Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

Der Dienstag war für das erste Wiedersehen bestimmt.

In der Frau regte sich das Gewissen. Sie war in den dazwischen liegenden Tagen zu ihrem Mann von umsorgender Liebe und klammerte sich mit Inbrunst an ihre Ehe. Wenn Hugo sie mit einem Blümchen beschenkte, überströmte sie von Glück, wenn er mit ihr ausging, strahlte sie. Absichtlich häufig sprach sie von Gontard, um sich selbst ihre Unbefangenheit zu beweisen, und ertappte sie sich auf dem Gefühl, daß sie dem kommenden Dienstag mit neugieriger Ungeduld entgegensah, so forderte sie, ein wenig Theater spielend, die Zärtlichkeit ihres Mannes heraus, nur um sich ihm mit einem süßen Lächeln zu entziehen und sagen zu können:

»Holt mich gleich der böse Gontard, wenn ich nicht lieb bin?«

Das war so hübsch, wenn er sich dann, auf das Spiel eingehend, in Heldenpose warf und das Schwert faßte, das nicht da war:

»Ich schütze dich.«

Das Zusammentreffen mit Gontard, das näher und näher rückte, sollte um jeden Preis eine Nichtigkeit sein. Gefahr? Wo war denn jetzt noch Gefahr? Ein verliebter Mann ist nicht gefährlich.

Gontard war womöglich noch wortkarger und kürzer in dieser Zeit. Sein Gesicht war wieder eingefroren, undurchsichtig und hielt die Menschen in noch größerem Abstand als sonst. Er schien ein in sich verkrochenes Tier, das sich immer dichter und dicker mit seiner Schale umkrustet. Niemand konnte durch die harten, rauhen Lagen dieser Schale blicken. Niemand konnte sehen, wie Gedanken und Befürchtungen immer nur dieses eine umflatterten: wird sie kommen, wird sie kommen? Er arbeitete mehr als sonst, sein Tempo war das einer in drohender Fahrt befindlichen Lokomotive. Aber die Gedanken an die Frau waren hinflitzende, schnelle Vögel, die flackernd der beängstigend rasenden Maschine vorausschossen. Menschen und Dinge waren Signallichter, die auftauchten, achtlos überfahren wurden und irgendwo hinten im Nichts verschwanden. Nur die Vögel blitzten kreuz und quer mit raschem Flügelschlag.

Der erste Dienstag.

Ohne in den Spiegel zu blicken, ohne die Krawatte zurechtzuzupfen, machte sich Gontard auf den Weg. Ein Bausch aus Seidenpapier in seiner Hand umhüllte ein halbes Dutzend kostbarer Orchideen. Sein großer, schwarzer Wagen brachte ihn in die Nähe der kleinen Konditorei in der Bismarckstraße, die als Treffpunkt ausersehen war. Es war ein ganz einfaches, altes Lokal, aus zwei einfenstrigen, halbdunklen Zimmern bestehend, die sich an den Verkaufsraum anschlossen. Sechs runde Marmortische auf altmodischem, gußeisernem Fuß standen vor ebensoviel abgesessenen, roten Plüschsofas in jedem Zimmer. Für mehr war kein Platz. Die Sofas boten für zwei Personen Platz, die gelben Rohrstühle, die um jeden Tisch die Einrichtung vervollständigten, führten ein unbenutztes Dasein und wackelten erschrocken, wenn sich Neulinge auf ihnen niederließen. Lena hatte die Konditorei vorgeschlagen, die sie aus ihrer Backfischzeit her kannte. Jetzt tranken hier in der Mittagszeit kleine Geschäftsmädchen aus den umliegenden Geschäften ihren Kaffee zu mitgebrachten Butterbroten, und abends saßen einige einsamkeitsbedürftige Pärchen in den mäßig erhellten Nischen. Vormittags war nie eine Menschenseele zu treffen. Gontard setzte sich in eine Ecke. Fünf Minuten vor halb elf. Und die fünf Minuten, die er reglos in erstarrter Haltung, mit verschränkten Händen auf der kalten Marmorplatte, wartete, dünkten ihm unsicherer, nervenzerrender als sein ganzes bisheriges Leben. Schlag halb elf flatterte Lena herein. Der Mann stand auf. Breit und schwer, schien er neben ihrer weichgelenkigen Zartheit ein dunkler Riese, obwohl er kaum über Mittelgröße war.

»Bin ich pünktlich? Oh, die Blumen! Wie herrlich! Das sollten Sie aber nicht. Ich darf sie ja doch nicht mitnehmen. Denken Sie, was mein Mann sagen würde – –«

Das Wort blieb ihr im Hals stecken. Gontard hatte mit einer wischenden Handbewegung den Strauß vom Tisch gefegt.

»Das dürfen Sie nicht. Pfui! das ist roh. So will ich Sie nicht haben. Sofort heben Sie die Blumen auf.«

Er bückte sich gehorsam.

»So etwas dürfen Sie nie wieder machen, sonst komme ich nicht wieder.«

»Es soll sie niemand anders haben.«

»Sie werden schön brav die Blumen zu Hause in eine Vase stellen, und wenn Sie sie ansehen, werden Sie an mich denken. Versprechen Sie mir das?«

Sein Gesicht war wieder entspannt, beweglich. Seine Pupillen, schwarz blitzende Lichter im grauen Rund der Iris, staunten die Frau wie ein Wunder an. Eine kleine, blonde, liebe Lehrerin schilt den Schüler aus, der alles falsch macht. Der alles falsch gemacht hat sein ganzes Leben lang. Wie Schüler, die den ganzen Satz des Lehrers wiederholen, sagte er:

»Ich werde die Blumen in eine Vase stellen und an Sie denken.«

Und wie eine kleine Lehrerin, die Rechenschaft verlangt, fragt sie ihn aus. Wie er lebt, was er tut, was er mit seiner freien Zeit macht. Wie kann ein Mensch so leben? Um fünf Uhr aufstehen, arbeiten, arbeiten, arbeiten, bis zehn, elf, zwölf Uhr nachts. Keine Bücher lesen, keine Musik hören, in kein Theater gehen. Um Gottes Willen, das ist doch kein Leben. Ja, was interessiert ihn denn? Karten spielen, Rennen, Frauen?

»Haben Sie Tiere gern? Bilder? Sammeln Sie nichts?«

Nichts, gar nichts? Das ist ja schrecklich! Ein Mensch muß doch etwas haben, wofür er lebt. Geld verdienen?! Das ist gar nichts, wenn man damit nichts beginnt, Gutes tut oder schöne Dinge kauft oder irgend etwas. Welch sonderbares, furchtbares Leben.

»Ich warte.«

»??«

»Auf Sie.«

»Das dürfen Sie nicht sagen. Nie wieder. Das ist gegen die Abrede. Sie wissen, was ich Ihnen gesagt habe? Ich liebe meinen Mann, ich bin glücklich in meiner Ehe. Und es ist ein großes Unrecht, daß ich mich hinter dem Rücken meines Mannes mit Ihnen treffe. Sie dürfen mir das nicht zu schwer machen. Sie dürfen mich auch nicht antelefonieren, keine Blumen bringen, nichts. Eine Stunde wöchentlich wollen wir gute Freunde sein. Das ist schon ein großes Opfer, das ich Ihnen bringe.«

Sie erschrak über sein Gesicht. Es war todtraurig, der Mund verzerrt, die Augen hilflos wie die eines kranken, großen Hundes.

»Sie kommen um Ihres Mannes willen.«

»Soll ich Sie anlügen?«

»Ich habe selbst zu viel gelogen, ich weiß, wie Lügen klingen.«

Sie neigte sich über den Tisch zu ihm, daß er die duftende Wärme, die von ihr ausging, zu spüren vermeinte.

»Ich möchte um Ihretwillen kommen, nur um Ihretwillen, wenn Sie damit zufrieden sind, was ich Ihnen freiwillig gebe. Ich möchte nicht, daß Sie traurig und so – so – hart sind. Sie sollen froh sein, und Sie sollen zurückfinden zu Ihrer Kiste und zu Ihrer kleinen Spielgefährtin.«

Wie Kinder, die furchtlos ein fremdes, großes Tier abtatschen, legte sie ihre feine Hand auf seine riesige Tatze. Und er hielt still, unbeweglich still, mit allen Poren dieses weiche Gefühl ihrer Berührung einsaugend, dieses unbekannte weiche, warme Gefühl, das in einen hineinkroch, ins Blut strömte, auflöste. Ein Mensch, der nichts von ihm wollte, ein Mensch, der ihn nicht fürchtete und ihn zurechtwies, ein Mensch, der ihm helfen wollte, ihm, dem mächtigen, großen, reichen Bankier Gontard, weil er – wie sonderbar – arm war. So blutarm, daß er fror und sich zusammenziehen mußte, wenn ihn nicht ein armseliger Kleiderfetzen eines kleinen Mädchens zudeckte.

»Sie werden jetzt sehr vernünftig sein, ja? Und alles tun, was ich Ihnen sage? Sie werden sehen, wie schön das sein wird. Sie werden noch diese Woche ins Theater gehen. Ihnen muß man ja befehlen wie einem kleinen Jungen, der nicht weiß, was er zu tun hat. Ich werde Ihnen sagen, was Sie ansehen sollen; geben Sie mir die Zeitung her.«

Sie blätterte nach den Theateranzeigen.

»Kindervorstellung, das wäre eigentlich das Richtige für Sie. Rotkäppchen und der Wolf, das sind wir beide, ja, Sie, Sie sind der Wolf. Warten Sie, nein, also lieber Rigoletto in der Staatsoper. Am Sonnabend. Das ist gut für Anfänger. Werden Sie gehen? Aber wirklich? Nicht nur so sagen.«

»Ich werde gehen. Ohne Sie.«

»Gott, Sie Armer, Sie sagen das, als ob ich Sie zu einer Hinrichtung schicken würde. Brr! Nächste Woche schicke ich Sie sogar in ein Lustspiel, damit Sie erst mal lachen lernen und nicht immer dieses Graulegesicht machen. Adieu, Her Schüler, nein, nicht begleiten. Besser so. Am nächsten Dienstag um halb elf werde ich Sie abfragen, ob Sie schön gelernt haben.«

Gontard stieg langsam, den wieder eingewickelten Blumenstrauß in der Hand, die Treppe zu seinem Büro hinauf. Nicht die Treppe vom Haupteingang der Bank, der auf die Jägerstraße ging, sondern die kleine Treppe, die vom Nebeneingang in der Charlottenstraße direkt zu seinem Arbeitszimmer führte. Diese Treppe, die nur bis zum ersten Stockwerk reichte, war dem ausschließlichen Gebrauch Gontards vorbehalten und eigens für ihn gebaut worden. Nur sein Chauffeur, ein verwegen und verschlagen aussehender Mann, ehemaliger Kriminalwachtmeister, der wegen eines Vergehens den Dienst hatte verlassen müssen und seinem Herrn auf Tod und Leben ergeben war, besaß noch einen Schlüssel zu diesem Eingang. Nie wußte jemand, auch Evelyne nicht, wann der Bankier sein Büro verließ, wann er dorthin zurückkehrte. Gontard blickte sich in seinem Zimmer um und kommandierte dem Chauffeur, der hinter ihm stand und stumm die Befehle seines Herrn erwartete:

»Eine Vase.«

Gleichzeitig klingelte er nach Eve. Es war keine Vase vorhanden, man mußte den Strauß in ein Wasserglas stellen. Eve erschien, den Block unter dem Arm. Ihr erster Blick galt den Blumen. Noch nie hatte Gontard Blumen auf seinem Tisch gehabt, noch nie hatte auf diesem Tisch etwas Platz gefunden, was nicht unbedingt zur Arbeit gehörte. Was war mit Gontard vorgegangen? Einen Augenblick dachte sie, die Orchideen könnten für sie bestimmt sein. Aber Gontard diktierte schon, ehe sie recht auf ihrem Platz saß. Hin und wieder flog sein Auge, von ihr unbemerkt, über sie hin, erstaunt. Sie schien ihm völlig fremd, als hätte er sie nie gesehen. Er telefonierte, diktierte im Zuhören, gab Anordnungen. Alles wie sonst, das gleiche atemraubende Tempo. Eve schrieb, antwortete knapp, alles wie sonst, und dachte dazwischen: Die Blumen! Eine Frau! Schrieb dabei und antwortete.

»Für Sonnabend. Karte – Staatsoper.«

Zum erstenmal, vielleicht zum erstenmal in Jahren, blickte Eve von der Arbeit auf und fragte, als hätte sie nicht verstanden:

»Theaterkarten? Zwei?«

»Eine.«

Gontard ging ins Theater? Unmöglich. Seitdem sie ihn kannte, war Gontard nicht im Theater gewesen. Nie hatte sie ihn dazu zu bringen vermocht. Also für eine Frau. Schon stand der Entschluß bei ihr fest, sich gleichfalls eine Karte für die Sonnabendvorstellung zu lösen. Sie mußte die Frau sehen. Oder sollte Gontard doch selbst – –? Hätte er sonst die Karte durch sie besorgen lassen? Er konnte sich denken, daß sie hingehen würde, um die neue Freundin zu begutachten. Vielleicht wünschte er gerade, sie ihr zu zeigen. Es würde ihm ähnlich sehen. Aber wenn er selbst geht – – man konnte einen längst gehegten Plan ausführen – –

Am Freitag ließ sie Kröning gegenüber die Frage fallen:

»Was machen Sie morgen abend, Doktor?«

»Nichts Besonderes. Ich denke, mit meiner Frau – –«

»Ach so«, sagte sie mit einem Anflug von Spott, »eheliche Pflichten des guten Bürgers. Trautes Heim, Glück allein.«

Spott konnte Hugo nicht vertragen. Er schämte sich, so lächerlich es war, wenn man ihm Gutbürgerlichkeit zumutete.

»Na, so ist es gerade auch nicht. Ich kann natürlich tun, was ich will.«

»Ich habe zwei Karten in die Oper. Wollen Sie mich begleiten?«

Er zögerte. In seiner ganzen Ehe hatte es sich noch nicht ereignet, daß er am Sonnabend ohne Lena ausgegangen war. Und gerade in der letzten Zeit hatten sie sich eigentlich besonders gut verstanden. Sie würde Augen machen, diese etwas weit offenen, verschwimmenden Augen, die er gar nicht vertragen konnte.

»Ein anderer Tag wäre mir ja, offen gestanden, lieber.«

Aufreizend hell lachte Eve ihm ins Gesicht.

»Ach, seid Ihr Ehemänner komisch. Wie sagten Sie? Sie können tun, was Sie wollen? Wenn's Ihnen erlaubt wird, nicht? Na, bleiben Sie nur schön zu Hause, kleiner Held. Schade, gerade morgen hätten Sie mir einen Gefallen getan.«

Gertenschlank und rassig stand sie vor ihm, die langen, spitzen Hände abwärts in die schmalen Hüften gestützt. Ein wenig schmissig kokett und aufreizend. Hugo war unsicher.

»Finden Sie es gar so lächerlich – –?«

»Lächerlich? Ich finde es lächerlich, daß man einen Mann einmal, wenn man ihn gerade braucht – – na, schön.«

»Wenn Sie Wert darauf legen, dann natürlich. Bitte, ich komme.«

Es fiel ihm nicht leicht, Lena diese Eröffnung zu machen. Gerade Sonnabend. Aber schließlich hatte Eve recht. Sonnabend war auch nur ein Tag wie jeder andere. Geradezu spießig, immer Sonnabend, als ob die Woche keine anderen Tage hätte. Kleinbürgerlich. Er stotterte trotzdem etwas von geschäftlichem Interesse und Nichtabschlagenkönnen. Lena erschrak. Sie hätte ihm so gern gesagt: Geh nicht, du wirst Gontard dort treffen, es wird dir unangenehm sein. Es ging doch nicht, daß sie es ihm sagte. Sie verlegte sich aufs Bitten. Muß es denn Sonnabend sein, ihr Sonnabend. Sie bettelte, schmollte, versuchte ihn durch Zärtlichkeit zurückzuhalten.

»Ich bitte dich, sei doch nicht kindisch, mein Dummchen. Wir gehen eben mal Sonntag aus. Wir sind doch keine Spießbürger, die auf den Sonnabend abonniert sind. Sei doch vernünftig und lieb.«

Er hatte es sich leichter vorgestellt. Er nahm sie in die Arme.

»Gleich holt dich der böse Gontard, wenn du nicht lieb bist.«

Aber diesmal verfing das Spiel nicht. Er regte sie nur noch mehr auf. Sie brauste auf.

»Das Fräulein soll sich einen anderen Kavalier suchen, wenn sie ausgehen will. Du wirst sehen, sie wird uns noch auseinanderbringen.«

Schließlich mußte sie doch nachgeben. Er könne als Mann nicht sagen: Meine Frau erlaubt mir nicht fortzugehen. Man kann sich nicht lächerlich machen. Sie wollte antworten: Aber mir kannst du sagen, Fräulein von Gernsheim erlaubt dir nicht, daß du mit deiner Frau ausgehst. Sie brachte es nicht heraus. Sie wurde innerlich trotzig. Soll er doch gehen! Soll er! Soll er sich mit Gontard überwerfen, soll er seine Stellung verlieren! Dann ist eben alles aus, dann braucht sie auch keine Rücksicht mehr zu nehmen, braucht sich nicht um seinetwillen mit Gontard zu treffen – um seinetwillen, ja, ja, um seinetwillen – – –

*

Die umgebaute Oper schimmerte in neuem Glanz. Herren im Smoking, Damen im großen Abendkleid schwirrten durcheinander. Ein berühmter russischer Sänger gab als Gast den Rigoletto. Es war ein großes Ereignis. Die Preise waren erhöht. Parkett und Ränge füllten sich mit einer summenden, wispernden Menge. Leises Stimmen der Geigen im Orchester, ein hell perlender Flötenlaut dazwischen. Glockenzeichen. Der große Saal verfinsterte sich allmählich. Im Orchester plötzliche Stille. Einige Nachzügler brachten Unruhe. Aufstehen, setzen. Eves scharfe Augen hatten Gontard erspäht. Er saß in der vierten Reihe, fünf Reihen vor ihnen, den Kopf zwischen die breiten Schultern gesenkt. Also doch er.

»Gontard ist da, dort vorn, sehen Sie?« flüsterte sie Hugo zu.

»Wo? Tatsächlich. Das ist mir sehr unangenehm«, gab er ebenso leise zurück. »Ich möchte ihm nicht begegnen.«

»Sind Sie feige?«

Die Musik unterbrach sie. Hugo hörte kaum hin. Wäre er nur nicht mitgegangen. Hätte er Lena gefolgt. Wenn sie ihm bloß nicht begegnen würden. Der Teufel soll die ganze Oper holen.

Gontard saß regungslos in sich zusammengezogen. Das war ihm das unangenehmste Gefühl, Menschen so dicht neben sich zu haben. Er vermied jede Berührung mit den Nachbarn. Er mußte sich an all das erst gewöhnen. Die Ouvertüre goß einen Strom von Tönen in den dunkeln, weiten Raum. Der Strom umfloß die Köpfe, wogte rauschend in den Ohren. Gontard strengte sich an, zuzuhören. Der Vorhang hob sich von dem glänzenden Bühnenbild. Menschenstimmen erhoben sich klar und klingend über den Zusammenhall der Instrumente. Gontard hob den großen Kopf. Sie müßte neben mir sitzen. Seine Augen suchten die Bühne ab. Eine Sängerin müßte ihre Stimme haben. Diese weiche, gurrende, halbgebrochene, süße Stimme mit dem Klang feinen, durchsichtigen Porzellans, das einen kleinen, kleinen Sprung hat. Er horchte und wartete auf einen Ton, der diesen Klang hatte. Ein solcher Ton müßte kommen.

Der Russe sang. Da – da – da war ein Ton. So – so – – Gontard schloß die Augen. Die Musik rieselte über seine Schultern, den starken Rücken, das Rückgrat entlang. Tosendes Klatschen riß ihn heraus.

Große Pause, Lichter.

»Ich möchte unten eine Zigarette rauchen. Ist's Ihnen recht?« fragte Kröning.

Evelyne schürzte die Lippen.

»Sie wollen Gontard ausweichen.«

Aber sie ging mit. Die Begegnung war ihr plötzlich unheimlich geworden. Gontard war noch auf seinem Platz, sein Rücken war ein drohender, schwarzer Felsen. Auf der Straße hatten sich die Raucher versammelt. Hugo drückte sich neben eine Säule des Portals, er war verlegen und schweigsam. Hoffentlich kommt Gontard nicht auf den Gedanken – – Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, betrat, fünf Schritte von ihm entfernt, Gontard die Straße. So verdattert war Hugo, daß er, statt sich einfach auf die andere Seite der schützenden Säule zu stellen, sich tief gegen den Bankier verneigte. Dadurch zog er erst die Aufmerksamkeit Gontards auf sich und Eve. Der Bankier warf einen gleichgültigen Blick hinter tiefen Lidern zu den beiden und nickte mit beleidigender Kürze. Eve neigte kühl den schönen Kopf. Neugier plagte sie. Was denkt er jetzt? Gontard wandte sich gleichmütig nach der anderen Seite.

*

Himmel, ja, war das eine unangenehme Geschichte. Kröning konnte sich gar nicht beruhigen. Eve hatte gut lachen und spotten. Sie fühlte sich unentbehrlich oder hatte vielleicht schon ihr Schäfchen in den Jahren bei Gontard ins Trockene gebracht. Sie tat, als ob die ganze Sache bedeutungslos wäre. Aber das mochte der Kuckuck wissen, ob sie es wirklich meinte, oder ob ihr nicht ebenso schwummrig zumut war wie ihm. Gar so selbstverständlich war es ja doch nicht, daß er mit der Freundin seines Chefs – sie war doch seine Freundin, ihm konnte man nichts weismachen – ins Theater ging. Wenn es auch harmlos war. Der Teufel mußte den Bankier ausgerechnet gestern in die Oper schicken. Es grauste Hugo vor dem Montag. Sollte er sich bei Gontard entschuldigen? Wer sich entschuldigt, klagt sich an. Faul, oberfaul. Wenn er nur an das Gesicht Gontards dachte, bei dem man nie wußte, ob man überhaupt dazu kam, einen Satz zu Ende zu sprechen, wurde ihm schon schwach in den Gedärmen. Und Lena fragte auch nichts. Wieso fragte sie ihn nicht, weshalb er so schlecht gelaunt sei? Sie wollte doch sonst alles haargenau wissen. Natürlich, wenn er mal etwas hatte, kümmerte sich kein Mensch. Und dieser verd– – –, trübselige Regensonntag dazu, bei dem man sich nicht auf die Straße wagte. Gontard wird natürlich gar nichts sagen. Er hatte es ja viel einfacher. Ein Briefchen, ganz kurz: Wir verzichten auf Ihre weiteren Dienste – und die Sache war erledigt. Oder alles schlecht finden, was er machte, bis er von selber ging. Hinausekeln. Dann saß man wieder im Dreck bis an den Hals und konnte sich wieder mit schäbigen Armensachen herumschlagen. Dann konnte man sich jeden Ersten den Kopf zerbrechen, wo man das Geld zur Miete hernimmt. Er ging mit lang ausgreifenden Schritten um den Speisetisch, die Hände vor dem zurückgeschlagenen Jackett in die Hosentaschen vergraben. So was müßte ritterlich ausgetragen werden. Mit dem Säbel in der Hand, Mann gegen Mann, Auge in Auge. Aber nicht so – –

»Pfui Teufel!«

»Was hast du denn?«

Lena saß am Fenster, die Augen auf die mattgläsernen Regenschnüre gerichtet, die in gleichmäßig schräger Dichte in der Straße hingen, dabei gleichzeitig ins Zimmer lauschend in der sicheren Erwartung, daß Hugo vom gestrigen Abend zu erzählen beginnen würde. Wenn ihn etwas bedrückte, konnte er es nicht bei sich behalten, suchte seine Zuflucht bei ihr. Das war ihr kein unangenehmes Gefühl, sondern ein Selbstverständliches ihrer mütterlichen Wesensart, die im Manne auch immer das Kind sah und sich lindernd auftat allen Sorgen und Schmerzen. Nur das war ihr peinlich, daß sie sich ahnungslos stellen mußte, obwohl sie alles wußte.

»Schauderhaftes Pech das«, knurrte Hugo halblaut zwischen den Zähnen.

»Meinst du das Wetter? Das ist doch kein so großes Unglück?«

»Ach Wetter. Nein, gestern – eigentlich wollte ich's dir gar nicht sagen – stell' dir vor, wer sitzt ein paar Reihen vor uns im Parkett?«

»Gontard«, platzte sie heraus.

»Woher weißt – – –?«

Sie blieb in der gleichen Stellung. Nur sich jetzt nicht umdrehen.

»Gott, wer konnte es schon sein, wenn du so aufgeregt bist? Irgendeinen von unseren Bekannten zu treffen, wäre dir doch nicht so fürchterlich gewesen. Und ich habe dich so gebeten, du sollst nicht gehen –«

»Ich bitte dich, fang mir nicht damit auch noch an. Ich weiß ja, du hast es gespürt, du hast alles vorher gewußt. Ist ja gut. Sein Lebtag ist der Mann nicht ins Theater gegangen, daß er gestern gehen würde, hast du geahnt. Schön, dann hast du's eben als Einzige in der ganzen Welt gerochen. Oder er hat dir vorher eine Karte geschrieben und hat's dir mitgeteilt. Kinderei.«

Sie vermied es, ihn weiter zu reizen. Er tat ihr schon leid.

»Es ist doch nicht so schlimm. Fräulein Gernsheim wird schon wissen, was sie tun darf. Oder war sie auch erschrocken?«

Die Frage lauerte ein wenig. Lena hätte zu gern erfahren, ob das, was ihr Gontard über seine Beziehungen zu Eve gesagt hatte, stimmt.

»Ach die, die weiß überhaupt nicht, was Erschrecken ist. Sie hat's ja auch nicht nötig, auf sie ist er mehr angewiesen als auf mich, soweit der überhaupt auf jemanden angewiesen ist.«

Wenn er auch nicht aussprach, was er befürchtete, seine Frau wußte es. Wäre nur nicht dieses Verstecken und Verbergen, daß sie ihm hätte sagen können, er brauche sich nicht zu ängstigen. Wie sie ihn so aufgeregt und hilflos sah, hatte sie nur noch das Bedürfnis, ihren großen, blonden Jungen zu trösten. Ihr Herz hing nun einmal an ihm. Ihre Bitterkeit von gestern war verflogen, sie konnte nichts nachtragen.

»Was wird er dir schon tun? Gott weiß, wie gleichgültig es ihm ist, wer mit seiner Sekretärin ins Theater geht.«

»Das verstehst du nicht.«

»Du wirst sehen, Hugo, es wird gar nichts sein. Gontard gibt sich weder vor dir noch vor Fräulein Gernsheim eine Blöße.«

»Du kennst doch den Mann gar nicht.«

»Aber du hast mir doch von ihm erzählt. Folg' mir, warte ab, glaub' mir, gar nichts wird sein. Du tust deine Pflicht, und er braucht dich, weil du tüchtig bist. Frauen haben in solchen Dingen ein feineres Gefühl als Männer, wenn du's auch nicht wahr haben willst. Du kannst ruhig sein, glaub' mir doch.«

Ihre Stimme streichelte ihn. Es tat ihm wohl, daß sie ihn für tüchtig hielt und daß sie mit so unerschütterlicher Sicherheit sprach. Sie hatte eine wunderbare Art, zu beruhigen. Gar nicht die Worte waren es, sondern dieser weiche, nachklingende Ton, in dem ein zerbrechliches Klirren schwang.

»Und wenn's doch schief geht?«

Durch den Zweifel klang schon Hoffnung.

»Dann soll mich der böse Gontard holen. Es wird schon nicht schief gehen, ich täusche mich nicht. Nur eines sollst du mir versprechen. Du gehst mit dieser Frau nicht mehr aus. Versprich's mir, Hugo. Dann wird dir auch nichts geschehen, dann kann ich alles für dich tun.«

»Du sollst doch gar nichts für mich tun, mein Dummchen.«

Er verstand nicht, was sie meinte. War bloß ein wenig erstaunt über ihre plötzliche Leidenschaftlichkeit.

»Na schön, warten wir's ab. Hoffentlich behältst du recht.«

Nichts ereignete sich am Montag. Kröning bekam den Bankier den ganzen Tag nicht zu Gesicht. Absicht? Vielleicht. Wer konnte das bei diesem Menschen wissen? Jedenfalls war Hugo froh, daß er um die Begegnung herumkam. Er riß sich nicht. In Eves Gesicht war nichts zu lesen.

»Hat er etwas gesagt?«

»Ach, der Held meldet sich?« kam es höhnisch zurück. »Ja, Herr Gontard wünscht Sie zum Lunch zu verspeisen. Mit Zwiebeln.«

Mache, dachte Hugo, aber Nerven hat sie. Eve war trotz aller Beherrschtheit mit gespannter Lust geladen. Sprungbereit. Mit verborgener Neugier wartete sie, daß der Mann in Gontard sich regen würde. Ho, diesen Stein einmal Funken sprühen zu sehen. Aber er war bei der gemeinsamen Arbeit von tödlich kalter Unberührtheit. Die Blumen standen noch auf seinem Tisch. Das Wasserglas war durch eine kostbare, silberne Vase ersetzt. Absichtlich warf sie im Aufstehen die Vase um, Wasser floß über den Tisch. Sie eilte zur Tür, um nach dem Chauffeur zu klingeln, der immer vor der Tür zu Diensten seines Herrn zu stehen hatte. Bevor noch Eve den Mund auftun konnte, sagte Gontard zu dem Eintretenden:

»In einer halben Stunde den Wagen. Gehen.«

Die Tür schnappte zu. Jetzt erst begegneten sich Gontards und Eves Blicke. Hatte er also doch die Absicht bemerkt. Sein Blick, ein abgeschossener Pfeil, aus einem Auge nur unter tiefer Braue kommend, war so unsagbar hart, daß er wie kaltes Eisen in die Pupille drang.

»Es ist kein Handtuch – – –«

»Aufwischen.«

Das war keine Stimme mehr, sondern ein Schlag, der aus gekrümmter Hand ins Genick fährt. Eve holte stumm ein Handtuch und wischte auf. Ganz genau verstand sie Gontard. Das war eine Demütigung vor der Frau, die irgendwie mit den Blumen zusammenhing.

*

Was Lena verdroß, war die Befürchtung, daß Gontard wegen der Begegnung im Theater etwas Abfälliges über ihren Mann sagen könnte. Den ganzen Weg in die Bismarckstraße suchte sie nach den richtigen Worten, mit denen sie antworten wollte, wenn er irgendeine Bemerkung machen würde. Und er würde sie machen, jeder Mann würde es tun, das war ja so menschlich. Aber als sie ihm an dem kleinen runden Tisch gegenübersaß, erlebte sie wieder mit Schauern die erstaunliche Wandlung seines Gesichts aus versteinerter Starre zu erst zaghafter und immer stärkerer, gelösterer Lebendigkeit, die auf sie wirkte wie das langsame Erwachen eines Toten. Und es war ein seltsames, befriedigendes Gefühl, die eigene Wirkung, die einem lebenspendenden Hauch vergleichbar schien, auszukosten. Ihr blonder, lockerer Scheitel goß Licht bis in die tiefsten Furchen seines Gesichts, ihr Atem strahlte Wärme, die aus den Klüften seiner Züge ein schwach gefärbtes Lächeln zauberten.

»Wie war's denn im Theater? Richtig? Ganz, ganz richtig?«

Er legte seine Hand, gewölbt wie eine Glocke, schützend und behutsam über ihre, so daß er sie kaum berührte.

»Alles, was Sie tun und sagen, ist richtig.«

Weshalb sagte ihr Hugo nicht einmal, ein einziges Mal nur so etwas? War denn das möglich, daß dort alles falsch war, was sie sprach, und hier alles richtig, schön und gut? Sie schwieg und wartete. Wird er die Begegnung nicht erwähnen? Er erzählte von der Vorstellung. Seine Eindrücke waren von der Lebhaftigkeit eines Kindes, bildhaft und ursprünglich einfach. Was war ihm die Musik? Eine Stimme, ein Ton, der ihn an sie erinnerte. Von Hugo und Eve kein Wort. Er machte eine Pause. Jetzt möchte er es sagen und tut es nicht, weil er vielleicht meint, ich wüßte es nicht, schoß es in ihr auf. Sie wollte nicht die Rolle der hintergangenen Gattin spielen.

»Wollten Sie mir nicht noch etwas mitteilen?« zerbrach sie das Schweigen.

Er schüttelte den großen, dunkeln Kopf.

»Weshalb erzählen Sie mir nicht, daß Sie meinem Mann begegnet sind, und daß Sie ihn mit Ihrer Sekretärin gesehen haben?«

»Man sucht Fräulein Gernheims Gunst«, sagte er mit trockener, fast gutmütiger Schalkhaftigkeit, »sie soll großen Einfluß auf mich besitzen.«

Es klang beinahe, als wollte er Kröning entschuldigen. War das nur kluge Berechnung bei ihm?

»Ich sollte Ihnen vielleicht das nicht sagen, aber es ist hübsch von Ihnen, daß Sie nichts gegen meinen Mann sagen. Es wäre geschmacklos gewesen, wenn Sie mir hätten beweisen wollen, daß er mich nicht liebt.«

Er antwortete, jedes Wort betonend:

»Ich will Ihnen nur eins beweisen – daß ich Sie liebe. Nie etwas anderes.«

Sie wollte ihn unterbrechen. Er sollte nicht so sprechen, sie mochte es nicht hören, so wohlig einlullend es war, sich verehren, sich lieben zu lassen. Man hätte es zurückweisen müssen, man gehörte einem andern, man war Dame – – – aber man war doch auch eine Frau – – – man war doch nur ein Mensch – – –

Es lag ihr noch etwas auf der Zunge, sie zögerte, es zu sagen. Gontard hatte so scharfe Augen und Ohren. Sie stockte verlegen, indem sie es herausbrachte.

»Ich glaube – meinem Mann war es – sehr unangenehm – daß Sie ihn mit Fräulein – –«

Statt einer Antwort, blickte er sie nur an. Das Grau des Auges wurde um eine Schattierung dunkler, wärmer. Sie war verwundert, wie man sich mit diesem Menschen verständigen konnte, ohne daß ein Wort fiel. Mit einer dankbaren Regung strich sie ihm flüchtig über den Ärmel.

Abends kam Hugo in strahlender Laune nach Hause.

»Du, heute ist ein Wunder geschehen. Ein wahrhaftiges Wunder: dieses reißende Tier, von dem man glaubt, daß es Menschenfleisch frißt, hat sich in ein privates Gespräch mit mir eingelassen. Hat zu mir gesprochen, wie ein Mensch zum andern. Du kannst das nicht so verstehen, weil du Gontard nicht kennst. Das ist der herzloseste, härteste Bursche, der je auf der Erde herumgelaufen ist. Aber weißt du, es kommt eben alles darauf an, wie man einen Menschen behandelt. Man muß ihn zu nehmen wissen. Vom Theaterbesuch keine Silbe. Man hätte meinen können, er ist mir direkt dankbar, daß ich seine Sekretärin ausgeführt habe.«

Lena streichelte Hugos Haar. So hübsch war das, wenn er froh war.

»Wer hat recht gehabt?«

»Weiß Gott, dein Näschen hat richtig geschnuppert. Dafür hat er sich sogar nach dir erkundigt. Nur so obenhin, warm kann der Kerl ja nicht werden, aber es ist doch ein menschlicher Zug. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.«

»Zu dir ist er doch sehr anständig, weshalb sagst du eigentlich Kerl und Tier?«

»Ist er doch auch. Ach, du meinst, das kommt bei ihm aus dem Herzen? Sympathie und so? Ach, du liebe Güte! Entweder imponiert ihm die akademische Bildung, oder er will mich an sich fesseln, weil er mich halten will oder sonst irgend etwas. Es wird schon herauskommen.«

Es gab Lena einen Stich. Es wird schon herauskommen. Man dürfte es nicht tun, man dürfte es nicht tun.

Immer wieder kam es vor, daß der Bankier mit Hugo einige Worte ungeschäftlicher Natur wechselte und unauffällig eine Frage nach Lena ins Gespräch wob. Kröning bemerkte nicht, daß Gontard nur etwas von der Frau hören wollte, daß er sich einwühlte in das Gemisch aus Sehnsucht, der Nennung ihres Namens lauschen zu können, und quälerischem Schmerz, daß ein anderer diesen Namen sprechen durfte.

Lena ging zu den Zusammenkünften mit Gontard jedesmal wie in ein abgründiges Abenteuer. Der Weg dorthin war eine so unerhörte Erregung. Die Angst vor dem Gesehenwerden, die Vorstellung des Verschwiegenen, Unerlaubten peitschte ihre Nerven. Saß sie in dem kleinen, schmalen Raum mit den abgeschabten, roten Plüschsofas, aus denen Rauch und brütende Dumpfheit nie ganz herausgelüftet waren, fiel die atemschnürende Beklommenheit des Weges von ihr ab. Nicht daß von Gontard Ruhe ausgegangen wäre. Er war und blieb ihr trotz allem immer geheimnisvoll, undurchsichtig. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm, wenigstens nicht für sich, doch die Zwiespältigkeit seines Wesens war ihr unheimlich. Seine jedesmalige Verwandlung war ihr immer noch ein Erlebnis, das nie ganz frei von Grauen war. An die schattenhafte Schwärze seiner Erscheinung mußte sie sich stets neu gewöhnen. Und so sehr er sich vor ihr beugte und ganz demütige, dankbare Ergebenheit war, seine Stirne hatte ein Runzeln, daß seine Stirnwülste sich wie Gewitterwolken zusammenschoben, zwischen denen sich unheilvolle Blitze entluden; aus seinem Auge stob zuweilen ein spritzendes Blinken, das mit gespannter Bereitschaft bedrohte, seine Hand, die friedlich und gebändigt auf dem Tisch liegen konnte, verlor nichts von der Gefährlichkeit ihres Zugriffs, wenn sie eine Bewegung in der Luft machte. Nur eines war bei ihm, was Lena in niemandes Gegenwart so empfand: Geborgenheit, die aus der magischen Stärke seiner Persönlichkeit floß.

Sie beeinflußte ihn stark. Er besuchte Theater, die sie vorher bestimmte. Er hatte sich einen Hund angeschafft, eine riesige, gefleckte Dogge, die mit ihm im Zimmer schlief. Der Diener hatte Auftrag bekommen, täglich Blumen auf seinen Tisch zu stellen. Das erzählte er ihr alles.

»Macht es Ihnen auch wirklich Freude?«

»Solange diese Dinge mit Ihnen in Verbindung stehen.«

Es wurde ihr nicht klar, ob er alles nur tat, um ihr zu gefallen, oder ob eine Wandlung mit ihm vorgegangen war.

Nie sprach er von ihrem Mann. Wenn sie von Hugo zu sprechen anfing, hatte sie den Eindruck, als schlössen sich alle Poren seines Körpers, als zöge er sich ganz in sich zurück.

»Diese eine Stunde soll mir gehören. Ich will nicht wissen, daß Sie – – –«

Aber er hielt sein Versprechen, forderte nichts, machte nie eine Anspielung.

Juli kam. Mit kurzen Gewittern und dunstig atmender, brodelnder Hitze. Die Stadt dampfte. Lena ging mit schlaffen Schritten durch die Hardenbergstraße und bog in die Bismarckstraße ein. Vor der Konditorei blieb sie einen Augenblick stehen und tupfte sich das sonnenheiße Gesicht ab. Und sie hatte die Hand kaum auf die Klinke gelegt, als die Tür von innen geöffnet wurde und eine Dame heraustrat, so daß die beiden Frauen fast zusammenstießen. Lenas Herzschlag setzte aus. Die Dame setzte ein erstauntes, freudiges Lächeln auf.

»Frau Doktor, in unserer Gegend? Das ist ja reizend, daß ich Sie einmal treffe.«

Lena stammelte etwas Undeutliches, daß sie etwas besorgen müsse und zufällig – – natürlich, man müsse sich wieder einmal verabreden – – oder besuchen – – ja, telefonieren – – sie würde anrufen – – in den nächsten Tagen – – bitte übermorgen – – nein, übermorgen nicht? – – also Ende der Woche – – sehr gefreut, wirklich sehr – – Gott sei Dank, die Dame hatte Eile.

»Was ist Ihnen?«

Die Hand mit dem Taschentuch unter die Brust gepreßt, stand Lena vor Gontard. Ihr Körper war in Aufruhr.

»Eine Bekannte – – wenn etwas herauskommt – – ich kann nicht leben – –«

Er antwortete nicht, ließ sie erst wieder zu sich kommen. Sie stürzte hastig ein Glas Wasser, das vor ihm stand, hinunter:

»Es ist ja schon besser. Ich habe mich nur so maßlos erschrocken. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wir sehen die Leute sehr selten. Aber man ist nirgends sicher. Ich sollte es nicht tun.«

Und weil er nicht antwortete, redete sie sich, an der eigenen Erregung sich weiter erregend, in eine ratlose Verzweiflung.

»Sie denken jetzt: kleine Bürgerfrau! Nicht? Ich bin es ja auch, ich weiß. Ich bin glücklich, daß ich meinen Mann und mein Heim habe. Frauen wie ich dürfen nichts Ungerades tun. Wenn ich mir vorstelle, mein Mann könnte etwas erfahren – – – Sie verstehen mich ja gar nicht.«

Seine Stimme war tonlos und heiser wie ein Instrument, dem man den Klangboden fortgerissen hat:

»Wissen Sie, was für mich davon abhängt?«

»Ich kann so nicht leben, ich kann nicht – –«

Er stützte die Fäuste in die Wangen, um das Zucken der Muskeln zu ersticken. Aber er wandte ihr voll das Gesicht zu und suchte seine tolle Angst um diese eine armselige Stunde, die sie ihm wöchentlich gewährte, nicht zu verbergen. Diese namenlose, unverhüllte Angst des Mannes, an dem alles Gewalt und lähmende Unbezwinglichkeit war, schenkte ihr, der Schenkenden zwischen ihnen beiden, ein neues, bisher unbekanntes, ungekostetes Gefühl. Das Bewußtsein ihrer Macht als Frau, das Bewußtsein von der Stärke ihres Geschlechts, das versunken und taub geworden war im kleinlichen Gerümpel des Alltags und jetzt wieder heraufstieg und sich mit breiten, glänzenden Flügeln schwebend entfaltete. Dieses Bewußtsein war so beglückend, erschien ihr so kostbar, daß die Angst, diese wöchentliche, verborgene Stunde zu verlieren, auf sie übergriff.

»Was soll ich denn tun?«

»Es gibt nur einen Ort, wo Sie von niemandem gesehen werden können. Bei mir.«

»Um Gottes willen!«

»Ich werde es einrichten, daß nicht die Spur einer Gefahr für Sie besteht.«

»Nein, nein. Das wäre ja Wahnsinn. Wenn mich jemand in das Haus hineingehen sieht – nicht auszudenken.«

»Niemand kann Sie sehen, die Einfahrt liegt im Garten. Es wird für Sie an einer unauffälligen Stelle ein gewöhnliches Lohnauto bereitstehen. Sie haben kein Wort zu sagen, nur einzusteigen.«

Sie wehrte mit aller Kraft ab. Den Oberkörper lehnte sie weit zurück, wie um den Zwischenraum zwischen sich und Gontard zu vergrößern.

»Selbst wenn alles so wäre, wie Sie sagen, zu Ihnen kann ich nicht kommen, das geht nicht. Nie, nie. Ich brauche es Ihnen nicht zu erklären, warum.«

Sein Gesicht verfinsterte sich. Er sprach mit unheimlicher Eindringlichkeit, jedes Wort mit der vollen Hitze des Blutes in sie hineingießend.

»Sie müssen dieses Opfer bringen. Es wird nichts anders sein als hier. Ich schwöre nicht, Sie wissen, daß ich Ihnen mein Wort halte. Lassen Sie mich nicht bitten. Nehmen Sie das Gefühl von mir, daß Sie nichts nur um meinetwillen tun, daß diese eine Stunde nicht ganz freiwillig und geschenkt ist, sondern immer noch, und wenn es auch nur ganz leise gedacht ist, etwas anderem dienen muß, was ich nicht aussprechen kann. Von niemandem will ich etwas, was ich nicht zehnfach bezahlen kann, von niemandem brauche ich etwas freiwillig, weil ich es erzwingen und herauspressen kann, aber hier, hier, von Ihnen, will ich beschenkt werden, ohne Rechnung und Gegenrechnung, ich will denken, daß Sie mich nicht fallen lassen, auch wenn das andere nicht da wäre, wenn –« Lena sah, wie er kämpfte, es auszusprechen, »– wenn ich Ihren Mann fortschicken würde – – –«

Sie wechselte die Farbe, jähes Rot wurde von kalkiger Blässe geschluckt. Nur am Hals und auf der Brust im Ausschnitt des Kleides brannten nervöse, rote Flecken. Noch weiter zog sie sich von ihm zurück, seitwärts. Er deutete es falsch.

»Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie.« Über den Tisch tasteten seine Hände, mit den breiten Nägeln auf dem Marmor klappend, bald in kurzen Sprüngen, bald stockend über den Tisch zu ihr hinüber, demütig geduckt krochen die Hände heran, dennoch gefährlich und bedrohlich in ihrer krampfigen Verkrümmung. Lena zitterte und preßte die Schenkel zusammen in unsäglicher Angst.

»Sie sind zehnmal stärker als ich«, mahlte er zwischen den Kiefern, er kochte und dampfte vor weißer Glut, »ich bin wahnsinnig. Ich will ja wahnsinnig sein, ich bin mein ganzes Leben nüchtern gewesen, ich will betrunken sein, ich will mich verlieren. Sie dürfen mich nicht fortlassen, es wird Ihnen nichts geschehen, keine Gefahr, nichts. Sehen Sie denn nicht, wie ich vor Ihnen knie? Aber ich bin nur hier schwach, für die anderen bin ich stark. Kein Mensch wagt sich an Sie heran, wenn ich Sie schütze.«

Nein, nein! schrie es in ihr. Er reißt mich immer tiefer hinein! Alle Ängste aus der Zeit, in der sie sich verfolgt und gejagt gefühlt hatte, waren wieder da. Sie war wieder ausgeliefert, ohne Hilfe, auf sich gestellt. Ihr Weg war ein schmaler Steg an schwindelndem Abhang. Sie bäumte sich auf. Es darf nicht sein, schrie ihr ganzer Leib, nein, nein! Ich tue es nicht, keuchte sie mit geschlossenen Lippen in sich hinein, ich tue es nicht. Und sie öffnete den Mund und sagte – in keiner Stunde ihres späteren Lebens wußte sie, warum sie gerade das gesagt hatte – und sagte leise, ergeben, mitleidig, mit schief geneigtem, blondem Kopf:

»Ich komme.«

Langsam kam ihre Hand aus ihrem Schoß herauf, legte sich warm und weich auf den kühlen Marmor des Tisches und wurde wie mit einem Tuch von seinen weißen, großen Pranken zugedeckt, Gontards Gesicht sank vornüber, und seine Stirn schlug hart wie ein Block auf den geäderten Stein.

*

Susi Möllenhof steckte das spitze, lebhafte Näschen gespannt in die Luft und machte ein geradezu andächtiges Gesicht.

»Rasend interessant. Der Mann muß doch blödsinnig reich sein.«

Hugo blies großspurig den Rauch der Zigarre von sich. Die Neugier, die Gontards Persönlichkeit, die bewundernde Hochachtung, die den Millionen des Bankiers entgegengebracht wurde, bezog er immer ein wenig auch auf sich. Er fühlte sich sozusagen als Vertreter dieser mächtigen, geheimnisvollen Persönlichkeit und ihres unermeßlichen Reichtums. Sonnte sich in ihrem Licht.

»Reich ist gar kein Ausdruck.«

Die Vorstellung des vielen Geldes war betäubend. Geldschränke sprangen auf, ganze Gewölbe, dunkel und verborgen, mit ungeheuren Panzerplatten verwahrt, öffneten sich in lautlosen Scharnieren und erstrahlten im grellen, elektrischen Licht. Hundertmarkscheine, Tausendmarkscheine, Aktien in Bündeln und Paketen, geschichtet, getürmt, Goldbarren, schwer und gleißend, Geld, Geld, Geld, Hunderttausende, Millionen, nebeneinander, übereinander! Wühlen, mit beiden Händen dazwischenfahren, zwischen den Fingern das steife, zähe Papier der Scheine rascheln lassen, die kostbare Last der Barren wollüstig in den Handflächen wiegen. Es war berauschend, märchenhaft, herrlich! Susi hatte einen glühenden Kopf.

»Sag' bloß, was macht ein einziger Mensch mit dem vielen, vielen Geld? Spielt er, gibt er's für Frauen aus? Was macht man mit sooo viel Geld?«

»Was er damit macht, weiß kein Mensch. Er lebt wie ein Mönch und kleidet sich wie ein Bowke. Aber er wirkt trotzdem, das muß man ihm lassen. Es geht von ihm aus, dieses gewisse Etwas.«

Susi war ganz gebannt und aufgeregt.

»Ist er eigentlich hübsch? Ich meine – der Kopf.«

»Hübsch?« Hugo mußte lachen. »Ein Kinderschreck, der schwarze Mann.«

»Ach, das versteht Ihr Männer doch nicht, ob einer hübsch ist. Ihr laßt ja kein gutes Haar an einem anderen, da seid Ihr noch schlimmer als wir Frauen. Lena, du hast ihn doch gesehen, wie ist er, hat er dir gefallen, sag'?«

Lena litt körperliche Qualen, wenn von Gontard die Rede war. Aus ihren Gesprächen mit ihrem Mann war »der böse Gontard« verschwunden. Sie vertrug es nicht, wenn Hugo Scherze über ihn machte. Sie mußte ihren ganzen Willen zusammennehmen, um sich zu beherrschen und nicht zu verraten, wie in diesen Tagen alles, was mit Gontard zusammenhing, sie maßlos erregte und durcheinanderschüttelte. Am liebsten hätte sie sich die Ohren verstopft. Nichts hören. Und sie mußte doch immer hinhorchen. Die Frage Susis riß sie herum.

»Wie meinst du?« Sie hatte genau verstanden, wollte nur Zeit gewinnen, um irgend etwas Belangloses antworten zu können. »Ich habe ihn nicht so genau angesehen. Ich glaube, er ist häßlich.«

»Häßliche Männer können sehr reizvoll sein«, meinte Susi nachdenklich. »Ich glaube, ich könnte mich in einen häßlichen eher verlieben als in einen hübschen.«

»Also Lena hat sich bei der Vorstellung wieder mal einiges geleistet«, sagte Kröning, »ja, mein Dummchen, ist schon gut, wir wollen nicht mehr davon reden. Jetzt ist ja auch, Gott sei Dank, alles wieder in Ordnung. Ich stehe mit Gontard – unberufen! – auf gutem Fuß, sozusagen freundschaftlich. Kinder, Ihr könnt Euch das gar nicht vorstellen, was das heißt, wenn Gontard zu einem sagt: Es ist schönes Wetter. Oder wenn er fragt: Wie lange sind Sie verheiratet? Das ist bei diesem Menschen so unglaublich, unfaßbar wie – – ich kann Euch das nicht erklären. Ich habe so was noch nicht erlebt.«

»Ich möchte ihn ja rasend gern kennenlernen. Weshalb ladest du ihn nicht mal ein, Hugo, wo du so gut mit ihm stehst? Was meinst du, was das für dich bedeuten würde? Ganz Berlin würde kopfstehen. Vom Tiergarten bis zum Grunewald würden die Leute davon reden.«

Lena fuhr auf, als hätte Susi zu ihr gesprochen und ihr etwas Menschenunmögliches zugemutet, das sie mit aller Energie zurückweisen müßte. Sie war fast unhöflich. Ihre Stimme war gereizt.

»Ich bitte Euch, hört nur schon endlich auf. Gontard, ewig Gontard und nichts als Gontard. Zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Abendbrot. Wißt Ihr denn gar nichts anderes mehr zu reden? Und du machst Hugo noch ganz verrückt, Susi. Wie stellst du dir das vor, daß er seinen Chef einladen soll? Weil der einmal gefragt hat: Wie lang sind Sie verheiratet? Du hörst ja, was für ein Mensch das ist. Hugo kann ihm doch nicht einfach sagen: Möchten Sie nicht einmal zu einem Butterbrot zu uns kommen? Hugo, ich will nicht, daß du so etwas tust, auf keinen Fall. Du wirst dir alles wieder verderben.«

»Weshalb ist Lena eigentlich so aufgeregt?« fragte Susi erstaunt. »Ich habe doch gar nichts gesagt. Wenn ihr nicht wollt, bitte, nicht. Es kommt doch nur darauf an, wie man so etwas anfängt. Ich hätte ihn mir längst eingefangen.«

»Worauf du dich verlassen kannst, Hugo«, warf Richard ein, der sehr still war.

»Lena hat ja bloß Angst, es könnte, Gott behüte, ein fremder Mensch zu uns ins Haus kommen. Toll wär's schon, wenn ich Gontard dazu bekäme.«

»Bitte, bitte, tu's nicht. Ich bitte dich.«

»Sei doch nicht kindisch. Ich werde schon nicht mit der Tür ins Haus fallen. Aber wenn sich eine Gelegenheit bietet – –«

Der Gedanke hatte sich wie eine Kralle in sein Gehirn geschlagen. Susi war ganz Feuer und Flamme. Sie schmeichelte wie eine kleine Katze.

»Lenachen, wenn du dir die Sache überlegst – du wirst sie dir schon überlegen, dazu bist du ja viel zu gescheit – und die Gesellschaft steigt, dann komme ich vorher zu dir und helfe dir alles vorbereiten. Du weißt, darauf verstehe ich mich. Ich kann Euch ja gar nicht sagen, wie gespannt ich auf diesen Menschen bin. Ich zerplatze vor Neugier.«

»Wer hat dich denn schon eingeladen?« fragte Richard.

»Selbstverständlich kommt Ihr beide dann auch. Susi muß ein bißchen Stimmung machen.«

»Ach, die Sache ist schon beschlossen und erledigt?« fragte Lena sehr kühl, aber ihre Ruhe war erkünstelt, und sie war kalkweiß im Gesicht.

*

Die Tage krochen müde und langsam vom Morgen, der schon in der Nacht begann, zum Abend hin. Lena fühlte sich zerschlagen, und es kostete sie unsägliche Anstrengung, vor Hugo unbefangen zu erscheinen. Sie wunderte sich manchmal, daß es ihr gelang. Von der Einladung wurde nicht mehr gesprochen. Der Freitag schleppte sich hin. Der Sonnabend ging langsam vorüber. Sonntag machte man einen Ausflug. Mit dem Auto über die Avus nach dem Stölpchen-See. Lena fuhr für ihr Leben gern Auto. Es ließ sie unberührt. Der Wind kühlte ihr die Wangen, sie lehnte sich weit hintüber mit geschlossenen Augen und bot dem scharfen Luftzug das Gesicht. Schweigsam und zerstreut. Morgen ist Montag, übermorgen ist Dienstag, ist Dienstag. Sie konnte nichts anderes denken. Das große Hotel lag mit breiten, tischgespickten Terrassen am See. Im Bade, zu dem man hinübersehen konnte, plätscherte, sprang ein buntes Gewimmel von Badeanzügen. Morgen ist Montag, übermorgen ist Dienstag. An allen Tischen der Terrasse Geschwätz, Lachen, Klirren und Klappern. Übermorgen ist Dienstag. Lena sagte wie unter einem Zwang:

»Morgen ist Montag.«

Hugo war gut gelaunt. Er sah gebräunt und frisch aus.

»Ja, mein Dummchen, morgen ist Montag. Das ist jede Woche so. Und übermorgen ist Dienstag.«

Sie sah ihn erschrocken von der Seite an, als hätte er etwas Besonderes gesagt.

Und dann war der Dienstag da. Wie mit einem Sprung aus dem Hinterhalt. Ich gehe nicht hin, sagte sich Lena und zog sich langsam an. Ich gehe nicht, sagte sie noch und war schon auf der Treppe. Wieso habe ich nachgegeben? Er sagt, ich bin die Stärkere, aber er ist stärker, zehnmal, hundertmal. Er zwingt mich. Ich gehe nicht freiwillig. Sie schritt die Ansbacher Straße entlang zum Wittenbergplatz. Ich muß doch nicht hingehen. Ich muß mein Wort nicht halten. Es ist schon vorgekommen, daß eine Frau nicht zu einer Verabredung gegangen ist. Er würde sein Wort halten, was er immer versprochen hätte. Er wird sein Wort halten. Er wird's halten. Und wenn nicht – –? Sie war schon am Wittenbergplatz und überquerte die Tauentzienstraße. Drüben an der Ecke stand ein geschlossenes Autotaxi mit angelehnter Tür. Der Chauffeur schien in der Hitze zu schlafen und hatte die Kappe über das halbe Gesicht gezogen. Aber kaum daß Lena die Klinke in die Hand nahm, rückte er die Kappe zurecht und sie erkannte ihn: Gontards Chauffeur. So sonderbar war das alles. Der Wagen rollte schon. Durch Seitenstraßen in unerlaubt rascher Fahrt. Lena sank haltlos in eine Ecke, sie dachte nichts mehr, sie wehrte sich nicht mehr. Bismarckstraße, an der Oper vorüber, Kaiserdamm, um den Reichskanzlerplatz herum in die neueste Prachtstraße Berlins, in die Heerstraße. Der Wagen fuhr mit erhöhter Geschwindigkeit. Villen rechts und links. Hinter dem Bahnhof Heerstraße, noch hinter dem Weg, der nach dem Stadion führt, bremste der Wagen plötzlich und fuhr in scharfer Kurve über den Bürgersteig auf ein eisernes Gittertor zu, das sich im selben Augenblick von selber öffnete. Lena schreckte zusammen. Ihr Auge erhaschte noch gerade die große Vorderansicht eines Hauses, das sich fensterlos, mit steinernem, kantig breitem Buckel von der Straße abwandte wie der Herr, der hinter dieser Mauer wohnte.

Der Wagen hielt unter einem breit ausladenden Balkon, der an den Ecken auf zwei kantigen Säulen aus lasierten Ziegeln ruhte. Hohe Pappeln bildeten um das ganze Grundstück einen ungeheuren, dichten Zaun, die großen Bäume, die unregelmäßig den hüglig angelegten, von verschlungenen Wegen durchzogenen Garten bestanden, boten Eindruck und Stimmung eines alten, verwilderten Parkes. Unmöglich, von der Straße oder von einem der Nachbarhäuser in diese beabsichtigte Abgesondertheit unerwünschte Blicke zu werfen. Lena verließ den Wagen. Die metallbeschlagene Tür des Eingangs öffnete sich geheimnisvoll und lautlos wie vorhin das Eisengitter und schloß sich wieder hinter der jungen Frau. Kein Mensch war zu sehen. Von der kühlen, kostbar getäfelten Halle, die aus zwei großen Fenstern vom Garten her Licht empfing, führte seitlich eine Treppe nach oben zu einer Galerie. Auf der Galerie stand Gontard. Hatte er schon dort gestanden, oder war er plötzlich dort erschienen? Und bei diesem Gegenüber – er oben, massig, dunkel, schwer, mit grauem, unbewegtem Gesicht, sie unten, im Gefühl der Eingeschlossenheit und des vollkommenen Alleinseins mit ihm – glaubte sie in der tauben Dumpfheit, die ihren zarten Körper gefangen hielt, den Schlag ihres Herzens zu hören, wie es in weiter Schwingung von der Brust zum Rücken flog und wieder zurück, hin und her, Glocke und Klöppel, Schlag und zitternder Hall. Bewegung kam in den Mann auf der Galerie, er kam ihr die Treppe herab entgegen und streckte beide Hände aus:

»Wie schön – –«

Die Verwandlung seines Gesichts aus Starre zu glücklicher Bewegtheit nahm ihr die Angst vor ihm. Sie fand sich wieder, und sie schalt sich innerlich feige. Niemand konnte sie gesehen haben. Und Gontard wird sein Wort halten. Sie fand wieder Blicke für die neue Umgebung und ließ sich mit neugieriger Erwartung führen. Er öffnete im ersten Stock eine Türe, ließ Lena eintreten.

Eine große, gefleckte Dogge hob den Kopf und klopfte mit starker Rute freundschaftlich den Boden. Durch zwei hohe Fenster rechts und links von der Glastür, die auf einen Balkon führte, strömte viel Licht. Etwas verloren, als ob er nur zufällig und vorübergehend dort stände, ein runder Tisch mit einem Armstuhl in der Mitte des nüchternen, kahlen Raumes. Ein gestreckter Schreibtisch, großflächig, streng, am Fenster, ein offenes Regal an der Wand mit Büchern und Schriften. Niedriger Rauchtisch vor einem Klubsessel. In einer Ecke eine Art Pritsche, schmal und schon im Anblick hart wirkend. Keine Bilder, kein Zierat, nur große Büsche Feldblumen auf den Tischen als einziger Schmuck. Außer dem Perser, der den Fußboden völlig bedeckte, kein Stück von besonderem Wert. Keinerlei Zeichen des Reichtums. Und das hervorstechendste: Das war das Zimmer eines Einsamen. Nirgends zwei Stühle zu vertrautem Plaudern, nirgends zwei Plätze, zur Zärtlichkeit geeignet.

»Hier wohne ich«, sagte Gontard.

»Und die anderen Zimmer – –?«

»Abgesperrt.«

Wie frostig das alles war. In so freudloser Kahlheit soll ein Mensch leben, der sich mit aller Schönheit umgeben konnte. Das Haus mit den verschlossenen Türen war gruselig. Leblos und tot. Sie liebte Behaglichkeit, Wärme, Farben, Ecken mit tiefen Sitzen, Türen, die sich einladend öffneten. Aber bei Gontard war ja alles anders als bei anderen Menschen. Sie konnte sich gar nicht entschließen, sich irgendwo niederzulassen, und ging von einem Möbelstück zum anderen. An der Schiebetür des Nebenzimmers blieb sie stehen.

»Und hier?«

Gontard antwortete nicht. Die Klinke gab der niederdrückenden Hand nicht nach. Neugier prickelte. Jede verschlossene Tür hat diesen Reiz. In den Märchen aller Völker spielt sie ihre stumme, bedeutungsvolle Rolle, die verschlossene Tür.

»Ich will wissen, was hier drin ist. Ich bin ein Gast, einem Gast muß man jeden Wunsch erfüllen.«

Lena erwartete etwas Ungeheuerliches. Gontard näherte sich langsam der Tür. Blaubart, mußte sie denken. Im Zimmer werden Särge stehen mit den toten Geliebten Gontards. Fahle Kerzen werden gelbes Licht flackern. Wie kindisch, lächelte sie über sich selbst. Die Tür schleifte in der Schiene und tat sich weit auf. Neugierig lugte Lena hinter Gontards breitem Rücken in das halbdunkle Zimmer und trat zögernd näher. Ein Schlafzimmer. Aber was für eines. Ein zügelloser Traum zusammengeschleppter Pracht, wahllos und gehäuft wie die Beute eines barbarischen Siegers. Ein prunkvoll geschnitztes, goldenes Bett stützte sich aufdringlich breit und groß auf gebückte und kniende Sklavenleiber aus mattschimmerndem Ebenholz. Alte französische Brokate bauschten sich als Himmel in schweren Falten darüber. Von der Decke lastete eine chinesische Tempellampe in wilden, verworrenen Formen mit zahllosen Kugeln aus rotem Glas, aus denen rubinfarbenes Licht glitzerte. Damaste an den Fenstern. An den Wänden, in strotzenden Rahmen, Bilder italienischer Meister, Leda mit dem Schwan, Zeus, Europa raubend, Venus, schaumgeboren der Muschel entsteigend, in köstlichen, sieghaften Farben. Seidene Teppiche mit phantastischen Mustern auf dem Fußboden. Um ein bizarres Taburett aus gediegenem Silber, einer rohen Negerarbeit, achtlos hingestreute Kissen aus orientalischen Stickereien. Und auf der handgetriebenen, weißlichen Silberplatte des Taburetts, in der Schalenhöhlung eines geschnittenen Kristalls – die Augen Lenas weiteten sich in sprachlosem, kindlichem Staunen – hochmütig hingeworfen, aufgehäuft von der lässigen, freigebigen Hand eines ganz großen Herrn: Schätze, Kostbarkeiten in wahllosem, schwelgerischem Durcheinander. Ringe, Ketten, Armbänder neben losen Perlen und ungefaßten Steinen. Ein glitzernder, irisierender, funkelnder, flackernder Reichtum aus spielend spiegelnden Lichtern. Alles ein Traum, ein glänzender, bunter, satter Traum aus Tausendundeiner Nacht, unwahrscheinlich, unglaubwürdig, eine Fata morgana, die zerfließen wird in ein dunstiges, flirrendes Nichts. Lena traute sich kaum zu atmen. Kehle und Mund waren ihr trocken, sie mußte die Lippen anfeuchten, um etwas sagen zu können.

»Hier – schlafen Sie?«

Gontard zeigte zurück in das andere Zimmer, in die Ecke mit der Pritsche.

»Ich schlafe dort.«

»Wozu haben Sie das alles?«

»Es wartet.«

Sie wagte nicht weiter zu fragen, weil sie die Antwort fürchtete.

»Es wartet«, wiederholte er seine Worte, als ob er die Frau zwingen wollte, etwas Bestimmtes zu fragen, worauf er antworten könnte: Es wartet auf Sie. Lena schüttelte den gesenkten, blonden Kopf und wandte sich zurück in das erste Zimmer, Gontard im Rücken lassend:

»Ich will nichts wissen.«

Die Flügel der Schiebetür rollten gegeneinander und klappten zu, wie ein Vorhang sich vor einem Bühnenbild schließt. Lena setzte sich in den Klubsessel zum Rauchtisch, Gontard holte sich den Schreibtischstuhl heran. Seine Hände öffneten sich mit nach vorn gedrehten Flächen, als ließe er aus ihnen etwas vor die Füße der Frau fallen.

»Ich möchte Ihnen alles schenken. Nein, nicht wie Sie jetzt denken. Ich möchte Ihnen schenken, um Ihnen einmal schenken zu dürfen.«

»Ich will nichts haben. Das gehört nicht zu mir.«

Sie war noch ganz benommen und schlug, nur um abzulenken, einen leichtsinnigen Ton an:

»Haben Sie das schon vielen Frauen gezeigt?«

Aber sie dachte nur an Evelyne dabei.

»Weder vor Ihnen noch nach Ihnen betritt jemand dieses Haus.«

Im Mund jedes anderen hätte das als Übertriebenheit geklungen, als Redensart, die man nicht ernst nehmen durfte. Aber Gontard kannte keine Redensarten. Noch vor einer halben Stunde auf dem Herwege war Lena bedrückt und kraftlos gewesen, wie unter einem Zwang handelnd, jetzt hatte Gontard in ihr wieder das Bewußtsein ihrer Macht freigelegt. Nur die Hand brauchte sie auszustrecken, und alles, was eine Frau an Reichtum und Luxus ersehnen mochte, gehörte ihr. Sie wünschte sich nichts von diesen üppigen Schätzen, diese überladene, gewalttätig aufgehäufte Pracht war ihr ganz wesensfremd, aber das Gefühl, das Gefühl – – – man hat bloß mit dem Finger zu winken – – Sie war sich nicht einig, ob sie sich in diesem Haus, das wie ein verwunschenes Schloß war, wohlfühlte, es war hier keine einzige Ecke, in der man heimisch werden konnte und dennoch – – Da war eine neue Welt, absonderlich, geheimnisvoll, abenteuerlich, beherrscht und durchtränkt von der Persönlichkeit des Mannes, und sie wurde sich immer weniger klar über die Art der Fäden, die sie mit ihm verknüpften. Liebe – sie dachte nicht einmal das Wort. Freundschaft vielleicht, und doch wieder nicht. Es war mehr und weniger zugleich. Etwas anderes, nicht in einen Begriff zu Fassendes. Die Sonderbarkeit seiner Lebensführung fesselte sie, seine herrische, unbedenkliche Art anderen gegenüber, die häufig an Brutalität grenzte, stieß sie ab und imponierte zu gleicher Zeit, seine demütige Liebe rührte sie. Andere aßen, schliefen, arbeiteten, liebten, wie Tausende und Millionen es in gleicher Gewöhnlichkeit taten. Bei ihm war alles abwegig, die Norm des Überkommenen sprengend, ob er auf der Pritsche schlief statt im Prunkbett, in dem sich jeder Emporkömmling seines Schlages wollüstig geräkelt hätte, ob er sich neben der zügellosen Pracht des Schlafzimmers, die sicher auch eine Seite seines Wesens war, mit der nüchternen, kahlen Bescheidenheit des Arbeitszimmers wie ein Proletarier zum Essen, Wohnen, Arbeiten begnügte, oder ob er ohne Scham Sklave der kleinen, zarten, gebrechlichen Frau war, dienend, gebend, opfernd, anbetend für die eine großmütig gegönnte Stunde. Denn so blieb es Woche um Woche, Dienstag um Dienstag. Nie war Gontard verhindert. Kein so wichtiges Geschäft, das er nicht beiseite geschoben hätte, um keine Minute der ihm geschenkten Stunde zu verlieren. Absichtslos verglich Lena. Hugo war ihr geliebter, verzärtelter Junge, aber ihr Besitz war ihm so selbstverständliche Gewohnheit geworden, wie es eben das Schicksal der meisten Ehen ist. Ihn rief immer die »Pflicht«, wegen jedes kleinen Verdienstes mußte die Frau zurückstehen. Die Pflicht, die Pflicht. Wenn er sich mit Evelyne traf – längst sprach sie nichts mehr dawider – wenn er mit Freunden beisammen war, alles war Pflicht. Und hier war einer, der keine andere Pflicht kannte als sie, der alles andere mit verächtlicher Handbewegung abtat, dem alles Geschenk und Gnade war, was sie ihm erwies. Kein Alltag, keine Störung durfte in diese Stunde dringen. Nichts war wichtig. Es gab nur ein Wichtiges auf der Welt: Sie.

»Versäumen Sie durch mich keine Zeit?«

»Ich habe nichts zu versäumen.«

Einmal fragte sie:

»Haben Sie kein Klavier? Ich möchte Ihnen etwas vorspielen.«

Das nächste Mal stand ein Flügel, bedeckt von einer alten Japandecke, Gold auf schwarzem Taffet, im Arbeitszimmer und ein Notenschrank, dessen Inhalt – von den Klassikern bis zum letzten Schlager – ein bekanntes Musikaliengeschäft zusammengestellt hatte. Lena war keine große Künstlerin, aber Gontard lauschte andachtsvoll, als wäre es das größte Wunder, das ihre Finger aus den Tasten zauberten. Sie nähte ihm Kissen für den Klubsessel und für die Pritsche. Er nahm alles, dankbar, glücklich, als unerhörtes, kostbares Geschenk. Die Gewissensbisse, die Lena anfänglich noch bedrückten, fielen von ihr ab, und auch sie unterließ es allmählich, wie sie es anfänglich getan hatte, von Hugo und ihrer Ehe zu sprechen, als sie sah, daß jede derartige Bemerkung Gontard wie ein Schlag traf, der ihn zusammenzucken und sich krümmen ließ. Die Stunden in der Villa lösten sich gänzlich aus ihrem sonstigen Leben, verloren jede Verbindung mit den Tagen, die vor und hinter ihnen lagen, führten ein selbständiges, abseitiges Dasein. Das Bewußtsein, jemandem so viel zu bedeuten, wurde etwas Beglückendes. Und manchmal, manchmal, schlich sich in diese Dienstage ein kaum gehauchter Klang unsinnlicher Zärtlichkeit, nicht im Wort, nur in der Färbung der Stimme. Einmal sogar, Lena wußte selbst nicht, wie es gekommen war, entfuhr ihr unwillkürlich das vertrauteste aller Wörter, ein »Du«. Aber sie erschrak bis ins Innerste über die Wirkung, die es in ihm hervorrief. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer wilden, zerrissenen Grimasse, die nicht Lachen und nicht Weinen war, er sank vom Stuhl, auf dem er vor ihr saß, mit einem röchelnden, erstickten Laut und schlug den großen, schwarzbewaldeten Kopf in das halbfertige Kissen in ihrem Schoß. Sie streichelte sein starres, dichtes Haar.

»Nicht, nicht.«

Als er endlich, mit übermenschlicher Kraft sich zusammenreißend, aufstand, hielt sie stumm und ratlos zwischen ihren Knien das Kissen, das er mit den Zähnen zerfetzt hatte.

*

Hugo beschloß, einen kleinen Vorstoß zu unternehmen. Eve sollte in diesen Tagen auf kurzen Urlaub gehen, da würde Gontard vielleicht zugänglicher sein. Der Chef war in der letzten Zeit überraschend freundlich zu ihm gewesen, hatte sich noch öfter als sonst mit ihm unterhalten, vielmehr ihn zum Reden gebracht, ohne selbst zu sprechen. Und heute hatte sich etwas Ungewöhnliches ereignet. Ganz ohne ersichtlichen Grund war Hugos Gehalt erhöht worden. Eve hatte ihm zwar erklärt, daß es nicht üblich sei, sich in solchen Fällen bei Gontard zu bedanken, aber eben deshalb wollte er es tun. Das war am zweiten Montag im Juli. Der Bankier hörte ihm gegen seine Gewohnheit, solche Redefloskeln brüsk zu unterbrechen, ruhig zu. Antwortete nicht, sondern starrte nur ins Leere. Erst als Kröning gleichzeitig um Urlaub bat, fragte Gontard hastig, als hätte er plötzlich Eile:

»Muß das sein?«

»Ich brauche die Erholung dringend, und auch meine Frau, Herr Gontard. Ich dachte, die Gerichtsferien beginnen jetzt, es dürfte weniger zu tun sein.«

Gontard nickte, die Augen auf den Schreibtisch geheftet. Eigentlich war die Unterredung beendet, aber Hugo blieb hartnäckig stehen.

»Sie verreisen gar nicht, Herr Gontard?«

»Zu viel Menschen.«

»Man kann sich ja zurückziehen. Und schließlich ein paar nette, liebe Menschen sind doch nicht so unangenehm. Ich bewundere Sie ja, Herr Gontard, daß Sie es so ganz ohne Menschen aushalten können. Haben Sie nie das Bedürfnis nach etwas Gesellschaft? Ich muß sagen, ich finde es reizend in einem kleinen Kreis von Freunden, die einem aufrichtig zugetan sind, bei einem guten Glas Wein – – –«

Ein kurzer neugieriger Blick traf den Rechtsanwalt. Wo wollte der junge Mann hinaus?

»Vielleicht.«

Es entstand eine Pause. Hugo wußte nicht recht, war jetzt der richtige Augenblick einzuhaken oder nicht. Ach was, es wird einem schon nicht der Kopf heruntergerissen werden.

»Ich möchte gewiß nicht zudringlich sein, aber ich wäre ungemein glücklich – –«

Plötzlich verließ Hugo der Mut, er begann zu stottern vor diesem grauen, großen Gesicht, das sich ihm unvermutet voll zukehrte.

»Was?«

Der Satz mußte beendet werden. Hugo wurde über und über rot wie ein Schuljunge. Der Kragen war ihm mit einem Male zu eng.

»Bitte – mich nicht – mißzuverstehen. Es ist vielleicht – eine Anmaßung – von mir. Ich dachte – – ich meine, es hätte mich glücklich gemacht – – wenn Sie bei uns den Kreis, der Ihnen zusagt – – gefunden hätten.«

Gott sei Dank, daß es heraus war. Hugo hätte nie geglaubt, daß ein Satz so lange dauern könnte. Es kam ihm vor, als hätte er eine halbe Stunde gesprochen. Gontard antwortete nicht gleich.

»Ist das der Wunsch Ihrer Frau?« fragte er endlich, und sein Auge, unbeweglich und starr, hielt Kröning so fest, daß dieser sich kaum zu bewegen wagte.

»Meine Frau würde sich ungemein freuen – – vielleicht zu einem zwanglosen Abendbrot – – am Sonnabend –«

Gontard stand auf. Etwas zuckte in seinen Zügen.

»Ich komme.«

Und zum erstenmal reichte er dem Rechtsanwalt die Hand.

Kröning schwamm in Stolz und Glück. War aber doch froh, als er die Tür von Gontards Zimmer wieder im Rücken hatte. Die Gesellschaft kann ja gemütlich werden mit diesem steinernen Gast. Gott behüte. Aber es war geschafft, geschafft, geschafft. Er wollte gleich an seine Frau und an Susi telefonieren. Nicht so hastig, mein Sohn. Lena mußte man die Neuigkeit tropfenweise eingeben. Er erzählte ihr am Abend erst die Neuigkeit der Gehaltserhöhung.

»Hast du einen tüchtigen Mann oder nicht?«

Sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Warum machte sie die Nachricht nicht glücklich? Jede andere Frau wäre glücklich gewesen. Sie strich zerstreut über sein strahlendes Gesicht und zwang sich zu einem Lächeln.

»Sehr tüchtig.«

Er zog sie an sich und sagte ihr ins Ohr:

»Was meinst du, Dummchen, wenn ich jetzt doch versuchen würde, Gontard anzukeilen? Nur eine kleine Gesellschaft, ganz intim?«

Mit einem Ruck riß sie sich aus seiner Umarmung.

»Hugo, ich bitte dich, hör' damit auf. Ich will diesen Menschen nicht haben. Du wirst es nicht tun! Nein? So sag' doch!«

»Und wenn ich es schon getan habe?«

»Es ist nicht wahr.«

»Doch, Dummchen, es ist wahr«, schmunzelte er, »es ist wahr, und er kommt. Am Sonnabend. Tu doch nicht, als ob das größte Unglück geschehen wäre. Macht dich denn der Erfolg deines Mannes gar nicht ein bißchen stolz? Sei jetzt nicht kindisch. Du wirst mit Susi ein hübsches Abendbrot zurechtmachen und wirst mit Gontard recht nett sein. Du bist doch mein gescheites, liebes Dummchen!«

Der Hals war ihr zugeschnürt. Sie hetzen mich hinein, alle hetzen mich, und mein Mann hilft mit. Man kann sich nicht wehren, man darf nichts sagen. Sie brachte keinen Ton heraus.

»Du versprichst es mir, du wirst am Sonnabend sehr freundlich sein, hörst du?«

»Ich werde freundlich sein«, wiederholte sie willenlos.

*

Hugo war ganz außer Rand und Band vor Aufregung. Nichts war ihm gut und schön und teuer genug. Und Lena – es war zum Verrücktwerden – setzte ihm überall und in allem Widerstand entgegen. Das Essen sollte bei Lindstedt oder Borchardt bestellt werden, ein Kellner im Frack sollte bedienen. Lena wollte nicht. Sie würde selbst kochen, und um die paar Gäste zu bedienen, genüge das Dienstmädchen. Ein neues Kleid müsse sich Lena kaufen. Sie stemmte sich, das schwarze aus Crêpe Georgette sei gut genug. Hat man das schon erlebt, daß sich eine Frau gegen ein neues Kleid sträubt? Doch nichts als Bockigkeit.

»Ich will aber, daß du gut aussiehst.«

»Du wirst so lange treiben, bis ich ihm besser gefalle, als dir lieb ist. Du kennst den Mann am Ende doch nicht so gut, wie du dir einbildest.«

»Aber dich kenne ich, Gott sei Dank, in- und auswendig. Ich brauche dir nur auf die Nasenspitze zu sehen, weiß ich, was du denkst.«

»So, mich kennst du? Na schön, dann kennst du mich eben.«

Ein wilder, kleiner Trotz preßte ihr knirschend die Zähne aufeinander. Weshalb war Hugo so herausfordernd dumm und taub und blind!? Er kannte sie. Sie war vielleicht ein Buch, das man nur aufzuschlagen hatte. Sie kannte sich selbst nicht, und ihm genügte ein Blick auf die Nasenspitze. Aufreizend war diese selbstzufriedene Sicherheit. Hugo war schon bei den Einladungen und bei der Tischordnung. Susi und Richard werden natürlich gerufen. Noch jemand?

»Ich dachte vielleicht Elly Sturm. Wir sind drei Herren und zwei Damen. Eine einzelne Frau wäre am besten.«

Lena war alles gleich. Elly Sturm? Bitte, Elly Sturm.

»Du wirst doch eine Meinung haben, was richtiger ist.«

»Ich meine, daß die ganze Gesellschaft falsch ist.«

Es blieb also bei Elly Sturm.

»Vielleicht äußerst du dich liebenswürdigerweise wenigstens darüber, wer Gontards Tischdame sein soll. Meiner Ansicht nach du, weil du die Hausfrau bist.«

»Verzichte dankend. Er soll ruhig Susi zu Tisch führen.«

Es dünkte ihr unmöglich, neben Gontard zu sitzen, unbefangen zu tun, Komödie zu spielen. Es war etwas daran, etwas Unsauberes, etwas Hinterhältiges, was sie noch tiefer hineinzog in diesen Betrug, der keiner war und doch einer war, in dieses Spiel, das immer mehr irgendwo in einen fürchterlichen Ernst überging.

»Susi ist mir gleich so – – so intim«, sagte Hugo. »Sie intrigiert, glaub' ich, auch ein bißchen.«

»Du willst doch Stimmung, Herr Gontard soll sich ja gut unterhalten. Darin ist deine Freundin Susi groß, ich bin nur ein Dummchen.«

Jetzt hackte sie wieder auf Susi herum, es war wirklich nicht mehr zum Aushalten. Kaum ein Wort durfte man sprechen, schon war Lena gereizt. Sagte er weiß, so sagte sie schwarz, wollte er grün, so war sie sicher für rot. Der Abend konnte heiter werden, wenn es so weiterging.

Susi war mit Feuereifer dabei, Lena behilflich zu sein. Einkaufen, Vorbereiten, Herrichten, Anordnen, da war sie in ihrem Element. Eine Gesellschaft, na wunderbar! Sie spritzte und flitzte quecksilbrig herum, ihr dunkler Wuschelkopf war in sämtlichen Zimmern zu gleicher Zeit. Die ganze Wohnung wollte sie auf den Kopf stellen, hatte hundert Vorschläge zu machen, erbot sich, ihr Silber und ihr Kristall herbeizuschleppen. Ob Lena nicht ihr Service, das Meißner mit dem Weinlaubmuster, haben möchte. Oder das Spitzenmilieu mit den Filetquadraten für den Tisch. So war sie ja sehr gefällig, sie ging einem bloß mit ihrer hemmungslosen, plappernden, sich überstürzenden Lebhaftigkeit ein bißchen auf die Nerven.

»Unser Grammophon schicke ich dir herüber. Vielleicht tanzen wir. Ob Euer sagenhafter Bankier tanzen kann? Paßt wohl nicht zu ihm. Willst du mein Mädchen zur Hilfe haben? Es wäre schon besser. Weißt du was? Wir lassen die Blumenranken vom Kronleuchter heruntergehen. Als Vorspeise mußt du was ganz Apartes nehmen, irgend was Verrücktes, Ausgefallenes. Du, Lena, ich kann dir gar nicht sagen, wie ich auf diesen Mann spitze. Du bist ja ganz anders, ich weiß, für dich gibt es nur deinen Hugo. Daß du nicht denkst – ich habe natürlich Ricky auch schrecklich gern, er ist ein so guter, anständiger Kerl, aber er ist – na, ein Ehemann. Er hat sich nicht einmal so sehr geändert, weißt du, ich glaube, es gibt schon Säuglinge, die Ehemänner sind. Ich denke mir, Ricky muß ein tödlich gekränktes Gesicht gemacht haben, wenn ihm die Amme nicht auf die Sekunde pünktlich die Brust gereicht hat. Oder wenn ihm die Klapper, Gott behüte, auf die linke statt auf die rechte Seite gelegt wurde. Es ist doch so, nicht? Sag' mal, unter uns, könntest du deinen Mann betrügen?«

Lena wurde bleich bis an die Zähne und machte sich, mit dem Rücken zu Susi, etwas Überflüssiges zu schaffen.

»Du bist ja verrückt. Wie kommst du darauf?«

»Ich glaube ja nicht, daß du es tust. Das weiß ich, daß du schon bei dem Gedanken entsetzt bist, das ist auch so ein Geburtsfehler, aber ich meine – denkst du nie an einen anderen, gefällt dir nie ein anderer Mann als dein eigener?«

»Mir gefällt auch eine Frau, wenn sie hübsch ist.«

»Ach, du gehst wie die Katze um den heißen Brei. Du weißt schon, was ich meine. Als Mann, bei dem man sich denkt, daß – – einer, den man sich wünscht – –«

»Du könntest es ja auch nicht. Du redest nur so. Es ist Mode, sich leichtsinnig zu stellen. Ich glaube nicht, was die Frauen über sich und übereinander erzählen. Die soll einen Freund haben und jene – alles Unsinn. Man setzt nicht so leicht seinen guten Ruf aufs Spiel.«

Susi warf sich mit einer lebhaften Bewegung in einen Lehnsessel und zündete sich eine Zigarette an, deren Rauch sie mit geblähten Nüstern durch das Stumpfnäschen stieß.

»Unsere Großmütter haben noch einen guten Ruf gehabt. Wir haben einen schlechten oder gar keinen.«

»Willst du damit sagen, daß du – –?«

»Wenn einer käme, so einer, wie ich ihn mir denke – nicht ein Shimmyjunge mit Oxfordhosen oder ein Sechstagefahrer – – das ist gar nichts – – kenn' ich alles, imponiert mir nicht – – aber einer, dem dieses gewisse Etwas aus den Fingerspitzen sprüht – – das weder mit Verstand noch Muskeln zu tun hat – – ich glaube, Gontard wäre so einer – – vielleicht auch nicht, ich kenne ihn ja nicht – –«

Sie streifte nachdenklich die Asche ab und wippte mit dem übergeschlagenen rechten Bein.

»Was ziehst du übrigens an am Sonnabend?«

Lena antwortete nicht gleich. Ein unbequemes Gefühl überkroch sie mit dünnen Spinnenbeinen. Eifersucht? Nein, nein, es wäre ja gut, wenn Susi Gontard gefiele. Sie käme dann frei, sie brauchte nicht mehr an den Dienstagen – –

»Was fragtest du? Was ich anziehe? Das schwarze Crêpe Georgette.«

»Ich kaufe mir etwas. Eigentlich kann ich's mir jetzt gar nicht leisten, aber ich will hübsch sein.«

»Du bist doch immer hübsch.«

Ein prüfender Blick aus Susis lebhaften, kleinen Augen mit den wirkungsvoll gemalten Wimpern und Brauen traf Lena.

»Neben dir nicht. Man soll so etwas nicht sagen, denn wir Frauen sind alle Konkurrenten. Die Männer übrigens auch, sie gestehen's bloß nicht ein. Oh, ich weiß sehr genau, daß ich hübsch bin, eine Hübschheit von heute. Vor zwanzig Jahren hätte man über mich ›pfui‹ geschrien, und in zwanzig Jahren wird man ausrufen ›Gott wie altmodisch!‹. Du bist die Frau, die gestern schön war und morgen schön sein wird. Wir Frauen fühlen das besser als Männer. Ich muß kopfstehen und mit den Beinen strampeln, damit ich gefalle, und wenn es eine andere auch tut, habe ich immer noch das Gefühl, ich kann's ebensogut oder besser. Aber wenn du dich nur hinsetzt und gar nichts weiter tust, als eben da sein, habe ich schon Angst. Dumm, daß ich's ausspreche. In mich werden dafür tausend Männer vernarrt sein, die dich gar nicht beachten, aber der eine, wichtige, um den ich mich reißen werde, wird an mir vorübergehen und für einen Augenaufschlag von dir einen Mord begehen. Wenn ich ein Mann wäre, tät ich's auch.

»Was du zusammenredest.«

»Ich darf's, weil ich verrückt bin.«

»Ich sehe doch, wenn wir zusammen über die Straße gehen, wie sich alle nach dir umdrehen.«

»Ja, die tausend, die mir schnuppe sind.«

Susi schlug schon wieder in Übermut um.

»Komm, wir haben das Essen noch nicht vollständig. Das soll ein Menüchen werden, das noch Kindern und Kindeskindern im Magen liegt. Aber auf dem Theaterzettel will ich als Mitverfasser stehen, sonst sag' ich's dem erlauchten Gast, wenn ich morgen zu seinen Ehren kopfstehe. Hoffentlich frißt er nicht mit dem Messer, das kann ich selbst bei meinem Ideal nicht vertragen.«

Lena dachte noch lange über Susi nach. Das war eine Seite, die sie noch nicht an ihr kannte. Und dabei hatte sie das Gefühl irgendeiner undeutlichen Gemeinsamkeit gleichzeitig mit etwas scharf Gegensätzlichem. Alle Frauen seien Konkurrentinnen, hatte Susi gesagt, aber sie hatte nur sich selbst und Lena gemeint. Das war ganz deutlich herausgekommen. Konkurrenz! Was sollte das heißen? Sie konkurrierte nicht.

Hugo schleppte Wein und teure Zigarren an. Erkundigte sich nach allem.

»Möchtest du dir nicht doch ein Kleid kaufen? Ich möchte nicht, daß Susi eleganter ist als du. Ich bin das meiner Stellung schuldig. Sie doch lieb und vernünftig.«

Lena ging nachmittags sich ein Kleid besorgen. Hugo war sehr zufrieden.

»Und jetzt tu mir auch noch den Gefallen und mach mir wegen der Tischordnung keine Schwierigkeiten. Du wirst doch einsehen – – ja? – – So ist's recht – – ich hab' ja gewußt, daß mein Dummchen mein Klugchen ist.«

*

Bis zum letzten Augenblick hatte die Aufregung bei Krönings angehalten. Susi war schon am frühen Nachmittag da, um die Schüsseln geschmackvoll zu garnieren und das Tischdecken zu überwachen. Hugo hatte ein halbes dutzendmal die schwarze Smokingkrawatte gebunden, als hinge vom Sitz der Schleife das Glück seines Lebens ab, prüfte, ob der Rotwein die richtige Zimmertemperatur habe, der Weißwein und Sekt genügend gekühlt seien. Das unglückliche Dienstmädchen wurde angeschnauzt, Lena, die eine matte Ruhe zur Schau trug, zur Eile angetrieben.

»Ich verstehe dich gar nicht. Du weißt doch, was mir diese Sache bedeutet. Ein klein wenig Rücksicht auf meine Interessen darf ich wohl auch beanspruchen.«

Sie tat, als ob sie nicht hörte.

Kurz vor acht kam Richard Möllenhoff, fast gleichzeitig mit dem einzigen Gast, den man noch eingeladen hatte. Das war ein Fräulein Elly Sturm, eine weitläufige Verwandte Hugos, Journalistin ihres Zeichens, die dauernd in der ganzen Welt herumgondelte, den gesamten Tratsch von fünf Erdteilen im weniger hübschen als gescheiten und stets spottbereiten Köpfchen mit sich herumschleppte und seit einem Jahr in Berlin in einer der größten Zeitungen ihre liebenswürdig bissigen Feuilletons über die Gesellschaft des Tiergartens, Kurfürstendamms und Grunewalds ausgoß. Auf allen Sportplätzen, bei allen Fünfuhrtees, Ausstellungen, Premieren, Modeschauen war sie zu Hause. Keine Gesellschaft, die Wert darauf legte, daß man über sie sprach, schrieb und Bilder brachte, versäumte, ihr eine Einladung zu schicken. Keine Berliner Sensation ohne Elly Sturm. Zu Krönings kam sie sonst nie, aber Hugo hatte sie zu ködern gewußt durch die Aussicht auf Gontards Erscheinen. Diesen Sonderling, den bestgehaßten Mann der Burgstraße, bei dem sie anläßlich eines beabsichtigten Interviews schon einmal abgefallen war, aus der Nähe zu sehen, sozusagen Tuchfühlung mit ihm zu haben, war eine größere Seltenheit, als mit dem König von England zu frühstücken. Das durfte man sich nicht entgehen lassen. Und Hugo hoffte seinerseits, daß die Anwesenheit Ellys genügen würde, am nächsten Tage bei allen, die zwischen dem Potsdamer Platz und Neu-Babelsberg Geld und Namen hatten, die Neuigkeit zu verbreiten, der große Gontard verkehre bei Rechtsanwalt Kröning. Indiskretion ist bei einer Journalistin Ehrensache. Rechtsanwalt Kröning – wer ist das? wird man fragen. Was, das wissen Sie nicht? Der neue Syndikus von Gontard! Hat eine ganz große Nummer bei ihm, steht direkt intim mit ihm. So so? Den Namen wird man sich merken müssen. So ungefähr stellte sich Hugo das vor.

Elly Sturm platzte mit ziemlicher Ungeniertheit in den kleinen, erwartungsvollen Kreis, in dem nur noch die Hausfrau und Gontard fehlten.

»Der Star noch nicht eingetrudelt? Und ich hab' schon meinen Goerz im Korridor bereitgestellt. Den Knaben möchte ich zu gern knipsen. Kein Mensch besitzt ein anständiges Bild von ihm.«

»Vielleicht gelingt es dir, ein kleines Gruppenbild zu machen«, sagte Hugo, »so ganz zwanglos. Was spricht man denn über ihn?«

»Er erfreut sich eines so schlechten Rufes, daß er schon stolz darauf sein kann. Sie haben alle Angst vor ihm, wie sie gebacken sind, und möchten ihm am liebsten den Hals brechen. Es kommt ja auch noch zu irgendeiner großen Sache bei der ersten Gelegenheit. Bei der kleinsten Blöße, die er sich gibt, hat er die ganze Meute auf dem Hals. Sie lauern schon.«

»Er wird sich keine Blöße geben, und es wird auch gehen.«

Die Journalistin wiegte den kleinen, frechen Kopf.

»Die andern sind auch nicht von Pappe.«

Leise wurde die Tür vom Eßzimmer her geöffnet, und Lena trat ein. Sie trug ein weißes Stilkleid aus Seidenchiffon und Tüll, das sie zart und duftig umgab wie eine stillstehende, schwebende Wolke. Auf der Schulter zitterte ein frischer Wickenstrauß in matter Buntheit. Hugo war überrascht. Mit einem Sprung war Elly Sturm aus ihrem Sessel.

»Eine so schöne Frau läßt du frei herumlaufen, Hugo? Wie kommt ein kleiner Paragraphenreiter zur Lieblingsfrau des Maharadscha?«

Susis Augen wurden um einen Schein dunkler.

»Na, erlaube mal«, sagte Hugo halb stolz, halb gekränkt.

»Ich bitte dich, rede nicht«, winkte Elly Sturm ab, »du bist ja gar nicht mehr vorhanden, du weißt ja gar nicht, wie sehr du nicht vorhanden bist. Um deinetwillen, Lena, verzeihe ich Euch, daß Ihr mich zu Eurer Gesellschaft eingeladen habt. Hab' ich Gemüt? Bin ich liebenswürdig?«

»Ist's dir denn so schrecklich, in Gesellschaft zu gehen?« fragte Lena.

»Ich kann das Wort nicht einmal mehr hören. Gesellschaft bei Frau Wennschon, Gesellschaft bei Herrn Tudirnixan, Gesellschaft bei Auchwers und bei Gehtnochgrads, es ist zum – – – Kinder rasch einen anständigen Ausdruck, sonst sag' ich was Ungehöriges.«

Draußen klingelte es, der Hausherr sprang nervös auf. Das Klingeln riß das Gespräch ab, als sei alles plötzlich uninteressant und gleichgültig geworden. Man hörte das Dienstmädchen öffnen. Hugo eilte überflüssigerweise hinaus. Es wäre eine Erlösung gewesen, wenn Elly jetzt eine ihrer kecken Bemerkungen in die Stille geworfen hätte, aber auch sie blickte nur gespannt auf die Tür, die nach dem Korridor führte. Niemand bemerkte, wie krampfhaft Lena das kleine Spitzentaschentuch zwischen den Fingern zerrieb. Mit einem Schwall von Worten, der gewollt lebhaft klang, öffnete Hugo den Türflügel vor seinem Gast. Das Lächeln, das alle aufgesetzt hatten, erstarb vor dem dunkeln Schatten, den von hinten Krönings blonder Kopf überragte. Die Vorstellung war qualvoll. Gontard verneigte sich vor Lena und überreichte ihr einen Strauß Orchideen von der gleichen Art, wie sie sie damals – das erstemal – nicht angenommen hatte.

»Ich freue mich sehr, Sie bei uns zu sehen«, sagte sie halblaut, fast leiernd. Sie hatte den Satz am Nachmittag unzähligemal vor sich hingesagt, weil sie Angst gehabt hatte, sie würde im gegebenen Augenblick überhaupt kein Wort herausbringen. Gontard antwortete nichts. Der Reihe nach machte er vor den Damen eine knappe Verbeugung. Neben Richards tiefem Diener nahm sich diese Begrüßung, die kaum mehr war als ein kurzes Senken des Kopfes, fast komisch aus. Niemandem außer Lena gab Gontard die Hand, sein Gesicht war grau und ausdruckslos, nur beim Namen Elly Sturms schien es in seinem Auge kurz zu blinken. Einige Minuten verflossen in peinlichem Schweigen. Selbst Elly Sturm versagte. Nur Susi flüsterte Lena leise zu:

»Du, der ist doch nicht häßlich.«

Hugo wußte sich nicht anders zu helfen, als indem er die Tür zum Eßzimmer öffnete:

»Wenn es den Herrschaften recht ist. Herr Gontard, darf ich Sie bitten, meine Frau zu Tisch zu führen?« Er selbst reichte Susi den Arm, Elly hängte sich in Richard ein. Lena war mit Gontard schon vorgegangen.

»Weshalb haben Sie angenommen?« fragte sie fast unhörbar.

»Sie einmal öfter zu sehen«, gab er ebenso unhörbar zurück. »Soll ich gehen?«

»Nein, aber seien Sie so, wie ich es gern habe. Nicht dieses Gesicht. Vorsicht vor den Frauen.«

Woher nahm sie die Kaltblütigkeit zu dieser verstohlenen Verständigung? Sie kannte sich selbst nicht wieder. Die anderen waren schon nachgekommen, man nahm die Plätze ein. Susi saß zu Gontards Linken an der Schmalseite des zum Oval ausgezogenen runden Tisches. Hugo und Elly Sturm bemühten sich redlich, die Unterhaltung in Gang zu bringen. Susi verhielt sich noch abwartend und beobachtete scharf jede Bewegung Gontards. Lena hatte sich noch nicht recht gefunden, sorgte aber aufmerksam für ihre Gäste, bediente mit niemandem merkbarer Vertrautheit ihren stillen Nachbar und lächelte ihn freundlich an. Und an diesem Lächeln, von keinem für mehr als verbindliche Geste genommen, zerschmolz wie jedesmal die Starre des steinernen Gastes zu einer schamhaft anmutenden Umgänglichkeit. Gontard beteiligte sich allmählich an den Gesprächen, die sich immer mehr an ihn richteten und ihn in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zogen, ja, Elly Sturms scharfer, bissiger Witz und die drollige Munterkeit Susis, die langsam aus sich herauszugehen begann, entlockten ihm ein Lächeln. Man kam in bessere Stimmung, als der Gastherr zu hoffen gewagt hatte. Susi belegte den Bankier in ihrer einschmeichelnd liebenswürdigen Art mehr und mehr mit Beschlag und bemühte sich offensichtlich, seine Aufmerksamkeit von Lena weg auf sich zu lenken. Vor dem unvermeidlichen Eis knallten ermunternd die dickköpfigen Sektpfropfen, und Hugo fand sogar den Mut zu einer geschickten kleinen Tischrede, in der er Gontard und ein klein wenig auch sich selbst feierte, daß es ihm, gerade ihm gelungen sei, eine Bresche in die Einsamkeit des herzlich willkommenen Gastes zu legen und ihn den Freuden der Geselligkeit mit aufrichtigen und ergebenen Freunden zurückzugewinnen. Die Gläser klangen, und Lena wechselte im Anstoßen mit ihrem Nachbar einen kurzen Blick. Der ungewohnte Wein und Sekt hatte sie in eine seltsame, unternehmungslustige Erregung gebracht, das Spiel mit der Gefahr zog sie in seinen Bann. Sie stand auf, setzte sich im Nebenzimmer ans Klavier und spielte und sang mit ihrer kleinen, zerbrochenen Stimme ein sentimental wehmütiges Negerlied, von dem sie wußte, daß Gontard es besonders liebte. Jedesmal, wenn sie bei ihm gewesen war, hatte sie es ihm vorspielen müssen. Gontard lauschte verzückt, wie einer Offenbarung. Susi summte den Kehrreim mit.

»Lieben Sie Musik?« fragte sie plötzlich.

Gontard antwortete beinahe schroff, so daß sie befremdet zusammenfuhr.

»Gar nicht. Ich bin völlig unmusikalisch.«

Im Wohnzimmer wurde Kaffee und Likör serviert. Hugo hatte Susis Frage und die Antwort darauf nicht gehört, er zog das Grammophon auf und legte eine Tanzplatte auf die Scheibe. Er forderte Elly Sturm auf.

»Sieh zu«, sagte sie im Drehen, »daß ich ihn auf die Platte bekomme.«

»Versuchen.«

Susi hatte sich neben Gontard gesetzt und ließ ihn nicht mehr los. Sie fand fortwährend Gelegenheit, die anderen, die sich ihnen näherten, immer wieder fortzuschicken, abzuwimmeln und Sekunden oder Minuten des Alleinseins mit Gontard einzurichten. Ihre etwas scharfe Stimme plapperte unaufhörlich in niedlicher Beschwipstheit, und wie sie ihm Likör einschenkte, eine Zigarre reichte, sie ihm selbst abschnitt und anzündete, in der Art, in der sie ihn ansah und anlachte oder ausgelassen mit spitzen Fingern durch das wuschelige Haar ihres zurückgeworfenen Kopfes fuhr – in jedem Laut und jeder Bewegung klang Werbung und sprühte Lockung. Er ließ geduldig alles über sich ergehen. Lena unterbrach die beiden nur einmal. Sie brachte ein Kissen an – genau ein gleiches hatte sie Gontard gearbeitet – und schob es ihm in den Rücken.

»So sitzen Sie besser.«

Er begriff und streichelte das Kissen. Richard warf seiner Frau wütende Blicke zu. Es war ihm unangenehm, daß Susi sich ausschließlich mit dem Bankier befaßte. Sie trieb es zu auffällig, trank ihm fortwährend zu und machte ihm schöne Augen. Von Richards Zeichen nahm sie keinerlei Notiz. Auf einmal kam Hugo mit dem fotografischen Apparat ins Zimmer.

»Du, Elly, du kannst doch mit dem Dings umgehen. Der Momentverschluß funktioniert nicht.«

Die Journalistin hatte den Fehler, der gar nicht vorhanden war, sofort gefunden und behoben.

»Ach, fotografieren«, rief Susi lebhaft, die das Spiel verstand, »machen wir eine Aufnahme. Seien Sie nett, Herr Gontard, bitte, recht freundlich.«

Sie war begeistert von der Idee, mit Gontard, dem großen, berühmten Gontard, zusammen auf einem Bild zu erscheinen. Sie trommelte sofort ihren Mann und Lena herbei und setzte sich neben dem Bankier in Positur.

»Wenn es Herrn Gontard recht ist«, sagte Kröning und holte schon das Blitzlicht, das Elly draußen bereitgestellt hatte. Gontard hatte nichts erwidert. Lenas fragender Blick fiel auf eine erstarrte, ausdruckslose Miene. Elly und Hugo waren schon fertig mit den Vorbereitungen.

»Willst du die Aufnahme machen, Elly? Ich glaube, du bist geübter.«

Hugo konnte gar nicht fotografieren. Harmlos stellte er sich hinter die Gruppe. Die Journalistin zählte:

»Eins, zwei – drei!«

Grelle Weiße des Blitzes flammte auf. Und mit der gleichen Schnelligkeit – so plötzlich, daß alle erschraken – war Gontard breit aufgestanden und hatte, einen Schritt nach vorn tretend, seine Rechte, mit der inneren Handfläche der Linse zugekehrt, nach dem Apparat ausgestreckt.

»Oh«, rief Susi, ein Mäulchen ziehend, »das war nicht hübsch von Ihnen.«

Elly schnitt eine Sekunde lang eine verärgerte Fratze, fing aber dann sofort – ein wenig krampfhaft allerdings – zu lachen an. Gontard hob eine Braue:

»Dieses Bild dürfen Sie bringen.«

Die Journalistin hatte schon ihre Selbstbeherrschung wieder und lächelte ihr verbindlichstes Lächeln.

»Ich danke Ihnen. Bankier Gontards Hand ist immer noch interessanter als die meisten Gesichter.«

Mit zitternden Lippen stand Hugo im Hintergrund mit dem Bewußtsein, daß er eine Riesendummheit begangen hatte. Er sprang vor, um eine Entschuldigung zu stammeln. Es sei doch nicht beabsichtigt gewesen – – Er bekam keinen Blick geschenkt. Es war überaus peinlich. Susi mimte kindliche Unschuld und spitzte den Mund.

»Ochott, ochott, ist denn das so schlimm, wenn man fotografiert wird?«

In tiefster Beschämung stand Lena da. Sie schämte sich für Hugo, für Elly, für alle. Dieses Anbiedern und Freundschaftheucheln, wo man Nutzen suchte, war ihr verhaßt und doppelt erniedrigend, weil sie genau wußte, daß Gontard die wechselnden Formen dieses kleinlichplumpen Spiels durchschaute. Und die Vorstellung, Gontard könnte denken, daß sie mit all dem einverstanden sei, von allem gewußt habe – – Sie fühlte Gontards verborgene Augen hinter tiefen Lidern, fühlte Hugos Blick, der an ihr hing, als erwarte er von ihr das rettende, lösende Wort, und vermochte nichts, nichts anderes zu tun, als dazustehen. Die bloßen, sonngetönten Arme vorn am weißen Kleid herabhängend, so daß sich ihre Hände spitz berührten, den blonden Kopf schief mit einer durchsichtigen, süßen Röte im Gesicht, mit einem hilflosen, süßen Lächeln um den Mund, das ziellos nach den Wangen zu irrte und sich irgendwo in Traurigkeit und aufsteigende Blässe verlor. Hier, jetzt, in diesem Augenblick, fühlte sie, vollzog sich etwas Entscheidendes. Sie wußte nicht das Was und Wie, nur das erkannte sie mit hellsichtiger Klarheit, daß sich etwas endgültig entschied, daß die Geschehnisse der letzten Monate und Wochen plötzlich mit verstärkter Geschwindigkeit nach einem Punkte trieben wie steuerlose Schiffe, die aus trägem Gewässer unversehens in starke Strömung gerissen werden und nun dahinschießen mit flatternden, zerrissenen Segeln mit ungewissem Ziel, auf eine rettende, freundliche Bucht zu oder auf die zackig drohenden Spitzen umschäumter Riffe. Gontard sprach noch immer kein Wort. Mit einer breiten Wendung ließ er die kleine Gesellschaft stehen und ging ins Speisezimmer. Hugo lief mit unglücklichem Gesicht wie ein Hund hinter ihm drein, ohne Beachtung zu finden. Gontard durchschritt das Zimmer der Tür zu, die auf den Korridor führte, und öffnete sie. Hugo wollte ihm die Klinke aus der Hand nehmen.

»Herr Gontard, ich bitte Sie sehr, ein Wort – –«

Ein fester Griff der Pranke zog die Tür vor Krönings Nase zu. Der junge Rechtsanwalt stand leichenblaß still. Im Korridor wurde Rascheln hörbar und das Klappen der Ausgangstür. Hugo rannte ins Wohnzimmer zurück zu Lena. Er packte sie schüttelnd am Arm.

»Er ist weggegangen. Du mußt ihm nachgehen.«

Lena schüttelte den Kopf und streifte seine Hand von sich ab. Hugo stürzte hinaus, die Treppe hinunter. Im Hausflur unten traf er auf den Portier, der gerade hinter Gontard abschloß. Draußen setzte sich ein großes, schwarzes Auto mit rauschendem Motor in Bewegung. Außer Atem kam Hugo wieder in die Wohnung und schoß auf Elly Sturm los.

»Das hast du mir eingebrockt.«

»Was denn, was denn? Ich denke, du stehst so gut mit ihm? Du warst doch mit allem einverstanden.«

Susi faßte sich zuerst.

»Was ist denn groß geschehen? Ich werde ihn am Montag anrufen und die Geschichte in Ordnung bringen. Es wird den Hals nicht kosten.«

Niemand antwortete ihr. Hugo stürzte einen Kognak hinunter und bemühte sich, Haltung zu gewinnen. Richard blies zum Aufbruch. Es kam ja doch keine Stimmung auf. Man sollte Krönings allein lassen. Während die Männer und Elly im Korridor ihre Sachen nahmen, zog Susi unauffällig Lena mit sich fort.

»War's dir sehr unangenehm?«

»Gott – –«

Lena suchte sich zu beherrschen. Susi beobachtete sie prüfend.

»Hat er dir gefallen?«

»Gefallen ist nicht das richtige Wort«, sagte Lena mit abirrenden Augen.

»Dann hast du keinen Instinkt für Männer. Hast du nicht bemerkt, wie Richard und Hugo neben ihm aussahen? Wie Schuljungen.«

»Ich will diese Sachen nicht hören.«

»Wenn du's auch nicht hören willst, ich sag dir noch etwas. Ruf du ihn Montag an.«

»Du wolltest doch –«

»Ich rufe ihn an, auf alle Fälle, weil ich mir den Finger abbeißen könnte, um ihn wiederzusehen. Aber wenn du die Sache von heute abend aus der Welt schaffen willst, dann sprich du mit ihm. Brauchst gar nicht die Augen so aufzureißen. Es war sehr anständig von dir, daß du mich so viel mit ihm allein gelassen hast, blind bin ich deshalb doch nicht. Erinnerst du dich an unser Gespräch von gestern? Daß ich tausend Männern gefallen werde, nur dem einen, wichtigen, der für einen Augenaufschlag von dir einen Mord begehen könnte – – weißt du noch?«

»Du glaubst doch nicht, daß ich – –«

»Vielleicht du nicht, aber er.«

»Du bist ja wahnsinnig.«

»Schön, bin ich wahnsinnig. Um so besser für mich. Ssst«, sie legte den Finger auf den Mund, »Richard kommt. Ja, Rickychen? Ich bin schon fertig. Ich mußte nur Lena ein bißchen beruhigen. Was sagst du zu diesem Abgang? Unerhört eigentlich, nicht? Ich finde, direkt lächerlich. Das wäre was für mich, so ein Mann. Da sind unsere wilden Männer doch bessere Menschen, was Lenachen?«

Sie sprühte der Freundin aus dem Augenwinkel ein verstohlenes Zwinkern zu, das keine Erwiderung fand.

*

Das waren böse Tage bis zum Dienstag. Hugo hatte vollständig schlapp gemacht. Er hatte sich bei seiner Frau verkrochen wie ein ängstliches Kind hinter der mütterlichen Schürze. Am Sonntag hatte er nicht das Haus verlassen, obwohl er mit Möllenhoffs eine Autopartie verabredet hatte. Im letzten Augenblick hatte er noch abgesagt. Bloß keine Menschen! Wenn ihm sonst etwas schief ging, pflegte er nervös und aufgeregt durch die Wohnung zu rennen, unwirsch zu antworten. Diesmal saß er stundenlang traurig und stumm in einem Stuhl und ließ sich von Lena trösten und pflegen, als ob er krank wäre. War zärtlichkeitsbedürftig und selber zärtlich.

»Wenn ich dich nicht hätte, mein Gutes.«

Montag abend kam er verzweifelt aus der Bank. Hätte er Gontard überhaupt nicht zu Gesicht bekommen, so wäre ihm das nicht so schrecklich gewesen, aber daß er dreimal, viermal mit dem Bankier zu tun hatte, ohne daß dieser auch nur eine Silbe mehr als unbedingt nötig verlor, sondern kurz und unpersönlich war wie am ersten Tage, deutete er ungünstig. Er hatte gehofft, eine Entschuldigung anbringen zu können. Es war nicht möglich gewesen. Sofort nach seiner Heimkunft rief er Susi an. Ob sie Gontard erreicht hätte. Ja? Das war schon etwas, daß er sich überhaupt hatte sprechen lassen. Was er geantwortet habe? Nichts? Nein, kein Wort. Es war zum – – Enttäuscht hing er den Hörer an.

»Ich habe direkt Angst, ins Büro zu gehen«, sagte er Dienstag beim Frühstück. »Man kann an diesen Menschen nicht heran. Wäre ich nur deinem Rat gefolgt.«

Noch nie, und wenn seine Frau zehnmal im Recht gewesen war, hatte er derartiges gesagt. Sie streichelte mit abwesenden Augen über seine Hand. Ihre Gedanken gingen ganz andere Wege. Hugo wird vielleicht seine Stellung verlieren. Gut. Man hatte ja vorher auch gelebt. Es müßte wieder gehen. Es wäre ihr sogar lieber. War ja doch nur ein Geschenk, das er monatlich aus Gontards Hand empfing. Aber es war noch etwas anderes geschehen, zwischen ihr und Gontard hatte sich etwas geändert, und sie hatte Angst vor dieser Änderung. Was könnte denn sein? Der Wagen könnte heute nicht am Wittenbergplatz warten, sie würde Gontard nicht wiedersehen. Das wäre doch gut. Das Theaterspielen, Verheimlichen wäre zu Ende. Alles doch nur gut. Die Dienstagstunden waren schön gewesen – ja, schön – – –

Hugo blätterte zerstreut in der Morgenzeitung und schlug die illustrierte Beilage auf. Sein Blick blieb auf einer Bildseite haften.

»Der Teufel soll Elly holen.«

Er schob seiner Frau das Blatt hinüber. Das mußte man Elly Sturm lassen – Tempo hatte sie im Leib. Über eine volle Seite ging eine Bilderserie unter dem Titel:

»Hände, die Geld verdienen.« Hände, nichts als Hände, im Oval, im Rechteck, quer über dem Blatt, in den Ecken. In der Mitte, an auffallendster Stelle, die Pranke Gontards, die überraschend deutlich in allen Linien von der Linse eingefangen worden war. Den Artikel zu den Aufnahmen hatte Raphael Stehr, das graphologische Phänomen, verfaßt. Auf welchem Wege die Journalistin innerhalb vierundzwanzig Stunden das ganze Material zusammengeholt hatte, war ein Rätsel, aber sie hatte es geschafft. Kaum ein Finanzgewaltiger fehlte in der Sammlung. Und Stehr hatte das Bild jeder Hand nicht nur mit knapper Charakteristik umrissen, sondern auch – in vorsichtigen Worten allerdings – das Schicksal ihrer Träger zu prophezeien gesucht.

Die eindrucksvollste Hand, schrieb der Graphologe über Gontard, die ihm je begegnet sei. Ein Wunder an Willenskraft und von der Konzentrationsfähigkeit eines Fakirs. Waghalsigkeit des Spielers mit der Kälte eines blitzschnellen Verstandes einend. Keine Hindernisse kennend. Und seltsam – erfüllt von Abscheu gegen Geld. Von überrennender Leidenschaftlichkeit in jeder Lebensäußerung, unmöglich die Widersprüche und Seltsamkeiten dieser Hand in zwanzig Zeilen zu erfassen. Man müßte ein Buch über sie schreiben.

Deutlich war das Bestreben ersichtlich, die schlechten oder unangenehmen Eigenschaften Gontards zu verschweigen, zu umschreiben, zu mildern.

Das Schicksal dieses Mannes, fuhr Stehr fort, zeigt einen deutlichen Bruch. Ihm droht Gefahr und plötzliche Wendung seines Lebens. Aber so angefeindet und gehaßt er ist, diese Wendung ist nicht Werk seiner Gegner und keine Niederlage.

»Das fehlt mir gerade noch zu meinem Glück«, sagte Hugo im Aufstehen. »Möchtest du mich nicht heute abholen? Vielleicht findet sich Gelegenheit, daß du ein Wort – – eine Frau kann eher – – –«

»Ich kann dir's jetzt nicht sagen.«

Lena wußte kaum, wie die Stunden des Vormittags verrannen und wie sie von ihrer Wohnung zum Wittenbergplatz gekommen war. Sie fürchtete, der Wagen würde nicht dastehen, nein, sie fürchtete es nicht, sie hoffte es. Oder doch nicht. Das war alles so schwer. Er stand aber da. Wie immer. Am Lenkrad der schläfrige Chauffeur, die Kappe tief im Gesicht. Alles wie gewöhnlich, das wortlose Einsteigen, das plötzliche Anspringen des Wagens, das Rasen durch die Straßen. Um die Kirche, Kantstraße. Das blauweiße Schild des Leihhauses Förster blitzte herüber. Ach ja, das Leihhaus. Vielleicht mußte man bald wieder hin. Wieso war man schon am Reichskanzlerplatz? Die Heerstraße kam entgegengerannt. Ein Gittermaul tat sich selbsttätig auf und schluckte den Wagen. Der Torflügel drehte sich geheimnisvoll in den Angeln. Halle, Treppen, Gontard, das Zimmer, die Blumen auf den Tischen, der Flügel mit den Noten – wie sonst. Aber die Luft war anders, das Licht, ihre beiden Stimmen. Das Gespräch wollte nicht in Gang kommen. Lena hatte die Zeitung mitgebracht. Er betrachtete die Bilder und las, weil sie ihm die Seite hinhielt. Nichts verriet, ob es ihn irgendwie berührte. Lena setzte sich ans Klavier, sang, spielte, hörte mitten drin wieder auf. Zog Gontard in einen Sessel und setzte sich zu ihm. Wartete auf etwas. Sie tippte ihm endlich mit einem Finger auf die große, weiße Hand, krampfhaft bemüht, das Gespräch in Gang zu bringen.

»Nun werden wir uns vier Wochen nicht sehen.«

»Sie fahren gern.«

»Mein Mann braucht die Erholung.«

Es klang wie eine Entschuldigung.

»Sie freuen sich fortzukommen«, beharrte er.

»Ich freue mich aufs Wiedersehen. Nur dachte ich, daß unser Abschied hübscher werden würde. Der Besuch bei uns hat Sie sehr verstimmt, ja?«

»Ich gehöre nicht zwischen Menschen.«

»Es war eine Dummheit von meinem Mann und von Fräulein Sturm. Ich hätte es nicht zugeben dürfen.«

Er machte eine Handbewegung, als ob er nicht weiter darüber sprechen möchte.

»Hat Ihnen meine Freundin Susi gefallen?«

»Möchten Sie, daß ich ihren Mann anstelle? Sie hat es mir nahegelegt. Nicht direkt. Ich habe es herausgehört.«

»Wenn Sie ihr einen Gefallen erweisen wollen – –«

Er wurde grundlos ungeduldig.

»Nein, Ihnen. Weshalb verlangen Sie nichts von mir? Weshalb kann ich Ihnen nichts geben?«

»Sie geben mir ja«, sagte sie mit ganz weicher Stimme. »Diese Stunde – –«

Gontard lehnte sich im Stuhl zurück, seine Hände gruben sich in das Polsterleder der Lehne. Sein Gesicht wandte sich ihr voll zu, und die Frau hatte den Eindruck, daß sie es noch nie so richtig geschaut hätte wie in dieser Sekunde. Als hätte es der Kegel eines Scheinwerfers aus der Finsternis gerissen.

»Wir wollen nicht rechten, wer diese Stunde schenkt. Aber ich lebe nur diese eine Stunde. Ich lebe nur für diese eine Stunde. Vielleicht ist es lächerlich, wenn ein Mann das sagt. Vor Ihnen schäme ich mich nicht, lächerlich zu sein. Für die anderen trage ich einen grünen Helmbusch. Ja, einen grünen Helmbusch. Als junger Bursch habe ich einmal eine Parade angesehen. Da kam auf einmal ein Mann mit einem grünen Federbusch auf dem Helm und roten Streifen an der Hose. Denken Sie, ein erwachsener Mensch mit bunten Federn wie ein Indianerhäuptling und lächerlich breiten, schreiend roten Streifen an den Beinen. Komisch? Und das Erscheinen des Federbusches und der Streifen elektrisierte die vielen tausend Soldaten. Sie kannten das Gesicht sicher nicht, sie sahen nur die grünen Federn und standen plötzlich stramm, rissen den Kopf herum, marschierten wie die Maschinen mit herausgedrückter Brust und wußten alle, daß sie bereit sein müssen, sich töten zu lassen, wenn der Kopf unter dem Federbusch es befiehlt. Seitdem laufe ich mit der Vorstellung herum, daß ich auf dem Kopf einen Helmbusch und rote Streifen an der Hose trage.«

Lena wollte lachen, aber es wurde nur ein schwaches, schmerzliches Lächeln, das in sich selbst erstickte. Was Gontard da erzählte, war gar nicht lustig, es war eine Entblößung, als ob ein Mensch sich in verzweifelter Selbstverhöhnung die Fetzen von den Gliedern risse und die mißgestalteten Höcker seines Körpers darböte. Gontard fuhr sich mit der Hand über die Haare, wie um von dort oben die wallenden Federn herunterzuholen. Seine Augen verschwanden wieder hinter den Lidern.

»In dieser einen Stunde, hier mit Ihnen, lebe ich. Ohne Helmbusch und Streifen.«

Sie beugte sich vor, nahe zu ihm und legte ihre kleinen Hände auf seine Pranke.

»Und ist das nicht schön?«

Er schloß unter ihrer Berührung völlig die Augen. Seine Stimme dämpfte sich in leidenschaftlich zusammengrepreßter Schärfe und schoß zischend und dampfend aus dem Ventil des Mundes. Sie versuchte erst abzuwehren, ihn am Sprechen zu hindern, ihr Blick, ihre Hand, ihr ganzer Körper beschwor ihn, nichts von alledem zu sagen, was er sagen wollte und was er dennoch sagte, mit magischer Gewalt ihr Widerstreben überwindend, ihre Ohren öffnend, aufreißend ihr Herz und ihr Gehirn und seine Worte in sie hineinfüllend, wie man Werg in einen leeren, toten Puppenbalg füllt.

»Wenn mir diese Stunde nicht mehr genügt? Verstehen Sie mich nicht oder wollen Sie mich nicht verstehen? Menschen wie ich können nicht ein bißchen Geschäfte machen, ein bißchen lieben, ein bißchen das und jenes treiben. Unsereiner kann nur besessen sein bis in den letzten Blutstropfen hinein. Ich habe Geld verdient. Weil ich ein findiger Kaufmann bin? Vielleicht. Aber vor allen Dingen, weil ich Geld gemacht habe mit dem Kopf, mit den Händen und mit den Beinen. Ich habe nicht gegessen, um meinen Hunger zu stillen, sondern um Geld zu verdienen, ich habe kein Wort gesprochen, mit dem ich nicht Geld verdienen konnte, und ich habe niemanden zwischen den Fingern gehabt, aus dem ich nicht das Letzte herausgepreßt hätte. Ich habe das Geld nicht verdient, um mir ein Haus zu kaufen oder gut zu leben, ich habe Geld verdient, um Geld zu verdienen. Nichts anderes. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, ich bin nicht gewöhnt, mich mit meinen inneren Angelegenheiten zu befassen, für die Bilanz eines Unternehmens hätte ich vermutlich richtigere Worte gefunden. Wozu fragen Sie mich, ob mir Ihre Freundin gefallen hat? Ich weiß gar nicht, daß es außer Ihnen noch eine Frau auf der Welt gibt. Sie haben mich ins Theater geschickt. Wissen Sie, warum ich hingegangen bin? Weil ich dort etwas gesucht habe, was zu Ihnen gehört, was von Ihnen ist und mich an Sie erinnert. Ich habe den Hund gekauft, weil Sie Tiere lieben. Ich würde ihn zwischen meinen Fingern ohne Bedauern erwürgen, wenn ich das Gefühl hätte, daß er Ihnen unangenehm ist. Und so wie ich mich dem Geld verschrieben habe, habe ich mich Ihnen verschrieben. Aber das Geld hat mich geliebt, es ist zu mir gekommen, hat mich Tag und Nacht umgeben, und ist es mir weggelaufen, habe ich es wieder geholt, habe es anderen aus den verschlossenen Fingern gewunden. Es hat mein Lager, mein Essen und mein Leben mit mir geteilt – –«

Mitten im Satz hörte er auf und ließ in das glashelle Schweigen das Windgesumm der Bäume und das Tschilpen der Vögel aus dem Garten einströmen. Lena hatte den Mund offen, sie bekam keine Luft durch die verriegelte Kehle. Sie war bestürzt, betäubt und verwirrt. Bestürzt, als wäre plötzlich ein ausgerissenes, blutig schlagendes Herz vor ihre Füße gefallen, bestürzt und in einer betäubten Zerschlagenheit von dem brodelnden Guß der Worte. Erst mußte sie sich langsam aus ihrer dumpfen Zerbrochenheit aufraffen, ehe sie ihre kleine, klirrende Stimme zur Antwort wiederfand:

»Was wollen Sie? Soll ich Ihre Geliebte werden? Ich habe schon sehr gut verstanden, was Sie meinen, und es ist wunderwunderschön für eine Frau, wenn sie so – –« das Wort wollte nicht über die Lippen – »so geliebt wird. Aber eine Ehe ist nicht etwas, was – –«

»Eine Ehe ist ein Vertrag, den man lösen kann. Von hundert Ehen werden zehn geschieden.«

»Nein«, sagte sie leise und entschieden, »eine Ehe ist kein Vertrag, den man so ohne weiteres auflösen kann. Von hundert Ehen bleiben neunzig bestehen. Ich rede gar nicht von Liebe. Aber da gibt es tausend Dinge, die verknüpfen – – –«

»Kinder. Und die nicht.«

»Kinder, ja. Auch noch tausend anderes. Ich kann Ihnen das nicht so erklären. Man ist wie Kriegskameraden. Sogar zwei Feinde müssen, denke ich mir, Kriegskameraden sein, wenn sie nebeneinander im gleichen Graben in der gleichen Gefahr liegen. Jeder Mensch hat eingeboren feste Gesetze von schön und häßlich, von falsch und richtig, und jeder weiß, das darf ich nicht tun, nicht, weil es verboten ist, sondern weil ich einfach nicht kann, und jenes muß ich tun, nicht, weil es erlaubt oder vorgeschrieben ist, sondern weil ich einfach nicht anders kann. Das ist so richtig, wenn die Menschen sagen, man kann nicht aus seiner Haut heraus. Man kann es nicht, wirklich.«

Er schüttelte den schwarzen, mächtigen Kopf, schüttelte ihn immer wieder, die Schultern zuckten mit, als wehrte sich sein ganzer Körper.

»Das ist alles richtig und alles falsch. Ich will Ihnen nichts beweisen. Ich dachte nur – –«

In seinem Gesicht löste sich alle Härte der Entschließung in eine verzerrte, hoffnungslose Traurigkeit, die sich wie ein Widerschein in ihrem Gesicht spiegelte. Ihr Mund stellte sich ein wenig weinerlich schief von einem halben, schmerzlichen Lächeln.

»Ich werde vier Wochen fortbleiben. Ist's besser, wenn ich nicht wiederkomme?«

In tropfenden Sekunden verstrich eine Ewigkeit. Gontard wälzte die Worte in seinem Schädel: Nicht wiederkommen. Er versuchte sich das vorzustellen: Nicht wiederkommen, und das Leben, wie es vorher, vor Monaten, die Jahre hindurch gewesen war. Wie ihn ein halbes Leben lang das eine besessen hatte: Geld, Geld und immer wieder Geld, so hatte ihn jetzt das andere in Krallen und Fesseln: Die Frau und immer wieder die Frau. Vielleicht stand das Geld zwischen ihnen beiden. Geld baut sich wie eine unübersteigliche Mauer um den Menschen. Man müßte sie abreißen und sie wie Schutt von sich fegen. Er spürte den Samt der Blumen vom Tisch zerdrückt und zerrieben in seiner Hand. Er fühlte die Kehle des Hundes, der mit klugen, warmen Augen den Kopf hob, zwischen seinen Fingern. Nicht wiederkommen. Sekunden vertropften im Takt des Pulses.

»Ich muß warten.«

*

Eve war nach zehn Tagen vom Urlaub zurück, braun, lebenssprühend, hübscher denn je, voll gespannter Energien wie ein frisch geladener Akkumulator. Drei Menschen hatten sie vertreten, die Goltze mit noch einer Hilfskraft und einer der Prokuristen, und alle drei waren froh, daß sie wieder abgelöst wurden. Sie hatten sämtlich zu tun gehabt, um Eve zu ersetzen. Mit blanken, schnellen Augen forschte die Sekretärin in jedem Gesicht.

»Na, Doktor, meine Karten alle bekommen? War herrlich! Sie sehen ja miesepetrig aus. Ich denke, Sie sind Liebling im Hause? Geben Gesellschaften. Es begeben sich ja tolle Dinge hier. Tüchtig, tüchtig.«

»Woher wissen Sie schon? Hat er Ihnen – –?« fragte Hugo hastig.

»Lieber Herr, Sie werden doch nicht verlangen, daß ich Ihnen meine Bezugsquellen verrate. Aber wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Speisenfolge aufsagen.«

Sie wußte schon alles, als ob sie keinen Augenblick Berlin verlassen hätte.

»Die Geschichte wird mich noch Kopf und Kragen kosten.«

»Er hat sich doch sogar extra bei Ihnen die Hand fotografieren lassen, mit der er Ihnen den Kragen umzudrehen bereit ist. Schade um den schönen Kragen. Lieber Freund, wenn man mit einem Löwen aus einer Schüssel speist, darf man nicht erstaunt sein, wenn er einen irrtümlich mitfrißt.«

Hugo hätte Eve gern um Rat und Hilfe gebeten, aber er traute sich nicht. Ihr Ton schien ein wenig schadenfroh zu sein. Er suchte ihr zu schmeicheln.

»Prachtvoll sehen Sie aus. So braun und gesund. Sie sind noch hübscher geworden. Ehrenwort, soll kein Kompliment sein.«

»Frau Möllenhoff ist wohl auch eine hübsche Frau?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich meinte nur. Sie hat heute wieder angerufen.«

Schon begriffen. Eifersucht. Susi war doch eine geschickte Person. Kröning überlegte, was besser sei. Eve gegen Susi oder Susi gegen Eve auszuspielen. Er konnte sich leicht beide zu Feindinnen machen, es war eine verzwickte Lage.

»So? Sie hat angerufen?« fragte er vorsichtig. »Ist ja sehr interessant.«

»Für Sie vielleicht. Für mich nicht.«

Eve war noch rascher im Begreifen. Und sie gab keine Karte aus der Hand. Mit der Aufmerksamkeit eines Raubtieres, das jede Bewegung der belauerten Beute verfolgt, saß sie bei der Arbeit Gontard gegenüber. Mit einem sammelnden Blick hatte sie das ganze Zimmer umfaßt. Keine Veränderung. Der Bankier fragte nicht einmal, ob sie sich erholt hätte. Aber das war nichts Auffallendes. Sein Gesicht war grau und unbewegt. Nur einmal erfaßte sie etwas, was sie stutzig machte. Sie hatte ihm die Unterschriftenmappe vorgelegt und war schon an der Tür, als sie sich umdrehte, um noch etwas zu fragen. Gontard, der keine Unterbrechung und keine Pause in der Arbeit kannte, hatte die Mappe wider seine Gewohnheit unberührt gelassen, sein Kopf war dem Fenster zugewendet, und seine Augen starrten – nicht nachdenklich, sondern ziellos verloren – irgendwohin ins Leere. Und träumten. Gontard träumte. Oho!

Der Bankier ließ Kröning wegen einer Nichtigkeit rufen. Hugo glaubte zu bemerken, daß ihn bei der Besprechung hin und wieder ein Blick streifte, so von der Seite, aber nicht mit der gnadenlosen, unerträglichen Kälte. Es wehte mildere Luft, obwohl kein persönliches Wort fiel. Wenigstens dieses gräßliche Gefühl des Fallengelassenwerdens ins Bodenlose, ins Nichts hatte Hugo nicht mehr. Am Ende renkte sich doch wieder alles ein. Er schöpfte Hoffnung und platzte vor Verbindlichkeit und Pflichteifer. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, als Gontard etwas ganz Ungewöhnliches tat. Den Arbeitsstuhl zurückschiebend, stand er auf und ging zum Spiegel, der in einer Ecke über dem eingelassenen Waschtisch hing. Er nahm das Gesicht, das im geschliffenen Glas erschien, aufs Korn, als sei es nicht das seinige, sondern ein fremdes, feindliches, dieses graue Gesicht mit dem schwarzbewaldeten Schädeldach, der wulstig vordringenden Stirn und dem starken, fleischigen Kinn. Seine Augen begegneten dem eigenen, unerbittlichen Blick, und die beiden Gesichter, das wahre und sein Widerbild, hielten Zwiesprache, Abrechnung miteinander, bis sich die lebenden Augen vor dem kalten Strahl der Pupillen, die aus dem Glas herausstießen, senkten und sich hinter das abwärtsgekehrte Lid verkrochen. Die Prüfung war nicht zu Gontards Gunsten ausgefallen.

Susi war eigens zu Krönings gekommen, um Hugo mitzuteilen, was Gontard gesagt hatte. Sie hatte sich schon vorher mit Lena ausführlich über den Bankier unterhalten. Gontard war jetzt ihr einziger Gesprächsstoff, sie schien von einem brennenden Interesse für ihn erfüllt. Aber Lena war still und verschlossen geblieben.

»Ich habe ihn heute wieder angerufen«, kam Susi Hugo entgegen, »und habe ihm erklärt, daß er mich so lange nicht los wird, bis er die Geschichte zu den Akten legt. Also endlich habe ich den Satz aus ihm herausgekitzelt. Es ist in Ordnung, hat er gesagt. Du, Hugo, was ich übrigens so nebenbei bemerkt haben wollte, wenn zufällig bei Euch etwas frei wird und Gontard vielleicht Ricky erwähnen sollte, ich erwarte von dir als Freund, daß du pro und nicht contra redest. Wir verstehen uns doch? Man kann nicht wissen – –«

Sie zwinkerte mit den Augen. Lena vermochte den Ton nicht mitzuhalten und ließ die beiden allein. Seit dieser letzten Stunde mit Gontard war sie bis ins Innerste aufgewühlt. Nachträglich erst wurde sie der eigenen Erschütterung gewahr. Das Zittern eines Schreckens kommt so nach, wenn die Gefahr längst vorüber ist. Die Grundlage ihres Lebens war unterwühlt, das Fundament, auf dem sie es erbaut hatte, bröckelte, und sie hatte im Rückenmark dieses eigentümliche, ziehende Gefühl wie jemand, der am Rand eines Abgrundes das Gleichgewicht verloren hat und sich im letzten, allerletzten Augenblick noch einmal mit übermenschlicher Anstrengung erfängt. Sie war diesem ewigen Ansturm nicht gewachsen. Gewaltsam suchte sie das Gespräch mit Gontard aus ihrem Gehirn zu tilgen. Und sie griff, jäh entschlossen, nach einem Wort, das gefallen war und an das sie sich jetzt, in fortwährender Wiederholung, klammerte: Ein Kind, ein Kind. Das war der unlösliche Kitt für Hugo, für sie, rettender Ring, Ende allen Zwiespalts. Eine Ehe ohne Kind war nur eine halbe Ehe. Sie wälzte den Gedanken den ganzen Abend und weiter im Bett, als das Licht längst verlöscht war und Hugo mit ruhigen, langen Atemzügen neben ihr schlief. Vorsichtig knipste sie die Nachttischlampe an, setzte sich auf und betrachtete ihren Mann. Sein hübscher, blonder Kopf lag ihr zugewandt, mit dem friedlichen Ausdruck eines Kindes, sein Mund, jung, frisch und ahnungslos, war leicht geöffnet. In aufwallender Zärtlichkeit neigte sie sich tief über ihn und küßte ihn leise auf die Lippen. Er bewegte sich, weiterschlafend und machte mit kläglicher Stimme aus irgendeinem Traum heraus:

»Mmmm!«

Ihr runder, samtiger Arm kroch unter seinen Nacken, ihre Wangen, in süßer Scham und pulsendem Blutschlag gerötet, streichelte sich an sein Gesicht heran. Hugo streckte sich und erwachte mit blinzelnden, verschlafenen Augen.

»Du!«

Es war ein leiser, gezogener Vogelruf aus singender Kehle. Lena hielt mit festem, warmem Griff den Kopf ihres Mannes, ihr Mund stammelte die Sprache küssender Erwartung, so leidenschaftlich, so überströmend, wie er es bei ihr, der Zurückhaltenden, nie erfahren hatte. Ihre Lippen in sein Ohr gewühlt, atmete sie das Wort in ihn hinein, das sie als beglückende, erlösende Vorstellung beherrschte, bittend, schmeichlerisch, lockend aus tiefster Sehnsucht. Sie hauchte es wie ein tiefes Geheimnis mit ertrinkendem Laut:

»Ein Kind, Hugo, ein Kind. Von dir und mir.«

Geschlossenen Auges ließ er sich ihre Zärtlichkeit gefallen. Er schmiegte sich in das weiche Tal zwischen ihrem Kopf und der bloßen Rundung ihrer Schulter und machte ein liebes, doch so schläfriges Jungengesicht.

»Dummchen, liebes, mußtest du mir denn das noch heute sagen. Ich bin doch so müde.«

Und kuschelte sich noch enger an sie heran. Sie wollte ihn an den Schultern packen, ihn schütteln und anschreien. Ihn herausstoßen aus seiner trägen Ahnungslosigkeit. Dann sank sie dumpf zurück, erbittert und mutlos. Laufen lassen alles, wie es lief. Sie blieb regungslos mit aufgerissenen Lidern auf dem Rücken liegen, den summenden Atem des Schlafenden an ihrem Ohr. Die Decke des Zimmers schimmerte weißlich in der Finsternis. Vom offenen Fenster strich ein kühlender Luftzug herüber. Eine große Autohupe schrie warnend ihr Signal in die Nacht.

*

Reisevorbereitungen. Koffer wurden vom Boden geholt. Musterung im Kleider- und Wäscheschrank. Vier Wochen weg von Berlin sein. Andere Menschen, andere Luft, andere Gedanken. Hugo rannte in der Stadt herum und machte Besorgungen. Er hatte Gontard noch einmal gefragt, ob es recht sei, wenn er jetzt auf Urlaub ginge, sonst sei er selbstverständlich bereit – – Gontard hatte nicht geantwortet, aber nicht unfreundlich genickt.

»Der hohe Herr war gnädig. Er hat ja auch in den letzten Tagen klotzig verdient«, berichtete Hugo bei Tisch. »Er kann leicht guter Laune sein. Also übermorgen. Ich danke Gott, wenn ich draußen bin.«

Nach dem Essen schob er voll geschäftiger Eile wieder los. Er war mit seinen Einkäufen noch nicht fertig und wollte noch einmal zur Bank. Wenn man nach drei Jahren zum erstenmal wieder dazu kommt, eine Reise zu machen, so ist das eine große Sache. Auch Lena wurde von der Unruhe des Reisefiebers erfaßt. Krönings und Möllenhoffs hatten beschlossen, gemeinsam zu verreisen. Zu viert ist es netter. Anfangs hatte sich Lena aufgelehnt, schließlich hatte sie, wie meist in solchen Dingen, nachgegeben. Susi kam auf einen Sprung heran, es gab noch soviel zu besprechen. Mitten im Gespräch klingelte das Telefon. Das Bürofräulein sagte:

»Das Kadewe wünscht Frau Doktor zu sprechen.«

Und stellte durch. Lena war verwundert. Sie hatte doch gar nichts im Kaufhaus bestellt. Vielleicht auf Veranlassung Hugos.

»Ja, ich bin's selbst«, sagte sie in die Muschel, »wer ist denn dort?«

»Chauffeur des Herrn Gontard«, antwortete eine Männerstimme. »Ich habe eine dringende Nachricht an gnädige Frau, bitte, mir selbst zu öffnen, damit mich niemand sieht, ich komme in fünf Minuten den Hinteraufgang hinauf.«

Was war das? Lena hängte mit zitternder Hand den Hörer langsam in die Gabel.

»Was ist denn los?« fragte Susi erstaunt. »Was Unangenehmes?«

»Nein, nein. Das Kadewe. Ich muß nur in die Küche, entschuldige, ich muß das Mädchen etwas einholen schicken.«

Nach einer Minute kam Lena zurück, Unruhe in allen Gliedern. Noch nie hatte ihr Gontard eine Nachricht in die Wohnung geschickt. Es konnte die Finte eines Verbrechers sein, der sie allein wissen wollte. Susi wollte gehen.

»Noch einen Augenblick. Ich muß dich noch etwas fragen.«

Lena wollte nicht allein bleiben. Beim Hintereingang ging die Klingel. Lena sprang auf.

»Das Mädchen ist fort. Bleib nur hier. Ich gehe schon allein.«

Vor der Tür stand ein großer Kerl, die breitrandige Sportmütze tief ins Gesicht gezogen, den Rockkragen hochgeschlagen. Lena hatte die Kette vorgehängt. Der Mann murmelte etwas Unverständliches, wie Bettler es zu tun pflegen, schob die Hand durch den Spalt und ließ, ehe Lena etwas sagen konnte, einen zusammengefalteten Briefumschlag fallen. Drehte sich um und ging wieder die Treppe hinunter. Lena hob den Brief vom Boden und riß ihn mit fliegenden, von Aufregung feuchten Fingern auf. Ein Zettel, mit Bleistift geschrieben drei Worte auf ihm:

»Unbesorgt. Schweigen. Vernichten.«

Drei unverständliche Worte in großen, eckigen Buchstaben. Ungelenk fast wie die eines Kindes. Keine Unterschrift. Nichts. Lena schlugen die Zähne zusammen. Hemmungsloses Schütteln riß in ihrem Körper.

»Lena, kommst du bald?« rief Susi aus dem Zimmer. »Ich muß fort.«

»G – – gleich.«

Die Zähne zusammengebissen. Die Hand zerknitterte Zettel und Umschlag. Sie faltete ihn noch einmal auseinander und las die drei rätselhaften Worte. Und als ob sie einen magischen Zwang ausübten, ging Lena gehorsam in die Küche, steckte ein Streichholz an und verbrannte das zerknüllte Papier. Langsam, in jeden Schritt verbissene Willenskraft senkend, ging sie wieder ins Zimmer.

»Wo bleibst du nur so lange?«

»Ich bin so erschrocken. So ein Riesenmensch von einem Bettler – –«

Daß man in diesem Augenblick noch eine Ausrede zu finden vermochte.

»Ist schon wieder gut. Nur im Augenblick – –«

»So was von Nerven! Ist ja schrecklich. Also grüße Hugo. Wie? Danke, werd's bestellen.«

Lena blieb bei der zuklappenden Korridortür stehen. Die Füße wollten sie nicht tragen. Sie mußte sich an die Wand lehnen. Irgend etwas war geschehen. Hugo hatte erfahren. Weshalb dann Schweigen und den Zettel verbrennen? Das gab keinen Sinn. Aber etwas mußte geschehen sein. Schreckliches. Unausdenkbares. In der Bank anrufen. Nein. Nur warten. Warten. Sitzen. Warten. Die Standuhr schlug in Abständen von Ewigkeiten. Das Gehirn hatte keine Gedanken und zählte keine Stunden – –

Um sechs Uhr rief Hugo an. Seine Stimme war kaum kenntlich vor maßloser Aufregung. Die Worte überschlugen sich vor Hast.

»Wir können nicht reisen. Es ist etwas Schreckliches passiert. Gontard ist verhaftet worden. Ich kann dir jetzt nichts sagen, ich weiß selbst noch nichts. Es wird spät werden, warte nicht auf mich.«

Hugo hatte schon abgehängt, Lena konnte nichts fragen. Sie hätte auch kein Wort herausgebracht. Das Zimmer drehte sich. Die Möbel standen schief, der Fußboden hob sich, wo sie stand. Man mußte sich festhalten – – – fest – halten – –


 << zurück weiter >>