Nachbar, Herrn Bellombre, bemerkte, den pensionirten Professor, wie er gerade dabei war, die Runde bei seinen Bäumen zu machen, um nachzusehen, ob sie viel Blütenknospen angesetzt hätten. Der Anblick dieses sorgfältig und peinlich gekleideten Greises mit der schönen Ruhe des Egoismus, auf den das Kranksein niemals von Einfluß gewesen zu sein schien, brachte ihn plötzlich wieder ganz außer sich.

»Ah!« rief er in grollendem Tone, »das ist auch einer, der sich niemals überanstrengen wird, der niemals seine Haut zu Markte tragen wird, um sich Kummer zu bereiten.«

Und daran anknüpfend, begann er ein ironisches Loblied des Egoismus zu singen. Ganz allein auf der Welt zu sein, nicht einen einzigen Freund zu haben, nicht Weib, nicht Kind, welch eine Glückseligkeit! Dieser hartherzige Geizhals, der seit vierzig Jahren nichts weiter gethan hatte, als die Kinder anderer Leute zu beohrfeigen, der sich ins Privatleben zurückgezogen hatte und nun ganz allein für sich lebte, der nicht einmal einen Hund bei sich hatte, sondern nur mit einem tauben und stummen Gärtner, der noch älter als er war, zusammen hauste, repräsentirte der nicht die größte Summe des möglichen Glückes auf Erden? Kein Amt, keine Pflicht, keine andere Beschäftigung außer der Pflege seiner teuren Gesundheit! Das war ein Weiser, der würde hundert Jahre leben!

»Ah, die Furcht vor dem Leben! Entschieden, es gibt leine größere Feigheit ... Und ich muß sagen, daß ich zuweilen sogar ein aufrichtiges Bedauern darüber empfinde, daß ich keine Kinder habe! Aber hat man das Recht, Unglückliche in die Welt zu setzen? Man muß die schlimme Vererbung töten, das Leben töten ... Wirklich der einzige ehrbare Mensch, das ist dieser feige Alte dort!«

Herr Bellombre fuhr indessen ruhig fort, in der Märzsonne die Runde bei seinen Birnbäumen zu machen. Er wagte keine allzu lebhafte Bewegung, er ging sehr haushälterisch mit seinem frischen Greisenalter um. Wenn er auf dem Wege einen Stein fand, entfernte er ihn mit der Spitze seines Spazierstockes. Dann setzte er seinen Spaziergang ohne Uebereilung fort.

»Sieh ihn Dir nur an! Hat er sich nicht gut konservirt? Ist er nicht schon? Vereinigt er nicht in seiner Person alle Segnungen des Himmels? Ich kenne keinen glücklicheren Menschen!«

Clotilde, die beharrlich schwieg, litt schwer unter dieser Ironie Pascals, die, wie sie richtig ahnte, ihm selbst Schmerz verursachte. Obgleich sie wie gewöhnlich Herrn Bellombre verteidigte, fühlte sie doch, wie in ihrer Seele der Widerspruch gegen ihre Worte sich erhob. Thränen traten ihr in die Augen, und sie antwortete einfach mit leiser Stimme:

»Ja, aber er wird nicht geliebt.«

Diese Antwort machte mit einem Schlage der peinlichen Scene ein Ende. Pascal wendete sich, als ob er einen Schlag erhalten hätte, rasch um und sah sie an. Eine plötzliche Rührung ließ auch seine Augen feucht werden, und er entfernte sich schnell, um nicht zu weinen.

Mancher Tag ging noch dahin in diesem Wechsel guter und schlechter Stunden. Die Kräfte kehrten nur sehr langsam zurück, und es brachte ihn ganz in Verzweiflung, daß er seine Arbeiten nicht vornehmen konnte, ohne daß sich bei ihm eine unnatürliche Transpiration einstellte. Wenn er diesem Symptom hartnäckig Trotz geboten hätte, so wäre er sicherlich ohnmächtig geworden. So lange er nicht arbeiten würde, so lange würde auch, das fühlte er, seine Besserung anhalten. Indessen fing er von neuem an, sich für seine gewohnten Arbeiten zu interessiren; er las die letzten Seiten, die er geschrieben hatte, wieder durch, und mit diesem Wiedererwachen des Gelehrten in ihm stellten sich auch bei ihm die Beunruhigungen von früher wieder ein. Einen Augenblick hatte sich eine solche Niedergeschlagenheit seiner bemächtigt, daß ihm das ganze Haus wie verschwunden war; man hätte ihn berauben können, man hätte alles nehmen, alles zerstören können, er wäre sich nicht einmal des Unglücks bewußt geworden. Jetzt legte er sich wieder auf die Lauer, jetzt befühlte er wieder seine Tasche, um sich zu vergewissern, daß sich auch der Schlüssel des großen Schrankes darin befand.

Eines Morgens aber, als er sich verschlafen hatte und erst gegen elf Uhr aus seinem Zimmer kam, traf er Clotilde im Saale an, still beschäftigt mit der Vollendung eines Pastellgemäldes, das sehr naturgetreu den blühenden Zweig eines Mandelbaums darstellte. Sie hob lächelnd ihren Kopf; dann nahm sie einen Schlüssel, der neben ihr auf ihrem Pulte lag, und wollte ihn Pascal geben.

»Hier, Meister!«

Erstaunt und ohne zu ahnen, was es war, betrachtete er den Gegenstand genau, den sie ihm hinreichte.

»Was ist es denn?«

»Es ist der Schlüssel zu Deinem großen Aktenschrank, den Du gestern mußt aus Deiner Tasche haben fallen lassen; ich habe ihn heute morgen hier aufgehoben.«

Darauf nahm ihn Pascal in heftiger Aufregung ihr aus der Hand. Er sah den Schlüssel an, er sah das junge Mädchen an. Es war also jetzt zu Ende? Sie verfolgte ihn nun nicht mehr, sie wollte also nicht mehr alles rauben, alles verbrennen? Und wie er sie immer noch lächeln sah, wie er sah, daß auch sie sehr bewegt war, da fühlte er in seinem Herzen eine unendliche Freude darüber.

Er nahm sie und schloß sie in seine Arme.

»O, Kind, Kind! Wir können nicht zu unglücklich sein!«

Seitdem fand er seine Kräfte wieder, die Besserung schritt rascher vorwärts. Rückfälle waren zwar immer noch möglich, denn er blieb sehr angegriffen. Aber er konnte doch schreiben, und die Tage gingen nicht mehr so träge dahin. Die Sonne schien jetzt ebenfalls freundlicher, und die Hitze wurde schon so groß, daß man in dem Saale die Läden zuweilen halb schließen mußte. Besuche zu empfangen, weigerte er sich noch entschieden, kaum die alte Martine duldete er um sich. Seiner Mutter ließ er sagen, daß er schliefe, wenn sie hier und da kam, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Und er war nur in dieser köstlichen Einsamkeit zufrieden, gepflegt von dieser Rebellin, der Feindin von gestern, der ergebenen Schülerin von heute. Oft herrschte lange Zeit tiefes Schweigen zwischen ihnen, ohne daß sie sich bedrückt fühlten; sie dachten dann nach, sie schwebten dann in unendlich süßen Träumen.

Dennoch erschien Pascal eines Tages in sehr ernster Stimmung. Er hatte jetzt die feste Ueberzeugung, daß die Ursache seines Leidens nur eine zufällige war, und daß die Frage der Vererbung dabei gar keine Rolle spielte. Das erfüllte ihn aber keineswegs mit mehr Demut.

»Mein Gott!« murmelte er leise vor sich hin. »Was sind wir doch für ein Nichts! Was bin ich, der ich mich für so kräftig hielt, der ich so stolz auf meinen gesunden Verstand war! Und dabei hätte mich beinahe etwas Kummer und etwas Anstrengung verrückt gemacht!«

Er schwieg und dachte weiter nach. Seine Augen erglänzten; er hatte sich endlich ganz selbst überwunden. Dann entschloß er sich, in einem Augenblicke der Klugheit und des Mutes zu sprechen.

»Wenn es mir wieder besser geht, so macht es mir besonders Deinetwegen Vergnügen.«

Clotilde hob, da sie ihn nicht verstand, fragend ihren Kopf empor.

»Wieso?«

»Nun, da ist doch gar kein Zweifel möglich, natürlich wegen Deiner Heirat ... Wir können jetzt das Datum festsetzen.«

Sie war überrascht.

»Ah, es ist wahr! Meine Heirat!«

»Ist es Dir recht, wenn wir die zweite Woche im Juni wählen?«

»Ja, die zweite Juniwoche, das wird sehr gut passen.«

Sie sprachen nicht weiter miteinander; sie hatte die Augen wieder auf die Näharbeit gesenkt, mit der sie gerade beschäftigt war, während er, die Blicke in die Ferne gerichtet, mit ernstem Gesichte regungslos dasaß.


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