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Zweites Kapitel.

Am folgenden Morgen erwachte Clotilde gegen sechs Uhr. Sie war zu Bett gegangen in Unfrieden mit Pascal, sie schmollten mit einander. Und ihr erstes Empfinden war ein gewisses Unbehagen, ein dumpfer Schmerz, das entschiedene Bedürfnis, Frieden zu schließen, um nicht die drückende Last auf ihrem Herzen zu behalten, die sie dort vorfand.

Aus dem Bett springend, machte sie sich rasch daran, die Läden der beiden Fenster zu öffnen. Die schon hochstehende Sonne schien herein und durchschnitt das Zimmer in zwei Goldstreifen. In dieses kleine, lauschige Gemach, das ganz durchdrungen war von einem angenehmen Dufte der Jugend, brachte der klare Morgen etwas von dem frischen Hauche des Frohsinns. An das Bett wieder zurückgekehrt, hatte sich das junge Mädchen auf den Rand desselben niedergelassen und blieb dort einen Augenblick in Nachdenken versunken sitzen; sie war nur mit ihrem eng anschließenden Hemd bekleidet, was sie mager erscheinen ließ mit ihren dünnen, langen Beinen, ihrem schlanken, kräftigen Körper, ihrer vollen Brust, ihrem runden Halse, ihren runden und biegsamen Armen; ihr Nacken und ihre wundervollen Schultern waren weiß wie Milch, glatt wie Seide und von einer unendlichen Zartheit. Lange Zeit, in dem ungünstigen Alter von zehn bis achtzehn Jahren, schien sie zu groß zu sein; sie hatte einen schlotterigen Gang und kletterte auf die Bäume wie ein Junge. Dann aber hatte sie sich aus einem wilden Gassenbuben ohne Geschlecht zu diesem schönen Wesen voller Anmut und Liebreiz entwickelt.

Mit leeren Blicken fuhr sie fort, die Wände des Zimmers zu betrachten. Obgleich die Souleiade erst aus dem vorigen Jahrhundert stammte, so war man doch schon unter dem ersten Kaiserreich genötigt gewesen, sie wieder neu auszustatten, denn es befand sich dort noch als Tapete ein altertümlicher, gedruckter Kattun, auf dem Sphinxstatuen in Rosetten von Eichenholzkronen dargestellt waren. Einst von einem lebhaften Rot, war dieser Kattun im Laufe der Zeit rosa geworden, ein unbestimmtes Rosa, das sich dem Orangefarbenen näherte. An den beiden Fenstern und an dem Bett waren Vorhänge vorhanden, aber man hatte sie reinigen müssen und dadurch waren sie ganz verblichen. Was das mit demselben Stoff überzogene Bett anbetraf, so war es so verfallen, daß man es durch ein anderes hatte ersehen müssen, das man aus einem anstoßenden Zimmer nahm, ein Bett nach der unter dem ersten Kaiserreich herrschenden Mode, niedrig und sehr breit, aus massivem Mahagoniholz mit einer kupfernen Einfassung, deren vier Ecksäulen ebenfalls Sphinxstatuen trugen, die denen der Tapete gleich waren. Das übrige Mobiliar war zusammengetragen, ein Kasten mit massiven Thüren und mit Säulen, eine Kommode aus weißem Marmor mit einer rings herumlaufenden Galerie, ein hoher, monumentaler Stehspiegel, ein Ruhebett mit steifen Füßen, Stühle mit geraden, lyraförmigen Rückenlehnen. Ein Fußdeckbett, aus einem alten seidenen Frauenrock aus der Zeit Ludwigs XV. gemacht, gab dem gewaltigen Bett, das die Mitte der Wand gegenüber den Fenstern einnahm, ein freundlicheres Aussehen; ein ganzer Haufen von Kissen machte das harte Ruhebett weich; außerdem waren noch zwei Etagèren und ein Tisch vorhanden, die alle in gleicher Weise mit alten, blumengestickten Seidendecken belegt waren, die man in einem Wandschranke vorgefunden hatte.

Clotilde zog endlich ihre Strümpfe an, hüllte sich in ein Morgenkleid von weißem Piqué und eilte, nachdem sie mit den Fußspitzen in ihre Hausschuhe von grauer Leinwand gefahren war, in ihr Toilettenkabinet, das nach der hinteren Seite des Hauses hinausging. Sie hatte es ganz einfach mit feinem, blaugestreiftem Roh-Barchentstoffe tapeziren lassen, und es befanden sich darin nur Möbel von polirtem Tannenholz, der Toilettetisch, zwei Schränke und Stühle. Dennoch merkte man an allem die feine und natürliche Koketterie der Frau. Diese war bei ihr zu gleicher Zeit wie die Schönheit zum Vorschein gekommen. Obgleich sie sich noch zuweilen als ein wildes, starrköpfiges Mädchen zeigte, war sie doch fügsam und sanft geworden und liebte es vor allem, geliebt zu werden. Die Wahrheit war, daß man sie in voller Ungebundenheit hatte aufwachsen lassen, daß sie nichts anderes als schreiben und lesen gelernt hatte, daß sie sich dann selbst eine oberflächliche Bildung angeeignet hatte, indem sie ihrem Onkel half. Aber es bestand zwischen ihnen keinerlei fester Plan; er hatte aus ihr kein Wunderding machen wollen, sie hatte sich nur für die Naturgeschichte begeistert, welche ihr alles von dem Manne und dem Weibe enthüllt hatte. Aber sie hatte trotz ihrer unbewußten und reinen Sehnsucht nach der Liebe sich dabei ihre jungfräuliche Reinheit bewahrt wie eine Frucht, die keine Hand je berührte, ohne Zweifel dank jenem tiefen Gefühl der Frau, welches sie das Geschenk ihres ganzen Wesens bewahren lehrt, ihr gänzliches Aufgehen in dem Manne, den sie lieben wird.

Sie steckte ihre Haare auf und wusch sich mit viel Wasser; dann öffnete sie, da sie ihre Ungeduld nicht länger bezähmen konnte, leise die Thüre ihres Zimmers und wagte es, auf den Zehenspitzen geräuschlos den großen Arbeitssaal zu durchschreiten. Die Läden waren zwar noch geschlossen, aber sie sah darin doch noch deutlich genug, daß sie sich nicht an den Möbeln stieß. Als sie das andere Ende erreicht hatte vor der Zimmerthür des Doktors, beugte sie sich vor, ihren Atem anhaltend. War er schon aufgestanden? Was konnte er thun? Sie hörte ihn deutlich mit kurzen Schritten hin und her gehen. Ohne Zweifel kleidete er sich an. Niemals hatte sie dieses Zimmer betreten, wo er gewisse Arbeiten zu verbergen pflegte und welches verschlossen blieb wie ein Heiligtum. Eine Angst hatte sie ergriffen, nämlich die, von ihm hier gefunden zu werden, wenn er die Thüre öffnete; und das verursachte ihr große Unruhe, ihr Stolz empörte sich dagegen und es rief zugleich in ihr den Wunsch hervor, ihren Gehorsam zu zeigen. Ein fieberhaftes Schütteln durchlief sie, was sie bisher noch nicht gekannt hatte. Einen Augenblick war das Verlangen, sich mit ihm auszusöhnen, so stark, daß sie im Begriffe stand, zu klopfen. Dann, als das Geräusch der Schritte sich näherte, lief sie wie toll davon.

Bis um acht Uhr befand sich Clotilde in wachsender Aufregung. Jede Minute blickte sie nach der Uhr, die aus dem Kamin ihres Zimmers stand. Es war eine Uhr im Empirestil von vergoldeter Bronze mit einem Stein, an welchen gelehnt der lächelnde Amor die eingeschlafene Zeit betrachtete. Es war von jeher Sitte, daß sie um acht Uhr hinunter ging, um im Eßzimmer mit dem Doktor zusammen das erste Frühstück einzunehmen. Während sie noch wartete, machte sie mit peinlicher Sorgfalt Toilette, sie frisirte sich, zog ihre Stiefel an, schlüpfte in ein Kleid von weißer Leinwand mit roten Punkten. Dann erfüllte sie, da sie noch eine Viertelstunde Zeit hatte, einen alten Wunsch, sie setzte sich hin und nähte eine kleine Spitze, die Nachahmung einer Spitze von Chantilly, auf eine Arbeitsbluse, jene schwarze Bluse, die doch, wie sie schließlich gefunden hatte, zu wenig für eine Frau passend war. Als es aber acht Uhr schlug, legte sie die Arbeit beiseite und ging rasch hinunter.

»Sie werden allein frühstücken,« sagte Martine gelassen im Eßzimmer.

»Wieso?«

»Ja, der Herr Doktor hat mich gerufen, und ich habe ihm sein Ei durch die kleine Oeffnung in seiner Thüre hineingeschoben. Der ist noch bei seinem Mörser und bei seinem Filter. Wir werden ihn nicht vor Mittag zu sehen bekommen.«

Clotilde war sehr bestürzt und ihre Wangen bleich. Sie trank ihre Milch stehend, nahm ein kleines Brot mit und folgte der alten Haushälterin in die Küche. In dem Erdgeschoß befand sich außer dem Eßzimmer und der Küche nur noch ein öder Saal, wo man den Vorrat nn Kartoffeln aufbewahrte. Früher, als der Doktor noch Patienten bei sich empfing, hielt er dort seine Konsultationen ab; aber seit Jahren hatte man den Schreibtisch und den Fauteuil in sein Zimmer hinaufgeschafft. Es war außerdem noch ein anderes kleines Gelaß vorhanden, das seinen Ausgang in die Küche hatte: die ungemein saubere Kammer der alten Martine, mit einem Waschtisch, und ihrem einfachen, von weißen Vorhängen umrahmten jungfräulichen Bett.

»Du glaubst also, daß er sich wieder daran gemacht hat, sein Elixir zu fabriziren?« fragte Clotilde.

»Es kann nichts anderes sein als das. Sie wissen ja, daß er das Essen und Trinken vergißt, wenn ihn das packt.«

Daraus machte sich der ganze Kummer des jungen Mädchens in dem tiefen Seufzer Lust:

»O mein Gott! Mein Gott!«

Und während Martine daran ging, ihr Zimmer zu ordnen, nahm sie einen Sonnenschirm von dem Kleiderhaken und begab sich ganz verzweifelt in den Garten, um ihr Brot zu essen, da sie nicht wußte, wie sie bis Mittag die Zeit hinbringen sollte.

Es waren beinahe schon siebenzehn Jahre vergangen, seitdem der Doktor, entschlossen, sein kleines Haus in der Stadt zu verlassen, die Souleiade für circa zwanzigtausend Franken gekauft hatte. Sein Wunsch war, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen und zugleich auch der kleinen Tochter seines Bruders Saccard, die ihm dieser gerade damals von Paris geschickt hatte, mehr Freiheit und Vergnügen zu verschaffen. Diese Souleiade, vor den Thoren der Stadt auf einem Plateau gelegen, das die Ebene beherrschte, war eine alte, umfangreiche Besitzung, deren weite Ländereien jedoch auf weniger als zwei Hektare durch vorteilhafte Verkäufe zusammengeschmolzen waren, abgesehen davon, daß die Eisenbahn die letzten pflügbaren Aecker in Besitz genommen hatte. Das Haus selbst war zur Hälfte durch eine Feuersbrunst zerstört worden; nur einer der beiden Teile des Hauptgebäudes war übrig geblieben, ein Flügel in Quadratform – mit vier Ecken, wie man in der Provence sagt – der fünf Fenster Front und ein rotes Ziegeldach hatte. Und der Doktor, der die ganze Einrichtung miterworben, hatte sich damit begnügt, die Umfassungsmauern ausbessern und vervollständigen zu lassen, damit er ganz ruhig und ungestört blieb.

Im allgemeinen liebte Clotilde diese Einsamkeit leidenschaftlich, dieses kleine Königreich, das sie in zehn Minuten umkreisen konnte und das dennoch ganz das Gepräge seiner ehemaligen Größe bewahrte. Aber heute morgen trug sie einen dumpfen Groll in sich. Einen Augenblick trat sie aus die Terrasse, an deren beiden Enden hundertjährige Cypressen standen, die, zwei riesigen dunklen Kerzen gleich, drei Meilen weit zu sehen waren. Dann zog sich der Abhang bis an die Eisenbahn hinunter, ohne Mörtel aufgeführte Mauern suchten die rote Erde, wo die letzten Weinstöcke eingegangen waren, und auf dieser Art von Riesenstaffeln traf man nur noch dünne Reihen von Oliven- und Mandelbäumen mit armseligem Blätterschmuck. Die Hitze war schon erschlaffend, Clotilde betrachtete kleine Eidechsen, die über die zerbrochenen Steinplatten unter die haarigen Büschel der Kapernsträucher flüchteten.

Dann durchschritt sie, gleich als ob der weite Horizont sie beunruhigte, rasch den Obst- und den Gemüsegarten, den Martine trotz ihres Alters ganz allein zu pflegen sich in den Kopf gesetzt hatte. Nur zweimal in der Woche ließ sie einen Mann zu den gröberen und schwereren Arbeiten kommen Dann stieg sie zur Rechten in eine kleine Fichtenwaldung hinauf, den armseligen Rest der stolzen Wälder, die einst das ganze Plateau bedeckt hatten. Aber auch hier befand sie sich nicht wohl; die trockenen Nadeln krachten unter ihren Füßen, von den Zweigen aus verbreitete sich ein erstickender Harzgeruch. Und sie ging an der Umfassungsmauer entlang, eilte vor der Eingangspforte vorüber, die sich auf die Straße von Fenouillères öffnet, in einer Entfernung von dreihundert Meter von den ersten Häusern von Plassans, und kam endlich auf einen großen, freien Platz von zwanzig Meter im Umkreise, der allein schon genügt hätte, die ehemalige Bedeutung der Besitzung zu beweisen. Ah, dieser alte freie Platz, auf dem früher das Getreide gedroschen wurde, gepflastert mit runden Kiefern wie zur Zeit der Römer, diese weite Esplanade, die ein kurzes, dürres Gras, welches einem Gespinnste von Gold glich, wie mit einem Teppich von langer Wolle zu bedecken schien! Welch herrliche Zeiten hatte sie hier erlebt, wo sie einst herumgesprungen war, sich im Grase herumgewälzt und stundenlang auf dem Rücken ausgestreckt dagelegen hatte, wenn die Sterne am unermeßlichen Himmelszelte erschienen!

Sie hatte ihren Sonnenschirm wieder aufgespannt und ging mit verlangsamtem Schritt über den großen Platz. Jetzt befand sie sich auf der linken Seite der Terrasse, sie hatte den Umgang um die Besitzung beendet. Sie ging hinter das Haus unter die Gruppe riesiger Platanen, die auf dieser Seite einen tiefen Schatten warfen. Das war die Front, in der sich die beiden Fenster des Zimmers befanden, das der Doktor bewohnte. Sie hob die Augen, denn sie war nur hierher gekommen in der in ihr plötzlich anstauchenden Hoffnung, ihn endlich zu sehen Aber die Fenster waren geschlossen, und sie fühlte sich dadurch verletzt wie durch eine Härte von seiner Seite. Allein da bemerkte sie plötzlich, daß sie immer noch ihr kleines Brot in der Hand hielt, das sie zu verzehren vergessen hatte. Sie zog sich unter die Baume zurück und biß ungeduldig hinein mit ihren schönen Zähnen der Jugend.

Das war ein köstlicher Ruheplatz, dieses alte Fünfeck von Platanen, noch ein Ueberbleibsel der verschwundenen Herrlichkeit der Souleiade. Unter diesen Riesen mit den gewaltigen Stämmen wurde es kaum hell; immer herrschte eine grüne Dämmerung und eine erquickende Kühle während der glühendheißen Sommertage. Einstmals war dort ein französischer Garten angelegt, von dem nichts mehr übrig geblieben war als die Wegeinfassung von Buchsbaum, der sich ohne Zweifel an den Schatten gewöhnt hatte, denn er war kräftig aufgewachsen wie sonstiges Gesträuch. Und das Reizendste an diesem schattigen Winkel war eine Fontäne, eine einfache Röhre von Blei, eingekittet in einen Säulenschaft, aus der fortwährend, selbst während der größten Trockenheit, ein Wasserstrahl von der Dicke eines Fingers floß, der in einiger Entfernung ein großes bemoostes Bassin speiste, dessen grünschimmelige Steine man nur alle drei bis vier Jahre reinigte. Wenn alle Brunnen der Nachbarschaft versagten, so behielt die Souleiade ihre Quelle, von der die großen Platanen sicherlich die hundertjährigen Töchter waren. Tag und Nacht schon seit Jahrhunderten sang dieser dünn, gleichmäßig und ununterbrochen fließende Wasserfaden das gleiche reine Lied in dem Zittern seines kristallenen Strahls.

Nachdem Clotilde eine Zeit lang zwischen den Buchsbaumsträuchern, die ihr bis an die Schulter gingen, herumgeirrt war, holte sie sich aus dem Hause eine Stickerei, kehrte damit zurück und ließ sich dann an einem steinernen Tische an der Seite der Fontäne nieder. Man hatte hier einige Gartenstühle hingestellt und trank an dem Tische den Kaffee. Sie gab sich jetzt den Anschein, als ob sie den Kopf nicht wieder in die Höhe heben würde und ganz in ihre Arbeit vertieft wäre. Zuweilen nur schien sie einen Blick zwischen den Baumstämmen hindurch nach der in der Sonnenhitze zitternden Ferne, nach dem wie eine Feuersglut blendenden freien Platze zu werfen, auf den die Sonne niederbrannte. In Wirklichkeit aber ging ihr Blick hinter den langen Augenwimpern nach einer andern Richtung und stieg bis zu den Fenstern des Doktors empor. Nichts zeigte sich dort, nicht ein Schatten. Und eine Traurigkeit, ein Groll bemächtigte sich ihrer, jenes trostlose Gefühl der gänzlichen Nichtachtung, welchem er sie überließ, jener Geringschätzung, mit der er sie zu betrachten schien nach ihrem Streite vom vorhergehenden Abend. Sie, die doch mit dem sehnlichen Wunsche aufgestanden war, sofort Frieden zu schließen! Ihm dagegen war es durchaus nicht eilig damit, er liebte sie also nicht. da er im Unfrieden mit ihr leben konnte. Nach und nach wurde sie ganz trübsinnig, sie kam zurück auf den Gegenstand des Streites und beschloß von neuem, in gar keinem Punkte nachzugeben.

Gegen elf Uhr kam Martine, bevor sie das Frühstück ans Feuer setzte, zu ihr heraus, um einen Augenblick mit ihr zu plaudern, den ewigen Strickstrumpf in der Hand, an welchem sie selbst im Gehen arbeitete, wenn die häusliche Arbeit sie nicht in Anspruch nahm.

»Wissen Sie, daß er immer noch dort oben eingeschlossen ist, um sein komisches Zeug zu fabriziren?«

Clotilde zuckte mit den Achseln, ohne ihre Augen von der Stickerei zu erheben.

»Und dann, Fräulein, wenn Sie nur wüßten, was man sich erzählt! Frau Felicité hatte ganz recht, als sie gestern sagte, daß er darin etwas zum Erröten hätte. Man hat mir ins Gesicht geschleudert, mir, die ich hier mit Ihnen spreche, daß er den alten Boutin getötet habe, Sie wissen, jenen armen Alten, der einen so schlimmen Sturz gethan und daran gestorben war.«

Eine Zeit lang blieb alles still. Dann, als das junge Mädchen noch immer in stummes Nachdenken versunken blieb, begann die Magd wieder, während sie ihre Finger in rasche Bewegung setzte:

»Ich, ich höre garnicht darauf, aber das bringt mich in Wut, was er fabrizirt ... Und Sie, Fräulein, billigen Sie denn seine Kocherei dort oben?«

Unwillig hob Clotilde ihren Kopf, der heftigen Erregung nachgebend, die sie ergriffen hatte.

»Höre, ich will ebenso wenig etwas davon wissen wie Du. Aber ich glaube, daß er schwere Sorgen mit sich herum trägt. Er liebt uns nicht.«

»O doch, Fräulein, er liebt uns!«

»Nein, nein! Nicht so, wie wir ihn lieben! Wenn er uns wirklich liebte, so würde er hier bei uns sein, anstatt dort oben seine Seele, sein Glück und das unsrige zu zerstören, in dem Verlangen, die ganze Welt zu retten!«

Und die beiden Frauen sahen sich in ihrem eifersüchtigen Zorn mit von Zärtlichkeit strahlenden Augen einen Moment an. Dann machten sie sich wieder an ihre Arbeit, und kein Wort wurde mehr gesprochen in dem Schatten der alten Platanen.

Oben in seinem Zimmer arbeitete Doktor Pascal mit voller, ungetrübter Freudigkeit. Er hatte die Medizin nur zwölf Jahre lang praktisch ausgeübt seit seiner Rückkehr aus Paris bis zu dem Tage, an welchem er sich auf die Souleiade zurückgezogen hatte. Zufrieden mit den hundert und einigen tausend Franken, die er gewonnen und klug angelegt hatte, widmete er sich jetzt fast ausschließlich seinen Lieblingsstudien und behandelte nur noch einige Freunde; er schlug es aber niemals ab, an dem Bette eines Kranken zu erscheinen, schickte jedoch nie seine Rechnung. Wenn man ihn bezahlte, so warf er das Geld in eine Schublade seines Sekretärs. Er betrachtete dieses Geld als Taschengeld für seine Experimente und Liebhabereien, ohne es zu seinen Renten zu zählen, deren Höhe ihm genügte. Er machte sich lustig über den üblen Ruf eines Sonderlings, den ihm seine Lebensweise verschafft hatte; er war glücklich inmitten der Versuche, die er über die ihn besonders interessirenden Gegenstände anstellte. Es war für viele eine Ueberraschung, zu sehen, daß dieser Gelehrte mit seinen genialen Eigenschaften, die nur durch eine allzu lebhafte Einbildungskraft etwas beeinträchtigt wurden, in Plassans geblieben war, dieser kleinen, weltvergessenen Stadt, wo ihm doch alles für seine Studien Erforderliche fehlen mußte. Aber er wußte sehr einleuchtend alle die Annehmlichkeiten auseinanderzusetzen, die er dort entdeckt hatte; zunächst hatte ihm die große Ruhe und Einsamkeit gefallen, dann war es ein Ort, wo er nicht immerfort Störung durch Besuche zu befürchten hatte, und schließlich konnte er in Hinsicht auf sein Lieblingsstudium, die Lehre von der Vererbung, in dieser kleinen Stadt, wo er jede Familie kannte, alle wunderbaren Erscheinungen, die tief verborgen gehalten wurden, bei zwei bis drei Generationen rückwärts verfolgen. Andererseits befand er sich hier in der Nähe des Meeres. Er war fast jeden Sommer dorthin gegangen, um das Leben in dem weiten Meere zu studiren, in dem unendlichen Gewimmel, wo es geboren wird und sich fortpflanzt. Und es gab endlich im Hospital von Plassans einen Sezirungssaal, welchen er fast ganz allein benützte, ein großer, ruhiger und heller Saal, in welchem seit mehr als zwanzig Jahren alle nicht reklamirten Leichname unter sein Sezirmesser gekommen waren. Sehr bescheiden außerdem und von einer lange Zeit argwöhnischen Furchtsamkeit hatte es ihm genügt, mit seinen alten Professoren und neuen Freunden im Briefwechsel zu bleiben, dessen Gegenstand die sehr bemerkenswerten Abhandlungen waren, die er zuweilen der Akademie der Medizin schickte. Herausfordernder Ehrgeiz war ihm vollständig fremd.

Das, was den Doktor Pascal dazu gebracht hatte, sich speziell mit den Gesetzen der Vererbung zu beschäftigen, waren anfangs Arbeiten über die Schwangerschaft. Wie immer hatte dabei der Zufall sein gutes Teil gethan, indem er ihm eine ganze Reihe von Leichnamen schwangerer Frauen verschaffte, die während einer Choleraepidemie gestorben waren. Später hatte er die verschiedenen Todesarten beobachtet, die Reihe vervollständigend und die Lücken ausfüllend, um dahin zu gelangen, die Bildung des Embryo, dann die Entwicklung des Fötus an jedem einzelnen Tage seines Lebens im Mutterleibe kennen zu lernen. So hatte er einen ganzen Katalog der genauesten und sichersten Beobachtungen aufgestellt. Seitdem hatte sich das Problem der Empfängnis in seinem verlockenden Geheimnis ihm dargeboten.

Warum und wie entstand ein neues Wesen? Welches waren die Gesetze des Lebens, jener Strom von Wesen, welche die Welt machten? Er hielt sich jedoch dabei nicht nur an Leichen, sondern er dehnte seine Untersuchungen auch auf die lebende Menschheit aus, betroffen durch verschiedene, oft wiederkehrende Vorfälle unter seinen Patienten; ja, er zog sogar seine eigene Familie zur Beobachtung heran, und sie war sein hauptsächlichstes Versuchsfeld geworden, so präzis und vollkommen boten sich in ihr die Fälle dar. Seitdem hatte er, als sich die Resultate häuften und in seinen Aufzeichnungen sich ordneten, versucht, eine allgemeine Theorie der Vererbung aufzustellen, welche im stande sein sollte, alle einzelnen Fälle genügend zu erklären.

Das war ein schweres Problem, an dessen Lösung er sich nun schon seit Jahren abmühte. Er war von dem Prinzipe der Ursprünglichkeit und dem Prinzipe der Nachahmung ausgegangen, worunter er einerseits die Vererbung oder Reproduktion der Wesen unter der Herrschaft des Aehnlichen und andererseits das Angeborensein oder die Reproduktion der Wesen unter der Herrschaft des Verschiedenen verstand. Was die Vererbung anbetraf, so hatte er nur vier Fälle zugelassen: Die direkte Vererbung, bei der die Eigenschaften des Vaters und der Mutter in der physischen und moralischen Natur des Kindes sich wieder zeigten; die indirekte Vererbung, bei der die Naturen der Seitenverwandten, der Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen von neuem zu Tage traten; die rückgreifende Vererbung, bei der die Eigenschaften von Vorfahren aus einer oder mehreren Generationen wieder zum Vorschein kamen, und endlich die Vererbung durch Beeinflussung, wobei die Eigenschaften ehemaliger Verwandter wieder erschienen, zum Beispiel des ersten Mannes, der die Frau wie für ihre zukünftige Empfängnis geschwängert hat, selbst wenn er nicht mehr die Veranlassung dazu gewesen ist. Was das Angeborensein anbetrifft, so war sie das Neue Wesen oder was als solches erscheint und bei dem die moralischen und physischen Eigenschaften der Eltern sich so vermischen, daß nichts von ihnen beiden in dem Kinde sich wiederzufinden scheint. Und dann hatte er, indem er von neuem auf die beiden Ausdrücke, die Vererbung und das Angeborenfein, zurückgriff, jeden davon wieder in Unterabteilungen geteilt, indem er bei der Vererbung zwei verschiedene Fülle annahm, die Wahl, das individuelle Uebergewicht des Vaters oder der Mutter bei dem Kinde, oder die Vermischung des einen mit dem anderen, eine Mischung, welche mit Vorliebe drei Formen annehmen konnte, entweder durch Verschmelzung oder durch Verteilung oder durch Zusammenfluß, indem er von dem am wenigst guten Zustand zu dem denkbar vollkommensten gelangte. Für das Angeborensein hatte er aber nur einen einzigen möglichen Fall, die Kombination, jene chemische Kombination, welche bewirkt, daß zwei Körper, in Verbindung gebracht, einen neuen Körper bilden können, der vollständig verschieden ist von den beiden Körpern, deren Produkt er ist. Dies war das Ergebnis einer beträchtlichen Menge von Beobachtungen nicht allein auf dem Gebiet der Anthropologie, sondern auch auf dem der Zoologie, der Pomologie und des Gartenbaues. Dann begann erst die eigentliche Schwierigkeit, als es sich darum handelte, von diesen zahlreich vorhandenen, durch die Analyse gewonnenen Thatsachen die Synthese zu finden, die Theorie daraus zu formuliren, die im stande war, alle einzelnen Fälle zu erklären. Damit befand er sich auf dem schlüpfrigen Gebiete der Hypothese, welches durch jede neue Entdeckung verändert wird. Und wenn er sich nicht enthalten konnte, eine Lösung zu geben, da der Geist des Menschen stets das Bedürfnis fühlt, Schlüsse zu ziehen, so besaß er doch Verstand genug, das Problem offen zu lassen. Er war daher von den Keimknöpfchen Darwins, von dessen Pangenesis zu der Perigenese von Häckel gekommen und hatte sich dazwischen auch mit den »Stirpes« von Gallon befaßt. Dann war er zu der Erkenntnis der Theorie gelangt, welche Weismann später zur vollen Geltung bringen sollte und darauf bei der Idee einer außerordentlich feinen und zusammengesetzten Substanz stehen geblieben, bei dem keimbildenden Plasma, von dem immer ein gewisser Teil in jedem neuen Wesen vorrätig bleibt, damit es so von Generation zu Generation übertragen werde und unveränderlich sich forterbe. Das schien alles zu erklären, aber welch unendliches Geheimnis war es doch noch immer, diese Welt der Ähnlichkeiten, welche die Spermatozoen und das Eichen umwandeln, wo das menschliche Auge absolut nichts mehr unterscheidet, selbst unter dem stärksten Mikroskop nicht! Und er war vollständig darauf gefaßt, daß sich seine Theorie eines Tages als hinfällig erweisen würde; er gab sich aber damit nur als mit einer gewissermaßen einstweiligen Erklärung zufrieden, die für den gegenwärtigen Stand der Frage genügte, bei der fortwährenden Beobachtung des Lebens, dessen Quelle selbst, das Entstehen, uns auf immer entschlüpfen zu sollen scheint.

Ah, diese Vererbung! Welcher Gegenstand unablässigen Denkens und Sinnens seinerseits! War es nicht etwas Unerhörtes, etwas Ungeheuerliches, daß die Ähnlichkeit der Eltern mit den Kindern nicht vollständig, nicht mathematisch genau war? Er hatte zunächst für seine Familie einen Stammbaum nach logischen Folgerungen zusammengestellt, wo er die Fälle der Beeinflussung von Generation zu Generation in zwei Teile schied, Beeinflussung durch den Vater und Beeinflussung durch die Mutter. Aber das wirkliche Leben strafte diese Theorie fast in jedem einzelnen Falle Lügen. Anstatt daß die Vererbung die Aehnlichkeit war, war sie nichts anderes als ein Streben nach Aehnlichkeit, welches durch die verschiedenen Verhältnisse vielfach durchkreuzt wurde. Und er war bis zu dem gegangen, was er die Hypothese von der Fehlgeburt der Zellen nannte. Das Leben ist nur eine Bewegung, und da die Vererbung die mitgeteilte Bewegung ist, so erdachte er sich, daß die Zellen bei ihrer Vermehrung sich stießen, drückten und vernichteten, indem eine jede die ererbte Kraft entfaltete, und zwar derart, daß, wenn während dieses Streites schwächere Zellen unterlagen, schließlich große Verwirrung, vollständig verschiedene Organe zum Vorschein kamen. Das Angeborensein, die fortwährende Erfindung der Natur, welche er bekämpfte, kam die nicht daher? Und war er selbst nicht so verschieden von seinen Eltern infolge ähnlicher Zufälle oder noch durch die Wirkung der verlarvten Vererbung, an welche er einen Augenblick geglaubt hatte? Jeder Stammbaum hat Wurzeln, die sich bis hinab zu dem ersten Menschen senken; man sollte nicht von einem einzigen Vorfahren ausgehen, man kann immer einem noch älteren, unbekannten Vorfahren ähnlich sein. Dennoch zweifelte er an dem Atavismus; es schien ihm trotz eines einzigen Beispiels, das sich in seiner eigenen Familie vorfand, daß die Ähnlichkeit am Ende von zwei oder drei Generationen sich verflüchtigen müsse auf Grund von Zufällen und tausend anderen möglichen Kombinationen, Es war da also ein ununterbrochenes Werden vorhanden, eine beständige Umwandlung in diesem überkommenen Drange, jene umformende Gewalt, jene Erschütterung, die das Leben aus der Materie hervorbringt und welche das ganze Leben ist. Da traten ihm die Fragen in verdoppelter Anzahl entgegen. Existirte überhaupt ein physischer und intellektueller Fortschritt im Verlaufe der Zeit? Erweiterte sich der Verstand in der Berührung mit den immer weiter fortschreitenden Wissenschaften? Konnte man mit der Zeit auf eine größte Summe von Verstand und Glück hoffen? Dann boten sich noch verschiedene spezielle Probleme dar, zum Beispiel das eine unter vielen anderen, dessen Geheimnis ihn lange Zeit gequält hatte: Wodurch kam es bei dem Empfängnis zu einem Knaben, wodurch zu einem Mädchen? Würde man niemals dahin gelangen, auf wissenschaftliche Weise das Geschlecht vorher bestimmen zu können? Er hatte über diesen Gegenstand eine sehr bemerkenswerte Abhandlung geschrieben, die zwar vollgepfropft von Thatsachen war, aber dennoch im großen und ganzen auf die absolute Unwissenheit hinauskam, in der ihn selbst die genauesten Untersuchungen gelassen hatten. Ohne Zweifel interessirte er sich nur deshalb so leidenschaftlich für die Vererbung, weil sie dunkel, unergründlich und unermeßlich war, wie alle noch in den Windeln liegenden Wissenschaften, wo die Phantasie Meisterin ist. Endlich hatte die eingehende Beschäftigung mit der Erblichkeit der Schwindsucht in ihm den trügerischen Glauben an das Heilvermögen des Arztes erweckt, indem sie ihn in die edle, aber thörichte Hoffnung wiegte, die Menschheit neu gestalten zu können.

Mit einem Worte, Doktor Pascal hatte nur einen Glauben, den Glauben an das Leben. Das Leben war die einzige göttliche Offenbarung. Das Leben, das war Gott, die große, treibende Kraft, die Seele des Weltalls. Und das Leben hatte kein anderes Werkzeug als die Vererbung, die Vererbung bildete die Welt, und zwar in der Art, daß, wenn man sie hätte erkennen, sie erfassen können, um über sie zu verfügen, man sie ganz nach eigenem Wunsch und Gefallen gestaltet haben wurde. Bei ihm, der die Krankheit, das Leiden und den Tod ganz in der Nähe gesehen hatte, erwachte das nach Abhilfe drängende Mitleid des Arztes. Ah, nicht mehr krank sein, nicht mehr leiden, nicht mehr sterben, das am wenigsten Mögliche! In seinen Träumen verstieg er sich bis zu dem Gedanken, daß man das allgemeine Glück fördern konnte, den Zukunftsstaat der Vollkommenheit und Glückseligkeit, indem man vermittelnd dazwischen träte und allen Gesundheit verschaffte. Wenn alle gesund, kräftig und vernünftig wären, dann würde es nur noch eine höher stehende Menschheit geben, eine unendlich kluge und glückliche. Machte man denn nicht in Indien im Verlaufe von sieben Generationen aus einem Sudra einen Brahmanen, indem man so auf eine auf Erfahrung begründete Art und Weise den letzten dieser Elenden zu dem vollendetsten menschlichen Typus emporhob? Und da er bei seinem Studium der Schwindsucht zu dem Schluß gekommen war, daß sie nicht erblich sei, aber daß jedes Kind von Schwindsüchtigen einen entarteten Boden in sich trage, auf dem sich die Schwindsucht mit einer seltenen Leichtigkeit entwickelt, dachte er nur noch daran, diesen durch die Vererbung verdorbenen Boden zu stärken, um ihm die Kraft zu geben, daß er den Parasiten Widerstand leisten könnte oder vielmehr den zerstörenden Gärungsstoffen, welche er in dem Organismus vermutete, lange vor der Theorie der Mikroben. Kraft verleihen, darin bestand das ganze Problem, und Kraft verleihen, das hieß auch den Willen verleihen, das Gehirn erweitern, indem man die anderen Organe kräftigte.

Um diese Zeit erregte das Interesse des Doktors, als er ein altes medizinisches Buch aus dem fünfzehnten Jahrhundert las, eine »Signatur« genannte Behandlungsweise von Kranken. Um ein krankes Organ zu kuriren und zu heilen, genügte es, von einem Schafe oder einem Rinde dasselbe gesunde Organ zu nehmen, es kochen und dann den Kranken die Bouillon trinken zu lassen. Die Theorie war, das Gleiche durch das Gleiche wiederherzustellen, und besonders bei den Leberkrankheiten, sagte der alte Mediziner, lassen sich die Heilungen gar nicht mehr zählen. Damit beschäftigte sich die lebhafte Einbildungskraft des Doktors. Warum nicht den Versuch machen? Da er die durch Vererbung Geschwächten, denen der Kraftstoff fehlte, wieder kräftigen wollte, so brauchte er ihnen nur diesen Kraftstoff in normalem und gesundem Zustande zu geben. Allein die Theorie von der Bouillon erschien ihm kindisch, er erfand eine Methode, das große und kleine Gehirn eines Schafes in einem Mörser zu zerstoßen und dann, nachdem man destillirtes Wasser hinzugegossen, die so erhaltene Flüssigkeit abzuklären und zu filtriren. Er machte dann mit dieser Flüssigkeit, die er mit Malagawein vermischt hatte, Versuche bei seinen Kranken, ohne jedoch ein annehmbares Resultat zu erzielen. Da hatte er plötzlich, als sein Mut schon ganz gesunken war, eine Eingebung, als er eines Tages einer von Leberkolik heimgesuchten Dame eine Morphiumeinspritzung mit der kleinen Pravazspritze machte. Wenn er mit seinem Elixir einmal solche Einspritzungen unter die Haut versuchte? Und sogleich, nachdem er nach Hause zurückgekehrt war, probirte er es an sich selbst; er machte sich einen Stich an den Lenden, den er morgens und abends erneuerte. Die ersten Dosen von nur einem Gramm blieben ohne Wirkung. Als er aber die Dosis verdoppelt und verdreifacht hatte, war er ganz entzückt, als er eines Morgens beim Aufstehen sich in seinen Gliedern so verjüngt fühlte, als ob er erst zwanzig Jahre alt wäre. So ging er bis zu fünf Gramm; er atmete freier, er arbeitete besonders mit einer Klarheit und Leichtigkeit, wie ei sie schon seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. Das volle Wohlbefinden, die richtige Lebensfreudigkeit überflutete ihn. Seitdem war er, als er sich in Paris eine Injektionsspritze, welche fünf Gramm faßte, hatte anfertigen lassen, durch glückliche Resultate, die er bei seinen Kranken erreichte, überrascht worden; innerhalb einiger Tage stellte er dadurch seine Patienten wieder her, als sei ein Strom neuen, kräftig pulsirenden Lebens in sie gekommen. Seine Methode war allerdings noch unsicher und unausgebildet; er ahnte dabei alle möglichen Gefahren; besonders quälte ihn die Furcht, Verstopfungen hervorzurufen, wenn das Elixir nicht von einer vollkommenen Reinheit war. Dann kam ihm der Argwohn, daß die Energie seiner Rekonvaleszenten zum Teil nur von dem Fieber herrühre, welches er in ihnen hervorrief. Aber er war ja nur ein Pionier, seine Methode würde sich später schon noch vervollkommnen, hatte er da nicht schon ein Wunder damit vollbracht? Hatte er nicht damit schon Gelähmte wieder gehen machen. Schwindsüchtige wieder hergestellt, ja, hatte er nicht selbst den Irrsinnigen lichte Stunden dadurch verschafft? Und vor dieser glücklichen Entdeckung der Alchimie des zwanzigsten Jahrhunderts eröffnete sich ihm ein unendliches Gebiet der kühnsten Hoffnungen, er glaubte das Universalheilmittel gefunden zu haben, das Lebenselixir, welches die menschliche Schwache bekämpfen sollte, die alleinige wirkliche Ursache aller Uebel, eine wahre und wissenschaftliche Jugendquelle, die, indem sie Kraft, Gesundheit und Willen verlieh, eine ganz neue und höher stehende Menschheit schaffen würde.

An diesem Morgen war er in seinem Zimmer, einem nach Norden gelegenen Raume, der durch die Nachbarschaft der Platanen etwas verdunkelt und nur ganz einfach möblirt war mit einer eisernen Bettstelle, einem Mahagonisekretär und einem großen Schreibtisch, auf welchem sich ein Mörser und ein Mikroskop befanden, mit der Zubereitung einer Flasche seines Elixirs beschäftigt, worauf er die größte Sorgfalt verwendete. Seit dem vorhergehenden Abende klärte er die Gehirnsubstanz eines Schafes, nachdem er sie fein zerstoßen hatte, in destillirtem Wasser ab und filtrirte sie. Er war gerade so weit gekommen, daß er ein kleines Fläschchen mit einer trüben, opalfarbigen und in bläulichen Reflexen regenbogenartig schillernden Flüssigkeit vollgefüllt hatte, und betrachtete sie lange andächtig, das Fläschchen gegen das Licht haltend, gleich als ob er das Blut in der Hand gehalten hätte, welches der Regenerator und Retter der ganzen Menschheit wäre.

Da rissen ihn leichte Schläge an die Thür und eine dringliche Stimme aus seinen Träumen.

»Nun, Herr Doktor, wie steht es? Es ist schon ein viertel nach zwölf. Wollen Sie denn nicht frühstücken?«

Unten in dem großen, kühlen Speisesaale wartete wirklich das Essen. Man hatte die Fensterläden geschlossen gelassen bis auf einen, der halb offen stand. Der Speisesaal war ein freundlicher Raum mit perlgrauem, von blauen Linien durchzogenem Wandgetäfel. Der Tisch, das Büffet und die Stühle hatten ehemals das Mobiliar im Stile des Kaiserreichs vervollständigen müssen, mit dem die Zimmer ausgestattet waren; und von dem lichten Hintergrunde hob sich das alte Mahagoniholz mit seinem tiefen Rot kräftig ab. Ein immer blank geputzter Kronleuchter von cuivre poli strahlte wie eine Sonne, während auf den vier Wänden vier große in Pastellmalerei ausgeführte Bouquets von Levkojen, Nelken, Hyazinthen und Rosenblüten prangten.

Heiter und strahlend trat Doktor Pascal in das Zimmer.

»Ah, verwünscht! Ich habe mich ganz vergessen, ich wollte meine Arbeit fertig machen ... Hier ist etwas davon, ganz frisch und ganz rein diesmal; das wird Wunder wirken!«

Und er zeigte in seiner Begeisterung das Fläschchen, welches er mit heruntergebracht hatte. Aber er bemerkte, daß Clotilde stumm und steif mit ernstem Gesichte da saß. Der stille Aerger über das lange Warten hatte sie wieder ganz in ihre feindselige Stimmung versetzt, und sie, die am Vormittag darauf gebrannt, sich ihm an den Hals zu werfen, blieb unbeweglich sitzen, wie erkältet und abgestoßen von ihm.

»Gut!« begann er wieder, ohne etwas von seiner freudigen Stimmung zu verlieren, »wir schmollen also noch. Das ist aber gar nicht recht von Dir! Bewunderst Du ihn denn nicht, meinen Zaubertrank, der die Toten auferweckt?«

Er hatte sich an dem Tische niedergelassen, und das junge Mädchen mußte ihm jetzt endlich Antwort geben, da sie ihm gerade gegenüber saß.

»Du weißt genau, Meister, daß ich alles von Dir bewundere. Allein mein Wunsch ist es, daß auch die anderen Dich bewundern sollten. Und da ist nun der Tod jenes armen alten Boutin ...«

»O!« rief er, ohne sie ausreden zu lassen, »ein Epileptiker, der einem Schlaganfall erlegen ist! Da Du heute aber übler Laune bist, so wollen wir jetzt nicht weiter darüber reden. Du thust mir wehe damit, und das würde mir den ganzen Tag verderben.«

Es gab weichgesottene Eier, Koteletten und Crême. Das Stillschweigen dauerte fort, und währenddem biß Clotilde trotz ihres Schmollens mit ihren schönen Zähnen ordentlich zu, denn sie hatte einen guten Appetit, den sie durchaus nicht etwa aus Koketterie zu verbergen suchte.

Endlich unterbrach der Doktor die Stille wieder, indem er lachend sagte:

»Was mich sehr beruhigt, das ist, daß Du einen guten Magen hast ... Martine, bringe doch dem Fräulein noch Brot!«

Wie es seit langem Gebrauch war, bediente die alte Haushälterin sie bei Tische und sah mit stiller Vertraulichkeit zu, wie es ihnen schmeckte. Oft auch plauderte sie mit ihnen.

»Herr Doktor,« sagte sie, nachdem sie ein Stück Brot abgeschnitten hatte, »der Fleischer hat seine Rechnung gebracht; soll ich sie bezahlen?«

Er hob den Kopf empor und sah sie ganz erstaunt an.

»Warum fragst Du mich das? Zahlst Du denn nicht für gewöhnlich, ohne mich darüber erst besonders um Rat zu fragen?«

In der That war es Martine, welche die Kasse führte. Das bei dem Notar Grandguillot in Plassans deponirte Geld gab die runde Summe von sechstausend Franken Zinsen, Jedes Vierteljahr erhielt die Haushälterin fünfzehnhundert Franken, und sie verwendete das Geld zum besten der Interessen des Hauses; sie kaufte und bezahlte alles und verfuhr dabei mit der grüßten Sparsamkeit, denn sie war geizig, weswegen man sie auch unablässig zum besten hatte. Clotilde war auch sehr sparsam und hatte noch niemals daran gedacht, für sich um einen Geldbeutel zu bitten. Was den Doktor anbelangte, verbrauchte er für seine Experimente und als Taschengeld die drei- bis viertausend Franken, die er im Laufe des Jahres verdiente und die er in eine Schublade seines Sekretärs warf, so daß er dort immer einen kleinen Schatz von Gold und Bankbillets liegen hatte, dessen genauen Betrag er jedoch niemals kannte.

»Gewiß, Herr Doktor, zahle ich,« antwortete die Haushälterin, »aber nur dann, wenn ich es bin, die die Waren gekauft hat; diesmal ist aber die Rechnung so groß wegen all der vielen Gehirne, die der Fleischer hat liefern müssen ...«

Der Doktor unterbrach sie heftig.

»Ach so! Sage mir, willst vielleicht auch Du Dich gegen mich auflehnen? Nein, nein! Das würde doch zu, viel sein! Gestern habt ihr mir viel Kummer verursacht, und ich war in Zorn. Aber das muß aufhören: ich will nicht, daß das Haus eine Hölle wird. Zwei Frauen gegen mich, und noch dazu die einzigen, die mich etwas lieb haben! Ihr wißt, ich würde dann lieber die Flucht ergreifen!«

Er war jedoch nicht böse geworden, sondern lachte, obgleich man an dem Zittern seiner Stimme die Unruhe in seinem Innern merkte. Und er fügte in seiner gewöhnlichen gutmütigen und freundlichen Art hinzu:

»Wenn Du Angst vor Deinem Monatsabschluß hast, Alte, so sage dem Fleischer, daß er mir meine Rechnung besonders schicken soll. Du brauchst nicht etwa Furcht zu haben, daß man von Dir verlangen wird. Du sollst von dem Deinigen hinzulegen. Deine Sous können ruhig schlafe».«

Das war eine Anspielung auf das kleine persönliche Vermögen der alten Martine. In dreißig Jahren hatte sie bei einem jährlichen Lohn von vierhundert Franken sich zwölftausend Franken gespart, von welchen sie immer nur das für ihren Unterhalt unumgänglich Notwendige erhob, so daß die Gesamtsumme ihrer Ersparnisse, durch die hinzugekommenen Zinsen beinahe um das Dreifache gewachsen, jetzt ungefähr dreißigtausend Franken betrug. Sie hatte jedoch dies ihr kleines Vermögen aus reinem Eigensinn nicht bei dem Notar Grandguillot in Plassans deponirt, da sie ihr Geld sparen wollte. Sie hatte es anderswo in sicheren Renten angelegt.

»Die Sous, welche schlafen, sind aber ehrbare Sous,« antwortete sie ernst; »der Herr Doktor hat jedoch recht, daß der Fleischer eine besondere Rechnung schicken muß, denn die Gehirne sind für die Küche des Herrn und nicht für die meinige.«

Diese Auseinandersetzungen hatten Clotilde lachen gemacht, denn die Anspielungen auf den Geiz der alten Martine belustigte sie gewöhnlich; und so endete das Dejeuner vergnügt. Der Doktor wollte den Kaffee unter den Platanen trinken, da er, wie er sagte, frische Luft nötig hätte, nachdem er den ganzen Vormittag in seinem Zimmer eingeschlossen gewesen wäre. Der Kaffee wurde daher auf dem steinernen Tische in der Nähe der Fontäne servirt. Und es war wirtlich angenehm dort in dem Schatten, in der erfrischenden Kühle des plätschernden Wassers, während in der Umgebung der kleine Fichtenwald, der große freie Platz, überhaupt die ganze Besitzung in der heißen Sonnenglut der Nachmittagsstunden kochten.

Pascal hatte selbstgefällig das kleine Fläschchen mit seinem kraftspendenden Elixir mit hinuntergenommen und betrachtete es liebevoll, nachdem er es vor sich auf den Tisch gestellt hatte.

»So, mein Fräulein,« sagte er in mürrischspöttischem Tone, »Sie glauben also nicht an mein Wiederbelebungselixir, während Sie doch an Wunder glauben!«

»Meister,« antwortete Clotilde, »ich glaube, daß wir überhaupt gar nicht alles wissen.«

Er machte eine ungeduldige Bewegung.

»Aber wir müssen alles wissen ... Begreife doch nur. Du kleiner Starrkopf, daß man niemals auch nur eine einzige Abweichung in den unveränderlichen Gesetzen, die das Weltall regieren, auf wissenschaftlichem Wege konstatirt hat. Die menschliche Intelligenz allein hat sich bis auf diesen Tag mit der Sache befaßt, und ich wette, daß Du keinen wirklichen Willen, keine Absicht irgend welcher Art außerhalb des organischen Lebens finden wirst. Und darin liegt alles; es gibt auf der Welt keinen andern Willen als die Kraft, welche alles zum Leben erweckt, zu einem immer mehr und mehr entwickelteren und höheren Leben.«

Er hatte sich in lebhafter Erregung erhoben, und sein Glaube hatte ihn in solche Begeisterung versetzt, daß das junge Mädchen ihn stumm betrachtete, erstaunt, ihn unter seinen weißen Haaren noch so jung zu finden.

»Wünschest Du vielleicht, daß ich Dir mein Glaubensbekenntnis hersage, da Du mich beschuldigst, nichts von dem Deinigen wissen zu wollen? Nun also, ich glaube, daß die Zukunft des Menschengeschlechtes in dem Fortschritt des Verstandes durch die Wissenschaft liegt. Ich glaube, daß die Erforschung der Wahrheit durch die Wissenschaft das göttliche Ideal ist, welches der Mensch sich aufstellen muß. Ich glaube, daß alles Einbildung und Eitelkeit ist mit Ausnahme des Schatzes der mühsam erworbenen Wahrheit, die einem niemals verloren geht. Ich glaube, daß die Summe aller dieser verschiedenen Wahrheiten, die sich immer vermehren, darin bestehen wird, daß sie dem Menschen eine unberechenbare Kraft verleiht und die Zufriedenheit, wenn nicht das Glück. Ja, ich glaube an den schließlichen Triumph des Lebens.«

Und er breitete seine Arme weit aus, als wollte er den unendlichen Horizont umfassen und die wie in Flammen stehende Erde, wo die Säfte aller Existenzen lochten, zum Zeugen nehmen.

»Das ewige Wunder aber, mein Kind, das ist das Leben! Oeffne doch die Augen und betrachte es!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe gut sie öffnen, ich sehe doch nicht alles. Du bist es, Meister, der ein Starrkopf ist, da Du nicht zugeben willst, daß es da unten ein Unbekanntes gibt, in das Du niemals eindringen wirst. O, ich weiß, Du bist zu klug, um dies nicht zu wissen! Aber Du willst Dir davon nicht Rechenschaft geben. Du schiebst das Unbekannte einfach beiseite, weil es Dir bei Deinen Untersuchungen im Wege ist. Du hast gut mir sagen, ich soll das Geheimnis unberücksichtigt lassen, ich soll von dem Bekannten zum Unbekannten fortschreiten, aber ich – ich kann es nicht! Sofort ist das Geheimnis wieder da und beunruhigt mich.« Er hörte ihr lächelnd zu, glücklich, sie wieder lebhaft erregt zu sehen und streichelte zärtlich mit der Hand ihre blonden Locken.

»Ja, ja, ich weiß, Du bist wie die anderen. Du kannst nicht ohne Wahn, ohne Lüge leben! Aber laß nur! Schließlich werden wir uns ja doch noch verstehen. Bleibe nur gesund, das ist die halbe Wahrheit, das halbe Glück!«

Dann änderte er das Gesprächsthema, indem er sagte:

»Du wirst mich aber trotzdem hoffentlich auf meinem Rundgange zu den Wundern begleiten und mir behilflich sein. Es ist heute Donnerstag, mein Besuchstag. Wenn die Hitze ein wenig nachgelassen hat, wollen wir zusammen aufbrechen.«

Sie weigerte sich zuerst, mitzugehen, um nicht den Schein zu erwecken, als ob sie nachgäbe; schließlich willigte sie doch ein, da sie sah, welchen Kummer ihm ihre Weigerung verursachte. Denn sie begleitete ihn bei diesen Krankenbesuchen für gewöhnlich stets. Sie blieben noch lange unter den Platanen sitzen, bis der Doktor hinausging, um sich anzuziehen.

Als er wieder herunterkam in einem Ueberzieher, auf dem Kopf einen breitrandigen Seidenhut, befahl er Bonhomme anzuspannen, das Pferd, welches ihn seit einem Vierteljahrhundert zu seinen Besuchen durch die Straßen von Plassans und in der Umgebung gefahren hatte. Aber das arme alte Tier wurde blind, und aus Dankbarkeit für seine Dienste und aus liebevoller Anhänglichkeit störte man es jetzt nicht gern in seiner Ruhe. Heute abend war es ganz eingeschlafen; sein Auge blickte starr und blöde und seine Beine waren vom Rheumatismus lahm und kontrakt. Der Doktor und das junge Mädchen waren in den Stall gegangen, um nach ihm zu sehen; sie gaben ihm einen kräftigen Kuß rechts und links auf seine Nase und redeten ihm zu, sich auf eine Schütte gutes Stroh niederzulegen, welches die Haushälterin herbeibrachte.

Dann beschlossen sie, zu Fuß zu gehen.

Clotilde, die ihr weißes Kleid mit roten Punkten etwas heraufgeschürzt, hatte mir einen großen, mit lila Band ausgeputzten Strohhut aufgesetzt; sie war reizend mit ihren großen Augen, ihrem Gesicht von Milch und Blut, beschattet von den breiten Huträndern. Wie sie so dahinschritt am Arme des Doktors, so zierlich, schlank und so jung, er strahlend, mit einem durch den weißen Bart erhellten Gesicht und einer Gewandtheit und Kraft, welche ihn mit Leichtigkeit Bäche und Gräben überspringen ließ, freuten sich alle, die ihnen begegneten, und drehten sich um, um ihnen mit den Blicken zu folgen, so lieb und gut sahen sie aus.

Als sie an diesem Abende den Weg von Fenouilères verließen, um nach Plassans einzubiegen, stand eine Anzahl Frauen da, die gerade dabei waren, einen kleinen Klatsch zu veranstalten. Er schritt an ihnen vorüber, man hätte sagen können, wie einer jener alten Könige, die man auf Gemälden sieht, einer jener mächtigen und leutseligen Könige, die nicht alt werden, die Hand gelegt auf die Schultern eines Kindes, schön wie der Tag, dessen blendende und demütige Jugend ihnen zur Stütze dient.

Sie bogen gerade in die Hauptstraße Sauvaire ein, um die Rue de la Banne zu erreichen, als ein großer junger Mann mit braunen Haaren von ungefähr dreißig Jahren sie aufhielt.

»Ah, Meister, Sie haben mich ganz vergessen! Ich warte noch immer auf Ihre Notiz, die Schwindsucht betreffend.«

Es war Doktor Ramond, der sich seit zwei Jahren in Plassans niedergelassen und schon eine sehr schöne Praxis erworben hatte. Von prächtiger Gestalt, mit stolz erhobenem Haupte, dessen Gesamtausdruck der einer überlegenen Männlichkeit war, wurde er von den Frauen angebetet und besaß glücklicherweise viel Verstand und viel Klugheit.

»Sieh da, Ramond! Guten Tag! Aber ich habe Sie durchaus nicht vergessen, lieber Freund. Dieses kleine Mädchen hier, dem ich die Notiz gestern zum Abschreiben gegeben habe und das noch nichts daran gethan hat, ist die Schuldige.«

Die beiden jungen Leute hatten sich in herzlicher, freundschaftlicher Weise die Hand gedrückt.

»Guten Tag, Fräulein Clotilde.«

»Guten Tag, Herr Ramond.«

Während eines, glücklicherweise leichten Fiebers, welches das junge Mädchen im vergangenen Jahre gehabt hatte, war Doktor Pascal auf den närrischen Gedanken gekommen, an sich zweifeln zu müssen, und hatte deshalb seinen jungen Kollegen aufgefordert, ihm zu helfen und ihm wieder Mut einzuflößen. So war es gekommen, daß sich zwischen den drei Personen ein freundschaftlicher Verkehr, eine Art von Kameradschaft angeknüpft hatte.

»Sie werden Ihre Notiz morgen früh erhalten, ich verspreche es Ihnen,« sagte sie lachend.

Ramond begleitete sie noch eine Strecke weit bis an das Ende der Rue de la Banne am Anfange des alten Viertels, wohin sie gingen. Und er zeigte in der Art, wie er sich lächelnd zu Clotilde hinabneigte, deutlich eine zarte, verschwiegene Liebe, die langsam groß geworden war, und mit Ungeduld wartete er auf die Stunde, welche die von ihm gewünschte Lösung bringen sollte. Sonst hörte er mit ehrerbietiger Aufmerksamkeit dem Doktor Pascal zu, dessen Arbeiten er sehr bewunderte.

»Hören Sie, lieber Freund, ich bin gerade auf dem Wege zu der Guirande, jener Frau, wie Sie wissen, deren Mann, ein Lohgerber, vor fünf Jahren an der Schwindsucht gestorben ist. Zwei Kinder sind ihr geblieben: Sophie, ein Mädchen von bald sechzehn Jahren, welches ich so glücklich war, vier Jahre vor dem Tode des Vaters auf das Land schicken zu können, hier in der Nähe, zu einer ihrer Tanten, und ein Sohn, Valentin, der jetzt gerade einundzwanzig Jahre alt ist, und den die Mutter bei sich behalten wollte aus eigensinniger Zärtlichkeit, trotz der entsetzlichen Resultate, die ich ihr drohend vor die Augen geführt hatte. Nun sehen Sie, wie recht ich habe, zu behaupten, daß die Schwindsucht nicht erblich ist, sondern daß die schwindsüchtigen Eltern nur einen entarteten Grund hinterlassen, in welchem die Krankheit sich bei der geringsten Ansteckung entwickelt. Heute ist Valentin, der im täglichen Verkehr mit dem Vater gelebt hat, schwindsüchtig, während Sophie, die ich hinaus in die gute Landluft gebracht habe, sich einer vortrefflichen Gesundheit erfreut.«

Er lachte triumphirend und fügte dann hinzu:

»Das hindert jedoch nicht, daß ich Valentin doch noch rette, denn er lebt zusehends wieder auf, er nimmt zu, seitdem ich ihm Einspritzungen mache. Ah, Ramond! Sie werden auch noch dahin kommen, Sie werden auch noch zu meiner Methode kommen.«

Der junge Arzt drückte ihnen beiden die Hand.

»Ich sage nicht nein. Sie wissen es ganz genau, daß ich es immer mit Ihnen halte.«

Als sie allein waren, beschleunigten sie ihre Schritte und bogen bald in die Rue Canquoin ein, eine der engsten und dunkelsten Straßen des alten Viertels. Bei der glühenden Sonnenhitze draußen herrschte hier in dem fahlen Tageslicht eine Kellerluft. Dort wohnte die Witwe Guiraude zusammen mit ihrem Sohne Valentin in einem Parterre. Sie öffnete selbst die Thür, eine magere, hinfällige, selbst an einer langsamen Zersetzung des Blutes leidende Frau. Vom Morgen bis zum Abend zerschlug sie Mandeln mit dem dicken Ende eines Hammelknochens auf einem großen Pflasterstein, den sie zwischen ihre Kniee geklemmt hatte. Das war die einzige Arbeit, von der sie lebten, da der Sohn schon lange jede Beschäftigung hatte aufgeben müssen. An diesem Tage lächelte sie aber dennoch, als sie den Doktor bemerkte, denn Valentin hatte soeben mit großem Appetit eine Kotelette gegessen, was er schon seit Monaten nicht mehr gethan hatte. Dieser selbst, entsetzlich mager, mit dünnen Haupt- und Barthaaren, vorspringenden Backenknochen und roten Flecken mitten aus den wachsbleichen Wangen, hatte sich sofort erhoben, um zu zeigen, daß er sich heute viel wohler fühle. Und Clotilde war bewegt durch den Empfang, den man Pascal bereitet hatte, als wäre er der Heiland, der erwartete Messias. Diese armen Leute drückten ihm die Hände, ja, sie würden ihm sogar die Füße geküßt haben, und blickten mit vor Dankbarkeit leuchtenden Augen zu ihm empor. Denn er konnte alles, er war für sie der liebe Gott, da er die Toten wieder auferweckte. Und sein eigenes Gesicht verklärte sich durch ein befriedigtes Lächeln im Angesichte dieser Kur, die sich so gut anließ. Ohne Zweifel war der Kranke nicht geheilt, vielleicht war es bloß eine scheinbare, augenblickliche Besserung, denn er fand ihn nur fieberhaft aufgeregt. Aber war es denn wirklich nichts, wenn man einige Tage gewonnen hatte? Er machte ihm von neuem Einspritzungen, während Clotilde, am Fenster stehend, ihnen den Rücken zukehrte; und als sie fortgingen, bemerkte sie, daß er zwanzig Franken auf dem Tische zurückließ. Das passirte ihm oft, daß er seine Kranken bezahlte, anstatt von ihnen bezahlt zu werden.

Sie machten noch drei weitere Besuche in dem alten Viertel, dann gingen sie zu einer Dame in der Neustadt; und als sie sich wieder auf der Straße befanden, sagte der Doktor:

»Wenn ich wüßte, daß es Dir nicht zuviel werden würde, so würde ich vorschlagen, bevor wir Lafouasse besuchten, hinaus nach der Séguiranne zu gehen und Sophie bei ihrer Tante aufzusuchen. Das würde mir Vergnügen machen. Es sind kaum drei Kilometer bis dorthin, und bei dem wunderbaren Wetter wäre es ein reizender Spaziergang.«

Sie stimmte vergnügt zu und hing sich, jetzt nicht mehr schmollend, bei ihm ein, glücklich, an seinem Arme gehen zu dürfen. Es war fünf Uhr, die schrägen Strahlen der Sonne überzogen die ganze Landschaft wie mit einem Schleier von Gold. Als sie aber aus Plassans heraus waren, mußten sie eine Ecke der weiten ausgedörrten und nackten Ebene zur Rechten der Viorne überschreiten. Der neue Kanal, dessen Wasser das verdurstende Land umwandeln sollte, bewässerte noch nicht dieses Viertel. Die rötlichen und gelblichen Landstriche erstreckten sich bis in das Unendliche unter den versengenden Sonnenstrahlen. Die weite Fläche war nur mit dürftigen Mandel- und zwergenhaften Olivenbäumen bewachsen, deren beständig welk herabhängende und verschnittene Zweige zu allen möglichen jämmerlichen und widerspenstigen Formen verdreht und verkrümmt waren. In der Ferne sah man auf den kahlen Hügeln die verschwimmenden Umrisse von Landhäusern, an die sich dann weiterhin die dunklen Linien von Cypressenwaldungen schlossen. Dennoch zeigte diese ungeheure Weite ohne Grün mit den großen, öden Landstrecken, den harten und scharfen Farbentönen, schöne, klassische Linien, eine strenge Größe. Auf dem Wege lag wohl an zwanzig Centimeter hoher Staub, schneeweißer Staub, den der geringste Luftzug in dichten Wolken emporwirbelte und der die Feigenbäume und das Brombeergebüsch zu beiden Seiten des Weges wie mit Puder überzog.

Clotilde, die sich wie ein Kind darüber freute, diesen seinen Staub unter ihren Füßchen knirschen zu hören, wollte mit ihrem Sonnenschirm Pascal beschützen.

»Dir scheint die Sonne in die Augen, komm doch auf meine linke Seite!«

Schließlich nahm er den Schirm in die Hand, um ihn selbst zu tragen.

»Du hältst ihn nicht richtig, und dann ermüdet es Dich auch ... übrigens sind wir jetzt da.«

Mitten in der von dem Sonnenbrand versengten ungeheuren Fläche nahm man schon von weitem eine kleine Insel von grünem Blattwerk wahr, einem ungeheuren Bouquet von Bäumen gleichend. Das war die Séguiranne, die Besitzung, auf der Sophie groß geworden war bei ihrer Tante Dieudonné, der Frau eines Weißgerbers. Bei der geringsten Quelle, bei dem kleinsten Gewässer ließ dieser Flammenboden eine üppige Vegetation hervorsprießen; dichte Schatten reicher Baumanlagen spendeten angenehme Kühle. Die Platanen, die Kastanienbäume und die jungen Rüstern wuchsen kräftig empor.

Die Ankommenden betraten eine lange Allee wunderbarer grüner Eichen.

Als sie sich dem Pachthofe näherten, kam ihnen eine Mähderin von der Wiese her, wo sie ihre Heugabel zurückgelassen hatte, entgegengelaufen. Es war Sophie, die den Doktor und das Fräulein, wie sie Clotilden nannte, erkannt hatte. Sie verehrte beide sehr; plötzlich blieb sie stehen und sah sie groß an, ohne das viele Gute sagen zu können, von dem ihr Herz übervoll war. Sie glich ihrem Bruder Valentin, sie hatte seine kleine Figur, seine vorstehenden Backenknochen, seine mattblonden Haare; aber auf dem Lande, fern von der Ansteckung des väterlichen Leidens, schien es, als ob sie an Körperfülle zugenommen hätte, als ob sie fester auf ihren kräftigen Beinen stünde und ihre Wangen runder, ihre Haare üppiger geworden waren. Und sie hatte sehr schöne Augen, die von Gesundheit und Dankbarkeit strahlten. Ihre Tante Dieudonné, die mit ihr Heu machte, kam jetzt ihrerseits auch herbei und rief schon von weitem, in der etwas derben Weise der Provenzalen scherzend:

»Ah, Herr Pascal! Wir haben Sie hier nicht nötig! Es ist niemand krank!«

Der Doktor, der nur gekommen war, um sich an diesem schönen Bilde blühender Gesundheit zu erfreuen, antwortete in demselben Tone:

»Das hoffe ich sehr! Aber das hindert doch nicht, daß sich hier ein kleines junges Mädchen aufhält, das uns, Ihnen und mir, eine prachtvolle Wachskerze schuldet.«

»Ja, ja, das ist die reine Wahrheit! Und sie weiß es auch, Herr Pascal, sie sagt alle Tage, daß sie ohne Sie zu dieser Stunde wie ihr armer Bruder Valentin wäre.«

»Bah, den werden wir auch schon noch retten! Es geht dem Valentin besser. Ich habe ihn gerade besucht.«

Sophie ergriff die beiden Hände des Doktors, große Thränen standen in ihren schönen Augen, und sie konnte nur stammeln:

»O, Herr Pascal!«

Wie sie ihn liebte! Und Clotilde fühlte ihre Zärtlichkeit für ihn immer wachsen bei diesen verschiedenen Liebesbezeugungen.

Sie blieben eine kurze Zeit da in dem wohlthuenden Schatten der grünen Eichen. Dann traten sie den Rückweg nach Plassans an, da sie noch einen Krankenbesuch zu machen hatten.

Es war an dem Kreuzungspunkte von zwei Straßen in einer Winkelschenke, die ganz weiß überzogen war von dem aufgewirbelten Staube. Ihr gegenüber erbaute man gerade eine Dampfmühle, wozu man die alten Baulichkeiten des Paradou benutzte, einer Besitzung, die aus dem vorigen Jahrhundert stammte. Und der Wirt, Lafouasse, machte kleine Geschäfte, dank den Arbeitern der Mühle und den Bauern, die ihr Getreide brachten. Ferner hatte er Sonntags noch mehrere Einwohner von Les Artauds, einem benachbarten Weiler, zu Gästen. Aber er hatte Unglück gehabt und schleppte sich nun schon drei Jahre lang damit hin, über rheumatische Schmerzen zu klagen, in denen der Doktor endlich den Beginn einer allgemeinen Störung aller körperlichen Funktionen, der Ataxie, erkannte. Trotzdem aber weigerte er sich, eine Magd zu nehmen, und besorgte, indem er sich an den Möbeln anhielt, selbst seine Geschäfte. Als er nach ungefähr zehn Einspritzungen besser auf den Beinen war, schrie er schon überall seine vollständige Heilung herum.

Er stand gerade unter seiner Thüre, ein großer und starker Mann mit einem roten Gesicht und brennend roten Haaren.

»Ich habe Sie schon erwartet, Herr Pascal. Denken Sie nur, gestern habe ich es schon fertig gebracht, zwei Faß Wein auf Flaschen zu ziehen, ohne dabei müde zu werden!«

Clotilde blieb vor dem Hause auf einer Steinbank sitzen, wahrend Pascal in das Schenkzimmer trat, um Lafouasse die Einspritzungen zu verabreichen. Man hörte ihre Stimmen, und der letztere, der trotz seiner derben Muskeln sehr wehleidig war, beklagte sich darüber, daß die Einspritzungen Schmerzen verursachten; aber schließlich könnte man schon etwas erdulden, wenn man dadurch seine gute Gesundheit wieder gewänne. Dann zwang er den Doktor, ein Glas Wein anzunehmen. Auch das Fräulein würde ihm wohl nicht die Schande anthun, etwas Sirup auszuschlagen. Er trug einen Tisch hinaus, sie mußten durchaus mit ihm trinken.

»Auf Ihre Gesundheit, Herr Pascal, auf die Gesundheit aller der armen Kerle, denen Sie den Geschmack am Brot wieder verschafft haben!«

Clotilde lächelte und gedachte der Klatschereien, von denen ihr Martine erzählt hatte; sie dachte an jenen alten Boutin, den, wie man munkelte, der Doktor getötet haben sollte. Er tötete doch nicht alle seine Patienten; wirkte denn sein Heilverfahren nicht wahre Wunder? Und sie fand den Glauben an ihren Meister wieder in jener heißen Liebe, die in ihrem Herzen aufstieg. Als sie fortgingen, war sie ihm wieder ganz zugethan; er konnte sie nehmen, sie davontragen, er konnte ganz nach seinem Gefallen über sie verfügen.

Aber vor einigen Minuten noch, auf jener Bank von Stein, da hatte sie sich in ihren Träumereien, als sie die Dampfmühle betrachtete, einer dunklen Geschichte erinnert. War es nicht dort gewesen, in jenen von Kohlenstaub geschwärzten und heute von Mehl gepuderten Gebäuden, wo sich ein Drama voll heißer Leidenschaft abgespielt hatte? Und dann kam ihr die ganze Geschichte wieder ins Gedächtnis mit all den von Martine erzählten Einzelheiten und den Anspielungen, die der Doktor selbst gemacht hatte, ein vollständiges, tragisches Liebesabenteuer eines Vetters, des Abbé Serge Mouret, der damals Pfarrer von Les Artauds war, mit einem anbetungswürdigen, aber wilden und leidenschaftlichen Mädchen, welches das Paradou bewohnte.

Sie gingen wieder den gleichen Weg, als Clotilde plötzlich stehen blieb und mit der Hand auf die weite traurige Umgegend wies, auf die lang hingestreckten Felder und Wiesen und die noch unbebauten Landstrecken.

»Meister, ist das nicht alles hier einst ein großer Garten gewesen? Hast Du mir nicht davon erzählt?«

Pascal, dem man die Freude über diesen glücklichen Tag ansah, überflog ein leichtes Zittern, und sein Gesicht nahm den Ausdruck unendlich trauriger Zärtlichkeit an.

»Ja, ja, das Paradou, ein unendlich großer Garten mit Waldungen, Wiesen, Park und Gartenanlagen, Fontänen und Bächen, die sich in die Viorne ergossen ... Ein Garten, der seit einem Jahrhundert verwildert war, der Garten Dornröschens, wo die Natur wieder Alleinherrscherin geworden war ... Und Du siehst es, sie haben ihn abgeholzt und nivellirt, um ihn in Parzellen zu zerstückeln und auf dem Versteigerungswege zu verkaufen. Die Quellen selbst sind versiegt, und dort unten befindet sich nur noch der giftige Sumpf ... Ah! wenn ich hier vorübergehe, empfinde ich stets ein tiefes Weh im Herzen.«

Sie wagte ihn weiter zu fragen:

»Nicht wahr, im Paradou war es, wo die Liebestragödie zwischen Deinem Vetter Serge und Deiner Freundin Albine sich abgespielt hat?«

Aber er hörte sie nicht mehr; die Augen in die Ferne gerichtet, in die Vergangenheit verloren, fuhr er fort:

»Albine! Mein Gott! Ich sehe sie wieder vor mir, in dem Sonnenschein des Gartens, wie eine süß duftende Blume, den Kopf zurückgeneigt, die Brust von Fröhlichkeit erfüllt, sich freuend über ihre Blumen, die wilden Blumen, die sie in ihre blonden Haare geflochten, an ihrem Hals, an ihrem Busen, an ihren schlanken, nackten, goldigen Armen befestigt hatte ... Und ich sehe sie wieder vor mir, wie sie sich durch Kohlendampf erstickt hatte, tot inmitten ihrer Blumen, sehr bleich, die Hände gefaltet, mit einem Lächeln auf den Lippen, schlafend, auf einem Lager von Hyazinthen und Tuberosen ... Eine Tote aus Liebe! Und wie haben Albine und Serge sich in dem großen, verführerischen Garten geliebt, am Busen der Natur! Und welch ein Strom von Leben, der alle falschen Banden durchbrach, und welch ein Triumph des Lebens!«

Clotilde, ebenfalls aufgeregt durch dieses heiße Wortgeflüster, sah ihn scharf an. Niemals hatte sie es gewagt, mit ihm von einer andern Geschichte zu sprechen, die auch im Umlauf war, von der einzigen und heimlichen Liebe, die er für eine jetzt verstorbene Dame gehegt haben sollte. Man erzählte, daß er sie sorgsam gepflegt habe, ohne zu wagen, ihre Fingerspitzen zu küssen. Bis auf den heutigen Tag, wo er beinahe sein sechzigstes Lebensjahr erreicht hatte, hatten ihn seine Wissenschaft und seine Schüchternheit von den Frauen entfernt gehalten. Aber man fühlte es auch, daß er trotz seiner weißen Haare noch ein ganz unberührtes und überströmendes Herz besaß, welches die Leidenschaft noch nicht kennen gelernt hatte.

»Und sie, die tot ist, und die man beweint ...« Sie schwieg einen Augenblick still; dann begann sie wieder mit zitternder Stimme und glühenden Wangen, ohne zu wissen warum:

»Serge liebte sie also nicht, da er sie sterben ließ?«

Pascal schien aus seinen Träumereien zu erwachen; er seufzte, als er sie neben sich wiederfand, so jung, mit so schönen, leuchtenden und klaren Augen in dem Schatten ihres großen Hutes. Etwas war vorgefallen, der gleiche Schauer durchrieselte beide. Sie reichten sich nicht wieder den Arm, sie gingen Seite an Seite.

»Ah, mein Herzblatt! Es würde zu schön sein, wenn die Menschen nicht sich alles selbst verderben wollten! Albine ist tot, und Serge ist jetzt Pfarrer in Saint-Europe, wo er mit seiner Schwester Désirée lebt, einem braven Wesen, welches das Glück hat, halb blödsinnig zu sein. Er ist ein heiliger Mann, ich habe niemals das Gegenteil gesagt ... Man kann ein Mörder sein und doch Gott dienen.«

Und er fuhr fort und sprach in ungeschminkter Weise über die Lebensverhältnisse, über die erbärmliche schlechte Menschheit, ohne daß er dabei sein fröhliches Lächeln verlor. Er liebte das Leben, er wies mit ruhiger Beharrlichkeit auf das unaufhörliche Bemühen, es zu erhalten, hin, trotz allem Uebel, trotz allem Jammer, den es enthalten konnte. Das Leben mochte wohl entsetzlich erscheinen, aber es mußte doch groß und gut sein, da man, um es zu leben, einen eisernen Willen entfaltete, ohne Zweifel zum Zwecke eben dieses Willens selbst und der unbewußten Arbeit, die er vollbrachte. Gewiß, er war ein Weiser, ein Hellseher, er glaubte nicht an eine idyllische Menschheit, die in einer Natur von Milch lebte, er sah im Gegenteil die Fehler und die Mängel, er zog sie ans Licht, er untersuchte sie und katalogisirte sie nun schon seit dreißig Jahren, und seine Leidenschaft für das Leben, seine Bewunderung der Kräfte des Lebens genügte, um ihn in eine ununterbrochene Fröhlichkeit zu versetzen, woher natürlich auch seine Nächstenliebe herzustammen schien, seine brüderliche Weichherzigkeit, ein Mitgefühl, welches man unter der Roheit des Anatomen und unter der erkünstelten Unpersönlichkeit seiner Studien gar wohl verspürte.

»Bah!« schloß er, indem er sich zum letztenmale zu den weiten, traurigen Gefilden zurückwandte, »das Paradou ist nicht mehr, alles ist geplündert, verdorben und zerstört! Aber, was thut's? Neue Weingärten werden angelegt, neues Korn wird groß werden, alles das Ergebnis neuer Ernten. Und man wird sich lieben in den fernen Tagen der Wein- und Getreideernte ... Das Leben ist ewig, und es thut niemals etwas anderes, als wieder von neuem zu beginnen und sich zu vermehren.«

Er hatte ihren Arm wieder genommen, und so gingen sie heim, eng an einander geschmiegt, als gute Freunde, durch die Abenddämmerung, die langsam am Himmel erlosch in einem stillen Veilchen- und rosenfarbenen See. Und als sie die beiden vorübergehen sahen, den alten mächtigen und milden König, gelehnt auf die Schulter eines reizenden und demütigen Kindes, das ihn geleitete, da sandten ihnen die vor ihren Thüren sitzenden Weiber der Vorstadt ein Lächeln der Rührung nach.

Auf der Souleiade erwartete sie sehnlichst Martine. Schon von weitem gab sie ihnen Zeichen. Wie denn, dinirte man an diesem Tage überhaupt nicht? Als sie dann näher herangekommen waren, rief sie ihnen zu:

»Ah, Sie werden noch eine kleine Viertelstunde jetzt warten müssen, denn ich habe nicht' gewagt, meine Hammelkeule anzusetzen.«

Sie blieben daher noch draußen beim Sinken des Tages, beide in fröhlicher Stimmung. Der Fichtenwald, der sich in Schatten hüllte, strömte einen balsamischen Harzgeruch aus, und von dein großen, freien, noch heißen Platze, wo ein letzter roter Widerschein langsam erlosch, stieg ein leichter Nebel auf. Es war wie eine Erleichterung, ein Seufzer des Wohlbehagens; über der ganzen Besitzung lag tiefe Ruhe, über den dürren Mandel- und den verkrüppelten Olivenbäumen unter dem weiten, verblassenden Himmelszelt von ungetrübter Klarheit, während die Gruppe der Platanen hinter dem Hause nur noch eine finstere Masse bildete, schwarz und undurchdringlich, in der man die Fontäne hörte mit ihrem ewig gleichen Plätschern.

»Sieh da!« sagte der Doktor. »Herr Bellombre hat schon gegessen und schöpft jetzt frische Luft.«

Er zeigte mit der Hand nach einer Bank in der benachbarten Besitzung hin, auf welcher ein großer, hagerer Greis von siebenzig Jahren mit einem langen, von Falten durchfurchten Gesicht und großen, starren Augen in sehr sorgfältiger Kleidung saß.

»Das ist ein Weiser,« murmelte Clotilde. »Er ist glücklich!«

Pascal lachte laut auf.

»Der? Ich glaube gerade das Gegenteil.«

Er haßte niemand, und einzig und allein Herr Bellombre, jener alte, jetzt pensionirte Professor der siebenten Klasse, der in seinem kleinen Häuschen mit einem taubstummen und noch bejahrteren Gärtner zusammen wohnte, besaß die Gabe, ihn immer zu ärgern.

»Der ein glücklicher, froher Mann, der das Leben fürchtet, hörst Du, das Leben fürchtet? Ja, ein Egoist, hart und geizig! Wenn er aus seinem Leben die Frauen ganz verbannt hat, so hat er es nur aus Furcht gethan, daß er ihnen die Schuhe bezahlen muß. Und er hat nur die Kinder anderer gekannt, und die haben ihm viel unangenehme Stunden bereitet: daher sein Kinderhaß, seine Freude an Strafen ... Die Furcht vor dem Leben, die Furcht vor Sorgen und Pflichten, vor Unannehmlichkeiten und Unglücksfällen! Die Furcht vor dem Leben, welche bewirkt, daß man seine Freuden zurückweist aus Angst, man verursache sich nur Schmerzen! Ah, siehst Du, diese Feigheit bringt mich auf, ich kann sie nicht verzeihen ... Man muß leben, ganz und gar leben, das ganze Leben leben, und lieber noch das Leiden, als jene Entsagung, jenen Tod von allem, was man Lebendes und Menschliches in sich hat!« Herr Bellombre hatte sich erhoben und ging mit kleinen, ruhigen Schritten einen Weg in seinem Garten entlang.

Clotilde, die ihn eine Zeit lang schweigend betrachtet hatte, sagte darauf endlich:

»Es gibt aber dennoch die Freude der Entsagung. Entsagen, nicht leben, sich für das Geheimnis erhalten, ist dies nicht das ganze große Glück der Heiligen gewesen?«

»Wenn sie nicht gelebt haben,« rief Pascal, »können sie auch keine Heiligen sein.«

Er fühlte jedoch, daß sie sich dagegen auflehnte, daß sie im Begriffe stand, ihm von neuem zu entschlüpfen. Denn in der Ungewißheit über das Jenseits ruht ganz im Innern der Wesen der Haß gegen das Leben und die Furcht vor dem Leben.

Er fand auch plötzlich sein gutes Lachen wieder, das so zärtlich und so beruhigend klang.

»Nein, nein! Wir haben für heute genug davon, wir wollen nicht mehr disputiren, wir wollen uns vertragen! Und horch! Martine ruft uns, laß uns zum Essen gehen!«


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