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8

Berlin stand buchstäblich Kopf. So etwas war ja noch nicht dagewesen. Man hatte schon erlebt, daß Bankdirektoren, Millionäre, Industriemagnaten ins Gefängnis kamen und ihre Unternehmungen, wie von einem Erdbeben erschüttert, in Trümmer fielen, aber daß einer aus dem Untersuchungsgefängnis heraus seine Schlachten an der Börse schlug, daß die Aktien eines Unternehmens stiegen, während der Staatsanwalt Bücher und Depots beschlagnahmte, das war unfaßbar. Wie hatte der Mann das gemacht? War er das größte Finanzgenie oder der größte Schwindler? Oder beides zusammen? Die Gestalt Gontards wurde legendär. Die Phantasie der Leute erregte sich an ihm, die unwahrscheinlichsten Anekdoten gingen um.

»Was sagen Sie doch zu dem Kerl? Phantastisch was?«

»Da lege ich meinen Kopf hin, die ganze Sache war ein Trick. Der Mann hat genau gewußt, warum er sich einsperren läßt. Mir kann man nichts erzählen.«

»Na, ich weiß nicht. Man läßt sich nicht so mir nichts dir nichts einlochen. Das Herauskommen ist nicht so leicht wie das Hineinkommen.«

»Wenn ich Ihnen sage! In ein paar Tagen ist der Mann wieder frei. Der französische Botschafter hat bei Stresemann interveniert. Warten Sie, am Freitag erleben wir was an der Börse, die ganze Burgstraße wird wackeln.«

»Ist doch Unsinn. Was hat Frankreich schon für ein Interesse an der Depositenbank. Rußland ja, das ist was anderes. Die Sache hängt mit dem deutsch-russischen Handelsvertrag zusammen.«

»Haben Sie schon gehört, wie die letzte Vernehmung Gontards verlaufen ist? Drei Staatsanwälte haben ihn abwechselnd achtzehn Stunden verhört, bis sie nicht mehr weiterkonnten. Da nimmt er das Wort und hält ohne Notizen, ohne alles, so aus dem Handgelenk eine dreistündige Rede. Dr. Haller ist ihm ein halbes Dutzend Mal unter der Hand dabei eingenickt, und er hat ihn immer wieder geweckt. Was? Glauben Sie nicht? Der Protokollführer hat's doch selbst meinem Anwalt erzählt.«

»Wissen Sie schon den Unterschied zwischen der Depositenbank und einer Zigeunerbande?«

»Hören Sie bloß auf, Depositenbande – Zigeunerbank, Gott wie alt! Hab' ich schon gestern gehört.«

An der Vernehmung war immerhin etwas Wahres. Staatsanwaltschaftsrat Dr. Haller war berüchtigt wegen seiner Verhöre, mit denen er hartnäckige Leugner mürbe machte. Er hatte Nerven aus Stahl, und die armen Teufel, die zwischen seine langen, knochigen Finger gerieten, waren nicht zu beneiden. Aber seine Künste waren an Gontard gescheitert. Zwei ebenbürtige Gegner, der drahtige, langgesichtige Staatsanwalt mit den hypnotisch kalten, Einglas-bewehrten Augen, und der breite Bankier, der wie getürmtes Felsgestein regungslos alle Fragen über sich ergehen ließ. Tag für Tag, stunden- und aberstundenlang hielt Gontard der Tortur der Vernehmungen stand, die sich erbarmungslos bis in die tiefe Nacht hinzogen.

»Herr Gontard, stellen Sie sich nicht auf den Standpunkt, daß ich Ihnen feindlich gesinnt bin. Bin ich nicht. Habe sogar vor Ihnen Respekt. Was Sie da aus dem Gefängnis heraus gemacht haben – Hochachtung. Leider muß ich Ihnen da ein bißchen in die Parade fahren. Ihre Bewachung wird verschärft werden und die Erleichterungen, die Ihnen gewährt worden sind, wird man Ihnen entziehen. Wir wissen sehr genau, daß Sie mit Ihren Freunden draußen in Verbindung stehen. Die Untersuchung darüber ist im Gange und wird einigen Leuten nicht angenehm sein. In Zukunft werden Sie diese Stückchen nicht aufführen können. Vorausgesetzt, daß Sie mir nicht die ganze Geschichte durch ein offenes Geständnis erleichtern.«

»– – –«

»Ich muß sagen, ich begreife Sie nicht. Sie gehören zu den klügsten Leuten, die ich kenne, das gestehe ich gern zu. Was bezwecken Sie mit Ihrem Schweigen? Ihre Haft wird sich ins Unendliche verlängern. Glauben Sie nur ja nicht, daß Ihr Haftentlassungsantrag durchgeht. So lange ich hier sitze, nicht.«

Die beiden Staatsanwälte, die zugegen waren, mengten sich hinein. Staatsanwalt Dr. Kellendorfer richtete an Gontard das Wort.

»Sie sagen, Sie haben das Gespräch nicht geführt. Gut. Sie waren überhaupt nicht in der Bank in der fraglichen Zeit. Auch gut. Aber Sie verlangen, daß wir Ihnen das glauben. Sie können uns doch nicht weismachen, daß Sie nicht einmal einen Verdacht haben, wer das Gespräch, das nun einmal nicht aus der Welt zu schaffen ist, geführt, wer außer Ihnen ohne Ihren Auftrag die Gräfin angerufen haben könnte. Sämtliche Angestellte der Bank bestreiten, mit der Sache etwas zu tun, ja, überhaupt von ihr etwas gewußt zu haben. Sie selbst haben erklärt, daß Sie es für ausgeschlossen halten, einer von den Angestellten könnte es gewesen sein. Es erscheint auch durchaus unwahrscheinlich, daß irgendein Fremder unbemerkt in den Büroräumen telefonieren könnte und nun gar nach außerhalb, was doch immerhin einige Zeit in Anspruch nimmt. Es sei denn in Ihrem Auftrag und mit Ihrer Hilfe. Oder – das wäre nicht ausgeschlossen – es müßte jemand gewesen sein, der mit den Verhältnissen in der Bank außerordentlich vertraut ist. Der Kreis solcher Personen kann doch nicht allzu groß sein, und Sie mit Ihrem phänomenalen Gedächtnis, das wir hier alle bewundern, müßten uns doch einen Fingerzeig zu geben imstande sein. Sagen Sie ein Wort, wir versprechen Ihnen, daß wir die Spur sofort mit allen Mitteln verfolgen.«

»Ich weiß, oder ich weiß nicht. Aber ich verdächtige niemand. Die Staatsanwaltschaft verdächtigt, aber sie weiß nichts.«

»Na na na«, warf Dr. Schlick ein, der zweite Staatsanwalt, »weiß nichts, stimmt ja nun nicht. Wir wissen schon eine ganze Menge. Sie werden nicht behaupten wollen, daß Sie ohne gravierende Verdachtsmomente in Haft genommen worden sind.«

»Geben Sie mich auf drei Tage frei, und ich kläre die Sache auf.«

»Oder auch nicht. Ich habe, offen gestanden, zu Ihrer Fähigkeit, zu verdunkeln, größeres Vertrauen«, erwiderte Dr. Schlick, der vor seinem Vorgesetzten Dr. Haller gern ein bißchen den Schneidigen hervorkehrte. »Überlassen Sie das Aufklären ruhig uns. Mir genügt es völlig, wenn Sie uns beweisen, daß Sie unschuldig sind, und das ist doch für Sie ein Kinderspiel. Geben Sie uns Ihr Alibi für diese Stunde Ihrer Abwesenheit von der Bank.«

Dr. Haller spielte gelassen mit dem Bleistift, den er, als wäre das die wichtigste Angelegenheit der Welt, auf der Schneide des Lineals balancierte. Er ließ die beiden Staatsanwälte ruhig reden und fragen, nur mit halbem Ohr hinhörend. Das waren immer dieselben Fragen, mal so, mal so gestellt. Und die Antworten waren auch immer die gleichen. Es kam nicht viel oder eigentlich nichts dabei heraus. Diesen Menschen mußte man von einer anderen Seite packen. Wenn man ihn so überwachen könnte, daß ihm jede Möglichkeit, sich mit der Außenwelt zu verständigen und solche Kunststücke zu machen wie letzthin an der Börse, unmöglich wäre! Daß Gontard irgendwie es verstand, dauernd Nachrichten zu empfangen und Nachrichten hinauszugeben, stand für Dr. Haller fest, obwohl man auch nicht einmal eine Ahnung hatte, wie der Bankier das bewerkstelligte. Außer der Erlaubnis zu rauchen, hatte er keine einzige der Erleichterungen, um die sich Untersuchungsgefangene sonst reißen, in Anspruch genommen. Das schien so einfach, einen eingesperrten Menschen von der Welt gänzlich abzuschließen und war es gar nicht in Wirklichkeit. Vielleicht müßte man Gontard so viel Freiheit lassen, daß er unvorsichtig würde und sich verriete. Unter den Lidern, die sich scheinbar nur mit dem Gleichgewicht des Bleistifts auf der Linealkante beschäftigten, beobachtete er den Bankier. Der schien kaum einen der Staatsanwälte zu beachten. Dr. Kellendorfer und Dr. Schlick behandelte er fast mit beleidigender Gleichgültigkeit. Dr. Haller war der einzige, den er sozusagen als gleichberechtigt anerkannte. Und er wandte sich auch an diesen, als er auf Dr. Schlicks Frage nach dem Alibi antwortete.

»Habe ich als Mensch nicht das Recht, eine Stunde meines Lebens ganz für mich zu behalten?«

Dr. Haller, feinohrig für jede Schwingung in der Stimme eines Menschen, hörte einen besonderen Ton. Er ließ sofort das Spielen sein.

»Unter Umständen, Herr Gontard, gewiß. Ich kann mir schon vorstellen, daß es solche Stunden gibt. Es ist nur schwer für den Richter, darauf Rücksicht zu nehmen. Er muß auch das Geheimnis einer solchen Stunde zu lüften suchen. Und es ist ja nicht unbedingt nötig, daß er das mit roher Hand tut. Rauchen Sie? Bitte!«

Er reichte mit weltmännisch-höflicher Bewegung dem Bankier die Zigarrentasche. Und zu den beiden Staatsanwälten, mit einer Geste nach der Tür:

»Übrigens, meine Herren, darf ich Sie auf ein Wort bitten?«

Die drei Herren begaben sich auf den langen, leeren Korridor, während Gontard mit dem Protokollführer zurückblieb.

»Ich habe die Empfindung, daß der Patient einen schwachen Moment hat und daß es vielleicht richtig wäre, wenn ich jetzt mit ihm allein bliebe. Sie verstehen – sozusagen unter vier Augen. Da sprichts sich's leichter. Ist's Ihnen recht, meine Herren?«

»Aber durchaus«, beeilte sich Dr. Schlick seinem Ranghöheren zuzustimmen. »Nur wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, ohne natürlich beeinflussen zu wollen. Jetzt wird der Bursche mit der Frau kommen. Eigentlich habe ich schon längst darauf gewartet. Heiße Liebe, Dame der großen Gesellschaft, unmöglich, sie zu kompromittieren. Also, ich glaub's nicht.«

»Hm«.

»Na, ich weiß nicht recht«, ließ sich Dr. Kellendörfer räuspernd vernehmen, »etwas stimmt mir nicht. Natürlich – reines Fingerspitzengefühl.«

»Hm«, machte Haller wieder.

»Herr Kollege Kellendörfer ist Psychologe, ich halte mich lieber an Tatsachen. Und die Tatsachen sprechen gegen den Angeschuldigten.«

»Hm.«

»Tatsache ist auch, daß die meisten Anzeigen sich schon jetzt als grundlos erwiesen haben«, sagte Kellendörfer nachdenklich. »Obgleich ich zugebe, daß die Geschäfte moralisch nicht immer einwandfrei waren.«

»Hm.«

»Aber jetzt wird uns der Herr mit der Moral kommen und sich auf den Kavalier hinausspielen. Ich traue ihm nicht von dort bis hierher.«

»Hm. Na, wir werden ja sehen. Also auf Wiedersehen, meine Herren, morgen Fortsetzung.«

Händeschütteln. Verbeugungen.

Gontard saß mit gerundetem Rücken und gesenktem Kopf auf seinem Platz. Die Zigarre zwischen den Zähnen. Die ganzen Tage hatten ihn unberührt gelassen. Das Eingesperrtsein, die Einsamkeit drückte ihn nicht. Fast war ihm die Abgeschlossenheit angenehm. Ihm war zumute wie einem Mönch in der Klosterzelle, der in seiner Abgeschiedenheit alle Kraft der Sehnsucht und Inbrunst des Glaubens auf seinen Gott richtet. Die trostlose Kargheit der Zelle störte Gontard nicht, die schlechte Kost war ihm gleichgültig. Alles das spielte keine Rolle. Aber heute war Dienstag. Dienstag. Sein Tag. Zum erstenmal war ihm die Zelle unerträglich erschienen. Und die brennende Unruhe hatte ihn in der Zelle umhergejagt. Zum Fenster und wieder zur Tür, tierhaft hin und her, vier Schritte hinauf, vier Schritte hinunter. Die Unmöglichkeit, einen armseligen Schritt mehr zu tun, sondern immer und immer wieder, ehe der Fuß noch Richtung bekam, umkehren zu müssen, machte wahnsinnig und steigerte die vibrierende Unruhe bis zum kaum noch unterdrückten Toben. Beim heutigen Verhör Haltung zu bewahren, hatte zum erstenmal Kraft und ungeheure Selbstbeherrschung gekostet. Sechs Tage der Woche werden nichts sein, fühlte er, aber der eine, der Dienstag, bedeutete Irrsinn, Tobsucht, Zusammenbruch.

Als wären sie nicht im gesichtlosen Richterzimmer, sondern in der Behaglichkeit eines Gesellschaftsraumes, eröffnete Haller das Gespräch. Im Hintergrund, wie nicht vorhanden, saß der Protokollführer regungslos hinter der Schreibmaschine.

»Ich habe die beiden Herren entfernt, ich dachte mir, es wird Ihnen angenehmer sein, mit mir allein zu sprechen, Herr Gontard. Wir können jetzt ungestört plaudern.«

»Danke.«

Daß Gontard »danke« sagte, war immerhin ein Fortschritt.

»Sie haben vorhin einen Satz gesprochen, in dem verschiedenes drinsteckt. Es handelt sich um die eine Stunde, die Sie für sich behalten möchten, und an der unglücklicherweise die Entscheidung hängt. Wollten Sie etwas sagen? Bitte sehr. Ich dachte. Ja, also, diese Stunde. Ich darf wohl den Fall, daß Sie gerade in dieser Stunde etwas begangen haben, was Sie mit dem Gesetz in Konflikt bringt, ausschalten. Es handelt sich wohl um eine – seelische Angelegenheit.«

Dr. Haller machte fortwährend Pausen, um Gontard zu einer Bemerkung Gelegenheit zu geben. Nichts folgte.

»Es gibt natürlich Fälle, Herr Gontard, ich verstehe das vollkommen, wo Männer mit kavaliersmäßigem Empfinden die Pflicht haben zu schweigen. Oder wenigstens meinen, diese Pflicht zu haben«.

Pause. Es ging aber doch etwas vor in diesem Menschen. Seine Hände waren verkrampft, jeder Muskel seines Gesichts war in Spannung, er hielt sich nur gewaltsam zusammen. Wo war die wunde Stelle, an die man rühren mußte, um ihn zusammenzucken zu lassen? Die Stimme Hallers, der ein guter Menschenkenner und ebenso guter Schauspieler war, dämpfte sich, als wollte er nicht, daß seine Worte bis zum Protokollführer dringen.

Wir sind Männer unter uns, und ich glaube, wir könnten einander verstehen. Eine Frau kann unser Leben umwerfen, eine kleine, schwache Hand kann mehr Gewalt über uns bekommen, als alle anderen Menschen zusammengenommen – –«

Gontard hob das graue Gesicht. Seine Augen, geschnittener, undurchsichtiger Stein, tauchten suchend in die scharfe Pupille des Sprechers, immer noch mit fest geschlossenen Lippen. Sein mißtrauisches Ohr siebte den Klang der entströmenden Worte. Kein Mensch wußte, wie die Worte ihm bis zum Ersticken den Mund füllten. Gestehen? Nein, nicht gestehen, nur von dem einen Menschen, der Hirn und Blut bis in den feinsten Aderkanal füllte, sprechen können. Sprechen wäre in diesem verzweifelten Augenblick unermeßliche, befreiende Gnade, wenn ein Echo da wäre, das den eigenen Herzschlag freundschaftlich einfängt und zurückwirft. Haller war nur Ohr und Auge. Er spürte die zum Bersten geladene Stimmung Gontards in allen Nervenspitzen. Er war nicht der Meinung, daß Gontard unschuldig war, aber er witterte irgendeine dunkle Verknüpfung mit einer Frau, die das unheilvolle Schicksal des Mannes war. Er flüsterte fast mit Eindringlichkeit:

»Wollen wir nicht wie Freunde sprechen? Wenn Sie wollen, soll das Gespräch von Mann zu Mann sein. Es soll nicht ins Protokoll aufgenommen werden. Niemand wird bloßgestellt. Wir werden zusammen einen Ausweg finden. Quälen Sie sich doch nicht unnötig. Dreht sich's um eine Frau?«

Gontards Zähne öffneten sich, als würden sie ihm mit einem Brecheisen auseinandergezwängt.

»Wenn ja?«

Gott sei Dank. Endlich ein Wort. Etwas.

Noch ein kleiner Anstoß war nötig. Ein Antippen mit dem Finger genügte vielleicht, das Gefäß zum Überlaufen zu bringen.

»In solchen Dingen sind wir alle noch Schuljungen und haben mit grauem Haar die gleichen Ehrbegriffe wie als Primaner.«

Absichtlich sagte Haller »wir«. Er wollte damit die Kluft überbrücken, die den Staatsanwalt vom Angeschuldigten trennte. Das »Wir« sollte heißen: So wie du bist, bin ich auch, was dir passiert ist, kann morgen mir geschehen, es ist nur ein Zufall, daß ich jetzt nicht auf deinem Platz sitze. Aber morgen, morgen schon kann es eintreten. Wir sind einander gleich, Schuljungen, die in jede Eselei hineinrennen, wenn das Herz mit uns durchgeht.

»Es ginge möglicherweise einzurichten, daß wir die Dame aus dem Spiel lassen, wenn Sie Vertrauen zu mir haben. Nur muß ich klar sehen. Man muß wissen, wo der Graben ist, wenn man nicht hineinfallen will. Lassen Sie sich doch von mir helfen.«

Jetzt – jetzt. Der Mund war schon geöffnet. Gleichzeitig durch Mund und Nase sog Gontard den Atem ein. Der Brustkessel füllte sich, daß sich die Rippen wie Spangen dehnend wölbten. Mit dem ausstoßenden Atem wollte sich die aufgedämmte Flut über das Wehr der Zähne ergießen. Und da beging der kluge, besonnene Haller eine Dummheit.

»Ich will Ihr schönes Gefühl nicht verletzen. Aber ich habe die Erfahrung, daß wir Männer in solchen Fällen mehr geben als empfangen. Sie setzen bedenkenlos Ehre, Stellung, Vermögen aufs Spiel. Hätte nicht die Frau ebenso bedenkenlos zu mir kommen müssen und mir sagen: Ich, ich, ich bin schuld. Und wenn sie nicht am ersten Tag die Kraft fand, am zweiten, fünften, siebenten Tag, nachdem sie in allen Zeitungen gelesen hatte, daß keine Gewalt Ihnen das Geheimnis entreißt, hätte sie es nicht mehr aushalten dürfen, hätte sie trotz Mann und Kindern rennen müssen, um Sie zu retten. Solche Opfer nimmt man nicht an.«

Das hätte Haller nicht sagen dürfen. Das Wort, das sich gegen die Frau richtete, verdarb alles. Es war aus. Der Mund Gontards schloß sich, der Atem blähte in heftigem Stoß die Nüstern, das graue Gesicht versteinte, war nur noch grob behauener Granit, der keinem Zureden, keinem Bemühen mehr zugänglich war. Der Dienstag war unwiederbringlich vorbei. Jetzt kamen sechs gleichgültige Tage, die zu ertragen waren. In sechs Tagen kann sich viel ereignen. Haller wußte sofort, daß für heute nichts mehr mit dem Bankier anzufangen war.

»Sie wollen also nicht? Schade. Ich habe es gut gemeint.«

Er stand auf. Die Deckenlampe strahlte unerbittlich weißes Licht in die Morgendämmerung, die durchs Fenster brach. Der Protokollführer reckte sich gähnend an der Schreibmaschine. Schlüssel klirrten. Hinter der geöffneten Tür dehnte sich endlos kahl der Gang, der zur Zelle führte.

*

Eve machte in Hausfrau, aus Sport gewissermaßen. Sie benützte die Gelegenheit dieser Tage, in denen sie nicht von morgens bis abends in der Bank sitzen mußte, und veranstaltete ein herrliches Großreinemachen. Es bereitete ihr ein Mordsvergnügen, mit Schürze und einer Haube als Staubschutz angetan, herumzuwirtschaften, einmal alles von unterst zu oberst zu kehren. Zwar ging ihr Haushalt auch sonst wie am Schnürchen, das Mädchen war prachtvoll dressiert – darauf verstand sich Eve –, aber es war einmal etwas anderes, selbst Hand anzulegen, den Staubwedel und Vakuumsauger zu regieren. Selbst beim Bohnern zu helfen, war sie sich nicht zu gut und turnte mit Wachs und Bürste auf dem Boden umher, als gäbe es nichts Vergnüglicheres auf der ganzen Welt. Es tat wohl, nach dem Tumult der Aufregung, sich einmal mit etwas gänzlich anderem zu beschäftigen als sonst. Nur der Küche blieb sie ängstlich fern. Kochen war ihre schwache Seite.

»Walli, rasch, einholen. Ich muß um zwei essen.«

Walli war noch keine drei Minuten unten, klingelte die Flurglocke. Jetzt Besuch, ausgerechnet. Ach was, eine Hausfrau kann einmal Schürze und Häubchen tragen. Wie sie war, noch erhitzt vom Bohnern, die Parkettbürste in der Hand, ging sie öffnen. Draußen stand ein hübscher Mensch, ein Arbeiter augenscheinlich, in sonntägliches Schwarz gekleidet, und grinste freundlich mit breitem Gesicht. Er streckte ihr sofort ein Blatt Papier entgegen:

»Bitt schenn.«

Eve maß ihn mißtrauisch von oben bis unten. Bettelte dieser gesunde, starke Kerl?

»No! – Bitt schenn!« wiederholte er, schon ungeduldig das Blatt schwenkend. Sie nahm es ihm zögernd ab. Oben stand ihr Name und ihre Adresse in altmodischer, etwas zittriger Schrift. Darunter:

»Zdenko Szczipczik aus Drohobycz, Werkmeister von der Polonia. Beste Grüße ergebenst Sliwinski.«

»Sie wollen Fräulein von Gernsheim sprechen?« fragte Eve.

Er nickte mehrmals rasch hintereinander, während das freundliche, ein bißchen dumme Grinsen keinen Augenblick von seinem runden Slawengesicht verschwand. Und dieses Grinsen galt offenbar dem hübschen Dienstmädchen, das er zu sprechen vermeinte.

»Sprechen Sie deutsch?«

»Nix gutt«, druckste er, »nix gutt. Aber ganz gutt.«

»Nix gutt. Aber ganz gutt?« lachte sie, ihm nachahmend, ins Gesicht. »Das gnädige Fräulein ist nicht zu Hause.«

Sie unterstützte ihre Worte mit einer Handbewegung, damit er sie besser verstünde. Plötzlich war ihr der Gedanke gekommen, vielleicht angeregt, weil er sie für das Dienstmädchen hielt, sich zu verleugnen. Es erschien ihr lustig, und dann – die Idee mochte gar nicht schlecht sein – war mit dem Burschen ganz anders zu sprechen, wenn man ein nettes Dienstmädchen war, das seinem Herzen näher kommen konnte als eine elegante Dame. Er wiegte nachdenklich den Kopf und sagte endlich, als wäre ihm etwas Glänzendes eingefallen:

»Ich – warten – bei – –«

Mit dem Zeigefinger wies er auf sie und tippte ihr zärtlich auf die Nasenspitze.

»Warten – hier?« sie zeigte auf den Fußboden, »nix warten.«

Sie drehte verneinend die Hand. Sie sprach absichtlich ebenso abgehackt und falsch wie er, als würde ihm das verständlicher sein.

»Dann –« Wieder fiel ihm etwas Großartiges ein, und er versuchte, ihr Handgelenk erfassend, sie aus der Tür auf den Treppenflur zu ziehen. »Du – ich – fort.«

Also viel Umstände machte der Herr nicht, das mußte ihm der blasse Neid lassen. Aber die Idee war wirklich nicht ohne. Sie, als Küchenfee, mit dem Herrn Werkmeister aus Drohobycz als Kavalier, abends so ein bißchen ausgehen, vielleicht in einem Tanzsaal sich ein bißchen herumschwenken lassen – mal auch nicht schlecht. Verrückt! Wenn's nicht verrückt wäre, wär's nicht so hübsch.

»Jetzt – nix fort. Abend – ja fort. Wir zwei, du und ich. Abholen acht Uhr«, sie zählte ihm an den Fingern vor, da er anscheinend nicht kapierte »– – fünf, sechs, sieben, acht. Abholen. Unten vor Haus. Haustür, unten.«

Endlich hatte er begriffen.

»No – und Frau?« zeigte er auf den Zettel.

»Ach! Hat Zeit. Morgen. Morgen.«

Das leuchtete ihm außerordentlich ein. Er wollte ihr noch einen Kuß geben, aber das ging ihr denn doch ein wenig zu schnell. Insbesondere der Herr Szczipczik zweifelsohne für gut gezwiebelte Speisen eine Vorliebe hatte.

Aufregung war nicht das richtige Wort, aber es war so etwas wie Lampenfieber, was Eve vor ihrer abendlichen Rolle verspürte. Walli wunderte sich nicht wenig. Sie mußte die Kleider zur Verfügung stellen, die ursprünglich aus Eves Garderobe stammten, inzwischen schon manchen Sonntag Walli geschmückt hatten und jetzt ein fröhliches Wiedersehen mit ihrer früheren Herrin feierten. Das Ankleiden zu einer großen Gesellschaft machte nicht so viel Kopfzerbrechen wie die Vorbereitungen zum heutigen Abend. Als Eve – fesches Dienstmädchen vom Kopf bis zu den Füßen – einige Minuten nach acht aus dem Haustor trat, wartete ihr Kavalier bereits. Er hatte zu knallgelben Stiefeln noch immer seinen schwarzen Anzug an, aus dem wie eine Rose die leuchtend rote Krawatte sprang. Die Zipfel eines grellen Taschentuchs baumelten aus der äußeren Brusttasche. Das gutmütig breite Slawengesicht mit den lustigen Augen krönte ein schieberischer Schlapphut, unter dem eine aschblonde Locke verwegen in die Stirn gekämmt war. Sogar schwarze Handschuhe trug Herr Szczipczik in der Linken, als wäre er zu einem Begräbnis geladen. Jedenfalls sah er sehr unternehmungslustig aus. Ohne viel Federlesen schob er die Hand unter den Arm seiner Dame, und sein Druck war zärtlich und vielverheißend. Das kann ja nett werden, dachte Eve und schnupperte ein wenig in der Luft. Ob er wieder Zwiebeln gegessen hat? Es wehte ihr aber ein anderer Duft entgegen. Weiß Gott, Parfüm. Veilchenduft. Herr Szczipczik mußte eine ganze Flasche geopfert haben. Wenn das nicht Liebe war! Schön war's nicht, aber immer noch besser als Zwiebel.

»Also, Herr Szczipczik, wohin gehen wir?«

»Nix Szczipczik. Ich Zdenko. Du?«

»Ich? Ich Walli. Also wohin?«

»Oh, weiß ich, weiß ich«, zwinkerte er ihr zu, »schennes Café, Musik, Tanz, Landsmann polnische, sehr gutt.«

Auf denn, zu Landsmann polnische. Eve war es gleich. Der Werkführer winkte ein Auto heran – heute war ihm anscheinend keine Wurst zu teuer – und half Eve beim Einsteigen, vielmehr schob er sie eigentlich hinein mit einem festen Griff an die Rückenverlängerung. Die polnischen Marjells waren es vermutlich so gewöhnt. Im Wagen schob er den Hut frech in den Nacken und legte den Arm um Eves Taille. Es war ein Glück, daß der Wagen geschlossen war. Eves Bekannte hätten ihre helle Freude gehabt.

Sie fuhren durch die ganze Stadt, Eve kannte längst die Gegend nicht mehr, es mochte irgendwo in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs sein. Sehr vertrauenerweckend sahen die Straßen nicht aus, durch die sie kamen. Herr Szczipczik benahm sich vorläufig noch ganz manierlich. Einige Kußattacken, die Eves Hut zum Verrutschen brachten, konnten noch erfolgreich abgeschlagen werden. Eve war gewandt und kräftig, und der gute Zdenko betastete respektvoll ihren festen Arm.

»Gutt, gutt.«

Sie mußte auch seinen Arm befühlen, der von ausgearbeiteten Muskeln strotzte. Alle Hochachtung. Wenn er einen schwächeren Bizeps gehabt hätte, wäre es Eve lieber gewesen.

Der Wagen hielt vor dem »Café Elektrik«. Ein ziemlich großes Lokal mit Nischen an den Wänden, in denen die Lampen stimmungsvoll mit buntem Seidenpapier verkleidet waren, einer Galerie, die sich gleichfalls in farbig beleuchtete Kojen teilte, mehr im Hintergrund war ein ausgesparter Raum zum Tanzen. Von Brüstung zu Brüstung zogen sich herrliche Papiergirlanden. Es war eine Pracht. Zdenko wollte hinauf auf den Balkon, doch Eve wollte in eine der unteren Nischen, die Nähe des Ausgangs schien ihr für alle Fälle wünschenswert. Vorläufig waren noch wenig Nischen besetzt, auch die Musik, die auf einem Podium in der Nähe des Tanzparketts untergebracht war, hatte noch nicht begonnen. Zuerst wurde Abendbrot gegessen. Und da erwies sich Herr Szczipczik aus Drohobycz als vollendeter Kavalier. Nichts war ihm für seine neue Freundin zu teuer.

»Errst Schnaps. Bei uns immer errst Schnaps. Dann gut eß.«

Überhaupt war er nett in seiner Verliebtheit, der Herr Szczipczik. Wein bestellte er, einer Blumenverkäuferin kaufte er einen Strauß Rosen ab und bezahlte, ohne mit der Wimper zu zucken, drei Mark. Der alte Sliwinski mußte ihn gut mit Geld ausgestattet haben und würde die Rechnung schon einschicken. Störend war nur, daß Zdenko die Soße mit den Lippen vom Messer streifte, aber die Geschicklichkeit, mit der er die blanke Klinge durch die Zähne zog, wirkte doch beruhigend. Man gewöhnte sich daran. Als die Musik einsetzte, war das »Café Elektrik« schon ziemlich gefüllt und ein schmalziger Walzer lockte die Paare auf den Tanzplatz. Arbeiter, kleine Beamte und Angestellte mit ihren Mädchen. Sehr viele Polen dazwischen. Zdenko war schon sehr gut gelaunt. Er hatte zum Wein noch Schnaps und wieder Schnaps bestellt, dem auch seine Dame fleißig zusprechen mußte. So viel hatte sie schon heraus, daß er in Berlin war, um eine Stellung zu bekommen.

»Ich Stellung hirr. Dann du ich heirat.«

Und küßte sie lachend, ehe sie sich's versah. Ein neuer Tanz setzte ein. Zdenko nahm seine Partnerin kurzerhand beim Arm und zog sie mit. Er tanzte schwer aber sicher, mit eisernem Griff seine »Braut« umschließend. Der Schweiß stand ihm vor Begeisterung auf der Stirn, er wurde immer verliebter. Keinen Tanz ließ er aus, und in den Zwischenpausen saßen sie enggeschmiegt nebeneinander. Eve wußte bald, was sie wissen wollte. Die Grube brannte, aber Zdenko glaubte nicht an die Arbeiter und nicht an den Kranken. Er war helle. Die Grube war schlecht. Wenig Naphtha. Oh, garr nix. Alles schlecht. Ob er es der Polizei gesagt hätte? Fiel ihm gar nicht ein, soll Polizei suchen. Was ging's ihn an. Sie fragte ihn nach der Ergiebigkeit der Grube. Es war nicht ein Viertel, was der Prospekt versprach. Mitten in ihre Unterhaltung platzte ein neues Gesicht. Ein langer Kerl mit einer gefährlichen Visage war an ihren Tisch gekommen und machte vor Eve eine steife Verbeugung. Sie wußte nicht recht, wie sie sich zu benehmen habe, und blickte fragend auf Zdenko. Der sah mürrisch drein, nickte aber. Der Lange, ein Athlet von Gestalt, zog mit Eve ab. Er drückte sie beim Tanze an sich, daß ihr die Knochen im Leib schmerzten. Er war auch ein Pole, der indes gut deutsch sprach. Auch dieser Kavalier war kein Freund großer Umstände.

»Wir gehn zusammen weg«, sagte er mit rauher Aussprache, während er sie wie ein Bündel herumdrehte und in einem Ton, der anscheinend an keinen Widerspruch gewöhnt war, »ich laß Mädel sitzen.«

»Fällt mir gar nicht ein«, antwortete Eve böse, »ich bin mit meinem Freund hier.«

Er lachte nur.

»Wenn schon. Ich warte nachher an der Tür. Den Freund werden wir schon los.«

»Ich will nicht.«

Er schwieg, doch seine Augen funkelten in einem bösen Glanz. Eve war es unheimlich. Sie ließ sich an ihren Tisch zurückbringen und bemerkte, wie der Lange Zdenko mit einem herausfordernden Blick maß. Zdenko gab den Blick zurück, wobei er die Hand am Hals der Weinflasche hatte. Die Gebärde hatte etwas Drohendes. Der Lange ging mit höhnischem Gesicht an seinen Platz, wo ein dickes, schwarzhaariges Mädchen auf ihn wartete. Eve fing einen eifersüchtigen Blick des Mädchens auf, der nichts weniger als freundlich war.

»Ich muß nach Hause, wir wollen zahlen«, bat Eve und machte die Geste des Geldzählens auf dem Tisch.

»Nein«, sagte Szczipczik störrisch. Auf seiner Stirn standen Falten.

»Dann zahle ich.«

Die Musik setzte wieder ein. Eve sah drüben den Langen aufstehen und auf ihren Tisch zusteuern. Das schwarze, dicke Mädchen machte ein wütendes Gesicht. Zdenko hatte es auch beobachtet, er wollte seinem Rivalen zuvorkommen und stand mit einer linkischen Verbeugung auf. Eve hielt es für das beste, den Tanz noch mitzumachen. Sie fürchtete sich nicht, aber wozu in eine Schlägerei verwickelt werden? Das fehlte noch. Der Lange drehte kurz um und holte sich sein Mädel. Eng gepreßt tanzten die Paare auf dem kleinen Parkett. Die Luft war scharf und dick, von Tabak, Schweiß und Bier gebeizt, die Gesichter waren rot und glänzend von Hitze. Immer wieder drängte sich der Lange mit seiner Tänzerin an Eve und Zdenko heran und versuchte sie anzurempeln. Einigemal wich ihm Eve geschickt aus, aber einmal gelang es ihm doch, ganz dicht heranzukommen und Zdenko heftig auf den Fuß zu treten. Unverkennbar war die Absicht. Zdenko sagte keinen Ton, nur in seinen Augen war ein bedrohliches Flimmern, und seine breiten Nasenflügel blähten sich. Stumm gingen sie zum Tisch zurück.

»Ich muß jetzt gehen. Wenn du nicht mitkommst, gehe ich allein«, drängte sie energisch. Der Werkführer widersprach nicht mehr. Er zahlte, ohne die Rechnung zu prüfen, aus der Hosentasche heraus. Draußen auf der Straße hielt Eve nach einem Auto Ausschau, Szczipczik behielt den Ausgang des Cafés im Auge, als erwarte er jemand. Der Jemand kam auch schon heraus und hielt geradenwegs Richtung auf die beiden, die an der Bordschwelle standen. Ohne viel Umschweife blieb er vor Zdenko stehen:

»Gehen wir noch einen Schnaps trinken.«

»Wir fahren nach Hause«, sagte Eve sehr bestimmt und wollte ihren Freund fortziehen. Zdenko antwortete dem Langen, ohne sich vom Fleck zu rühren, etwas auf polnisch, was Eve nicht verstand, was aber, dem Ton nach zu urteilen, nichts Liebenswürdiges sein konnte. Was dann folgte, ging blitzschnell. Die beiden Männer wechselten ein paar Worte in ihrer Muttersprache. Die Stimmen hoben sich, der Lange trat einen halben Schritt zurück, und ehe Eve noch zum Bewußtsein kam, versetzte er Zdenko einen fürchterlichen Fausthieb mitten ins Gesicht. Ein anderer wäre unter der Gewalt des Schlages zusammengebrochen. Der Werkmeister griff, einen Augenblick taumelnd, in die Tasche, um Messer oder Revolver zu ziehen. Blut floß ihm aus Nase und Mund. Er duckte sich wie eine Katze. Eve sah einen langen Arm hoch in der Luft, etwas blinkte im weißen Licht der Straßenlaterne. Ohne Besinnen, rein instinktiv, stieß sie mit aller Kraft dem Hünen den Fuß in die Kniekehlen. Der knickte ein und wandte sich nach dem Angreifer von hinten. Aber da hatte ihn schon Zdenko am Hals. Die beiden Männer flogen in der Wucht des Sprunges aufs Pflaster und bildeten ein schwarzes, verschlungenes Knäuel. Zwei Messer blitzten. Eve hörte hinter sich Weibergebrüll und fühlte sich an den Haaren gepackt. Es war das schwarze, dicke Mädchen. Eve drehte ihm mit einem Griff das Handgelenk um und gab ihm einen Stoß, daß es fast bis zur Wand flog. Im Nu stand ein Haufen Menschen da. Zweifelhafte Gestalten.

»Jib ihm Saures, Mensch, jib ihm Saures. Feste, Lukas.«

Niemand machte Miene, die beiden Männer, die keuchend ihre Leiber übereinander wälzten und sich sinnlos mit Faust und Messer bearbeiteten, zu trennen. Mit der Gewandtheit einer Katze kam Zdenko immer wieder nach oben zu liegen. Das sachverständige Publikum johlte wie bei einem spannenden Sportkampf. Eve schrie:

»Auto, Auto.«

Ein Höllenspektakel tobte.

»Feste, Mensch, feste. Laß dir nicht.«

Niemand wußte, wem die Zurufe galten. Ein Pfiff durchschnitt die Luft und ein Ruf: »Polente.« Die Hälfte der Zuschauer war im Handumdrehen verschwunden. Ein Auto hielt. Von fern kam ein Grüner ohne übergroße Eile. Eve wußte sich nicht mehr zu helfen. Nur fort, aber sie wollte Zdenko mithaben. Mit einem Sprung war sie bei den Kämpfenden und trat dem Langen aufs Handgelenk. Ein gellender Aufschrei folgte. Eve brüllte ihrem Freund ins Ohr:

»Komm! Polizei!«

Und gab ihm einen Fußtritt in die Seite, daß er über seinen Gegner fortrollte. Sie packte ihn am Rockkragen und riß ihn empor. Der Lange lag noch am Boden, stöhnend, blutig, zerrissen. Auch der Werkmeister war übel zugerichtet. Eve stieß ihn zum Wagen. Der Lange richtete sich auf und brüllte:

»Halten, halten.«

Der Wagen fuhr schon. Hinter ihm scholl Gelächter und ein »Bravo«. Der Lange war trotz seiner Wunden wieder auf den Beinen, wenn auch torkelnd. Einer sagte anerkennend:

»Det 's 'ne Braut.«

Und schlug sich seitwärts, weil der Polizist schon da war.

Eve hatte im Wagen den Werkführer im Arm, der sich erschöpft an sie lehnte. Sie wischte ihm mit seinem und ihrem Taschentuch das Blut aus dem Gesicht, putzte ihm den Anzug ab. Ein dankbarer Blick lohnte ihr.

»Bist du verwundet?«

»Nix, nix.«

Wirklich, er benahm sich wie ein ganzer Kerl.

»Wo wohnst du?«

Er nannte ihr einen kleinen Gasthof in der Nähe des Bahnhofs. Sie ließ den Wagen hinfahren. Ein Gefühl der Zärtlichkeit für den blonden Burschen, der sich so brav um sie mit dem Riesenkerl geschlagen hatte, stieg in ihr auf. Ihre Hand streichelte sein verschwitztes Haar und sein Gesicht, das immer aufs neue von Blut überströmt wurde.

»Hier ist dein Hotel. Morgen kommst du zu uns. Halt das Taschentuch an die Nase.«

Zweimal, dreimal küßte sie ihn, bevor er schwankend ausstieg, auf die Stirn und auf die verschwollenen Augen. Es störte sie gar nicht, daß er nach Schnaps und Schweiß und Zwiebeln und Veilchen roch. Es war ihr verworren und eigentümlich zumute.

So endete Eves Abenteuer als Dienstmädchen.

*

»Sie sind ja so aufgeregt. Doktor?«

»Ich habe etwas gefunden.«

»Den Mann, der das Telefongespräch geführt hat?«

»Nein, die Frau.«

»Glückwunsch. Noch eine Tasse? Zigarette?«

Eve war nicht einmal neugierig auf Krönings Entdeckung. Es war nicht Gleichgültigkeit, sondern eine gewisse Zerstreutheit, die sie seit dem gestrigen Abend beherrschte. Nicht gerade, daß die Schlägerei sie besonders aufgeregt hätte, ihre Nerven vertrugen schon eine gehörige Portion, aber die Nacht, die sie unruhig und fast schlaflos verbracht hatte, war voller Gedanken gewesen, die ihr fremd waren. Sie kam dahinter, daß sie eigentlich nicht wußte, was sie wollte. Etwas stimmte in ihrem Leben nicht. Eine Lücke war da, die sie noch nie bemerkt hatte. Ihr Leben hatte immer ausgefüllt geschienen, überfüllt geradezu, nein, nur die Tage und Stunden waren ausgefüllt. Die streichelnde Handbewegung, mit der sie dem polnischen Werkmeister über die schwitzende Stirn und das blutende Gesicht gefahren war, der Kuß, den sie ihm auf die zerschlagenen Augen gedrückt hatte, emporgequollen aus einem Gefühl zärtlichen Mitleids, hatte eine befremdliche Unruhe in ihr ausgelöst. Etwas Hübsches, Befriedigendes war es gewesen, den blutenden Mann tröstend und bemutternd im Arm zu haben. Keine Spur von Verliebtheit. Und das war es eben. Jede Frau, jede Arbeiterin, jedes Dienstmädchen wußte: den hab' ich gern, oder den möchte ich haben. Gontard? Ja – nein. Etwas war auch da nicht richtig. Sie waren zu ähnlich oder zu verschieden, was auf dasselbe herauskam. In diesem Augenblick verstand sie selbst nicht, welcher Art ihre Gefühle zu Gontard waren. Der blonde Rechtsanwalt da? Sie vermochte ihn anzulächeln, ohne daß ihr zum Lächeln war.

»Wissen Sie, daß Sie heute Ihren besonders guten Tag haben? Etwas anders als sonst. Wie soll ich sagen? Mit einem Schuß Elegie oder Sentimentalität. Am Ende traurig? Kenne ich doch gar nicht an Ihnen.«

Er streichelte ihren Arm, der über die Lehne hing. Sie duldete es ohne den spöttischen Zug, der immer um ihren Mund spielte, wenn jemand Zärtlichkeitsversuche machte. Herrgott – sie war in einer Stimmung – wenn jetzt einer kam! Es hätte Zdenko sein können, Kröning oder ein anderer. Das Gefühl war da, aber ohne Richtung und Ziel. Ein Mann spürt eine solche Stimmung bei einer Frau. Kröning wurde kecker, streichelte ihren Arm, ihre Schulter, berührte ihr volles, braunes Haar. Sie rührte sich nicht. Er stand auf und beugte sich über sie. Sein Arm legte sich zart und vorsichtig um ihren Hals, sein Kopf kam dem ihren näher, der Hauch seines Atems wärmte ihre Haut. Sie wartete auf ein Ausbrechen, auf eine heiße, klammernde Umschlingung, aus der man sich nicht lösen konnte. Aber Hugo war so eingeschüchtert durch seine Erfahrungen mit ihr, daß er nur schüchtern die Lippen auf ihren Nacken zu drücken wagte. Sie erhob sich ernüchtert. Überhaupt jetzt am Vormittag Zärtlichkeiten. Sie schickte Hugo fort. Besser, allein zu sein.

Walli, auf die man sich verlassen konnte, mußte in das nächtliche Abenteuer eingeweiht werden. Sie bekam den Auftrag, Szczipczik abzufertigen. Eve hatte ihm einen Brief geschrieben, in dem sie bedauerte, daß aus der Stellung leider nichts würde; eine reichliche Summe als Entschädigung für Reise und Zeitverlust, mehr eigentlich für »heldenmütiges Verhalten vor dem Feinde«, wurde dem Brief beigelegt. Die richtige Walli sollte Zdenko erzählen, daß die gestrige Walli nur aushilfsweise dagewesen wäre. Oder sonst einen Schwindel. Er kam erst am Nachmittag, nachdem er Alkohol und Prügel gründlich ausgeschlafen hatte. Eve hörte durch die Tür das Mädchen mit ihm reden und war nahe daran, die Tür aufzureißen und ihn hereinzuholen.

»Er konnte erst gar nicht verstehen, daß die Walli nicht da wäre«, berichtete das Mädchen nachher. »Er war ganz verzweifelt.«

»Sah er arg zerschunden aus?«

»Es ging. Ein paar Pflaster klebten ihm im Gesicht. Das eine Auge war ganz blau. Gnädiges Fräulein, ich habe eine Bitte. Darf ich heute abend ausgehen?«

Es klang verschämt. Eve drehte ihr kurz den Rücken und trommelte auf den Tisch.

»Ja, ja. Gehen Sie nur.«

Sie beugte sich am Abend weit zum Fenster hinaus, als Walli wegging. Unten stand Zdenko im schwarzen Anzug, den Hut schieberisch in die Stirn gedrückt, und nahm das Mädchen ohne Umstände unter den Arm. Eng aneinandergeschmiegt gingen sie los. Eve schlug das Fenster zu. Setzte sich mit verkniffenem Gesicht zum Schreibtisch und zwang sich zur Arbeit.

Was in Drohobycz vorgegangen war, schien ihr ziemlich klar. Aber wer hatte telefoniert? Es mußte jemand sein, der mit den Drohobyczer Leuten sehr enge Verbindung hatte, er mußte vom Brand schon gewußt haben, bevor er ausgebrochen war. Und in der Bank mußte er sich genau auskennen, denn das war nicht leicht, unbemerkt ein Ferngespräch zu führen. Der Mann mußte zwischen den Leuten zu finden sein, die mit Gontard von früher her Fühlung hatten und die er aus unbekannten Gründen nie abschüttelte. Zweifelhafte Gestalten waren darunter. Sie ließ sie alle, soweit sie sie kannte, in Gedanken aufmarschieren. Drei blieben übrig. Bartosch, Seligmann, Dworski. Aber aus welchem Zimmer hatte er gesprochen? Auf ein Blatt Papier malte sich Eve den Grundriß der Räume. Das Zimmer Gontards kam nicht in Frage. Da konnte niemand hinein. Direktor Langemann war viel unterwegs, dessen Zimmer stand täglich stundenlang leer. Wurde aber verschlossen, wenn er nicht da war. Immerhin. Krönings Zimmer? Der Rechtsanwalt hielt sich auch unregelmäßig in der Bank auf. Oder bei einer der beiden Sekretärinnen, die außer ihr ein eigenes Zimmer hatten. Vielleicht. Wenn man eine bestochen hatte. Der Kreis der Personen engte sich sehr ein.

Eve ließ die Arbeit liegen. Die Geduld ging ihr aus. Die Stille in der Wohnung schien ihr auf einmal unerträglich. Es ging auf zwölf. Walli war noch nicht zurück. Die tanzte irgendwo mit dem polnischen Werkführer. Eve war von gestern noch müde und doch nicht schläfrig. Lesen. Wozu? Ins Bett gehen. Sie löschte das Licht im Herrenzimmer und drehte es im anstoßenden Schlafzimmer an. Unlustig entkleidete sie sich. Schlief ein nach langer Zeit und schreckte nach zwei Stunden auf. Schlief wieder. Gegen sechs Uhr morgens weckte sie das Knarren der Wohnungstür. Walli kam nach Hause. Sie war vielleicht jetzt glücklich. Eve verstopfte sich die Ohren mit dem Kissen und wollte nichts hören.

*

»Hallo, Susi? Hier Hugo. Habt Ihr heute abend etwas vor? Nein, los ist gar nichts, ich dachte nur, wir könnten wieder mal zu viert beisammen sein. Ich werde heute früher fertig. Wollt Ihr zu uns kommen? Was ich habe? Nichts. Das redest du dir ja ein, daß meine Stimme anders klingt. Sag übrigens, könntest du schon eine Stunde vorher kommen, ich möchte mit dir allein etwas besprechen. Wichtig? Gott, so wichtig ist es nicht! Du könntest mir vielleicht einen Dienst erweisen. Kann ich dir jetzt am Telefon nicht sagen. Andeuten? Handelt sich um Gontard. Steht nicht gut und nicht schlecht, aber es kommt vielleicht eine interessante Wendung. Erzähl ich dir alles heute nachmittag. Abgemacht.«

Lena hatte beunruhigt dem Gespräch zugehört. Jede Bewegung Hugos verfolgte sie mit nervösen Augen. Er hängte mit befriedigtem Gesichtsausdruck den Hörer in die Gabel des Tischapparates.

»Susi wird gegen sechs Uhr da sein. Am liebsten wäre es mir, du wärst gar nicht zu Hause, damit ich ungestört mit ihr sprechen kann. Richard kommt erst gegen acht. Bereite irgendwas Gutes vor, ich brauche gute Stimmung.«

»Sag doch, was du vorhast. Was tust du denn so geheimnisvoll?«

Ihre Stimme war gereizt.

»Gar nicht geheimnisvoll. Es hat sich nur bestätigt, was ich vermutet habe. Ich habe mir Punkt für Punkt zusammengetragen. Erinnerst du dich an unsere unglückselige Gesellschaft? Wie Susi außer für Gontard für niemanden mehr Sinn hatte und ihm den ganzen Abend nicht von der Seite wich? Sie ist ja schon mit der Absicht hergekommen, ihn einzuspannen. Die ganze Gesellschaft war ihre Idee.«

»Das ist doch kein Beweis.«

»Kein Beweis, aber der Anfang. Dann kam die verdammte Fotografiererei. Wer hat das in Ordnung gebracht? Susi. Mir kann kein Mensch erzählen, daß Gontard sich von einer Frau, die ihm nur so ganz flüchtig bekannt ist, und an der er kein weiteres Interesse hat, beeinflussen läßt. Ich kenne den Burschen und kenne Susi. Auch noch kein Beweis, weiß ich. Ich beschreibe dem Chauffeur aufs Geratewohl Susi als Dame, mit der Gontard in der letzten Zeit zusammengetroffen ist, und der Bursche grinst. Auch noch nichts? Jetzt, nachträglich, bekomme ich von Fräulein von Gernsheim heraus, daß Gontard die Anstellung Richards ernstlich ins Auge gefaßt hat. Es sollte ein Posten für ihn geschaffen werden, frei ist nämlich keiner. Wie gefällt dir das? Also einen gar so tiefen Eindruck kann Richard nicht gemacht haben. Eher schon Susi. Endlich das Letzte und Skandalöseste. Gontard wird verhaftet, wer gibt prompt die Sommerreise auf? Susi. Und Richard, dieses ahnungslose Hornvieh, läßt sich einreden, daß sie krank ist und wegen der ärztlichen Behandlung hierbleiben muß. Ausgerechnet einen Tag vor der Abreise wird sie so krank. Vierundzwanzig Stunden vorher war sie noch kerngesund. Einzeln will das alles nichts besagen, stimmt, zusammengenommen – –«

»Und wenn du dich doch täuschst?« fragte sie mit abirrenden Augen.

»Überlaß das mir.«

Lena machte keine Einwürfe weiter. Sie war zermürbt. Endlich mußte doch die Seifenblase, in der sie lebte, platzen. Es war nur Erlösung, wenn alles ans Licht kam. Durfte sie nichts dazu tun, weil Gontard es verboten hatte, so wollte sie erst recht nichts dagegen tun. Daß Susi in Gontard verliebt war, wußte sie, die Freundin machte ja aus ihren Gefühlen keinen Hehl ihr gegenüber, und Lena war höchstens noch neidisch auf den Mut – Schamlosigkeit, hätte Hugo gesagt – mit dem Susi sich offenbarte. Seit dem Dienstag, an dem Kraatz sie wie sonst mit dem Wagen erwartet hatte, glaubte Lena nicht mehr an eine Verbindung zwischen Gontard und Susi Möllenhoff. Das war abgefallen von ihr. Ja, es war sogar im Gegensatz zu früher etwas wie eine tiefere Neigung zu Susi entstanden, eben weil sie ein gemeinsames Gefühl mit ihr verband. Nicht ganz einfach zu erklären war die Besonderheit dieser Beziehung. Beglückung, einen Menschen zu haben, der anders über Gontard sprach, ihn mit anderen Augen betrachtete als die übrigen, spielte hinein. Eifersucht brachte Reibungen. Gleiche Sorgen um das Schicksal des Mannes glättete kleine Zerwürfnisse. Das Bewußtsein, die glücklichere Rivalin zu sein, mengte Mitleid hinein.

Um sechs kam Susi. Hugo empfing sie im Herrenzimmer.

»Also? Ich zerspringe vor Neugier?«

Ihre kleine Schnuppernase war erwartungsvoll zu ihm gekehrt. Hugo bot ihre eine Zigarette an, bediente sich selbst bedächtig und machte einige nachdenkliche Schritte. Er suchte nach einem Anfang.

»Wie geht's dir eigentlich? Bist du noch in ärztlicher Behandlung?«

»Sag mal, Hugo, hast du mich bloß gerufen, um dich nach meinem Befinden zu erkundigen?« fragte sie etwas mißtrauisch.

»Ich frage nur so. Interessiert mich. Oder darf ich das nicht?«

»Ich dachte, du willst mir etwas von Gontard erzählen.«

»Will ich auch.«

»Also schieß schon los. Du hast am Telefon von einer überraschenden Wendung gesprochen.«

»Ist noch nicht da. Soll erst kommen. Wieso interessiert dich übrigens der Prozeß so außerordentlich?«

»Na, hör' mal! Ganz Berlin ist aus dem Häuschen, und gerade bei mir fällt es dir auf? Wenn man obendrein einen Menschen auch noch persönlich kennt –«

»Schön, aber deshalb läßt man keine Sommerreise aus, Zeitungen gibt's überall.«

»Ich bin doch nicht wegen Gontard hiergeblieben. Du weißt ja, daß ich in ärztlicher Behandlung bin. Was ist das überhaupt für eine Fragerei? Willst du mir gefälligst sagen, wo du hinauswillst? Ist Ricky vielleicht eifersüchtig? Das ist doch blöd.«

»Blöd? Hm, wie man's nehmen will. Übrigens habe ich mit Ricky nicht gesprochen. Einstweilen noch nicht, solange du mich nicht dazu – zwingst.«

Sie warf den Zigarettenrest mit Schwung in die Aschenschale.

»Du, jetzt wird mir diese Herumrederei zu dumm. Entweder du hörst auf zu orakeln und sagst mir, was du willst, oder ich stehe auf und gehe weg. Dann kannst du mit Ricky reden, von mir aus, bis euch die Fransen vom Mund hängen.«

»Sei, bitte, nicht so großspurig, Susi, du wirst gleich etwas kleiner werden. Du kannst ausgezeichnet Komödie spielen, aber bei mir hast du nicht das richtige Publikum. Also, da du meine Andeutungen nicht verstehen willst, bitte – reden wir deutsch miteinander. Wo warst du am Dienstag, den 25. August, zwischen elf und zwölf Uhr vormittags?«

Sie sah ihn sprachlos vor Erstaunen an. Verstand gar nicht, was er meinte. Dann platzte sie wütend heraus.

»Erstens, lieber Hugo, geht dich das einen Schmarren an. Wenn Ricky seinen Eifersuchtskoller hat, soll er das gefälligst mit mir allein ausmachen, da hat sich niemand dreinzumengen. Selbst du nicht. Du sogar schon gar nicht. Ich habe mich auch nicht darum gekümmert, wenn du mit Fräulein von Gernsheim ausgegangen bist. Ja, ich weiß, geschäftlich. Kenne diese Geschäfte. Zweitens bist du verrückt geworden, wenn du meinst, daß du mich fangen kannst. Dazu muß ein Großer kommen, ein Erwachsener, weißt du? Und jetzt gehe ich. Du kannst meinem lieben Mann sagen, daß ihr beide, du und er, zwei ausgewachsene Esel seid. Esel hab' ich gesagt, verstanden? Notier dir's, damit du's nicht vergißt.«

Hugo war kreideweiß vor Wut. Er sprang zur Tür, schloß sie ab und riß den Schlüssel aus dem Schloß.

»Du wirst nicht gehen. Erst werden wir noch miteinander reden. Daß Richard ein Esel ist, weiß ich, und wenn er's noch nicht selbst weiß, wird er's bald erfahren. Von mir, jawohl, von mir.«

Er mußte Atem schöpfen, so außer sich war er. Das war ja eine unglaubliche Kröte. Susi setzte sich mit höhnischem Gesichtsausdruck wieder hin.

»Verzeihung, Herr Rechtsanwalt, darf ich mir eine juristische Frage erlauben? Wissen Sie zufällig, was Freiheitsberaubung ist?«

»Das ist mir im höchsten Grade Wurst. Hier geht es jetzt um wichtigere Dinge.«

»Ja, um deinen Geisteszustand, du armer Irrer. Der scheint mir arg gefährdet.«

»Susi«, er sammelte sich mühsam, »ich möchte noch einmal versuchen, dich zur Vernunft zu bringen. Es könnte dir leid tun, wenn du mich nicht ruhig anhörst.«

Eine freche Antwort schwebte ihr wieder auf den Lippen, aber sie bezwang sich.

»Du weißt, die Sache Gontard hängt an dieser zwölften Stunde vom fünfundzwanzigsten August. Wir wissen, das heißt, ich weiß, daß Gontard in dieser Zeit mit einer Frau eine Zusammenkunft gehabt hat. Und diese Frau besitzt die Feigheit und Gewissenlosigkeit, den Mann, der sie bis heute anständigerweise gedeckt hat, sitzenzulassen. Meine Aufgabe ist es, diese Frau zum Sprechen zu bringen.«

Sie sah ihn mitleidig an, wie man einen Kranken betrachtet.

»Na und?«

Die Frau war ihm rätselhaft.

»Sag, Susi, regt sich denn gar nichts in dir? Spürst du kein Mitleid mit einem Menschen, den du ins Unglück gestürzt hast?«

Jetzt erst begriff sie, was er eigentlich meinte. Sie brach in ein schallendes Gelächter aus, sie lachte, lachte, ununterbrochen, bis ihr die Seiten wehtaten und die Luft ihr ausging. Ihm erschien dieses hemmungslose, nicht endenwollende Gelächter krampfhaft, gewollt. Ganz besonders verdächtig.

»Ach«, sagte sie, noch immer lachend, »daher weht das frische Brischen? Du bist ja wunderbar. Und so scharfsinnig! Oder nur ein bißchen plem plem da oben? Gontard hat ein Stelldichein gehabt! Mit wem? Mit Susi! Also nur mit Susi. In ganz Berlin kommt keine andere Frau in Frage. Wieso denn ich? Warum nicht Lena?«

»Du, das ist eine Unverschämtheit. Ich bitte mir aus, ja? Antworte mit ja oder nein. Du bleibst dabei? Nein?«

Er machte ein schrecklich ernstes Gesicht. Und sie unterhielt sich königlich.

»Nun erkläre mir bloß, wieso bist du auf mich verfallen? Hat dir vielleicht dein hoher Chef das süße Geheimnis anvertraut?«

So sicher war Hugo seiner Sache, daß er den alten Trick anzuwenden wagte.

»So ziemlich.«

Krebsrot vor Entrüstung und Verblüffung sprang sie auf. Das war doch die Höhe.

»Na, das ist doch die größte Gemeinheit, die mir je vorgekommen ist. Ein feiner Herr!«

»Sind wir jetzt endlich so weit?«

»Er hat dir meinen Namen genannt?«

»Nicht gerade deinen Namen, aber er hat mir so genaue Andeutungen gemacht, daß es für ein Rindvieh genügt hätte.«

Er schmunzelte befriedigt. Ihre Erregtheit schien ihm der beste Beweis. Die Maus war in die Falle gegangen.

Sie war schon wieder kühl und spöttisch.

»Bist du das Rindvieh, Hugo? Mir scheint.«

»Du hast dich schon verraten, liebes Kind, versuche keinen Rückzug. Wollen wir uns nicht lieber darüber unterhalten, wie wir die Angelegenheit am besten ordnen?«

»Was willst du denn ordnen?«

»Wir wollen doch, wenn möglich, einen Skandal vermeiden. Schon mit Rücksicht auf Ricky. Schließlich auch auf dich.«

»Sehr liebenswürdig.«

Verständnislos schüttelte sie den Wuschelkopf. So etwas Hirnverbranntes war ja noch nicht dagewesen. Wie kam der Mensch nur auf die verrückte Idee? Das mußte sie herausbekommen. Es war doch nicht menschenmöglich, daß Gontard etwas Derartiges, auch nur andeutungsweise, gesagt haben sollte. Wie in tiefem Sinnen fragte sie:

»Wenn ich dir nun die volle Wahrheit sage, bist du dann bereit, auch mir die Wahrheit zu sagen?«

»Siehst du, das war das erste vernünftige Wort. So kommen wir schon zusammen.«

»Hat wirklich Gontard selbst dir das gesagt?«

»Nein, meine Liebe, kannst beruhigt sein; dein Freund hat sich fabelhaft benommen. Wirklich. Ich hab's so herausbekommen. Und jetzt bitte ich dich, benimm dich so, wie ich es von dir erwarte. Von dir hängt es ab, ob Gontard in einigen Tagen frei ist. Mit Richard werden wir schon fertig werden, irgendwie. Und daß Gontard dir dein Verhalten nicht vergessen wird, darauf kannst du dich verlassen. Dafür bürge ich.«

Susi saß mit gesenktem Kopf, ganz ernst. Sonderbare, abenteuerliche Gedanken schwirrten in ihrem Hirn. Ganz still war es im Zimmer. Hugo schloß die Tür wieder auf.

»Hast du mit Gontard schon gesprochen? Ich meine über mich?«

»Noch nicht.«

»Tu's morgen und übermorgen noch nicht. Auch mit Richard nicht. Laß mir zwei, drei Tage Zeit.«

»Ein bißchen viel. Bis übermorgen.«

»Wir sprechen noch einmal darüber.«

*

Lena war schon geraume Zeit zu Hause. Sie hatte es unterwegs nicht ausgehalten. Als Susi und Hugo aus dem Herrenzimmer herauskamen, erschrak sie, als müßte Hugo schon die Wahrheit wissen. Sie forschte im Gesicht ihres Mannes. Er sah ganz ruhig, fast vergnügt aus. Und Susi machte eine so ernste Miene. Was hatten die beiden gesprochen? Hugo hatte noch ein Telefongespräch zu erledigen und ging in sein Sprechzimmer.

»Weißt du, was dein Mann von mir wollte?«

Lena wollte »Nein« sagen, brachte es aber nicht über die Lippen, und nickte nur.

»Glaubst du auch, daß ich die Frau bin, die mit Gontard – –?«

Lena schüttelte mit zusammengepreßten Lippen den blonden Kopf. Susi griff nach der Hand der Freundin und drückte sie. Ohne ein Wort weiter. Auch Lena konnte nicht sprechen.

Richard Möllenhoff kam auf die Minute pünktlich, er gehörte zu den Leuten, die sich nie verspäten. Susi ging ihm entgegen und küßte ihn.

»Na, Rickychen?«

In diesem Augenblick flüsterte Hugo seiner Frau ins Ohr.

»Wer hat recht gehabt? Ich natürlich. Nicht merken lassen.«

Sie zupfte ihn am Ärmel. Was war das wieder?

»Wieso denn? Was?«

»Wißt Ihr schon die Neuigkeit?« sagte Richard, eine Zeitung schwenkend, »Dr. Haller hat einen schweren Autounfall gehabt.«

»Nicht möglich«, rief Kröning elektrisiert, »zeig her. Das ist ja – –«

Es war die zweite Ausgabe eines Abendblattes. Gegen fünf Uhr war das Unglück geschehen, die flinke Großstadtpresse jagte eine Stunde später die Nachricht durch die Walzen der Rotationsmaschine: Gehirnerschütterung, innere Verletzungen, Bruch des rechten Oberschenkels.

»Schrecklich.«

»Wenn Doktor Kellendörfer die Vertretung übernimmt, ist's gut. Schlick wäre faul.«

»Ist es wahr, Hugo, daß der Prozeß niedergeschlagen werden soll? Man erzählt sich von geheimen Einflüssen. Ich kann mir das nicht vorstellen.«

»Gott, der Mann hat natürlich auch mächtige Freunde. Schließlich stehen ja große Interessen auf dem Spiel, aber ich wäre schon froh, wenn wir wenigstens den Enthaftungsantrag durchbekämen. Bei Kellendörfer ist Aussicht vorhanden. Gottlob habe ich jetzt noch ein zweites Eisen im Feuer.«

Susi stupste ihn in die Seite.

Beim Abendbrot war Hugo sehr aufgeräumt. Neckte sich unbefangen mit den Frauen und Richard. Lena ließ kein Auge von ihm und Susi. Etwas hatte sich ereignet, was sie nicht verstand und ihre Unruhe vermehrte. Es fiel ihr auf, daß Hugo wie Susi es vermieden, während des Essens Gontard zu erwähnen. Wie eine Abrede sah das aus. Aber nach dem Abendbrot, im Herrenzimmer fing Richard Möllenhoff wieder an:

»Eigentlich verstehe ich ja die ganze Geschichte mit Gontard nicht. Du sagst, eine Frau steckt dahinter. Ob du dich da nicht irrst, mein Junge? Daß der Mann schweigt, gut, das kann man begreifen, aber die Frau – in einem solchen Fall – das scheint mir höchst unwahrscheinlich.«

Ein Seitenblick Hugos schweifte zu Susi. Sie würde ihrem Mann antworten, erwartete er, doch sie sah nur unverwandt in ihren Schoß.

»Sag doch, du«, wandte sich Richard an Lena, »du bist eine Frau und verstehst das vielleicht besser. Kannst du dir vorstellen, daß es in ganz Berlin eine Frau gibt, die die Nerven hat, jeden Tag in der Zeitung diese ganzen Sachen zu lesen, ohne daß sie nach ein paar Tagen Hals über Kopf zum Gericht läuft? Eine ausgesprochene Verbrecherin – vielleicht. Aber sonst – –«

Lena hatte das Gefühl, sie sitzen jetzt zu Gericht über mich, sie verlangen Rechenschaft von mir. Ich muß mich rechtfertigen. Und Hugo dachte, gute Gelegenheit, Richard vorzubereiten. Lena soll nur nicht wieder etwas Ungeschicktes – – – Er griff ein.

»Das kann man doch nicht so sagen. Bei einer verheirateten Frau zum Beispiel ist das nicht so einfach. Die hat auch noch andere Rücksichten zu nehmen.«

Richard rückte die Hornbrille im einfachen, ehrlichen Gesicht zurecht.

»Wenn eine Frau den Mut hat, ihren Mann zu betrügen, muß sie auch den Mut haben – –«

»Vielleicht hat sie ihn gar nicht betrogen, es kann auch eine harmlose Verabredung gewesen sein«, sagte Susi vorsichtig.

»Das ist Unsinn. Wenn sich zwei Leute im Café treffen, brauchen sie kein großes Geheimnis daraus zu machen. Und wenn sie bei ihm war oder er bei ihr, dann ist die Sache eben nicht mehr so harmlos.«

Lena saß auf Nadeln. Jedes Wort, das gesprochen wurde, schien ihr an sie gerichtet, auf sie gemünzt. Der Klang der eigenen Stimme war ihr ganz fremd, während sie sprach.

»Warum kann denn ein Besuch nicht harmlos sein, muß denn immer – –?«

»Also darin muß ich Lena beistimmen.«

»Hugo, rede doch nicht«, blieb Möllenhoff hartnäckig bei seiner Meinung, »ich setze den Fall, du erfährst, daß Lena – bitte, es ist ja nur theoretisch – du würdest dann also glauben, daß alles harmlos war, gemütliches Geplauder beim Tee und so – –? Das kannst du jemandem anderen erzählen.«

Mit beiden Händen griff sich Lena an die Wangen. Sie meinte, flammend rot geworden zu sein. Das Beispiel war Hugo höchst unbehaglich. Für sich war er empfindlich, da schnappte er sofort ein. Andererseits lag ihm daran, den Boden für eine spätere Eröffnung zu bereiten.

»Kommt doch alles auf den besonderen Fall an. Wenn Lena, die in solchen Dingen unmodern streng ist, so etwas täte, so müßte sie weiß Gott wie verliebt sein. Es gibt doch Frauen, die nicht so – verzeih, mein Kind – so bürgerlich sind, sondern mondäner oder burschikoser oder kameradschaftlicher, wie du es nennen willst. Ist's wahr, Susi? Habe ich recht, oder nicht?«

Das sollte eine goldene Brücke für Susi sein. Sie betrat sie nicht und schwieg. Es ärgerte Hugo. Lena wandte sich direkt an ihren Mann. War das nicht im Grunde genommen eine Auseinandersetzung zwischen ihnen beiden?

»Es könnte doch auch so sein, daß es nur von Seiten Gontards Liebe war und von Seiten der Frau Freundschaft. Vielleicht war der Mann der Frau schuld, daß diese Freundschaft überhaupt entstehen konnte, wer kann das wissen? Vielleicht hängt sie an ihrer Ehe, die ihr ganzes Glück war, und will das Leben ihres Mannes nicht zerstören? Vielleicht hat sie nur um ihres Mannes willen in diese Zusammenkünfte gewilligt? Kann sie nicht ihrem Mann haben helfen wollen, um Gontard für ihn günstig zu stimmen? Und ist dann so hineingeritten, daß sie gar nicht wußte wie –«

Herrgott, war diese Frau ungeschickt. So plumpe Anspielungen zu machen. Hugo war ärgerlich und trat ihr, von den anderen unbemerkt, auf den Fuß. Richard war aufrichtig empört.

»Na, ich danke. Wo kämen wir hin, wenn sich die Frauen, um ihren Männern zu helfen, jedem an den Hals werfen würden? Man ladet jemanden ein, sucht gesellschaftliche Fühlung, aber damit hat die Geschichte ihre Grenze. Ihr habt ja auch Gontard eingeladen.«

»Stimmt alles vom Standpunkt des Mannes«, sagte Hugo, »aber Frauen scheinen da doch anders zu empfinden. Ich kann mir schon vorstellen, daß eine Frau, aus reiner Liebe zu ihrem Mann, nur um ihm den Lebensweg zu ebnen – – ich gebe ja zu, daß es nicht richtig ist, aber verständlich ist es und verzeihlich.«

»Du bist ja merkwürdig mild und abgeklärt. Geschmackssache. Von mir aus kannst du verzeihen, soviel du willst, ich bin anderer Meinung. Aber sehr. Eine Frau, die so etwas tut, verkauft sich, etwas anderes ist es letzten Endes nicht. Wenigstens in meinen Augen. Und ein Mann, der so etwas weiß und es annimmt, ist nach meiner Meinung ein Lump und nichts weiter. Wenn ihm das Wasser selbst da steht, wenn er sonst hungern müßte, ist er auch noch ein Lump. Pfui Teufel.«

»Er weiß es ja gar nicht, was ereiferst du dich denn so?«

»Wir reden davon, daß er's erfährt. Dreh mir das Wort doch nicht im Mund herum.«

Mit einem Schlage stockte das Gespräch. Es hatte keinen Zweck, sich mit Richard zu unterhalten, er kniete sich immer nur tiefer in sittliche Entrüstung. Lena kauerte frierend in ihrem Stuhl. Sie wäre am liebsten aufgesprungen und hinausgelaufen. Dieses Gerede war nicht mehr zu ertragen, schmerzte in allen Nervenspitzen. Und das Schweigen jetzt war genau so unerträglich wie das Sprechen vorher. So geladen war dieses Verstummen, so atemlos. Und in die Beklommenheit hinein sprach plötzlich Susi, mit sehr klarer und entschiedener Stimme, als hätte sie nach langem Überlegen einen Entschluß gefaßt:

»Wozu reden wir so um die Sache herum. Warum nehmen wir nicht den einfachsten Fall? Die Frau hat sich in Gontard verliebt und war bis jetzt zu feige, es zu sagen. Kann denn das nicht vorkommen, daß eine Frau, trotzdem sie ihren Mann ganz gern hat, einfach den Kopf verliert, wenn einer kommt, der einmal ganz, ganz anders ist als alle anderen? Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Deshalb ist eine Frau nicht schlecht.«

»Bravo«, rief Hugo dazwischen.

»Was ist da dran ›bravo‹, wenn ich fragen darf? Dann soll die Frau gefälligst zu ihrem Geliebten gehen und ihn nicht in der Patsche sitzen lassen«, antwortete Richard.

»Vielleicht wird sie es tun. Das weißt du ja noch nicht«, kam es scharf von Susi zurück.

»Und der Mann?«

»Entweder er verzeiht ihr –«

»Oder auch nicht.«

»Dann verzeiht er ihr eben nicht. Und ich habe jetzt genug davon. Es ist mir schon zu dumm.«

Sie stand ungeduldig auf. Lena starrte mit runden Augen auf die Freundin. Sie hatte das Gefühl, alles, was Susi gesagt hatte, hätte sie sagen müssen, und alles, was Richard geantwortet hatte, hätte Hugo antworten sollen. Sie schloß langsam die Augen und grübelte in sich hinein. Weshalb hatte Susi plötzlich so entschieden gesprochen? Ahnte sie etwas und wollte ihr helfen? Oder –? Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Tränen stiegen ihr auf, die sie mit zusammengepreßten Zähnen niederkämpfen mußte. Hugo wollte die ungemütliche Stimmung beenden.

»Wollen wir nicht einen kleinen Poker auflegen?«

»Danke, lieber Hugo, ich mag nicht. Spiel doch mit Ricky eine Partie Schach. Ich ziehe mich mit Lena zurück, mein Bedarf an Männern ist für heute gedeckt. Komm, Lena, lassen wie die beiden allein.«

Im Vorüberstreifen machte sie verstohlen das Zeichen des Schweigens zu Hugo hin, indem sie den Zeigefinger senkrecht auf den gemalten Mund legte. Sie nahm Lena unter den Arm und ging mit ihr durchs Speisezimmer nach hinten, wo das Schlafzimmer lag.

»Nur die Nachttischlampe, Lena, ich kann jetzt kein helles Licht vertragen. Darf ich das Heiligtum mit meiner Zigarette verstänkern?«

»Bitte.«

Susi warf sich in halb liegender Stellung auf das schmale Ruhesofa, den Wuschelkopf seitwärts auf das steile, geschweifte Kopfende gelehnt, die Beine übereinandergeschlagen herabbaumelnd. Sie blies den Rauch aus rund geöffnetem Mund und stach mit der Zigarette nach einem zerfließend schwebenden, silbergrauen Ring. Unschlüssig stand Lena am Toilettentisch, dessen Spiegel das gelbe, warme Licht der kleinen Lampe widerstrahlte. Sie rückte ziellos an den geschliffenen Dosen und Flaschen. Fuhr mit gestrecktem Finger, wie zeichnend, über das kühle Glas des Spiegels.

»Du bist ja so nervös, Lena?«

»Was sollte das alles? Das ganze Gespräch?«

»Wie? Ach so. – Gar nichts. Eine Art Vorbereitung.«

So leichthin warf sie die Worte. Es klang gemacht. Lena drehte sich um.

»Was hast du mit Hugo gehabt?«

»Hat er's dir nicht vorher gesagt? Eine kleine Vereinbarung. Wegen Gontard.«

Lena kam langsam näher. Ihre stillen Bewegungen waren unheimlich.

»Was heißt das – eine Vereinbarung – wegen Gontard?«

»Was das heißt? Daß ich zum Gericht gehe. Verstehst du nicht? Ich gehe zum Gericht. Wegen Gontards Alibi.«

Lena suchte eine Stütze. Eine verlorene Bewegung, die in die Luft griff. Eine Stimme kam aus verriegelter Kehle.

»Das ist nicht wahr.«

»Warum soll's nicht wahr sein? Du hast ja Rickys Meinung gehört.«

Wie Habichte stießen zwei Hände aus dem Halbdunkel auf Susis Schultern herab. Die Finger gruben sich ins Fleisch. Lena schüttelte und zerrte, von aller Besinnung verlassen, die Aufgefahrene.

»Du lügst ja! Wie kannst du so etwas sagen? Du lügst ja!«

»Laß mich doch los. Bist du denn verrückt?! Was lüge ich? Kann ich nicht mit Gontard beisammen gewesen sein?«

Haltung und Ton Lenas hatten etwas Drohendes bekommen. Wie durfte jemand wagen, das zu tun, was sie tun mußte? Es kam ihr vor, als ob etwas, worauf nur sie, nur sie und keiner sonst ein Anrecht hätte, ihr entrissen würde.

»Das darfst du nicht, du! Ich verbiete es dir.«

Susi zog die Achseln hoch wie ein störrisches Kind.

»Wieso? Ich bin verrückt in ihn und lasse ihn nicht sitzen. Wer sagt dir außerdem, daß ich nicht die Frau bin? Zufällig ja. Ich war bei ihm in der Wohnung.«

Sie wollte Unbekümmertheit und Forsche vortäuschen, hinter der aber schon Unsicherheit aufzuckte. So einfach hatte sie sich das vorgestellt, sie würde zum Gericht gehen und sagen: Mit mir ist Gontard damals zusammengewesen. Dann würde man den Bankier in Freiheit setzen, denn nun war ja bewiesen – – Und ihr kleines romantisches Köpfchen beherrschte nur irgendeine verschwommene Vorstellung von einer großartigen Begegnung zwischen Gontard und ihr, seiner Retterin. Hinter dem Vorhang ihrer weltgewandten, quirligen Art war plötzlich die ursprüngliche Seite ihres Wesens, der sentimentale, abenteuerhungrige Backfisch hervorgekommen, der für seinen Helden die heldenmütige Tat vollbringen muß. Unter dem Angriff Lenas, unter dem Blick der weit aufgerissenen Augen, die ihr wild und schreckhaft, sich immer vergrößernd, entgegenstarrten, dämmerte ihr das Ungeheuerliche ihres Planes auf. Ihr Mund zog sich weinerlich zusammen. Lenas krampfig versteinerte Haltung zerbrach in einer zitternden Haltlosigkeit, die den Körper wie mit einem Stoß in die Knie warf, den Kopf vornüber auf das schmale Ruhebett neben Susi. Ein Schluchzen, aller Selbstbeherrschung entblößt, schüttelte den schmalen Leib in unregelmäßigem Auf und Nieder, der alle seine Teile voneinander löste, daß sie wie von einer gewalttätigen Faust um und um und durcheinandergerissen wurden. Was an Worten aus dem vergrabenen Kopf an Susi drang, war zerrissener Klang, ersticktes Schreien, stockend und tränenheiser:

»Es ist nicht wahr! – Sag doch – sag doch – Warum – quält Ihr mich alle? – Ich kann – nicht mehr weiter – ich – ich – – will – nicht – mehr!«

Mit dem Gefühl der Fingerspitzen, mit allen Nerven erriet Susi die Wahrheit. Sie beugte sich über die Freundin und sagte mit trockenem Hals:

»Lena, du liebst ihn, du bist es gewesen.«

Eine Hand griff nach ihrer, Susi fühlte einen heißen, feuchten Mund, der ihre Hand küßte. Sie suchte noch nach einem Wort, das sie nicht fand, und in ihrer Hilflosigkeit, erschüttert von der Maßlosigkeit in Lenas Ausbruch, herausgestoßen aus allen Vorsätzen und Träumen, angesteckt von der Kraft des Weinens, verbarg sie das Gesicht in Lenas blondem Haar und ließ ihre Tränen in den Nacken der anderen tropfen.

»Schach«, sagte Hugo im Herrenzimmer und schob den Turm vor.

»Halt, halt, nur nicht so heftig«, Richard setzte den Springer vor den bedrohten König, »was sagt der Herr jetzt?«

»Pfui Teufel noch einmal, ich glaube, die Dame ist futsch.«

*

Mit einem Appetit, der Zufriedenheit und Ausgeschlafenheit atmete, kaute Hugo die von Lena zugerichteten Brötchen, nahm, immer die eine Hand am Tassenhenkel, Schlucke Kaffee zwischendurch. Wischte sich mechanisch in Abständen den Mund. Und ließ, ohne das Kauen, Schlucken, Wischen einen Augenblick zu unterbrechen, keinen Blick von dem Haufen Zeitungen, den das Mädchen jeden Morgen neben seinem Frühstücksplatz aufstapelte. Hin und wieder brummte er auch, mal deutlicher, mal undeutlicher, irgendeine Bemerkung über das Gelesene, wobei nicht klar wurde, ob er nur für sich sprach oder ob seine Worte auch für seine Frau bestimmt waren.

»Ernste Sache mit Haller. – Hm! – – Ach nee!? Weder Kellendörfer noch Schlick? – – Waaas? Oberstaatsanwalt Regen? Regen? Regen? Kenn ich doch irgendwoher. – Woher die Kerle das nur wissen? Nicht zu sagen – –«

Er warf das Blatt beiseite und griff nach dem nächsten.

»Die Herrschaften schwenken schon um, schau, schau! Haben erst alle geschrien, Schwindler, Betrüger, Krebsschaden, auf einmal stehen wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel – plumpe Hand der Staatsanwaltschaft – mehr Schaden als Nutzen – – köstlich! Köstlich! Mir kann's recht sein – –«

Lena rührte kaum das Frühstück an. Ihre Augen hingen am Gesicht ihres Mannes, der so ruhig und unbekümmert war, mit einem traurigen und erstaunten Ausdruck. Es kam ihr vor, als ob Hugo ganz weit von ihr entfernt wäre. Aus ihrer Kinderzeit fiel ihr etwas ein. Wie es ihr ein ungeheures Vergnügen bereitet hatte, durch ein Opernglas zu sehen. Erst richtig, daß die Gesichter ganz nahe kamen und ganz groß wurden. Ach, sooo groß. Und dann umgekehrt. Da waren die Gesichter auf einmal ganz weit weg und ganz winzig klein. Sooo klein. Ach! Und so war das jetzt. Wie merkwürdig, an einem Tisch zu sitzen und zu frühstücken mit jemandem, der so weit entfernt war. Trotzdem hatte sie Hugo noch nie so genau und scharf erblickt. Wie unter einer Lupe. Da, über der linken Braue die kleine hellbraune Warze, aus der ein kurzes, blondes Härchen sproßte. Die beiden Schmisse auf der Wange, die wie zwei Schienen nebeneinander herliefen. Auf der Stirn die beiden Ecken beim Haaransatz, die Geheimratsecken, waren etwas tiefer geworden in den Jahren. Ob Hugo einmal eine Glatze bekommt? Komisch, daß einem so etwas einfiel. Sie hatte Hugo bis jetzt immer gesehen, wie man in der Früh, wenn man aufwacht und den Schlaf noch in den Augen hat, alles ein bißchen verschwommen sieht. Wenn man dann mit der Hand den letzten Fetzen Traum aus den Lidern reibt, sind die Dinge auf einmal ganz hart abgesetzt, überdeutlich. So war das jetzt. Nüchtern eigentlich und ein wenig traurig.

»Nanu, was siehst du mich so an? Ist etwas nicht in Ordnung?«

Er faßte nach der Krawatte. Auch das war komisch. Und traurig, daß es komisch war.

»Na, was sagst du doch zu Susi? Richard tut mir ja leid. Anständiger Kerl. Aber ein Esel ist er doch. Die Geschichte scheint dich ja plötzlich nicht mehr zu interessieren. Überhaupt, du bist in der letzten Zeit von einer – sagen wir milde – Launenhaftigkeit, die mir langsam zum Hals herauswächst. Na, schön.«

»Kommst du zu Tisch?«

»Weiß ich nicht. Heute habe ich eine lange Konferenz mit Fräulein von Gernsheim. Vielleicht esse ich bei ihr.«

Er sagte das absichtlich und wartete die Wirkung seiner Worte ab. Als sie nichts erwiderte, sondern an ihm vorbeisah, wurde er zornig.

»Paßt es dir vielleicht nicht?«

»Ich habe nichts gesagt.«

»Aber mir paßt das Gesicht nicht, das du machst. Es ist ja hier bald nicht mehr auszuhalten.«

Sie hatte erstaunte Augen unter hochgewölbten Brauen. Das war früher ein ganz großer, bitterer Schmerz gewesen, wenn er so sprach. Und jetzt – –

*

Susis Zimmer war ein lustig eingerichteter, kleiner Raum, in dem Goldgelb, ihre Lieblingsfarbe, in Vorhängen und Bezügen vorherrschte. Unruhig und lebhaft wie sie selbst, standen zierliche Möbel herum, unzählige Nippes und Vasen und Väschen füllten jedes freie Plätzchen, ein vergnügtes Durcheinander von Fotografien und Bildern deckte die Wände. Aber alles war so absichtslos, mit so graziöser Hand hingestreut, daß die Fülle nicht störte und nicht beängstigte. Wertlose Ballandenken hielten gute Nachbarschaft mit wertvollen, alten Meißner Figuren, orientalisch bunter Krimskrams mit modernem, glattem Glas. Und überall Kissen und Puppen und wieder Kissen und wieder Puppen. Lena kam verhältnismäßig selten her. Sie fand das alles sehr hübsch und gemütlich, nur so ganz anders, als es ihrem Wesen entsprach. Es fehlte ihr die spielerische, verspielte Beziehung zu den Dingen.

»Du kommst ja so spät!«

Susi sprach in den Spiegel zu der rückwärts Eintretenden. Mit raschen, kleinen Bewegungen puderte sie sich die stumpfe, kleine Nase, zog mit geübter Hand das Rot der Lippen nach. Zwei, drei nach oben stupfende Bewegungen der beiden spitzgespreizten Hände brachten das wuschelige Haar in die gewünschte Unordnung.

»Weißt du, wie ich neben dir aussehe, Lena? Wie ein kleiner Clown neben einer Prinzessin. Aber doch ein niedlicher Clown, nicht?«

Ihre lausbübische Offenheit hatte etwas Entzückendes, und Lena streichelte zärtlich den eigenwilligen kleinen Kopf. Nur war ihr unverständlich, woher Susi nach dem gestrigen Abend diese sorglose Munterkeit hatte. Als ob nichts geschehen wäre. Als ob sie gestern gar nicht die Köpfe aneinandergeschmiegt und gemeinsame Tränen vergossen hätten. Susi, die gar nicht dickfellig war, las deutlich in Lenas Gesicht.

»Staunst über mich, nicht? Weißt du, manchmal könnte ich mich ja selbst um mein Temperament beneiden. Was soll ich denn tun? Soll ich mich aufhängen?«

Sie machte eine Schlingbewegung um ihren Hals und steckte mit verdrehten Augen die Zunge heraus.

»Bäh! So richtig? Ich mag nicht. Erinnerst du dich, was ich dir bei eurer Gesellschaft mit dem einen Mann und den tausend Männern gesagt habe? Den einen krieg ich nicht. Ich muß mich mit den tausend begnügen. Ach, ich armes Weib!«

Sehr komisch machte sie das. Aber Lena war es nicht klar, ob das nicht Galgenhumor war, so eine Art kleiner Tapferkeit, hinter der sich eine andere Susi verschanzte.

»Es ist ja ein Glück, daß du so bist.«

»Mein Glück? Rickys Glück. Ich finde es reizend, mit mir verheiratet zu sein. Setz dich doch her. Erzähl mir. Aber furchtbar ausführlich. Sowas ist doch herrlich.«

Eine endlose Fragerei ging los. Bis in die kleinste Einzelheit. Wie, wo, wann? Sie fand das alles wunderbar. Gar die geheimnisvollen Zettel und das Ganze, wie dieser merkwürdige Mensch alles machte, anders als alle anderen, wie er noch aus der Zelle heraus seine Fäden spann, herrschte, kämpfte, siegte – herrlich, hinreißend, berauschend. Sie war bloß gar nicht zufrieden, daß sie aus Lena jedes Wort erst mit Mühe herausziehen mußte.

»Ich glaube, du hast kein Vertrauen zu mir.«

»Dooch.«

Es klang ein wenig zögernd.

»So schwer ist das?«

»Sehr schwer.«

»Du glaubst, ich bin so – – so – – ein bißchen leicht? Nicht?« Susi sprach, die Arme auf die Knie gestützt, das gepuderte Gesicht zwischen die beiden kleinen Fäuste gepreßt, so daß ihre Wangen grotesk nach oben verschoben waren. »Ich bin gar nicht leicht. Aber es muß etwas kommen, was ich ernst nehmen kann.«

»Eine Ehe ist doch etwas Ernstes. Ich verstehe jetzt noch nicht, daß du so mir nichts dir nichts – –«

»Ach Ricky! Der reißt ja nur vor anderen so weit den Mund auf. Dem streichel ich zweimal übers Haar und mach ihm meine Dummheiten vor, dann muß er lachen und ist wieder gut.«

»Ich kann das alles nicht.«

Sie schwiegen beide. Lange. Mit gesenkten Köpfen, der blonde neben dem dunklen, in Gedanken versponnen.

»Und was jetzt?« fragte Susi.

»Ich muß hin.«

Susi war geradezu entrüstet.

»Das darfst du doch gar nicht, wenn er's dir doch verboten hat. Ich werde zu ihm hingehen. Ich werde ihm sagen, daß er dich nicht mehr quälen darf, daß er alles sagen soll und daß du ihn – –«

»Nein.«

»Und doch werde ich's ihm sagen. Das ist schon lächerlich, was du treibst. Ach so, Heiligkeit der Ehe? Zuerst kommt die Heiligkeit der Liebe, sag ich dir. Glaubst du, die Scheidungen sind nur wegen der Anwaltsgebühren erfunden worden?«

Scheidung, das war ein grauenhaftes Wort. Und Susi sprach es so leicht hin, als ob es ein Kinderspiel wäre. Einen Menschen verlassen, den man geliebt hat, dem man gehört hat, mit dem man Jahre hindurch Tag um Tag, Nacht um Nacht, in Sorgen, Freuden und Zärtlichkeit verbunden war, aus dem Nest fliegen, das man gemeinsam Stück für Stück zusammengetragen und gebaut hat! Man lief nicht auseinander und sagte: Verzeihung, ein Irrtum, es ist nicht gewesen. Susi hatte nicht recht. Und doch hatte Susi recht. Nur unendlich schwer und schmerzhaft war das alles.

»Du wirst ja gar nicht vorgelassen.«

Nur um abzulenken, um Zeit zu gewinnen, machte sie den Einwand.

»Ich? Kannst dich drauf verlassen, daß ich vorkomme. Höchstens sage ich, daß ich seine Tante bin und ihn vor der Hinrichtung dringend sprechen muß.«

*

Kröning wurde von Eve schon erwartet. Sie hatte es eilig.

»Ich bin wieder einmal vorgeladen. Ich möchte nur wissen, wann dieses Hin und Her ein Ende hat.«

»Ich hoffe bald. Für Haller kommt Regen oder Kellendörfer. Beides ist gut. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn wir nicht bald den Haftentlassungsantrag durchbekämen.«

Mitten in der Arbeit fragte Eve unvermittelt:

»Sagen Sie, Doktor, haben Sie in der letzten Zeit einmal Dworski gesehen?«

»Dworski? Wer ist das?«

»Ach, den kennen Sie nicht? So ein kleiner Zuträger Gontards. Aber Bartosch und Seligmann kennen Sie? War nicht einer von beiden einmal bei Ihnen?«

»Seligmann habe ich seit Monaten nicht zu Gesicht bekommen. Ist der überhaupt in Berlin? Bartosch war einmal bei mir. Aber schon ziemlich lange her. Wie kommen Sie gerade jetzt darauf?«

»Ach, nichts weiter. Ich brauchte ein paar vertrauliche Auskünfte. Macht er auf Sie einen verläßlichen Eindruck? Was wollte er überhaupt von Ihnen? Mit Ihnen hat er doch eigentlich gar nichts zu tun.«

»Ich weiß wirklich nicht mehr, was er wollte. Ich glaube, der Chef war nicht im Hause und Direktor Langemann auch nicht, da wollte er auf einen von beiden warten und kam so lange zu mir herein. Ist das so wichtig?«

Eve überlegte einen Augenblick. Sie suchte nach einer unauffälligen Ausrede.

»Hm, ja. Es ist eine kleine Indiskretion vorgekommen, die nur einer von den dreien begangen haben kann. Bei Bartosch scheint sie mir am wahrscheinlichsten. Nur war dazu eine gewisse Aktenkenntnis notwendig. Es handelt sich um die Astra Romana, die Sie seinerzeit bearbeitet haben. Ist es möglich, daß er bei Ihnen die Mappe eingesehen hat?«

»Also das ist ganz ausgeschlossen. Warten Sie mal, warten Sie, jetzt erinnere ich mich sogar ganz genau. Ich hatte irgendein juristisches Gutachten gemacht, das ich zur Goltze hinüberbrachte. Nicht über die Astra Romana, was anderes. Und das trug ich zur Goltze hinüber. Bevor ich aber hinausging, habe ich sämtliche Akten von meinem Schreibtisch eingeschlossen, weil ich wußte, daß ich bei der Goltze einige Zeit zu tun haben würde. So vorsichtig bin ich schon.«

»Waren Sie lange fort aus dem Zimmer? Entschuldigen Sie, daß ich Sie so ausfrage, Doktor.«

»Bitte, bitte. Fünfzehn Minuten, können auch zwanzig gewesen sein. Es ist aber ausgeschlossen, daß er bei mir gekramt hat. Der Schreibtisch hat ein Sicherheitsschloß. Sie wissen ja. Glauben Sie nicht, daß vielleicht die Goltze – –«

»Alles möglich. Den Tag wissen Sie wohl nicht mehr genau? Sie sind ja nicht so ein Gedächtnismensch.«

»Pardon«, Hugo fühlte sich sofort getroffen, »ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, und wenn ich mich anstrenge – –«

»Strengen Sie sich nicht an, Sie wissen's ja doch nicht«, sagte sie wegwerfend.

Das konnte er nun schon ganz und gar nicht vertragen.

»Jetzt erlauben Sie mir aber doch, daß ich nachdenke, jetzt interessiert mich die Sache selbst. Ich muß Ihnen beweisen – –«

»Wie Sie wollen.«

Er blätterte in seinem Notizbuch und murmelte vor sich hin:

»Am Sonnabend war's nicht. Montag oder Dienstag? Das ist möglich. Mittwoch war's auch nicht, da habe ich den langen Termin gehabt. Montag oder Dienstag, du muß es gewesen sein.«

Dann sagte er laut:

»Montag oder Dienstag. Einer von den beiden Tagen. Das ist todsicher.«

»Was, an dem Dienstag, an dem die Geschichte mit der Polonia passiert ist?«

»Oder am Montag vorher. Habe ich ein gutes Gedächtnis oder nicht?«

»Ein ungenaues Notizbuch haben Sie.«

Ohne ihm Zeit zu weiterer Überlegung zu lassen, hetzte sie ihn wieder in die Arbeit.

»In einer Viertelstunde muß ich weg.«

»Ist mir sogar sehr recht heute. Ich muß noch zwei lange Schriftsätze vorbereiten. Sie glauben nicht, was ich zu tun habe, seitdem ich Gontard verteidige. Vier große Prozesse habe ich in der letzten Woche bekommen. Der Verteidiger Gontards muß doch wer sein. Ich für meinen Teil hätte mir keine bessere Reklame wünschen können.«

Hugo wollte Eve ein Stück begleiten. Sie wimmelte ihn ab. Sie kombinierte im Fahren die Zusammenhänge. Bartosch war im Zimmer des Rechtsanwalts eine Viertelstunde oder länger allein gewesen. Die Verbindung mit dem Gut der Gräfin konnte fünf Minuten in Anspruch genommen haben, kaum mehr, dann das Gespräch selbst – – – Es ging ganz gut, wenn einer verwegen genug war.

Kröning sagte Montag oder Dienstag. Sie hatte sich genau unterrichtet, was an diesen Tagen vorgefallen war. Wo das Gedächtnis versagt hatte, waren die Kalendernotizen zugezogen worden. Montag kam gar nicht in Frage, denn am Montag hatte in der Bank eine Konferenz mit dem chilenischen Gesandten stattgefunden, von der Kröning Kenntnis gehabt hatte. Und bei dieser Konferenz war Gontard wie Direktor Langemann zugegen gewesen. Sie wollte Kröning nur nicht daran erinnern. Es war der Dienstag, so sicher wie nur etwas.

Bartosch war kurz darauf aus Berlin verschwunden. Seine Wirtin, bei der sich Eve gleich nach Auftauchen ihres Verdachtes telefonisch erkundigt hatte, hatte die Auskunft erteilt, daß er das Zimmer aufgegeben habe und ins Ausland gereist sei. Wohin, wußte sie nicht, sie glaube nach Holland. Der Berliner Boden wird ihm wohl zu heiß geworden sein.

Seligmann und Dworski waren in Berlin, hatten anscheinend ein ruhiges Gewissen. Waren auch die weniger Gefährlichen. Aber daß die Gräfin Steindorff die Stimme Gontards erkannt haben wollte, die nicht so leicht zu verwechseln war! Bartosch war wohl Schlesier, wie der Bankier, doch mit einem ziemlich polnischen Einschlag. Immerhin, wenn er sich bemühte, die Sprechweise Gontards nachzuahmen, die Heiserkeit und Tiefe, die kurzen, scharfen Sätze – – und die Gräfin war eine ältere Dame. Noch auf der Treppe des riesigen Moabiter Gerichts beschäftigte sie dieser Gedanke. Wenn man die Möglichkeit einer Verwechslung beweisen könnte – –

Es war jemand bei Kellendörfer im Zimmer, Eve mußte einige Minuten warten. Was man nur wieder von ihr wollte, vermutlich eine Nichtigkeit. Sie hatte durchaus den Eindruck, daß es Dr. Kellendörfer mehr darum zu tun war, sich mit ihr zu unterhalten. Endlich verließ eine zierliche, sehr schicke Dame das Zimmer, die noch in der Tür mit großer Lebhaftigkeit zurücksprach:

»Also morgen darf ich – –? Vielen Dank, Herr Staatsanwalt, vielen Dank, sehr liebenswürdig.«

Es war Susi. Beide Frauen fanden im Augenblick des Vorübergehens noch genug Zeit, einander mit prüfendem Blick zu messen. Susi, die die Sekretärin Gontards nach der Beschreibung Hugos sofort erkannte, unverhohlen neugierig. Eve kühl und hochmütig, aber untrüglich witternd: Besuch für Gontard. Und bei beiden war die Versuchung, einander genau ins Auge zu fassen, so stark, daß sie sich gleichzeitig umdrehten, ehe sich die Tür endgültig zwischen ihnen schloß.

»Oh, eine gute Bekannte Herrn Gontards«, klopfte sie nachlässig auf den Busch, während sie den angebotenen Sessel nahm.

»Sie kennen die Dame?«

»Flüchtig. Vom Ansehen.«

War das – –? Unverständlich. Sie hatte sich alle möglichen Vorstellung von der Frau gemacht, der sie den Platz hatte räumen müssen, keine deckte sich auch nur annähernd mit diesem huscheligen Geschöpf. So sah der Gegenstand einer großen Liebe aus? Ganz, ganz unverständlich. Sie war sofort verstimmt. Kellendörfer blätterte in dem dicken Aktenband.

»Ich muß Ihnen zunächst leider mitteilen, gnädiges Fräulein, daß Herr Gontard Sie bitten läßt, von Ihrem Besuch abzusehen. Er hält es im Augenblick für untunlich – –«

Eve biß sich auf die Lippe. Es war sehr nett von Kellendörfer, daß er die Ablehnung ihres Besuches durch Gontard in eine so liebenswürdige Form kleidete. Sie wußte sehr gut, daß der Bankier weder das, noch etwas Ähnliches gesagt hatte. Die Art seiner Ablehnungen kannte sie zur Genüge. Fast täglich bekam sie durch Kraatz Nachrichten und Aufträge, kein einziges Mal hatte er den Wunsch geäußert, sie persönlich zu sprechen. Sie hatte ihm doch nur ihren Verdacht und ihre Beobachtungen mitteilen wollen, seine Meinung einholen – – nun ja, ihn auch sehen und seine Stimme wieder hören. Diese kleine, unbedeutende, gepuderte Person, die nach Nichtstun, nach Kurfürstendamm und Fünfuhrtee aussah, die durfte, und sie, sie durfte nicht – –

Kellendörfer stellte einige Fragen an Eve, sie antwortete mit verkniffenem Mund, ohne sehr bei der Sache zu sein. Er sagte ihr einige Artigkeiten über ihr Wissen, über ihre Klugheit. Das hatte alles eine persönliche Färbung und sollte eigentlich heißen: daß sie hübsch sei und reizend. Am liebsten hätte er sie wohl gefragt, ob er sie außeramtlich sehen dürfte, wenn er das als Staatsanwalt gekonnt hätte. Es glitt von ihr ab, wie Wasser von Öl. Was geht mich das alles an, wozu zerbreche ich mir den Kopf und quäle mich ab? Sie hatte nicht übel Lust, alles hinzuwerfen, ihre Beobachtungen dem Gericht oder dem Rechtsanwalt mitzuteilen und sich um nichts weiter zu kümmern.

Ihre Freudigkeit, zu forschen, aufzuklären, den Detektiv zu spielen, war verflogen. Kellendörfer bemerkte – nicht als Staatsanwalt, sondern als Mann – den Schatten, der in ihrem Gesicht lag.

»Sie sollen sich die Laune nicht verderben lassen, die Stimmungen eines Menschen in der Zelle sind nicht mit demselben Maß zu messen wie die anderer Leute. Man kann sich da schwer hineinversetzen.«

Sie war ihm dankbar, ohne daß sie es zeigte. Vielleicht hatte er recht. Sie wollte, daß er recht habe.

»Wollen Sie mir einen Gefallen tun, Herr Staatsanwalt?«

»An sich natürlich sehr, sehr gern, sofern Sie von mir nichts verlangen, was – –«

»Haben Sie Herrn Gontard genau beobachtet? Könnten Sie seine Art zu sprechen nachahmen? Ein bißchen heiser und tief reden und die Sätze kurz?«

»Ich bin ein schlechter Schauspieler. Wozu aber – –?«

»Rufen Sie, bitte, die Gräfin Steindorff an, melden Sie sich als Gontard. Fragen Sie sie irgend etwas Belangloses, ganz gleich was.«

»Sie wollen mir zeigen, daß eine Verwechslung möglich ist?«

»Ja.«

»Und wenn der Versuch mißlingt, soll das dann auch als Beweis für das Gegenteil gelten?« fragte er lächelnd.

»Nein, das nicht. Dann sind Sie eben ein schlechterer Schauspieler als der andere.«

Er zauderte, noch immer lächelnd, und griff endlich nach dem Hörer. Eve sagte ihm die Nummer. In einer Spannung sondergleichen umhüllte sie das schwarze Tischtelefon mit ihrem Blick. Kellendörfer wurde von ihrer stummen Erwartung angesteckt. Das Klingelzeichen der Verbindung wirkte wie ein schrilles, aufscheuchendes Signal in nächtlicher Stille.

»Hallo, hier Gontard!«

»Heiserer! Tiefer! Noch heiserer!« fauchte Eve.

Er stellte sich wirklich ungeschickt an.

»Frau Gräfin? Ich spreche mit Erlaubnis der Staatsanwaltschaft«, Kellendörfer bemühte sich, seine Stimme tiefer und knarriger zu schrauben, »der Herr Staatsanwalt hört zu. Halten Sie es für ausgeschlossen, daß Sie mich am Telefon mit jemandem verwechselt haben?«

Gott, wie umständlich. Im Leben hat Gontard noch keinen so langen Satz gesprochen, kam es Eve vor. Kellendörfer machte runde, fast dumme Augen. Die Gräfin antwortete sehr aufgeregt, mit deutlicher Angst:

»Ausgeschlossen. Sie sind's gewesen. Ich werde doch wohl Ihre Stimme erkennen. Ich will nichts mehr hören, nichts. Sie wollen mich nur wieder überreden. Schluß.«

Die Gräfin hatte abgehängt. Eve hing an Kellendörfers Mund, der zu einer überflüssig gewordenen Erwiderung offen stand. Bedächtig legte der Staatsanwalt den Hörer aus der Hand.

»Nicht zu sagen, diese – –«, eine Unhöflichkeit wurde verschluckt, »sie hat mich tatsächlich für Gontard gehalten.«

*

In der lauen, sonnigen Wärme der Straße war Susi noch sehr mutig. Der Besuch im Gefängnis, hinter dem Rücken ihres Mannes und besonders hinter dem Rücken Krönings, dünkte ihr von reizvoller Verwegenheit, ihre lebhafte Einbildungskraft dichtete in dramatischen Vorstellungen. Sie spielte ihre Rolle als Glücksstifterin zwischen Gontard und Lena mit einem gewissen selbstzufriedenen, schmerzlichen Edelmut, dessen Genuß durch die sentimentale Wehmut des eigenen Verzichts nur noch gemehrt wurde. Um ein Zusammentreffen mit Hugo im Untersuchungsgefängnis zu vermeiden, hatte sie sich vorher mit dem Chauffeur Gontards in Verbindung gesetzt, was nicht ganz einfach war. Zumindest hatte sie es sich aus Freude am Geheimnisvollen nicht einfach gemacht, sie meinte, es müsse in allem und jedem so romanhaft wie eine wilde Kriminalgeschichte zugehen. Kraatz sollte einen Zettel zu Gontard hineinschmuggeln. »Lena schickt mich«, hatte sie auf ein kleines, dünnes Blättchen geschrieben. Das war alles wunderbar schön und aufregend. Susis Mut hielt auch noch während der Umständlichkeiten an, die sie über sich ergehen lassen mußte, bis man sie zur Sprechzelle führte. Aber auf dem langen, stimmungslos nüchternen Weg dorthin verlor sie schon den größten Teil ihrer Sicherheit. Und in der Sprechzelle selbst, die nichts war als ein kleiner, kahler Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen, zu hell, um unfreundlich zu sein, zu kahl, um freundlich zu wirken, bekam Susi während der wenigen Minuten des Wartens ein zitterndes Frösteln in den Kiefern, das sich zu einem buchstäblichen Zähneklappern steigerte beim Eintritt Gontards, der sich vor dem Aufsichtsbeamten in die Zelle schob. Er ging langsam in seiner schweren Art auf Susi zu, die Augen fast wie unbewegliche, kleine Lichter auf sie geheftet. Sie vergaß, ihm die Hand zu reichen, und griff erst hastig zu, als sie das erste Wort herausbrachte. Der Beamte hielt sich in gemessener Entfernung. Nahe genug, um das Gesprochene zu hören, weit genug, um die Peinlichkeit seiner Gegenwart zu verwischen.

»Ich soll Sie – von Lena grüßen.«

Sie sagte es leise, es fiel ihr schwer, so Auge in Auge mit Gontard, durch die Nähe wieder ganz unter seinem Einfluß stehend, von einer anderen Frau zu reden. Sie wartete auf eine Antwort, die nicht kam. Seine große, weiße Hand fuhr wie ein Tuch über sein Gesicht.

»Sie tun nicht recht. Lena hält diesen Zustand nicht mehr aus. Weshalb lassen Sie sie nicht sprechen?«

Wie ein Ring zog sich über seine Stirn ein breiter, geröteter Streifen, der im dicht gewordenen Schläfenhaar verlief.

»Weiß sie, was das bedeutet? Bloßstellung, Scheidung.«

»Gewiß weiß sie das.«

»Und –?«

Seine Augen wechselten blitzschnell ihren Ausdruck. Wurden mißtrauisch klein, öffneten sich fragend, härteten den Stahl der Pupillen zu scharfen Messern, die in Susi eindrangen, um ihr die Gedanken aus dem Hirn zu schneiden. Ist das bei Lena Mitleid, Gewissen, Freundschaft oder – – das eine, das man nicht aussprechen kann, weil es, in die Luft geworfen, nur noch eine Folge sinnloser Laute ist, wertlose Hülle von etwas unnennbar Kostbarem, an dessen Besitz man nicht glaubt?

»Verstehen Sie sich so wenig auf Frauen?« fragte Susi.

Der rote Stirnreif wurde breiter, zog sich hinein in die feinen Fältchen der Augenwinkel, schlug wie eine Flamme aus dem Grau der Wangen. Aus der Strenge des Gesichts schälte sich ein anderes, verborgenes Antlitz, knabenhaft, sehnsüchtig, liebebedürftig, mit weichem, unsicherem Mund. Der mächtige Blasebalg der Brust, der sich gegen die Tischkante preßte, stieß in einem ächzenden Laut die Luft aus den erlösten Lippen. Susi konnte nicht anders, sie legte auf seine Hand, die flach auf den Tisch gepreßt war, ihre kleine, rosige mit den spitzen Nägeln, die er wieder mit seiner anderen Hand kreuzend bedeckte. Und auf die drei übereinander ruhenden Hände legte er sein Gesicht, das heiß war und zuckte.

Nichts war mehr wichtig als das eine, daß man aus diesem Leben die Kraft gerettet hatte, zu lieben. Und daß man geliebt wurde.

Der Aufsichtsbeamte hüstelte und sah auf seine Uhr. Der Kopf Gontards hob sich. Die Hände lösten sich voneinander.

»Was soll ich ihr sagen?«

»Warten.«

»Warum denn warten? Warum quälen Sie sie?«

»Ich komme auch so heraus. Heut oder morgen. Ich muß es schaffen. Nicht sie.«

Susi traf die Freundin in verzweifelter Ungeduld. Lena stürzte ihr entgegen.

»Wo warst du denn so lange?«

»Laß mich doch nur einen Augenblick.«

Das Kinn in die Handfläche gestützt, stierte Susi durch zusammengezogene Lider auf den Fußboden. Neid, Eifersucht, Machtlosigkeit war in ihr. Sie schwieg länger als sie mußte, aus einer verbitterten Lust am Quälen, die sie in diesem Augenblick nicht unterdrücken konnte.

»Wie sieht er denn aus? Schlecht?«

Aus einem Traum heraus sagte Susi:

»Ich wußte gar nicht, daß er schön sein kann.«

»Sprich doch, sprich doch endlich. Was hat er gesagt?«

»Du sollst warten.«

Warten, warten. Wenn man mit allen Zweifeln, Befürchtungen, Folgen abgerechnet hat und fertig geworden ist, soll man warten. Nun muß man eben warten. Man kann es nicht und muß es. Aber wenn er doch sagt, daß er herauskommt, heute oder morgen. Wenn er es sagt – – Und was wird dann sein? Wieder alles von vorn? Eine Stunde wöchentlich und verstecken und lügen und Komödie spielen – –?«

Susi klopfte mit der Fußspitze auf den Teppich. Sie schnellte von ihrem Platz auf und ließ, sich streckend, einen Seufzer hören.

»Gut hast du's.«

Mit dem ausgestreckten Mittelfinger fuhr sie sich von den inneren Augenwinkeln die Lider entlang.

»Was siehst du mich so an? Nichts hab' ich. Ich habe nur eine kleine Begräbnisfeier veranstaltet.«

An der Nachbörse stiegen Depositenbankaktien um achtzehn Punkte. Das Gerücht war durchgesickert, daß Gontard gegen eine hohe Kaution – es wurde ein Betrag von zwei Millionen genannt – entlassen werden dürfte. Die Abendblätter brachten die Nachricht bereits als Tatsache. Der Haftbeschwerde Krönings war stattgegeben, die Beschlagnahmen größtenteils aufgehoben worden, da sich die meisten Anzeigen als grundlos erwiesen hatten und durch das Telefongespräch des Staatsanwalts mit der Gräfin immerhin die Möglichkeit einer Verwechslung nicht mehr von der Hand zu weisen war. Von einer Einflußnahme des Ministeriums zugunsten Gontards verlautete etwas, ohne daß man indes Sicheres wußte. Die Stimmung war durchaus wieder für Gontard, seitdem Kellendörfer mit der Fortführung der Untersuchung betraut worden war. Auch Schlick hatte sich nicht mehr gesträubt. Verhältnismäßig war das alles sehr rasch gegangen.

Gontard wurde am nächsten Vormittag von seinem Wagen abgeholt und fuhr allein, auch Kröning durfte ihn nicht begleiten, geradenwegs zur Bank. Vorher hatte noch eine ziemlich lebhaft verlaufene Angestelltenversammlung stattgefunden, in der beantragt worden war, dem Bankier die Glückwünsche des Personals durch eine Abordnung aussprechen zu lassen. Man war aber zu keinem Entschluß gekommen, weil man nicht wußte, wie Gontard derartiges aufnehmen würde.

Als ob nichts vorgefallen wäre, stieg Gontard die Wendeltreppe vom Seiteneingang aus zu seinem Zimmer hinauf. Die Fenster standen weit offen. Wind hatte gelbe Blätter aufs Fensterbrett geweht. Gontard warf keinen Blick auf den Schreibtisch, der voller Briefe lag, er stellte sich an das Fenster und ließ Blick und Gedanken über die lebendige Straße schweifen. Schnippte mit schnellenden Fingern die verwehten Blätter hinaus in die Luft, nachsinnend, als gäbe es nichts Wichtigeres denn das schwankende Segeln und wirbelnde Fallen der goldbraunen, kleinen Flieger. Auf dem Bürgersteig spielte, mit einem Kinderhelm angetan, ein kleiner Junge »Verkehrsschutzmann«. Hielt mal den rechten, mal den linken Arm, mal beide Arme waagerecht. Und die Erwachsenen gingen vorüber, ohne das Kind zu stören, manchmal blieben sogar einige lächelnd stehen und warteten geduldig, bis der kleine Mann den Weg freigab. Sehr aufmerksam verfolgte Gontard das Spiel. Das Telefon klingelte, er ging nicht heran. Und als er sich endlich umdrehte, ohne seinen Platz am Fenster zu verlassen, betrachtete er das Zimmer mit jenem eigentümlichen Gefühl der Fremdheit wie nach der Rückkehr von langer Reise. Sonderbare Angelegenheit das, sozusagen aus sich selbst herausgeklettert zu sein und neben sich zu stehen mit einer gewissen Neugier, was der andere, der man selbst war, nun tun würde. Hier hatte er täglich gesessen mit einem tödlich bitteren Ernst, hatte berechnet, gewagt, gespielt in jener selbstvergessenen, alles ausschließenden Versunkenheit, in der Kinder ihre Rolle spielen. Wie der kleine Verkehrsschutzmann unten. Im Untersuchungsgefängnis war es ihm zum erstenmal zum Bewußtsein gekommen, daß das letzten Endes alles Spiel sei, unwichtig und nur belustigend, wenn man es aus irgendeiner Ecke beobachtete. Schon die Spekulation mit den Depositenbankaktien – sie hatte ihm ein Vermögen eingebracht – war ihm in seiner Zelle wie ein Jungenstreich vorgekommen, mit dem man die Erwachsenen angeführt hatte. Nun wird Eve hereinkommen mit Akten, Briefen und Bleistift und wird »Bank« spielen wollen. Und der Disponent wird hereinkommen, um mit ihm »Börse« zu spielen. Und Kröning, der »Prozeß« spielen möchte. Und er, der Erwachsene, soll mitspielen. Wie die Erwachsenen dort unten stehenblieben oder weitergingen, sobald der kleine Schutzmann mit dem Lackhelm den Arm hob und senkte. Trug er nicht selbst so etwas, einen Helm mit einem grünen Federbusch, vor dem die Leute stramm stehen und »Augen rechts«, »Augen links« machen sollten? Er faßte sich unwillkürlich nach dem Kopf, als müßte er den Kinderhelm mit den grünen Federn absetzen. Wieder klingelte das Telefon. Eve wollte ihn sprechen, hatte wichtige Dinge. Ja. Soll kommen. Bank spielen. Er setzte sich ernst in seinen Stuhl vor den Stoß sorgfältig geschichteter, unberührter Briefe.

Eve trat mit zögerndem Schritt ein. Es war ja nicht so etwas Alltägliches, daß jemand aus dem Gefängnis, sei es auch nur das Untersuchungsgefängnis, herauskam, daß man wortlos darüber hinwegging. Sie legte einen Packen Akten vor ihm hin und reichte ihm über den Tisch die Hand.

»Ich freue mich.«

Sie suchte sein Gesicht ab, das grau und unbeweglich war, aber in dem etwas fehlte, ein Zug gespannter Entschlossenheit, Sprungbereitschaft. Mit einer gleichgültigen, trotzigen Handbewegung schob er die Akten beiseite. Ich mag nicht spielen, konnte das heißen.

»Bist du müde? Oder besorgt?«

Das »du« war sonst nicht üblich zwischen ihnen im Büro, aber es schien ihr geeigneter, um an ihn heranzukommen.

»Du wolltest etwas fragen?«

Das war seine Gewohnheit, unbequeme Fragen glatt zu übergehen. Es war so unendlich schwierig, ihn zu packen. Nicht, daß er einem ölig aus den Fingern glitt, sondern er ging über einen hinweg, ging durch einen hindurch, als ob man Luft wäre.

»Ich habe für dich gearbeitet in der Zeit, die du fort warst –«

»Geld?«

Wollte er sie mißverstehen, bevor sie noch ausgesprochen hatte, was ihr jetzt einzig und allein wichtig war? Sie war in Versuchung, ihn beim Vornamen zu nennen, aber »Franz« hatte sie nie zu ihm gesagt, und nie hatte sie ihn mit einem Kosenamen gerufen. Jetzt fehlte ihr ein Ausdruck der Wärme, der inneren Vertrautheit. Es war ihr in diesem Augenblick völlig unbegreiflich, daß zwei Menschen, die so verbunden gewesen waren wie sie beide, nie ein Wort verspielter, kosender Zärtlichkeit füreinander gefunden hatten, nie ein dummes, liebes Wort, wie es jedes einfache Mädchen, jeder junge Bursche in Stunden der Erfüllung fand, wenn aus Sprechen Flüstern wurde und keine Nähe nahe genug war. Sie dämpfte wenigstens ihre Stimme, die ihr selbst zu hell und klar klang.

»Willst du mich einmal sprechen lassen? Oder habe ich kein Recht mehr dazu?«

Nein, das hatte sie gar nicht sagen wollen, es war schon verkehrt, so anzufangen, zu umständlich, zu lang. Er zeigte kein Zeichen von Ungeduld.

»Wir sind uns sehr fremd geworden, wir wissen beide weshalb. Ich habe nichts gesagt, habe keine Szene gemacht, du kannst dich nicht beklagen. Aber du kannst nicht hindern, daß ich etwas fühle. Magst es Freundschaft, Anhänglichkeit oder sonstwie nennen. Ist nebensächlich. Ich sage nichts gegen – die andere«, ihr Bemühen, sachlich und leidenschaftslos zu sein, gelang nicht vollkommen, »nur um dich handelt sich's. Ich habe geglaubt, wir stehen beide auf dem Standpunkt, Liebe sei Spiel, Ablenkung, Zugabe des Lebens. Vielleicht habe ich mich überhaupt geirrt. Nicht nur für dich, sondern auch für mich, was dich ja nicht zu kümmern braucht –«

Beunruhigung beschlich sie, er könnte das Wort abschneiden. Alles schien ihr zu viel, was sie da redete. Es war unheimlich und verdächtig, daß er so regungslos dasaß und hörte oder nicht hörte, vielleicht nur auf irgendein Wort lauschte, um alles, was zu ihm gesprochen wurde, mit einer Handbewegung durcheinanderzuwerfen, wie ein lose gefügtes Spielzeughaus aus dem Steinbaukasten.

»Du machst auf einmal aus dem Spiel Ernst. Deine Sache. Aber ich bemerke, was du nicht bemerkst und auch die anderen nicht bemerken. Wenigstens bis jetzt noch nicht. Hier, an deinem Platz, geht es abwärts mit dir. Deine Partie aus dem Gefängnis hast du gerade noch gewonnen. Zufall. Du hättest sie ebenso gut verlieren können. Deine Dispositionen waren schon zum Teil falsch. Ich habe sie ausgeführt, obwohl ich wußte, daß sie verkehrt waren – du hast dich ja von mir nicht sprechen lassen – und sie haben dich ganz hübsch Geld gekostet. Dein Geld, ich weiß.«

Mein Gott, warum sage ich das alles, dachte sie, ich will doch ganz etwas anderes. Man spricht manchmal etwas weiter.

»Männer in deinem Alter machen schwerer Dummheiten als junge Leute, aber gründlicher. Sie zahlen mit ihrer Kraft und ihrem Leben. Ich will nichts für mich, ich will dich für deinen Platz hier zurück.«

Es war alles nicht wahr, er konnte ja gar nicht verstehen, was sie meinte. Weshalb unterbrach er sie nicht endlich, weshalb wehrte er sich nicht, zeigte nicht Blick und Hand des Bändigers? Sie mußte immer weiter sprechen; wie rasende Pferde, die kein Hindernis finden, weiterrasen müssen.

»Ich habe für dich gearbeitet, weil ich dich wieder hier haben wollte, ich habe herausbekommen, was du und dein Rechtsanwalt und das Gericht nicht herausbekommen haben, von wem und woher telefoniert worden ist. Ich geb's dir in die Hand. Nicht als Gefälligkeit, sondern ein klares, einfaches Geschäft. Der Name deiner – – der Frau wird nicht genannt werden, daran liegt dir ja, du wirst gerechtfertigt sein – –«

»Preis?«

Er fragte es ruhig, viel zu ruhig und kalt, als daß sie ohne weiteres den Mut gefunden hätte, ihre Forderung zu nennen. Es war auch keine Forderung mehr, sondern nur noch ein Wunsch, eine Sehnsucht. Jetzt Ton und Wort finden, damit er verstand. Mit einer Selbstüberwindung, die etwas unerwartet Rührendes hatte, langte sie plötzlich zu ihm hinüber, als wollte sie nach seiner Hand greifen, die gar nicht auf dem Tisch war und legte ihre eigene dicht vor ihm hin mit einer leisen, hoffnungslosen Hoffnung, daß er sie doch ergreifen würde.

»Laß die Frau«, sagte sie leise.

Sie wollte noch irgend etwas sagen, etwas Eindringliches, etwas, das ihn überzeugen, nein, erweichen, mild stimmen sollte. Und brachte nichts heraus. Ihre Hand lag noch immer vor ihm und die seine noch immer unter dem Tisch, verborgen zwischen seinen Knien. Sie wiederholte, aber es hatte kaum Klang genug für die Spanne von ihrem Mund zu seinem Ohr:

»Laß die Frau.«

Er blickte sie an, ohne sie zu sehen. Dieses männlich schlanke, schöne Geschöpf ihm gegenüber wußte gar nicht, was es ihm einmal gewesen war. Mehr eigentlich als Peitsche und Stachel. Warum hatte er es Eve nie gesagt? Sonderbar, sehr sonderbar. Sie war aus den Häusern gekommen, deren Türen er einrennen wollte. Dann sprangen die Tore von selber auf, und die Menschen hinter ihnen waren nicht anders als die, die draußen warteten. Man nahm die Einsamkeit mit sich hinein und brachte sie wieder mit heraus. Niemand half einem, alles mußte man mit sich selbst abmachen. Daß man darüber nie nachgedacht hatte. Eingesperrt mußte man dazu werden. Alle Menschen müßte man vielleicht für eine Weile einsperren.

»Du kommst zu spät, Eve.«

»Bist du blind? Siehst du nicht mehr, wohin du rennst? Männer wie du sind nicht zum Tändeln geboren.«

Sie dachte an die kleine, geputzte und gepuderte Frau, der sie bei Kellendörfer begegnet war. Und er dachte an Lena. Sein Gesicht verlor jede Härte, seine Stimme war fast freundschaftlich warm.

»Du und ihr alle wollt mit mir Geschäfte machen. Nur ein Mensch nimmt von mir und will nichts dafür geben. Und gibt mir und will nichts dafür haben. Vor Euch habe ich mich immer geschämt, wie Ihr Euch vor mir geschämt habt. Geschämt, gut zu sein, schwach zu sein, feig zu sein. Geschämt, zu lieben. Ich liebe diese Frau, weil sie die Scham von mir genommen hat.«

Eve zog ihre Hand zurück und stand auf. Sie war eisig vor Enttäuschung und Eifersucht.

»Du läßt dich lieber verurteilen und wieder einsperren?«

Gontard blieb breit und eckig sitzen. Er war wieder völlig verändert. Ach so? Drohung? Er ist ja der Mann auf der absteigenden Linie. Sie kannte diesen Ausdruck der Unbeweglichkeit an ihm, die gefährlicher war als irgendein Ausbruch. Das war das gleiche Gesicht wie damals, als sie die Blumen von seinem Tisch geworfen hatte.

»Du wirst sprechen, wenn es so weit ist.«

Mit einem Zurücknehmen der Schultern legte er Abstand zwischen sich und sie. Ohne Übergang begann er zu diktieren, daß sie kaum Zeit genug hatte, sich schnell wieder hinzusetzen. Wir spielen Bank! Ein inneres, befreiendes Lachen beschwingte ihn. Briefe, Telegramme, Dispositionen! Er hetzte Eve in ein atemraubendes Rennen der Arbeit. Ho, Geschäft, Geschäft! Kurse, Emissionen, Anleihen! Kabel, Telefon! Tempo, Tempo! Wir spielen Bank! Wir spielen Börse! Wir spielen – –

»Um zwei Uhr Doktor Kröning.«

– – – spielen – –

*

So voll war Kröning von seinem Erfolg, die Entlassung durchgesetzt zu haben, so beherrscht war er von dem Gedanken, daß er das Geheimnis des Bankiers in der Hand hatte und ihn überreden würde, ja, überreden und zwingen, diese überflüssig gewordene Rücksichtnahme aufzugeben, daß er gar nichts von der besonderen Stimmung fühlte, die in dem Zimmer und um Gontard wehte. Nicht lange fackeln, energisch angehen.

»Ich hoffe, Sie sind mit mir zufrieden, Herr Gontard.«

Er setzte sich geradezu mit Schwung in den Sessel neben dem Schreibtisch, der eigentlich nur für Besucher bestimmt war, und wartete auf ein Wort der Anerkennung. Das hatte man sich ja wohl verdient. Gontard schien versunken. Na, dann nicht. Der Rechtsanwalt zog ein wenig das Beinkleid herauf, daß die Bügelfalten haarscharf in der Mitte der Knie saßen.

»Darüber dürften Sie sich im klaren sein, Herr Gontard, daß wir noch nicht aus dem Wasser sind. Ich habe Ihnen bis heute nicht weiter zugesetzt, weil ich Ihren Standpunkt zu schätzen weiß. Aber Sie werden nichts dagegen haben, daß die Dame, die Sie großmütig schützen wollen, freiwillig aus ihrer bisherigen Zurückhaltung heraustritt.«

Gontard betrachtete den Rechtsanwalt mit verstohlener Aufmerksamkeit. Von unten nach oben, mit langsam aufsteigendem Blick, die Füße, Handgelenke, Schultern. Wie man einen Gegner abschätzt, dem man zu Leibe will.

»Sie kennen sie?«

»Ich habe sie ausgeforscht gegen Ihren Willen, Herr Gontard, aber ich bin Ihr Verteidiger und kann mich nicht von den Rücksichten leiten lassen, die Ihnen die Hände binden. Übrigens dürfen Sie versichert sein, ich bin mit dem nötigen Takt vorgegangen.«

Ein Recken ging durch den Körper des Bankiers. Steil aufgerichtet, die Unterarme längs der Seitenlehnen, saß er da. Hugo hielt die Bewegung für Erstaunen.

»Einigermaßen war ich ja baff«, fuhr er mit einem belustigten Lächeln fort, »in der großen Unbekannten eine kleine Bekannte zu treffen.«

Das kleine Wortspiel bereitete ihm Vergnügen, und er warf es triumphierend hin, wie ein Kartenspieler einen sorgfältig aufgesparten Stich auf den Tisch klatscht. Mit listigem Blinzeln aus den Augenwinkeln.

»Und der Mann?«

»Wird auch nicht gleich schießen. Es schießt sich nicht so leicht.«

Ganz schnell, wie aus dem Dunkel blitzende Klingen, heftete Gontard beide Augen auf Hugos Gesicht. Es war wie eine überraschende Finte.

»Ihre kleine Bekannte wird nichts sagen.«

Der Rechtsanwalt hielt dem Blick stand.

»Und wenn sie es mir in die Hand versprochen hat?«

»Sie ist es nicht.«

Hugo fühlte verwirrt, wie die ihn anstarrenden Augen, ohne sich zu verändern, ihren Ausdruck wechselten. Von innen heraus kam diese Veränderung. Das Grau war grauer geworden, das Schwarz schwärzer und tiefer. Kälte kroch Hugo zwischen die Schulterblätter.

»Und Sie sagen mir auch nicht, wer es gewesen ist?«

»Doch. Ich sage es Ihnen.«

Die Kälte kroch wie ein langsames, tausendfüßiges Tier von den Schulterblättern ins Kreuz. Hugo fragte nicht, sondern machte nur eine kurze, auffordernde Geste aus dem Handgelenk des auf den Tisch gestützten Armes. Gontard überlegte einen Augenblick. Er dachte an die Frau. Diese Aussprache hatte er ihr ersparen wollen, sie war seine Sache. Keine peinliche Empfindung, kein Zögern bedrückte ihn. Eine geheime Lust stachelte ihn sogar. Seit Hugo vor ihm saß, hinderte ihn nur die Vorstellung, Lena stünde hinter ihm, die Hand begütigend auf seine Schulter legend. Bedächtig zog er die Schublade vor sich auf und entnahm ihr einen Browning. Hugos Augen flogen von Gontard zu der schwarzen, kleinen Waffe, die plötzlich zwischen ihnen auf der Ecke des Schreibtisches lag, und flogen verständnislos wieder zurück. Er glaubte im ersten Augenblick, der Bankier wollte sich etwas antun. Und machte einen hindernden Griff nach dem flachen, bedrohlich schimmernden Ding hin. Wie im Film, sah er das farblose Gesicht mit dem schwarzen Haardach aus der Ferne auf sich zurücken, immer größer werden und endlich ganz groß sein Blickfeld ausfüllen, so daß rechts und links alles verschwand. Ein großer, breiter Ring aus Fleisch und Knochen umspannte mit unwiderstehlicher Kraft seinen Knöchel dicht unter der Handwurzel und drückte die widerstandslos geöffnete Rechte nieder, bis sie die geriefelte Backe des Kolbens und den kühlen, glatten Lauf und Ballen und Fingern berührte. Die Stimme Gontards war ruhig und tief.

»Schießen Sie, wenn Sie wollen. Ihre Frau.«

So unvermittelt kam dieser Schlag, daß Kröning erst regungslos und stumm sitzenblieb. Dann riß er seine Hand aus der Umklammerung und sprang auf. Die befreite Faust, aus der mit tückischem Auge der Lauf blinkte, fuchtelte aufgeregt in der Luft. Es war ein Auf brüllen:

»Das ist eine Lüge!«

»Ihre Frau. Schießen Sie.«

Der Daumen fingerte an der Sicherung, die nicht nachgeben wollte. Das Brüllen wurde stockheiser.

»Das ist eine Lüge! Sagen Sie es noch mal! Ich schieße Sie nieder!«

Gontard erhob sich und bekam mit einem blitzschnellen Vorstoß des Armes Hugos Gelenk wie in einen Schraubstock zu fassen. Die Faust nach oben drehend, entsicherte er die Waffe. Die Mündung riß grell ihr Auge auf, ein Knall füllte das Zimmer bis in die letzte Ecke. Gontard umspannte noch immer die Hand Hugos, die der Rückstoß hinaufgerissen hatte. Der Revolver entfiel dem gelockerten Griff und blieb mit einem dumpfen Klang auf dem Teppich zwischen den beiden Männern liegen. Gontard stieß ihn, die Finger von Hugos Gelenk lösend, mit dem Fuß beiseite. Seitwärts irgendwo in einem Möbelstück stak die Kugel.

Der Schuß hatte den Rechtsanwalt wieder zur Besinnung gebracht. Er war nicht feige, aber neben diesem Menschen, der nicht wußte, was Nerven sind, der aus nichts zu bestehen schien als aus breiten, eckigen Schultern und zwei riesigen Pranken, hatte er ein Gefühl der Ohnmacht, das erschlaffend alle Glieder löste. Er war bleich bis in die Lippen. Den letzten Rest von Willenskraft zusammenraffend, preßte er zwischen den Zähnen heraus:

»Wissen Sie, was Sie sind? Ein Schuft! Ein Schuft sind Sie! Meine Gastfreundschaft haben Sie mißbraucht, meine Ehre haben Sie besudelt, ausgepreßt und ausgenutzt haben Sie mich, zu Ihrem Verteidiger haben Sie mich genommen«, er lachte kreischend, »herrlich, großartig! Und jetzt soll ich wohl hingehen und dem Gericht sagen, mein Mandant ist unschuldig, hier ist das Alibi, der Herr Gontard hat mit meiner Frau – – jawohl – – lachen Sie nur, meine Herren – – mit meiner Frau – – gerade damals – –«, er schrie wieder ganz laut, »ich bin ja der Verteidiger, ich muß das Alibi beibringen, damit mein Mandant freigesprochen wird! Guter Witz, was? Sie – – Sie – –«

Kröning keuchte. Gontard trat auf ihn zu und packte ihn an der Brust.

»Ich dachte, es geht Ihnen um Ihre Frau – –«

»Loslassen!«

Hugo machte sich mit einem Ruck frei. Die Weste ging dabei auf.

»Ihnen geht es ja nur um das bißchen Blamage.«

»Um was geht es denn Ihnen? Warum schweigen Sie denn nicht weiter, Sie großer Held? Jetzt wollen Sie mich und meine Frau opfern, weil's brenzlich wird!«

»Eben weil's nicht mehr brenzlich ist.«

Gontard drückte auf einen der weißen Knöpfe auf dem Schreibtisch.

»Machen Sie die Weste zu«, herrschte er Hugo an.

In der Tür erschien Eve.

»Fräulein Gernsheim, Sie werden Doktor Kröning das Ergebnis Ihrer Nachforschungen mitteilen.«

Er ging an den beiden vorüber, als hätte die friedlichste Unterhaltung stattgefunden. Nahm seinen Hut vom Haken und verließ das Zimmer, die beiden allein lassend, durch die Tür, die nach der Wendeltreppe führte. Von außen drehte sich der Schlüssel. Hugo rannte ihm nach und schlug mit beiden Fäusten gegen die verschlossene Tür.

»Feigling! Jetzt drückt er sich!«

Auf der Treppe war der Schritt Gontards schon verhallt.

»Was haben Sie? Was ist geschehen?«

Hugo stierte Eve an, als ob er erst jetzt bemerken würde, daß sie im Zimmer sei.

»Was haben Sie denn mit ihm gehabt?« wiederholte sie ihre Frage.

Die Hände gegen die Schläfen gepreßt, schritt er auf sie zu, blieb vor ihr stehen, blicklos, ließ sie unbeachtet stehen und ging zu Gontards Schreibtisch. Mit einem Stöhnen ließ er sich in den Sessel fallen, den Kopf in den verschränkten Armen zwischen Akten und Briefen vergraben.

»Der Lump! Der Hund! Meine Frau hat er mir gestohlen, der Lump!«

Eve näherte sich seinem Platz und legte dem Fassungslosen beruhigend die Hand auf den Kopf. Sie ahnte, ohne das Gespräch zwischen den Männern gehört zu haben, den Zusammenhang.

»Beruhigen Sie sich doch, Doktor. Was ist mit Ihrer Frau? Ist sie es, die – –«

Alles brach wieder aus ihm heraus. Er schrie Eve an:

»Mein Leben, meine Ehre hat er zertrampelt, dieser Schuft. Mein Heim hat er beschmutzt. Lächerlich hat er mich vor der ganzen Welt gemacht. Ich, Idiot, zerreiße mich, um die Frau zu finden. Jetzt – jetzt habe ich sie gefunden!«

»Brüllen Sie vor allen Dingen nicht so, das ganze Haus läuft ja zusammen«, sagte sie und zog die Tür nach ihrem Zimmer zu.

»Ich will brüllen, lassen Sie mich doch«, er war sinnlos vor Wut, »sollen nur alle wissen, was für ein Verbrecher ihr Herr Chef ist –«

»Wenn Sie sich vor allen Leuten blamieren wollen, schön, dann schreien Sie weiter in Gottes Namen.«

Er klappte völlig zusammen, legte das Gesicht wieder auf den Tisch und wimmerte leise vor sich hin. Eve war von dem Brüllen und Jammern angewidert und schrie schon selbst.

»Ein Waschlappen sind Sie, und ein großer dazu! Ihre Frau? Sehr schlimm, aber das passiert in Berlin jeden Tag ein paar Dutzend Männern. Schießen Sie ihn und Ihre Frau über den Haufen, wenn's Ihnen Spaß macht, bloß hören Sie mit dem Heulen auf. Sie werden nicht blamiert sein. Wir brauchen Ihre Frau nicht. Bartosch hat das Telefongespräch geführt. Teilen Sie's dem Gericht mit und geben Sie's als Ihre Entdeckung aus. Ich schenk's Ihnen. Dann werden Sie der große Verteidiger sein, und die Leute werden Ihnen das Haus einrennen. Die Depositenbank wird Ihnen auch ihre Prozesse geben, Sie werden mit Gontard noch dick Freund werden.«

Ihre nicht sehr zarte, aber aufrüttelnde Art brachte ihn wieder zu sich.

»Was soll ich denn tun?« frage er kläglich.

»Ziehen Sie Ihren Scheitel und gehen Sie nach Hause zu Ihrer Frau. Lassen Sie sich dann scheiden oder nicht scheiden, es wird sich schon herausstellen.«

Ihre Finger trommelten ungeduldig auf dem Tischrand. Er haschte nach ihren Händen und drückte sie gegen sein Gesicht.

»Ich kann nicht nach Hause. Lassen Sie mich zu Ihnen gehen«, bat er.

Sie machte sich los und lächelte verächtlich. Der blonde Junge erhoffte sich einen gar zu raschen Trost. So gleichgültig war das alles, so gleichgültig.

»Schön, gehen Sie zu mir. Und wenn Ihre Frau anruft?«

Er zuckte mit den Achseln.

*

Lena wartete auf ihren Mann. Er hatte vor Tisch angerufen und das Essen auf drei Uhr bestellt. Um vier war er noch nicht da. Sie wußte, daß Gontard heute entlassen worden war. Sie werden wohl viel zu besprechen haben, dachte sie. Vormittag hatte sie sich mit Gontard verbinden lassen wollen. Ein Wort mit ihm sprechen. Herr Gontard sei für niemanden zu sprechen, wurde ihr geantwortet. Ein grauenhafter Tag war das. Etwas lag in der Luft. Sie fragte das Bürofräulein, das schon ungeduldig war. Mandanten waren da.

»Rufen Sie doch noch einmal in der Bank an.«

Herr Rechtsanwalt sei schon weg. Er käme nicht nach Hause. Was sollte das heißen, »er käme nicht nach Hause«? Jetzt nicht, später nicht, überhaupt nicht? War etwas geschehen? Die Mandanten brachen auf, einer nach dem anderen, es dauerte ihnen zu lang. Um sechs deckte das Fräulein die Schreibmaschine zu. Sie müsse gehen, sie habe eine Verabredung. Lena blieb allein in der Wohnung, nur das Mädchen wirtschaftete in der Küche. Es dämmerte. Es wurde finster. Lena trieb es aus einem Zimmer ins andere. Etwas war geschehen, etwas war geschehen. Sie telefonierte bei allen Bekannten an, die ihr einfielen. Bei Möllenhoffs meldete sich niemand. Die anderen wußten nichts. Gontard hatte eine Geheimnummer, die sie nicht kannte. Wenn Hugo etwas zugestoßen wäre, hätte man sie benachrichtigt, er hatte immer einen Ausweis bei sich. Er hatte hinterlassen, daß er nicht käme, das bedeutete etwas, das war nicht seine Art. Sie lief zum Fenster und beugte sich hinaus. Ein heftiger Stich durchzuckte sie. Unten vor der Haustür stand ein großes, schwarzes Auto. Genau wie Gontards Wagen. Vielleicht hatte er Hugo gebracht, und sie rannte zur Korridortür. Auf der Treppe war es still. Sie hetzte wieder zum Fenster zurück und strengte ihre Augen an. Die Straße war schlecht beleuchtet. Es mußte ein Irrtum sein, sonst wäre doch jemand heraufgekommen. Der Chauffeur. Oder – – Niemand kam. Sie hielt die Dunkelheit nicht aus und machte in allen Zimmern Licht. Der Wagen stand noch immer vor der Haustür. Es gab doch andere Wagen in Berlin, die auch groß und schwarz waren. Warum drückt der Chauffeur nicht einmal auf die Hupe? Den tiefen, langgezogenen Ton würde sie erkennen. Eine wahnsinnige Unruhe bemächtigte sich ihrer. Wenn es nun doch Gontards Wagen war. Das Dienstmädchen hinunterschicken oder selbst hinunterlaufen. Die Tür zum Führersitz öffnete sich, und der Chauffeur kletterte heraus. Machte sich an der Haube zu schaffen. Sie verschluckte mit den Augen die undeutliche Gestalt. »Kraatz«, wollte sie rufen. Der Chauffeur ging nach vorn zum Kühler und stand einen Augenblick im weißen Lichtkegel des Scheinwerfers. Es war Kraatz. Im Hals oben, fast im Schlund fühlte Lena ihr Herz klopfen. Sie wußte ganz plötzlich alles. Daß zwischen Gontard und Hugo etwas vorgefallen war, daß Hugo nicht nach Hause kam, weil er alles wußte. Daß der große, schwarze Wagen unten auf sie wartete, und daß sie sich entscheiden müsse. Nein, daß schon alles entschieden war. Eine Ruhe, die ihr selbst unverständlich war, überkam sie. Eine Ruhe, die freudlos und schmerzlos war und nichts Lebendiges hatte. Nicht einmal ihr Herz spürte sie. Sie ging ins Herrenzimmer, jedes Möbelstück, jedes Bild betrachtend. Im Speisezimmer strich sie mit den Händen über die Stühle, zupfte die runde Tischdecke zurecht, zog die Schubladen des Büffets auf und ordnete einige Löffel, die sich verschoben hatten. Sie ging ins Schlafzimmer. Setzte sich auf einen Stuhl und ließ den Blick herumgehen. Vom Wäscheschrank zum Waschtisch, vom Waschtisch zum Nachtschränkchen. Schloß die Augen, um die Betten nicht zu sehen. Stand auf, ging zum Toilettentisch, auf dem Hugos Bild stand. Sie nahm das Bild in die Hand und vertiefte sich in Hugos Gesicht, das ihr blond, hübsch, freundlich entgegenlächelte. Das Bild wurde hingestellt, sie streichelte es. Dann setzte sie den Hut auf, den ältesten, als ob sie auf nichts mehr, was hier war, Anspruch hätte, nahm den ältesten Mantel und ging leise, fast auf den Fußspitzen, zur Tür. Durch den Korridor. Hinaus in den Treppenflur. Leise, vorsichtig, wie um niemanden zu stören, ließ sie die Wohnungstür ins Schloß schnappen. Bevor sie aus dem Haus trat, zögerte sie. Nicht um zurückzugehen. Es war das gedankenlose Zögern eines Menschen, der nicht weiß, was er tut. Der Schlag flog auf und schloß sich. Der Wagen schwebte. Er fährt zur Wohnung Gontards, die wohlbekannte Tür wird sich öffnen, ohne daß man jemanden sieht, Gontard wird oben auf der Galerie in der Halle stehen, wußte sie. Während der ganzen Fahrt hielt sie die Augen geschlossen.

Die Halle war hell erleuchtet. Lena fror. Von der Galerie kam ihr Gontard entgegen. Er sagte etwas, was sie nicht hörte, und küßte ihr die Hand. In seinem Arbeitszimmer stand sie mit schlaffen Schultern, das blond gerahmte Gesicht etwas schief geneigt, vor ihm. Auf dem Schreibtisch brannte eine Lampe. Die Tür zum Schlafzimmer war weit geöffnet. Aus dem Mann brach alle zurückgedämmte, aufgesparte Kraft, seine Arme rissen den zarten Leib der Frau empor, daß sie machtlos in seiner Umschlingung hing. Ihr Kopf fiel zurück. In ihren Augen war Angst. Sie sah noch etwas anderes. Ein zweites Gesicht. Weich und doch zurückdrängend, legten sich ihre Hände gegen seine Wangen.

»Nicht! Bitte – nicht!«

Und diese Stimme, mit dem Klang dünnen, zersprungenen Porzellans hatte selbst jetzt so viel Gewalt über den Mann, daß seine mächtigen Arme sich lösten und er den Weg ihr freigab. Mit gesenktem Haupt schritt sie an ihm vorüber, durch die Tür des Schlafzimmers, die langsam zurollte.

Gontard rührte sich erst nicht. Dann löschte er das Licht, zog sich im Dunkeln einen Sessel vor die Tür und setzte sich. Wachend und wartend. Von den Türmen der Stadt schlugen die Stunden. Im Garten rauschte die Nacht. Gontard saß mit wachen Augen, den Kopf zwischen den Händen, und wartete. Die Morgenkühle kam. Licht brach von Osten ein, und ein schräger Strahl teilte das graue Gesicht vor der Tür querüber in eine dunkle und eine helle Hälfte. Die große Dogge näherte sich wedelnd ihrem Herrn, streckte gähnend den langen Leib. Schnuppernd hob sie den gefleckten Kopf, ihre rauhe, rote Zunge fuhr liebkosend über Ohr und Wange des Mannes. Er hatte ein geduldiges Lächeln im Gesicht und legte dem Tier mit einer zärtlichen, sehnsüchtigen Bewegung den Arm um den Hals.

 

Ende


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