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Flora Tristan

Es läßt sich kaum ein vollständigerer Gegensatz ausklügeln, als er in der Lebensgestaltung der beiden Frauen besteht, die in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Vorkämpferinnen der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts hervortraten: Louise Otto und Flora Tristan. Dort die friedliche Idylle einer ruhig fortschreitenden Entwicklung und einer gesicherten Leistung in einem geschlossenen bürgerlichen Milieu; hier das sturmgepeitschte Drama des Kampfes ums Dasein, um das Wachsen und Wirken, ohne festen sozialen Boden unter den Füßen, in wechselnder, widerspruchsvoller Umgebung, überreich an äußeren und inneren Konflikten, immer aufs neue von Katastrophen bedroht. Dazu dort als weitere Umwelt in der Jugend die schläfrige Behaglichkeit eines sächsischen Landstädtchens; hier die erregende Atmosphäre des Paris, das die große Revolution und das Erste Kaiserreich zum Mittelpunkt der Weltgeschichte gemacht hatten, in dem sich auf jede Restauration die Kräfte zu einer neuen revolutionären Explosion ansammelten. Es versteht sich, daß dieser Gegensatz sich bis in die persönliche Eigenart der beiden Frauen geltend machen mußte, vor allem aber in ihrer Auffassung der sozialen Dinge und ihrer Auseinandersetzung damit.

Flora Tristan wurde unter Bonapartes Konsulat 1803 in Paris geboren. Ihre Persönlichkeit und die Ideen, denen sie sich mit Leib und Seele hingab, wurden »geschmiedet von der allmächtigen Zeit und dem ewigen Schicksal«, von dem Schicksal, das sie in Gestalt einer leidenschaftlichen, an Besessenheit grenzenden Veranlagungen durch das Leben begleitete; von der Zeit, die durch die Einflüsse des gesellschaftlichen Milieus an dem Naturgegebenen bosselte und meißelte. In Flora Tristan mischten sich verschiedene soziale Klassen und Kulturkreise. Ihr Vater war ein pensionierter spanischer Oberst, gehörte ältestem, vornehmstem und reichstem Geschlecht in Peru an, das unter den Ahnen berühmte Eroberer zählte. Es scheint, daß die Mutter, eine Französin, aus dem wenig begüterten Kleinadel oder Mittelbürgertum stammte. Als in Frankreich noch die Revolutionsgewitter grollten, war sie mit einer Verwandten ruhesuchend nach Spanien übergesiedelt. Die Ehe war von einem Geistlichen in einer Form geschlossen worden, die für Spanien volle Rechtsgültigkeit hatte. Bald darauf hatten Floras Eltern Sitz in Paris genommen, wo die Familie in bester Gegend ein hübsches Haus mit großem, vom Oberst liebevoll gepflegtem Garten bewohnte, standesgemäß und sorgenlos lebte und anregenden Verkehr mit angesehenen Persönlichkeiten unterhielt, namentlich auch mit Männern, die in Peru und anderen Teilen Südamerikas Namen und Einfluß besaßen. Zu den Freunden des Hauses gehörte Simon Bolivar, der später in den Unabhängigkeitskämpfen der Nordgebiete Südamerikas gegen die Spanier die führende Rolle spielte.

Unerwartet erlag der Oberst einem Schlaganfall. Damit wurden die Seinen in die Tiefen der Armut und des Elends geschleudert. Nach französischem Gesetz war die Ehe null und nichtig. Frau Tristan und ihre Kinder – Flora besaß einen älteren Bruder, der im zarten Alter starb – gingen aller Erbschaftsansprüche verlustig. Flora Tristan zählte fünf Jahre, als der brüske Umschwung eintrat. Die Erinnerung an die glücklichen frühen Kindheitsjahre und den gütigen, gebildeten Vater ist in ihr lebendig geblieben, offenbar gepflegt von der Mutter und ergänzt durch deren Erzählungen von dem Reichtum und der Vornehmheit der väterlichen Familie in Peru. Nach Jahren kärglichen Lebens auf dem Lande kehrte Frau Tristan mit ihrer Tochter nach Paris zurück, denn diese dünkte ihr erwachsen genug, um ihr beim Aufbau einer Existenz zu helfen und ihren eigenen Unterhalt durch Arbeit zu verdienen. Die äußerste Mittellosigkeit zwang Frau Tristan, in einem der übelstbeleumundeten Armutsviertel der Stadt Unterkunft zu suchen, in unmittelbarer Nachbarschaft von Dieben, Hehlern, Dirnen und Zuhältern. Jammer, Verwahrlosung, Verworfenheit und Verzweiflung drängten sich täglich an Flora vorüber. Das junge Mädchen war von berückender südländischer Schönheit, geistig reich begabt und in der strengen Schule der Not früh gereift. Es hielt sich in der niederdrückenden, schmutzerfüllten Umgebung aufrecht, stolz, rein. In sauren Wochen der Arbeit und ohne frohe Feste, als Arbeiterin, Kontoristin, Koloristin schlug es sich durch.

Schon damals traten entscheidende Wesenszüge Flora Tristans unverkennbar hervor. Die Ungunst der äußeren Lebensverhältnisse erduldete sie nicht leidend, als unabwendbares Schicksal; sie setzte sich tätig dagegen zur Wehr. Mit bewunderungswürdiger Zähigkeit kämpfte sie gegen das drohende Versinken im Lumpenproletariat. Als Arbeitende, Tätige suchte sie sich eine Existenz zu schaffen, die Entfaltung und Auslebung ihrer ungewöhnlichen Begabung ermöglicht. So wurde sie mit dem Proletariat nicht nur durch getragenes Elend und verstehendes Mitgefühl verbunden, nicht nur durch die Ideen und das Wirken ihrer späteren Jahre, vielmehr von Jugend auf auch durch die Arbeit. Unzweifelhaft ist ihr in jenen harten Zeiten wie auch weiterhin die Überzeugung ein starker Halt und ein Ansporn gewesen, daß sie sich der Tradition der Familie würdig erweisen müsse, auf deren sozialer Höhe zu stehen sie berufen sei. Flora Tristans Lebensträume schienen sich zu erfüllen. André Chazal, der Besitzer und Leiter der lithographischen Anstalt, in der sie als Koloristin arbeitete, warb um ihre Hand. Noch nicht ganz achtzehnjährig, wurde sie das Weib des dreiundzwanzigjährigen Mannes. Wie sie später wiederholt versichert hat, ward sie zum Eheschluß nicht durch leidenschaftliche Liebe bestimmt, sondern durch Zweckmäßigkeitsrücksichten und das Zureden ihrer Mutter. Statt der erhofften Lebenserfüllung und Lebenserhöhung fand Flora Tristan in der Ehe Lebensverkümmerung und Lebenserniedrigung. Sie schenkte rasch nacheinander zwei Knaben das Leben. Die engen Familienverhältnisse brachten Bindung ihrer sich mächtig regenden inneren Kräfte, die freie Entfaltung verlangten. Chazal war sicherlich ein Alltagsphilister, ohne Verständnis für das heiße Sehnen, das hochfliegende Wollen seiner Frau. Die Gegensätze der Charaktere und Lebensziele verschärften sich. Floras Empfindung wurde Gewißheit, daß sie wählen müsse zwischen dem Untergang in der Ehe oder der Loslösung aus der Ehe. Doch wehe! Die durch den Code Napoleon festgelegte gesetzliche Ehescheidung war 1816 von der Restauration aufgehoben worden; ein Symbol ihres Willens, zu den vorrevolutionären Zuständen zurückzukehren. Flora sah sich für Lebzeiten an einen ungeliebten, ja verhaßten Mann gefesselt, in Verhältnisse gebannt, die ihrem besten Wesen die Flügel knickten. 1825, als sich das dritte Kind unter ihrem Herzen regte, floh sie aus des Gatten Haus, zunächst bei der Mutter Zuflucht suchend.

Flora Tristans Schicksal seit ihrer Flucht bis zum Jahre 1830 liegt im dunkeln. Man nimmt an, daß sie zunächst den Unterhalt für sich und ihr neugeborenes Töchterchen mit Kolorieren und anderen Arbeiten erwarb. Feststeht, daß sie 1826 als Kammerfrau oder Gesellschafterin mit einer englischen Familie auf Reisen ging, die die Schweiz, Italien und England besuchte. Sie fühlte sich durch diese untergeordnete Stellung schmerzlich gedemütigt, nahm sie aber an, weil sie ihr Gelegenheit bot, die Zustände und die Menschen im Auslande zu studieren, fremde Sprachen zu erlernen, ihre Bildung durch Lektüre zu vervollständigen, und weil ihre Abwesenheit von Paris sie den Verfolgungen des Mannes entzog, der sie in die eheliche Gemeinschaft zurückzwingen wollte. Die Erinnerung an ihre damalige Abhängigkeit war ihr so peinlich, daß sie die Zeugnisse darüber vernichtete. Kaum daß sie 1829 nach Paris zurückgekehrt war, hetzte Chazal auf Grund seiner gesetzlichen Rechte hinter ihr drein. Das war sicherlich von Einfluß darauf, daß Flora Tristan 1831 trotz aller Dornen der Stellung ein zweites Mal als Begleiterin englischer Damen nach England reiste. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat lebte sie mit ihrer Tochter Aline einige Monate in der Provinz, wo sie eine gute Pflegemutter für das Kind suchte und fand, dessen Unterhalt sie für längere Zeit im voraus deckte, denn sie trug sich mit dem Plane einer Reise nach Peru zu den Verwandten ihres Vaters. Zu diesem Zwecke hatte sie mit ihrem Onkel Pio, ihres Vaters jüngstem Bruder, Briefe gewechselt. Nun begab sie sich unter ihrem Mädchennamen als Fräulein Tristan Moscose nach Bordeaux, um in Verbindung mit dem Generalbevollmächtigten ihres Oheims und anderen angesehenen Persönlichkeiten die weite und nicht gefahrlose Reise gut vorzubereiten.

Anfang April 1833 ging sie in Bordeaux an Bord des kleinen Seglers »Mexikaner«, der sie nach dem fernen Lande tragen sollte. Die Seefahrt von Frankreich nach der Westküste Südamerikas war damals unter allen Umständen ein Wagnis, sie war es ganz besonders für eine alleinstehende junge Frau. Der »Mexikaner« hatte mit Einschluß des Kapitäns eine fünfzehnköpfige Bemannung und fünf Passagiere, darunter Flora Tristan, die einzige Frau. Infolge widriger Zufälle dauerte die Fahrt sehr lange, mehr als vier Monate, 133 Tage. Flora Tristans schönheitsdurstige Seele berauschte sich an der Großartigkeit des Ozeans in Ruhe und Sturm, an der Herrlichkeit des Himmels bei Sonnenschein wie Mondes- und Sternenglanz. Aus der Natur, aus dem bunten Getriebe der Hafenstädte in europafernen Zonen, aus der Beobachtung der Menschen an Bord und aus dem täglichen engen Verkehr mit ihnen schöpfte ihr suchender, fragender Geist eine vielgestaltige, reiche Fülle anregender und aufhellender Eindrücke, die sie, innerem Bedürfnis gehorchend, ihrer sich herausbildenden eigenen Weltanschauung einzugliedern strebte. Die lange Seefahrt war für sie eine Schule sozialer Betrachtungen und Schlußfolgerungen. Allein, sie brachte ihr noch anderes: die einzige Idylle ihres Lebens, eine Liebesidylle, auch sie nicht ohne Leid und Konflikt. Die Romantik der Situation begünstigte sie.

In eingehenden Gesprächen mit dem Kapitän Chabrié unter der Pracht des Sternenhimmels, in der Nußschale der Brigg, inmitten der weiten schimmernden Wasserwüste, in Gesprächen, in denen die überschwengliche Stimmung der Zeit atmete, klangen die Empfindungen und Gedanken harmonisch zusammen. Flora gewann den gebildeten, feinfühlenden, gewissenhaften Mann lieb »wie einen Vater oder Bruder«. Chabrié aber wurde von heißer Leidenschaft für das junge schöne Weib erfaßt. Besondere Umstände hatten Flora veranlaßt, ihm vor der Abreise anzuvertrauen, daß ein trauriges Geschick auf ihr laste. Chabrié hielt sie wahrscheinlich für eine Verführte und Verratene, für eine Verfemte und Verfolgte. Seine Liebe war so stark und tief, daß er ihr trotz des Dunkels um ihre Person seine Hand anbot; falls sie Europa meiden müsse, wollte er sich mit ihr in Mexiko oder Kalifornien niederlassen. Bei seinen wiederholten, immer stürmischer werdenden Werbungen hörte Flora Tristan nicht nur das Klirren der Ehekette an ihrem Fuß, sie fühlte, wie sie in Leib und Seele schnitt. Sie wußte, daß der Kapitän ihr hin und her geworfenes Lebensschiff in einen stillen, friedlichen Hafen lenken würde, daß ihr gequältes Herz in seiner Zärtlichkeit und Fürsorge ruhen könnte. Dennoch lehnte sie eine Vereinigung standhaft ab, und zwar mit Verschweigen, daß sie durch eine unglückliche Ehe gebunden sei. Es schien ihr ebenso unmöglich, dem Freunde erst jetzt die Wahrheit zu sagen, wie ihrer unwürdig, der Form nach in Bigamie zu leben. Sie schloß vor dem Einlaß begehrenden Glück das Tor zu.

Bei der Landung in Peru erfuhr Flora eine erste herbe Enttäuschung. Die Großmutter war gestorben, auf deren Liebe und Beistand sie besonders gehofft hatte. Ihr Onkel Pio befand sich mit seiner Familie auf einer großen Besitzung im Innern des Landes, im Gebirge. Die Reise dorthin mußte zum guten Teil zu Pferde zurückgelegt werden, die Pariserin war des Reitens unkundig und nicht mit der den Verhältnissen Perus entsprechenden Kleidung versehen. Dank ihrer zähen Willensstärke überstand Flora Tristan die Strapazen und Gefahren des Rittes durch das schluchtenreiche Hochgebirge. In Arequipa wurde sie von der väterlichen Familie mit dem feierlichen Pomp empfangen, der ihr als Verwandte eines der vornehmsten Geschlechter nach altspanischer Sitte gebührte. In die steife Grandezza vergangener Jahrhunderte mischten sich Anklänge warmer Herzlichkeit. Der Zuschnitt der Haushaltung des Oheims war fürstlich, und Flora bewegte sich als Gleichberechtigte in einer gesellschaftlichen Sphäre, auf deren Gunst sie nach ihrer Meinung kraft ihrer Abstammung ein Anrecht hatte. Jedoch von der moralischen Rücksicht auf ihre Abstammung und von Höflichkeitsbezeugungen vor ihrem Geblüt bis zur juristischen Anerkennung ihres Rechtes auf Titel, Stellung und Erbschaft war ein weiter Schritt, und Onkel Pio dachte nicht daran, ihn zu tun. Seine Augen füllten sich mit Tränen, wenn er des verstorbenen älteren Bruders gedachte, dem er seine Erziehung verdankte. Allein, seine Hand legte sich schwer auf das Erbe am Familienbesitz, auf das die vermögens- und schutzlos zurückgelassene Tochter einen moralischen Anspruch hatte. Flora mußte sich überzeugen, daß sie juristisch nichts gegen die harte Habsucht des Onkels auszurichten vermochte.

1834 kehrte Flora Tristan nach Paris zurück mit dem mageren materiellen Ertrag einer zugesicherten Jahresrente von 2500 Franc. Um so reicher war dagegen der Schatz der Erfahrungen und Beobachtungen, den sie aus Peru heimbrachte. Während ihres Aufenthalts daselbst hatte sie in Arequipa, Lima und anderen Orten die sozialen Zustände, das politische und religiöse Leben, die Gebräuche und Überlieferungen des Landes eifrig und ernsthaft studiert, und sie hatte viel und hatte scharf gesehen. Die Wirbel einer politischen Revolution, wie sie in Peru zu den häufigen Erscheinungen gehörten, hatten sie umspült. Einen Augenblick lang war die Versuchung an sie herangetreten, ihren Einfluß als schöne, kluge und energische Frau auf einen führenden politisch-militärischen Abenteurer zu nutzen, um die Geschicke des Landes zu lenken. Sie hatte ihr nicht nachgegeben, und das eine wie das andere ist charakteristisch für ihr Wesen. Als Frucht der Reiseeindrücke erschien Flora Tristans erste literarische Arbeit: eine Broschüre über »Die Notwendigkeit, Ausländerinnen gut aufzunehmen«. Auf Grund persönlicher Erlebnisse und Feststellungen schildert sie eindringlich die vielerlei Unbill, der die alleinstehende Frau besonders im fremden Land ausgesetzt ist, und fordert Einrichtungen zu Schutz und Hilfe für sie. Aus der kleinen Schrift klingen zwei Leitmotive ihrer sozialen Bestrebungen schon stark hervor: das Eintreten für die Gleichberechtigung der Frau; die Internationalität ihrer Einstellung. Sie enthält unter anderen diese Sätze, die für Flora Tristans Auffassung wie für ihre Ausdrucksweise bezeichnend sind: »Die Grenzen unserer Liebe dürfen nicht die Gebüsche sein, die unseren Garten einhegen; nicht die Mauern, die unsere Stadt umgürten; nicht die Gebirge und Meere, die unser Land einsäumen. Von nun an muß unser Vaterland das Universum sein.«

Jahre bienenfleißiger Arbeit begannen. Flora Tristan hatte jede Hoffnung auf der Väter Erbe fahrenlassen. Frei von Illusionen erkannte sie, daß sie nur dank eigener Kraft den Verhältnissen die Möglichkeit abzwingen könne, den Reichtum inneren Lebens frei zu Entfaltung und Betätigung kommen zu lassen. Ausleben war aber für sie gleichbedeutend mit Wirken für die Umgestaltung der Gesellschaftszustände, deren Mängel und Übel die Menschen in allen Ländern peinigten, die sie kennengelernt hatte. Flora Tristan strebte danach, sich für die hohen Aufgaben der Gesellschaftserneuerung geistig zu rüsten. Sie verfolgte die schöne Literatur, las ernste geschichtliche, politische und philosophische Schriften und wandte ihre besondere Aufmerksamkeit der Arbeiterfrage zu und den Lehren der sozialistischen Utopisten. Sie studierte die Werke von Owen, Saint-Simon und Fourier, setzte sich auch mit den Theorien und der Praxis der kleinen Nachfahren der Großen auseinander. Mit Owen hatte sie während seines Aufenthaltes in Paris eine Unterredung, sie traf mit Fourier zusammen und bekräftigte ihre Versicherung, daß sie gern mit seiner »Schule« zusammenarbeiten würde, indem sie in Beziehungen zu Victor Considérant trat und in seiner »Phalange« einen längeren Beitrag veröffentlichte, der ihre selbständige Wesensart durch die Frage beleuchtete: »Was tun, damit die schönen Ideen der Fourieristen Wirklichkeit werden?«

Mit dem Studium ging literarische Arbeit Hand in Hand. Flora Tristan sichtete und gestaltete die Aufzeichnungen über ihre Reise nach Peru und ihren Aufenthalt dort, Aufzeichnungen, in denen sie Tag für Tag ihre Beobachtungen und Eindrücke, die Ergebnisse ihres Erkundens und Erfahrens festgehalten hatte. Anfang 1838 erschien das Werk unter dem vielsagenden Titel: »Wanderungen einer Paria« mit dem Motto: »Gott, Offenheit, Freiheit«. Die zwei Bände sind ein aufschlußreiches biographisches Dokument von hohem Wert, denn Flora Tristan will stets aufrichtig, wahrhaftig sein, selbst dann, wenn ihr dies nicht günstig ist. Die »Wanderungen« enthalten außerdem scharf geschaute und lebendig gestaltete Bilder aus Peru. Sie sind mit sozialen Ideen durchtränkt, die – wenn auch zum Teil noch keimhaft und verschwommen – die Richtung anzeigen, in der sich Flora Tristans Wollen und Wirken folgerichtig vorwärtsbewegt. Die »Wanderungen« erregten durch Inhalt und Darstellung Aufsehen; sie offenbarten ein starkes und eigenartiges Talent, fanden eine lobende Kritik und erlebten binnen kurzem eine zweite Auflage. Onkel Pio bestätigte in seiner Weise, daß seine Nichte die Zustände und Menschen in Peru treffend und nicht oberflächlich geschildert hatte. Er entzog Flora die Jahresrente und ließ das Werk in Arequipa auf offenem Markt verbrennen. Die »Paria« konnte das verschmerzen, sie hatte literarische und gesellschaftliche Beziehungen gewonnen und war eine geschätzte Mitarbeiterin von Zeitschriften geworden – so vom »Voleur« und »Artiste« – , in denen sie Beiträge über Philosophie und Kunst veröffentlichte.

Flora Tristans unbeugsame Energie beim Studium und bei der schriftstellerischen Tätigkeit ist um so bewunderungswürdiger, als Chazals Verfolgungen sie weder zu äußerer noch zu innerer Ruhe kommen ließen. Die unsäglichen Leiden, die sie zufolge der gesetzlichen Unlösbarkeit ihrer Ehe erduldete, haben in ihren Schriften tiefe Spuren hinterlassen. Sie zeigen deutlichst, daß sie ihre Schmerzen nicht bloß als persönliches Los empfand, vielmehr voll bewußt als trauriges, oft vernichtendes Schicksal ungezählter Frauen. Sie erfaßte die Frage der Eheschließung und Ehescheidung in ihrem Zusammenhang mit der unfreien, unwürdigen, rechtlosen Stellung des weiblichen Geschlechts, für das sie auch in dieser Beziehung gesicherte Gleichberechtigung verlangte. Ihre »Petition an das Parlament für die Wiedereinführung der gesetzlichen Ehescheidung« ist ein Notschrei der Frauen, deren Leben in unglücklicher Ehe gebrochen wurde, ist ein Kampfruf für das Recht des weiblichen Geschlechts. Nach Flora Tristans Auffassung darf die Vereinigung von Mann und Weib nur durch eine Voraussetzung gebunden werden: durch die gegenseitige Liebe, die frei von Berechnungen und Zweckmäßigkeitsgründen ist. Der gesetzliche Zwang kann diese moralische Bedingung nun und nimmer ersetzen. Eine legale Ehe ohne Liebe ist schmutzige Prostitution. Es begreift sich, daß diese ihre Auffassung ihr niedrigste Beschimpfungen und Verleumdungen einbrachte, namentlich auch von ihrem Verfolger.

Vor dem Gesetz war Flora Tristan keine geschiedene, freie, sondern eine davongelaufene, strafbare Frau. Vergeblich hatte sie zweimal vor den Gerichten die rechtliche Aufhebung des Zusammenlebens mit Chazal beantragt. Dieser nutzte die durch das Gesetz geschaffene Lage aus. Er ließ Flora bespitzeln, suchte sie mit Gewalt in seine Wohnung zu führen und bot gegen sie Polizeiagenten, Polizeikommissare und behördliche Verfügungen auf. Um die Frau zu zwingen, wandte er sich gegen die Mutter. Er machte die beiden Kinder, Ernest und Aline – der zweite Knabe war früh gestorben – , zu Kampfobjekten. Flora mußte sich damit abfinden, daß Ernest aus der Pflege bei ihrer Mutter zu Chazal kam. Der Gedanke war ihr unerträglich, daß auch die Tochter unter seinem Einfluß aufwachsen würde. Damit jeder Vorwand für Alines Überweisung an den Vater fehle, gab sie das Kind in eine Erziehungsanstalt besten Rufes. Chazal bot aber alles auf, um Aline in seine Hand zu bekommen. Zweimal raubte er sie auf offener Straße und brachte sie trotz heftigen Widerstandes in seine Wohnung. Floras Marter als Mutter erreichte den Höhepunkt, als Ernest die Beschuldigung gegen den Vater erhob, dieser habe einen blutschänderischen Angriff auf seine Tochter versucht. Die Beschuldigung führte Chazal in Untersuchungshaft, sie konnte nicht bewiesen werden und erklärt sich wahrscheinlich durch die bitterste Armut – Vater und Kinder hatten nur ein Bett zusammen – in der Haushaltung Chazals, der materiell tief ins Elend gesunken war. Immerhin wurde nun durch Gerichtsentscheid die Erziehungsfrage in einer Weise geregelt, mit der auch Flora einverstanden sein konnte. Die Gequälte atmete auf, Chazals Haß gegen sie aber steigerte sich bis zur Siedehitze. Anfang September 1838 unternahm er einen wohldurchdachten Mordversuch auf sie, die er für die Ursache seines verpfuschten und verkommenen Lebens hielt. Seine Pistolenkugel ging nicht weit an Floras Herz vorbei, die Verwundung war schwer, doch nicht tödlich.

Während der Genesung schrieb die Tätigkeitsverlangende einen großen sozialen Roman: »Mephis oder der Proletarier«, der im Stile der Zeit mit Abenteuern, Verwicklungen und langatmigen Gesprächen überladen ist, in denen die Helden und Heldinnen Floras Ideen über wichtige gesellschaftliche Probleme vortragen. Sie verfaßte ferner eine Abhandlung über »Die Kunst seit der Renaissance« und eine »Petition an das Parlament«, in der sie die Abschaffung der Todesstrafe eingehend begründete. Dieses Dokument erregte großes Aufsehen und gewann der Verfasserin viele Sympathien, weil diese es auf ihrem Schmerzenslager nach Chazals Mordversuch geschrieben hatte. Flora Tristan erörterte darin die Frage des Rechts der Gesellschaft zur Strafe von Verbrechen, die sie im allgemeinen als individuelle Auflehnung gegen die Gesetze, die Einrichtungen, die Zustände der Gesellschaft betrachtete. Bei der Beurteilung von Verbrechen müßten alle in Betracht kommenden Umstände berücksichtigt werden, insbesondere auch, ob nicht Mängel und Fehler des Gesellschaftsregimes selbst die unmittelbare oder mittelbare Ursache der Taten seien. Die Verurteilung der Verbrecher entspringe dem Wunsch, dem Bedürfnis der Gesellschaft, sich gegen deren feindliches Handeln zu schützen, sie dürfe jedoch nicht den Charakter der Strafe, der Rache tragen, sondern müsse auf Besserung der Rechtsbrecher, auf ihre Erziehung abzielen. Das soziale Problem: Verbrechen und Strafe hat Flora Tristan anhaltend und lebhaft beschäftigt, wie namentlich der Roman »Mephis« beweist.

Der Mordversuch hatte die Aufmerksamkeit weitester Kreise auf ihr Lebensschicksal und ihre Schriften gelenkt. Als sie im Frühjahr 1839 in den Verhandlungen gegen Chazal vor Gericht erschien und den namenlosen Jammer ihrer Ehe enthüllte, flogen ihr die Herzen zu. Flora hatte nun Ruhe vor ihrem Peiniger; Chazal wurde zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, die in einfaches Gefängnis gemildert wurden und von denen später 3 Jahre erlassen wurden. Er starb 1860, lange nach Flora.

Durch seine Einschließung erhielt sie praktisch und – durch den Gerichtsbeschluß, der endlich die persönliche Trennung der Gatten aussprach – formal und rechtlich ihre Unabhängigkeit. Sie war auf dem Wege zur Anerkennung, zum Erfolge, ja zum Ruhm. Ihre anmutige fremdländische Schönheit, ihr beweglicher weitfassender Geist, ihr flammendes Temperament und die Energie ihres Kampfes mit den Wechselfällen ihres Geschickes warben für sie. Sie begann eine gesuchte und gefeierte Persönlichkeit zu werden, verkehrte in der sogenannten guten Gesellschaft, namentlich mit Schriftstellern, Künstlern, demokratisch und sozial gerichteten Politikern, und baute sich eine einfache bürgerliche Häuslichkeit auf. Sie wies Lebensannehmlichkeiten und Lebensgenüsse nicht ab, allein, sie wurden ihr niemals zu Daseinszielen. Immer bewußter, bestimmter, unwiderstehlicher drängte es sie zum aktiven öffentlichen Wirken für die Umgestaltung der Gesellschaft. Kaum daß sie sich wieder im Besitz ihrer vollen Kraft fühlte, unternahm sie zur Vorbereitung darauf eine vierte Reise nach England, wo sie sich kurz nach ihrer Rückkehr aus Peru ein drittes Mal aufgehalten hatte.

Jeder hemmenden Verpflichtung ledig, konnte sich Flora Tristan nun völlig dem Studium der sozialen Verhältnisse widmen, und zwar in allen Klassen der Gesellschaft. Sie besuchte in London die entsetzlichsten Armuts- und Schmutzviertel, die Schlupfwinkel der Verbrecher, lernte das Leben der oberen Zehntausend kennen und machte sich wie in Paris mit den Führern aller politischen Parteien bekannt, obgleich sie selbst keiner von ihnen angehörte. Sie wohnte Sitzungen des Oberhauses und des Unterhauses bei, als Türke verkleidet, weil Frauen damals keinen Zutritt zum Parlament hatten. Sie war eifrige Besucherin der Arbeiterversammlungen und dehnte ihre Forschungen auch auf industrielle Zentren aus, auf die Zustände in Birmingham, Sheffield, Glasgow und Manchester. Die Eindrücke der früheren Reisen erhielten eine breitere und festere Grundlage, Klärung und Vertiefung. Die Schlußergebnisse aus der Summe der alten und der neugewonnenen Erfahrungen wurden in entscheidender Weise dadurch beeinflußt und zugespitzt, daß Flora Tristan in der Chartistenbewegung den politischen Aufmarsch des englischen Proletariats als Klasse kennenlernte. Die Versammlungen der Chartisten, die Forderungen, die sie erhoben, die Reden ihrer Führer O'Brien, O'Connor, Taylor und anderer wirkten auf sie gleich einer Offenbarung der unbezwinglichen Kraft der Arbeiter, die durch die Organisierung als Klasse entbunden werden müsse. In dem gleichen Sinne empfand und wertete sie das Auftreten O'Connells im englischen Unterhaus, der dort die Interessen der Irländer vertrat, in materieller Unabhängigkeit erhalten durch den reichen Ertrag der Sammlungen seiner Landsleute.

Flora Tristan hat das Ergebnis ihrer Reise in einem Buche dargestellt: »Wanderungen in London«. Es ist das ein starkes, lebensprühendes Glaubensbekenntnis zum Sozialismus, zur gesellschaftserneuernden Kraft der organisierten Arbeiterklasse. Allerdings, dieses Bekenntnis ist nicht als einheitliche Theorie formuliert, in logisch wohlgegliederten Sätzen und Thesen, es ist noch weniger wissenschaftlich unanfechtbar begründet. Es äußert sich in der zwanglosen Reihe scharf umrissener, farbiger Bilder voller Leben und Bewegung; Bilder, die gestaltet sind von einer unerbittlichen Kritik dessen, was sozial ist, und einer glühenden Hoffnungsfreudigkeit auf das, was sozial wird und sein soll, und es kommt unzweideutig in den Schlüssen zum Ausdruck, die die Verfasserin aus Erlebtem und Empfundenem zieht. Flora Tristans Urteil ist vor allem gefühlsmäßig und gipfelt in dem Satze, daß England »moralisch und sozial eine Kloake ist, zugedeckt mit Heuchelei«. Und ebenso gefühlsmäßig sieht sie das einzige Heilmittel. Es ist der Sozialismus, »und er wird mächtig sein, weil 20 Millionen Proletarier weinen und fasten«, vorausgesetzt, daß die Millionen aus dem Weinen und Fasten die Lehre ziehen, sich als Klasse international zu vereinigen. Die »Wanderungen in London« hatten einen sehr großen Erfolg. Schon im Jahre ihres Erscheinens, 1840, kam eine zweite Auflage heraus, und 1842 erschienen abermals zwei Auflagen, die eine einfacher ausgestattet zu billigerem Preis, damit sie unter Arbeiter gehen könne. Das neue Vorwort, mit dem Flora Tristan die Volksausgabe einleitet, hat die Überschrift: »Der Arbeiterklasse gewidmet« und beginnt mit diesem Satze: »Arbeiter, euch allen, Männern und Frauen, widme ich mein Buch. Um euch über eure Lage zu belehren, habe ich es geschrieben: Also gehört es euch.«

Jedoch Flora Tristan hatte von ihrer Englandreise mehr heimgebracht als nur die feste geistige Kristallisationsachse ihrer sozialen Ideen. Nämlich die unerschütterliche Überzeugung, daß sie von Gott berufen und auserwählt sei, den Arbeitern das Evangelium ihrer Befreiung aus den Lebensnöten durch ihre internationale Vereinigung zu predigen, sie zu organisieren und zu führen. Wie ihre Einstellung zu den Gesellschaftsproblemen, so hatte sich auch der Glaube an ihr göttliches Apostelamt allmählich herausgebildet. Er keimte schon in den Zeiten, da sie noch von ihrer gesellschaftlichen Erhöhung durch Abstammung träumte, und wurde endgültig durch ein erschütterndes Erlebnis im Irrenhaus zu Bedlam bei London befestigt, das Flora besuchte. Ein Wahnsinniger, ein Franzose, der sich abwechselnd für Gott, Jesus oder einen Propheten hielt, sprach sie als Schwester an, segnete sie und übermittelte ihr den Auftrag Gottes, das Apostelamt der Ärmsten weiterzuführen. Flora Tristans Glaube an ihre göttliche Berufung als Gesellschaftsreformatorin hatte sicherlich ihre tiefste Wurzel in der Eigenart ihres Wesens, in dem sich bei großem Reichtum der Begabung ein leidenschaftlicher Betätigungs- und Geltungsdrang mit einer übersteigerten Empfindungs- und Vorstellungskraft paarte, die hart bis an die Grenze des Krankhaften ging. In Wechselwirkung mit den konfliktschweren, stürmischen Lebensschicksalen hatte sich auf dem Boden dieser Veranlagung der Hang zur gedanklichen Flucht in das Übernatürliche entwickelt. Der Glaubensüberschwang der Ahnen, in langen Jahrhunderten durch Generationen zum religiösen Fanatismus überzüchtet, der zur höheren Ehre Gottes mit wilder Freude Ketzer im Feuer schmoren ließ, lebte in ihr gemildert als Mystizismus auf. Flora Tristans Überzeugung, daß der Himmel sie zur Gesellschaftserneuerin und Menschheitsbefreierin auserkoren habe, wurde genährt und gestärkt durch ihre Zeit, in der die schwüle Stimmung eines messianischen Wunderglaubens auch in aufgeklärten Kreisen viele Gemüter beherrschte. Dieser soziale Sehnsuchtsglauben erkannte der Frau eine bedeutsame, entscheidende Rolle zu. Die Saint-Simonisten huldigten ihm und lebten in dem frohen Wahn, in ihrem Führer Enfantin den Heiland, »Vater« ihrer erlösenden sozialen Kirche, gefunden zu haben, und suchten seine Ergänzung, die messianische »Mutter«, zuletzt in dem mythenreichen Ägypten. Französische Frauenrechtlerinnen erwarteten sehnsüchtig das Erscheinen der »neuen Frau«, die als ideale Verkörperung aller Vollkommenheiten die Sache der Frauenemanzipation zum Siege führen würde. So war Flora Tristans Glaube an ihre göttliche Sendung nichts Außergewöhnliches in ihrer Zeit. Die geistig sonst so freie, unabhängige Frau, die die kirchlichen Bekenntnisse entschieden verneinte, hatte ihr eigenes, individuelles Verhältnis zum lieben Gott, von dem sie berufen und auserwählt worden war. Sie schrieb: »Meine Religion besteht darin, meine Brüder in der Menschheit zu lieben, mein Glaube, Gott in der Menschheit zu lieben und Gott in der Menschheit zu dienen.«

Die Stärke ihres Willens und das Feuer ihres Temperaments konzentrierte Flora Tristan von nun an auf die Erfüllung der Mission, die sie als göttliche empfand. Ihre literarischen Pläne, zu denen unter anderem einige soziale Romane gehörten, stellte sie zurück. Sie verzichtete zunächst auch darauf, ein größeres Werk über die Frauenemanzipation zu schreiben, für das sie eine reiche Fülle von einzelnen Aufzeichnungen angehäuft hatte, die nach ihrem Tode von einem Freund, dem früheren Abbé Alphonso Constant, zusammengefaßt, ergänzt und wahrscheinlich stark umgearbeitet unter dem Titel herausgegeben wurden: »Die Befreiung der Frau oder das Testament der Paria«. Sicherlich lag es Flora Tristan am Herzen, ihre Meinung zu der weitfassenden Frage im einzelnen ausführlich darzustellen. Allein, nötiger dünkte ihr die praktische Forderung der vollen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, und diese war ihrer Auffassung nach nur in der engsten Verbindung mit der Arbeiteremanzipation zu verwirklichen. Das Wichtigste, das Entscheidendste konnte sie also bei der Durchführung ihrer Sendung unter den Arbeitern sagen und wirken. Mit ihnen in Verbindung zu kommen und ihnen das neue Evangelium in allen Einzelheiten wohlbegründet, überzeugend zu übermitteln, das war Flora Tristans nächstes Ziel. Ihre »Wanderungen in London« verbanden sie mit dem Proletariat. Sie erweiterte und befestigte ihre Beziehungen zu fortgeschrittenen Arbeitern, zu Anhängern der verschiedenen sozialistischen Schulen, wie sie sich insbesondere um zwei von Proletariern geleitete Arbeiterzeitschriften gruppierten. Sie versammelte sie in ihrer Wohnung um sich, lernte die besonderen Bedingungen ihrer Existenz und Tätigkeit kennen, hörte ihre Ansichten über soziale und politische Fragen und setzte ihre eigenen Ideen auseinander.

Mit verzehrendem Eifer stürzte sie sich darauf, ihre Wegweisung zur Menschheitserlösung als Tat der vereinigten Arbeiterklasse in allen Einzelheiten, gleichsam programmatisch, darzustellen – entgegen ihrer Wesensart, aus Rücksicht auf das Verständnis der Arbeiter fast durchweg in einfacher ruhiger Sprache, die sich zum Pathos nur steigert, wenn das hohe Endziel berührt wird. Flora Tristan gab der Schrift, die ihren Namen unsterblich macht, den sachgemäß schlichten Titel: »Die Arbeitervereinigung«. Wir haben an anderer Stelle das darin niedergelegte Evangelium und seine Bedeutung kritisch gewürdigt, gezeigt, was es den Arbeitern zur Erkenntnis ihrer Klassenlage und ihrer geschichtlichen Sendung gab und was es ihnen schuldig blieb. Es sei hier hervorgehoben, daß Flora Tristan im Rahmen der Gesamtdarstellung die Forderung nach voller Gleichberechtigung für die Frauen in einem besonderen Kapitel behandelt und daß sie die Verwirklichung dieser Forderung nicht als Folge der Arbeiteremanzipation preist, vielmehr als unerläßliche Voraussetzung dafür heischt. Sie ist die erste Verfechterin der Frauenrechte, die sich eingehend mit den Löhnen, mit der Lage der Arbeiterinnen beschäftigt und die Rolle der proletarischen Hausfrau nach ihrer sozialen Bedeutung für die Arbeiter einschätzt. Bemerkenswert ist ferner der hohe Wert, den sie der Handarbeit zuerkennt, sie geht darin über Saint-Simon hinaus. Nach ihrer Meinung muß es jedes Glied der organisierten Gesellschaft, ob Mann, ob Weib, für eine Ehre und Selbstverständlichkeit halten, nach guter beruflicher Ausbildung irgendeine Handarbeit verrichten zu können. Deshalb ist auch die gründliche Unterweisung der Kinder, der Knaben und Mädchen, in Berufen der Handarbeit ein wesentlicher Bestandteil ihrer Erziehung in den »Arbeiterpalästen«. Flora Tristan legt der allseitigen Erziehung und Bildung beider Geschlechter von Jugend auf die größte Bedeutung für die Befreiung und die Erhebung der Arbeiter bei. Sie stellt stets mit starker Betonung die moralische und berufliche Bildung nebeneinander in den Vordergrund. Im einzelnen entwickelt sie zu der Frage der intellektuellen, moralischen und physischen Erziehung ausgezeichnete und anregende Gedanken, deren sich kein moderner Pädagoge zu schämen brauchte.

Das Manuskript des neuen Evangeliums ist fertig; aber wie die Schrift herausbringen und verbreiten, billig, unter Verzicht auf Gewinn, damit ihr Preis den Arbeitern erschwinglich ist? Auch der fortgeschrittenste Verleger verspürte keine Neigung dazu, und die Arbeiterorgane lehnten einen Abdruck in Fortsetzungen ab oder drückten sich verlegen um eine zustimmende Antwort herum. Flora Tristan selbst besaß nicht die Mittel, um die Kosten für Herstellung und Verbreitung des Werkes zu decken. Nach einer sorgengefolterten Nacht kam ihr beim Anblick der Türme der Kirche Saint-Sulpice wie durch »himmlische Eingebung« der Gedanke, durch persönliche Subskriptionen die erforderlichen Mittel zu beschaffen. Sofort ging sie ans Werk. Ihre Tochter Aline, die als Modistin ihr Brot erwarb, das Dienstmädchen, der Wasserträger, nahe und schnell erreichbare Freunde zeichneten als erste in der Subskriptionsliste. Flora suchte Persönlichkeiten mit glänzendem Namen und reichen Mitteln dafür zu gewinnen. Zu diesem Zweck klopfte sie persönlich an Türen und Herzen, von denen manche verschlossen blieben. Einige Monate hindurch wanderte sie kreuz und quer durch Paris, sie machte mehr als 200 Besuche, um Unterschriften zu werben. Ihre Gänge waren Opfergänge in der wahrsten Bedeutung des Wortes, sie legte sie bei Wind und Wetter zu Fuß zurück, denn sie war zu arm, um einen Wagen zu mieten. Doch der Erfolg krönte ihre Bemühungen.

Am 1. Juni 1843 konnte »Die Arbeitervereinigung« erscheinen. Die Monate bis dahin hatte die Verfasserin zur Propaganda für ihre Ideen und ihr Werk unter den Pariser Proletariern genutzt. Sie hatte es sich besonders angelegen sein lassen, organisierte Arbeiter als Stützen und Träger ihrer Anschauungen zu gewinnen. Solche fanden sich damals nur – von einzelnen sozialistischen und politischen Vereinigungen abgesehen – in den aus der Zunftzeit überkommenen Bruderschaften der Gesellenvereine, auf die Flora Tristan durch die von ihr gewissenhaft studierten Schriften des Setzers Boyer, des Tischlers Perdiguier, des Schlossers Moreau und des Schmiedes Goset aufmerksam gemacht worden war. Sie trat in persönlichen Verkehr mit den letztgenannten drei Arbeitern und erhielt durch sie mit der Zeit auch Verbindung mit den Organisationen anderer Berufe. Einem aus diesen Kreisen hervorgegangenen Komitee von Arbeitern las sie vor dem Erscheinen ihre Schrift vor. Änderungen, die das Komitee mit Rücksicht auf das Verständnis und die Empfindlichkeit der Proletarier anregte, lehnte sie mit der kennzeichnenden Bemerkung ab, sie könne keine Änderung der Idee annehmen, die Gott in ihr Herz geschickt habe. Es scheint, daß Flora Tristan in jener Zeit auch den Kreisen der in Paris lebenden revolutionär gestimmten Deutschen nähergetreten ist. Der Junghegelianer Arnold Ruge, mit Marx zusammen der Herausgeber der Deutsch-Französischen Jahrbücher, schildert einen interessanten Abend, den er zusammen mit französischen und deutschen Arbeitern, Literaten und anderen Intellektuellen bei Flora Tristan verlebte. Er rühmt das taktvolle Geschick, mit der sie den Meinungsaustausch von Angehörigen der verschiedensten sozialen Schichten vermittelte und leitete, und das flammende Temperament, mit dem sie ihre eigenen Ideen vertrat.

Die Monate vor und nach dem Erscheinen der »Arbeitervereinigung« brachten Flora Tristan manch bittere Enttäuschung. Von den bekannten Utopisten bezeugte nur der Fourierist Victor Considérant Interesse und Sympathie für das neue sozialistische Evangelium. In der unter seiner Leitung stehenden »Phalange« waren im Frühjahr 1843 die ersten Kapitel der »Arbeitervereinigung« abgedruckt worden. Enfantin, Cabet und Pierre Leroux dagegen lehnten eine Unterstützung von Flora Tristans Propaganda mit höhnischer Kritik ab, und es entbehrt nicht des Reizes, daß sie, deren Lehren der reale geschichtliche Boden und die wissenschaftliche Fundamentierung fehlten, ihre Stellungnahme damit begründeten, daß »Die Arbeitervereinigung« eine Utopie predige. Arbeiterdichter, von großem Augenblicksruf und kleinem Talent, verweigerten die erbetene Förderung der Bewegung mit der geckenhaften Aufgeblasenheit von Protzen. Andererseits gingen Flora Tristan von Arbeitern Briefe freudigster und herzlichster Zustimmung zu. Aus Nantes, Toulon, Bordeaux, Lyon und auch aus Genf kamen Bestellungen auf die Schrift und Versicherungen, kräftig für ihre Verbreitung zu sorgen. Die erste kurze Werbereise, die Flora Tristan nach Bordeaux unternahm, hinterließ beste Eindrücke von der Empfänglichkeit und dem Verständnis der Arbeiter für die gewiesenen Ziele. In den ersten Monaten des Jahres 1844 konnte bereits eine zweite, erweiterte Auflage der »Arbeitervereinigung« erscheinen, deren Kosten gleichfalls durch eine Subskription gedeckt worden waren. In dieser fehlten größere Beträge und große Namen fast ganz, ein Anzeichen dafür, daß die Unterzeichner sich aus Arbeiterkreisen rekrutierten. Zu dem Ergebnis der Subskription fügte sich der volle Erlös aus dem Verkauf der ersten Auflage, da Flora Tristan von vornherein festgelegt hatte, daß sie keinen Centime Honorar für ihre Schrift annehme, sondern den Ertrag für die weitere Aufklärung der Arbeiter bestimme.

Wie der Ruf »Gott will es« einst die Kreuzfahrer zu ihren Zügen nach dem Heiligen Lande angespornt hatte, um das Grab Christi den Händen der Ungläubigen zu entreißen, also trieb die innere Stimme ihrer mystischen Berufung Flora Tristan mit unwiderstehlicher Gewalt vorwärts, als Evangelistin unter den Proletariern und Proletarierinnen persönlich, unmittelbar zu wirken und sie aus der Nacht und Not ihres leiblichen und geistigen Elends zur Befreiung und Menschheitserlösung zu führen. Im April 1844 trat sie ihre große Propagandareise durch Frankreich an. Ihr Weg verlief in der Linie der Wanderfahrten der zünftigen Handwerksgesellen. Bis Anfang September entfaltete sie in 17 Städten eine ebenso energische wie hingebungsvolle Tätigkeit, so in Auxerre, Dijon, Chalon-sur-Saône, Mâcon, Lyon, Toulon, Toulouse, Avignon, Montpellier, Marseille und in anderen Orten. Je nach den Umständen war ihr Aufenthalt in den verschiedenen Orten von kürzerer oder längerer Dauer; Lyon und Marseille besuchte sie zweimal. Flora Tristan gibt sich ihrem Apostelamt mit der vollen Glut ihres Wesens hin. Der Glaube an ihre göttliche Berufung stärkt stets aufs neue die schwindenden Kräfte zu den außerordentlichsten Leistungen. Schon bald nach dem Antritt ihrer Werbetätigkeit treten Anfälle des Leidens auf, dem sie nach wenigen Monaten erliegen sollte. Sie läßt sich dadurch nicht mahnen und schrecken. »Gott will es!« Die Anforderungen an die körperliche und geistige Energie der zarten Frau sind ungeheuer, sie unterwirft sich ihnen mit freudiger Hingabe. Die sehr knappen verfügbaren Mittel und auch der Zweck der Reise zwingen dazu, daß Flora Tristan fast überall Herberge in bescheidensten, ja schlechten Gasthäusern sucht, wo sie keine Bequemlichkeit, manchmal nicht einmal ungestörte Ruhe findet. Sie erfährt alle Schwierigkeiten und Bitternisse, die in jenen Tagen eine alleinreisende und öffentlich hervortretende Frau treffen können. Schmutzige Verleumdungen eilen ihr voraus und folgen ihr nach, die einen denunzieren sie als Agentin der Regierung, denn sie greift auch die radikalen Bourgeois an, die oppositionelle Politik wie Jagdsport betreiben; die anderen beschimpfen sie als verworfene Abenteuerin; die dritten bewitzeln sie als halbverrückten Blaustrumpf. In mehreren Städten wird sie von der Polizei schikaniert und verfolgt. Spitzel begleiten sie gleich ihrem Schatten; ein Polizeikommissar durchstöbert ihr Zimmer und ihre Koffer; Polizisten kontrollieren als Wachtposten, wer bei der »Aufrührerin« ein- und ausgeht; Behörden schüchtern die Inhaber von Lokalen ein, daß sie diese nicht für Sitzungen und Versammlungen zur Verfügung stellen, sie entsenden Polizeimannschaften und Soldaten gegen Versammlungen; sie drohen Flora Tristan mit Ausweisung.

Und die Ideensaat zur Aufklärung und Organisierung der proletarischen Männer und Frauen, fällt sie auf fruchtbares Erdreich? Ist der Boden nicht nur durch das Elend vorgepflügt, sondern auch durch das Bewußtsein des Elends und den Drang, es zu wenden? In den wenigsten Städten haben Mitglieder von Organisationen oder sympathisierende Utopisten Vorbereitungsarbeit für Flora Tristans Werben um die Sache der Arbeiter geleistet. Meist fällt ihr die Last der vorbereitenden, aufreibenden Kleinarbeit zu. Sie sucht einzelne Arbeiter in ihren Wohnungen auf, beteiligt sich in den Cafés und Herbergen an den Unterhaltungen der Proletarier, verteilt Prospekte der »Arbeitervereinigung«, verkauft und verschenkt die Schrift usw. In ihrem Hotelzimmer oder in engen Arbeiterwohnungen hält sie Sitzungen ab, organisiert sie kleine und größere öffentliche Versammlungen und die Maßnahmen weiteren Zusammenwirkens und festen Zusammenschlusses. Sie tritt als Vortragende in die Öffentlichkeit. Sie hat Unterredungen mit Redakteuren, Unternehmern, den Spitzen der katholischen und protestantischen Geistlichkeit, denn ohne Illusionen über den Beistand, der der Arbeiterorganisation von solchen Herrschaften kommen kann, möchte sie dieser doch möglichst Widerstände aus dem Wege räumen. Durchaus nicht alle Blütenträume Flora Tristans von der Erfüllung ihres Apostelamtes reifen. Wie vielen dumpfen und stumpfen Geistern, verständnisunfähig und verständnisunwillig, begegnet sie unter den Arbeitern und erst recht unter den Arbeiterfrauen! Sie sieht Laster, die sich der von ihr erstrebten geistig-sittlichen Hebung des Proletariats widersetzen; sie stößt mit häßlichen, barbarischen Lebensgewohnheiten zusammen, die ihr schwer auf die verfeinerten Nerven fallen. Trotz alledem und alledem! Flora Tristans Glaube bleibt unerschüttert, daß die Arbeiter die einzige starke Kraft für ihre Befreiung, für die Menschheitserlösung sind und daß ihre Vereinigung über die Grenzen des Berufs, des Geschlechts, der Religion und der Nation hinaus so sicher ist wie das Aufgehen der Sonne nach dunkler Nacht. »Gott will es!« Und sie erlebt Schöpferfreuden. In manchen großen Städten legt sie die Grundsteine zur Organisation, in anderen wirkt sich ihre aufrüttelnde, wegweisende Tätigkeit erst später aus. Kaum ein bereister Ort, in dem nicht neues Leben aufkeimt. Den größten Erfolg bringt Lyon. Unter der Arbeiterschaft der Seidenindustrie dort ist der stolze Geist nicht gestorben, der sich zehn Jahre zuvor in der bewaffneten Revolte wider Ausbeutung und Knechtschaft aufgelehnt hatte. Die sich organisierenden Arbeiter beschließen eine billige Ausgabe der »Arbeitervereinigung« zum Preise von 25 Centime und zeichnen sofort 4000 Exemplare. Diese dritte Auflage erscheint noch im gleichen Jahre, 1844, in der Höhe von 10 000 Exemplaren.

In Lyon findet Flora Tristan in der jungen Arbeiterfrau Eleonore Blanc, einer Wäscherin, eine tiefdringende, voll verstehende Schülerin und eine zärtlich hingebende Freundin, ihre »geistige Tochter« und ihren »Johannes«. Eleonore Blanc hat durch ihre weitere Tätigkeit und durch eine Biographie Flora Tristans bekundet, daß sie der Meisterin und ihrem Werk die Treue gehalten.

Als eine Zusammenbrechende, eine Sterbende, traf die Evangelistin in den letzten Tagen des Septembers in Bordeaux ein. Ein Gehirnschlag warf sie darnieder, und das ihre Werbereise begleitende tückische Leiden – wahrscheinlich ein typhöses Fieber – trat stärker auf als je zuvor. Sie erlag ihm am 14. November 1844, von der ersten bis zur letzten Minute von der liebevollsten, gewissenhaften Pflege persönlicher Freunde umgeben. Arbeiter trugen die lebenslang Ruhelose zur Ruhe. Flora Tristans Hinterlassenschaft reichte gerade aus, die Kosten der Krankheit und die Schulden zu zahlen. Ein Arbeiterkomitee wurde mit der Aufgabe eingesetzt, für ein Denkmal zu sorgen, das Flora Tristans und ihres Lebenswerkes würdig sei. Im Oktober 1848, nachdem die Februarrevolution und der glorreiche Juniaufstand des Pariser Proletariats Frankreich erschüttert hatten, wurde das Denkmal enthüllt. Die Feierlichkeit gestaltete sich zu einer gewaltigen Demonstration der Arbeiter. Das Grab der kühnen Kämpferin schmückt eine abgebrochene, mit Eichenlaub umwundene Marmorsäule. Die Tafel am Fuße trägt außer den Daten der Geburt und des Todes diese Inschrift: »Dem Gedächtnis Flora Tristans, der Verfasserin der ›Arbeitervereinigung‹, die dankbaren Arbeiter. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.«

Starke Zeitstimmungen und Zeitströmungen. Ausstrahlungen eines großen geschichtlichen Milieus haben ihren Ausdruck in Flora Tristans Leben und Wirken gefunden, und Leben und Wirken war für diese Tatverlangende eins. In ihrem Schicksal und in ihrem Werk redet die Sehnsucht erwachender und wacher Frauen nach Sprengung der fesselnden Ketten ihres Menschentums; treten die Ideen des utopischen Sozialismus hervor, die Einflüsse der Klassenbewegung der Chartisten für die politische Gleichberechtigung des Proletariats, des Ringens der Irländer um das Recht ihrer Nation; weht die Atmosphäre des Landes, das dank seiner großen Revolution damals der Brennpunkt des politischen und Sozialrevolutionären Lebens von Europa war; rauscht das Banner der todesmutigen Lyoner Aufständischen; künden Sturmvogelschreie das Heraufziehen des revolutionären Gewitters. Jedoch das Zeit- und Milieugegebene ist empfunden von einem glutvollen Temperament, gestaltet von einem auf Selbständigkeit gerichteten wägenden Geist. Eine außergewöhnlich starke und reiche Persönlichkeit verlieh ihm glänzende Farben, beseelte es mit eigenem Leben, hohem Schwung und hinreißendem Feuer. Wie Flora Tristans Persönlichkeit, so ist auch ihr Lebenswerk voller Gegensätze und Disharmonien. Sie kann für sich die Worte in Anspruch nehmen, die der Schweizer Dichter Conrad Ferdinand Meyer Ulrich von Hütten in den Mund legt:

»... ich bin kein ausgeklügelt Buch.
Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.«

Flora Tristan ist alles andere eher als ein »ausgeklügelt Buch«. Unvermittelt, elementar sich durchsetzend, liegen bei ihr die Widersprüche des Menschlichen nebeneinander, in ihrer Stärke der Stärke ihrer Trägerin entsprechend: Edelstes, Großzügiges und Kleines, Alltägliches; freudigste Selbstaufopferung und schroffe Ichbehauptung; scharfer Wirklichkeitssinn und nebelhafte Traumseligkeit. Doch alle Gegensätze ihres Wesens und Wirkens tragen keinen Bruch in ihre Persönlichkeit hinein, und sie treten zurück hinter der Einheitlichkeit und Geschlossenheit ihres Willens, die Arbeiter als international vereinigte Klasse ihrer Befreiung aus eigener Kraft entgegenzuführen und mit den Arbeitern die Frauen, die gesamte Menschheit; verblassen in der Glut der schrankenlosen, opferfreudigen Hingabe der Kämpferin an ihr Werk. Als Flora Tristan die Illusion ihrer Kinder- und Jugendjahre literarisch einsargt, nennt sie sich bitter eine »Paria«. Um Lebenserhaltung und Lebenserfüllung ringend, ist die »Paria« zum Proletariat emporgestiegen, zu der Klasse, die sie selbst wiederholt mit Nachdruck nicht bloß als »die zahlreichste«, sondern auch als die »nützlichste« bezeichnet und die sie als die menschheitserlösende Macht gewertet hat. Nicht als Verfemte, als Kämpfende für der Menschheit große und größte Dinge hat Flora Tristan Heimatrecht im Weltproletariat erobert, dem sie diente.


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