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VIII.

Jetzt konnte die Verena nicht fort. Es war unmöglich, aus dem Wirrwarr wegzulaufen. Eine tote Frau, ein kleines Kind im Haus, der Wilhelm in einer Art dumpfen Traumzustands, kein Leiter und kein Meister im Haus! Sie konnte nicht weg, sah ein, daß sie allein den Haushalt zusammenhielt.

Die Hilde war wenige Stunden nach der Geburt des Kindes gestorben, der Arzt hatte es gleich gesagt: »Ihre Kraft reicht nicht aus.« Das Kind aber lebte.

Wilhelm saß an der Leiche. Zu den Mahlzeiten kam er heraus und hinunter in die Backstube. Er aß wie immer und trank mehr als gewöhnlich, sprach fast nicht, hing nur den Kopf, wie vor den Verstand geschlagen. Verena sah, wie er aus dem Geleise geworfen war, verkannte auch nicht, daß nicht nur der Schmerz die Dumpfheit über ihn brachte, daß vielmehr der Wein aus ihn wirkte, den er bei den Mahlzeiten wie mechanisch in sich hineingoß. Ein leiser Ekel faßte sie und sie wunderte sich, daß Wilhelm ihr einmal etwas gewesen war. Gleich darauf aber empfand sie einen dumpfen Schmerz. Gleichgültig war er ihr noch immer nicht, der Wilhelm! Und dann wallte der Zorn in ihr auf. O, über diese Stadt! Gesellschaft bot sie und Freuden und Feste, und wenn einer schwach war, vergiftete er sich daran!

Während ihr das alles durch den Kopf ging, stand sie in der Stube der Base und besorgte das Kind, einen Knaben, ein kleines, noch häßliches Geschöpf. Was sie ihm tat, tat sie weder mit viel Freude noch mit Liebe, tat es, weil es zu den Pflichten des Tages gehörte. Das Kind war ihr fremd.

Jetzt ging die Nebentür auf, und Wilhelm kam herein. Er trug noch immer den Traueranzug, in dem er seine Mutter auf den Friedhof begleitet hatte. Er war seither nicht zu Bett und aus den Kleidern gekommen. Im Vorübergehen streifte er mit der breiten Hand über die Decke, unter der, frisch gewickelt, das Kind im Korbbett lag. Dabei schluchzte er, ging wortlos an Verena vorbei und gegen die Tür. Aber plötzlich wandte er sich um und sah mit seinen blauen Augen, in denen noch das Tränenwasser stand, auf Verena. »Gelt, du bleibst da?« sagte er. Es war das erste klare Wort seit dem fürchterlichen Sterben der Hilde, und er wartete sichtlich mit verhaltenem Atem auf die Antwort.

»Natürlich – – eine Zeitlang,« sagte Verena.

Er näherte sich dem Bett des Kindes. »Zu dem wollen wir gut schauen,« sagte er und betrachtete das Kleine. Das Wort war unbeholfen, aber eine warme Aufwallung hatte es ihm eingegeben. Treuherzigkeit, die der Kern seines Wesens war, lag ihm in Blick und Gebärde.

Verena sah ihn an. So war er der, dem sie gut geworden war. »Natürlich schauen wir zu ihm,« antwortete sie. Dabei näherte auch sie sich dem Korbbett, in dem das Kleine schlief. Dann wallte auch in ihr etwas auf, als hätte sie teil an dem hilflosen kleinen Menschen, der vor ihr lag.

Wilhelm indessen trat hinweg und verließ die Stube. Sie hörte ihn wieder zu seiner toten Frau hinübergehen.

Diese kleine tote Frau legten sie am andern Tag in den Sarg. Es war, als ob sie ein Kind hineinlegten, so schmächtig und leicht war der tote Körper. Wilhelm packte der Schmerz, als er die Tote zum letztenmal sah. »Eine Gute ist sie gewesen,« stieß er heraus. Dann erstickte ihm Schluchzen die Rede. Verena, die neben ihm stand, gab keine Antwort. Sie legte die Blumen zurecht, die auf den Sarg sollten, an dem der Schreiner eben den Deckel schloß. Aber sie konnte sein Wort nicht widerlegen. Eine Gute war sie freilich gewesen, die Hilde, ob auch eine, die keinen Ernst hatte und nicht ins ernsthafte Leben taugte.

Eine Stunde später fand das Begräbnis statt.

Von diesem kam Wilhelm ohne Gäste heim, in sich gekehrt, aber helleren Kopfes. Er kleidete sich um und ging darauf an die Arbeit, freilich nicht ohne die Flasche aus dem Schaft gelangt und ein Glas Wein hinuntergestürzt zu haben. Aber er arbeitete rüstig, wie es seine Art war, bis zum Nachtessen, setzte sich nachher hinter seine Geschäftsbücher und schrieb. Verena schloß den Laden indessen. Dann ging sie nach dem Kinde sehen, bei dem die Friederike saß. Im Davongehen streifte sie den schreibenden Wilhelm mit einem Blick und war neugierig, ob er an diesem Abend zu Hause bleiben würde.

Sie war noch nicht lange oben in der Wohnstube, als sie ihn über die Treppe heraufkommen hörte. Seit er eignen Haushalt geführt hatte, war er nicht mehr so heimisch in der alten Stube. Vielleicht war es darum, daß er anklopfte. »Schläft es, das Kind?« fragte er leise, als er eintrat. Er trug eine Zeitung in Händen, ging am Korbbett des Knaben, in das er einen Blick warf, vorbei und setzte sich an den Tisch. Die Stehlampe brannte. Er breitete sein Zeitungsblatt aus und begann zu lesen. Nachher setzte sich auch Verena mit einer Arbeit an den Tisch, und dann saßen sie eine ganze Stunde und sprachen kein Wort. Aber Verena freute sich, daß er nicht fortging.

Das erste, was Wilhelm sagte, war: »Ja – ich will einmal wieder schlafen gehen.« Es war auch das letzte für heute; denn er stand auf, und sie tauschten nur ein »Gute Nacht,« als er ging.

Dann kam der nächste Tag und brachte Pflichten und Arbeit, von beiden so viel, daß Verena kein Gedanke kam, daß sie das Haus hatte verlassen wollen. Wie der erste Tag war, waren die andern; keiner brachte weniger Last. Wochen hindurch kam Verena nicht dazu, darüber nachzusinnen, daß sie im Hause des Vetters, der einmal ihr Bräutigam gewesen, in einer eigentümlichen Lage sich befand.

Wilhelm ging seiner Arbeit nach. Daß er abends oft fortging, wußte Verena; sie sah es in seinem Gesicht; das Schlemmerleben ließ Spuren genug darin zurück. Sie wunderte sich auch gar nicht, daß er ging. Er saß in einem halben Dutzend Vereinsvorständen. Wenn sie wollte, bewies er ihr Tag für Tag, warum er heute just gehen mußte; es war allemal ein guter Grund da.

Eines Tages kam der Antistes wieder ins Haus, ernst und vornehm wie immer. Er traf Verena beschäftigt, das Kind zu baden. Sie schrak zusammen, als er klopfte, und hatte vor Verlegenheit rote Wangen, als er auf ihr zögerndes »Herein!« eintrat. Sie konnte das zappelnde Kind nicht loslassen; mit der Linken hielt sie es am Halse über Wasser. Die Ärmel ihres schwarzen Kleides hatte sie weit zurückgekrempelt, so daß ihre weißen Arme sichtbar waren. Von dem aufsteigenden Wasserdampf hatten sich ein paar ihrer krausen Locken gelöst und hingen ihr in die Stirn. Ihr Gesicht war sichtlich schmäler als früher.

»Mutter spielen?« sagte der Antistes. Er kam näher und betrachtete das Kind. Von dem glitt sein Blick auf Verena. Dann sprach er das und jenes über das Unglück, das ins Haus gekommen sei. »Es ist brav, daß Sie bei Ihrem Verwandten aushalten,« fuhr er fort.

Verena durchlief ein sonderbares Gefühl. In den Worten des Geistlichen, mehr noch im Ton, in dem er sprach, lag eine aufrichtige Hochachtung, und sie wußte, daß er keiner war, der leicht Anerkennung spendete. Dann aber enthielt seine Rede auch etwas wie eine Forderung, daß sie ihre Pflicht weiter tue. Sie verstand das, ohne daß er es aussprach. Es ging schon von seinem Wesen aus, das das Wesen seines Vorgängers, des Reformators, war. Eine mutige Geradheit trugen beide an sich. Verena schien nichts so nachahmenswert als diese mutige Geradheit.

Sie hatte das Kind gewaschen, schlug jetzt die auf den Tisch gebreiteten Tücher auseinander und wickelte es mit wenigen raschen, sicheren Griffen. »Ich hätte noch nicht fortgekonnt,« sagte sie und sah den Antistes frei an dabei. Dieser nickte. Nach einer Weile sagte er: »Wenn Sie können, sprechen Sie auch Ihrem Verwandten zu, daß er häuslicher wird. Ich höre Schlimmes von ihm.«

Langsam quoll das Blut in Verenas Wangen auf. Sie schämte sich wie nie in ihrem Leben, schämte sich für den – den andern.

»Ich – will es ihm freilich wieder sagen,« stotterte sie.

Der Antistes nahm seinen Hut. »Und – wie gesagt – bleiben Sie im Hause,« sagte er, schon im Gehen.

Dennoch hielt Verena es für ihre Pflicht, am Abend mit Wilhelm zu sprechen und ihm zu sagen, daß er sich nach Ersatz umsehen müsse.

Es war in derselben Stube, die jetzt ihr und dem Kinde gehörte. Das letztere schlief. Wilhelm war gekommen, um gute Nacht zu sagen. Er wollte ausgehen und trug schon den Hut auf dem Kopf. Als Verena zu sprechen begann, sah er sie fassungslos an. »Ist es dir verleidet?« stotterte er. Ein andres Wort fand er nicht.

Es tat ihr leid. »Es muß nicht gleich sein,« sagte sie; »ich werde warten, bis du jemand an meiner Statt gefunden hast.«

Ihr Ton schien ihn zu beruhigen. »Das meine ich auch: Zeit hat es noch,« sagte er. Dabei schnaufte er tief auf, als ob ihm eine Last abfalle. Mit dem »Zeit hat es noch« tat er alles ab. Er legte dann die Hand auf die Türklinke, aber als er sich zum Gehen wandte, schien er sich leise zu schämen, daß er ging.

»Willst wieder fort?« fragte Verena.

»Ich muß,« sagte er.

»Weißt, daß man von deinem Wirtshausleben redet?« fuhr sie fort.

Er hielt noch immer die Türklinke fest und war rot im Gesicht. Verenas Blick hielt er nicht aus. »Das geht niemand etwas an,« murrte er.

»Wer es gut mit dir meint, den geht es an,« sagte Verena. Sie stand an einem Stuhle, die Hand auf die Lehne gelegt. Er brauchte nicht scharf hinzusehen, so konnte er erkennen, daß sie Kummer um ihn hatte. Das quälte ihn. »Das wird nicht mehr anders; das bin ich immer so gewohnt gewesen,« stieß er heraus. »Am Ende: sein Vergnügen muß einer auch haben.«

»Alles mit Maß und Ziel,« warf Verena dazwischen.

»Ich bin nicht der einzige,« gab er zurück.

Da sah sie auf. Ihre Augen blickten ihn ernsthaft und fest an; sie schien an Wesen auf einmal fast älter als er. »Du bist nicht der einzige,« sagte sie; »es ist wahr. Das heimliche Unglück sitzt in manchem Haus. Aber braucht es in deinem zu sitzen?«

Er wußte nichts dagegen zu sagen. Etwas in ihm selber gab ihr recht, und doch ärgerte er sich. Er sah nach seiner Uhr. »Ich habe keine Zeit zu verlieren,« sagte er.

Sie merkte, wie es ihn trieb, loszukommen, und fühlte, wie er gleichsam mit einem Achselzucken abtat, was sie gesagt hatte. Still wendete sie sich ab, und er ging. Nachher grübelte sie über das, was geschehen war. Sie hatte keine Macht über ihn! Und es war nicht erstaunlich! Sie galt ihm nichts. Von der entfernten Verwandten brauchte er keine Ratschläge anzunehmen! Wieder nahm sie sich vor, ihren Aufenthalt in seinem Hause so viel als möglich abzukürzen; aber schon im nächsten Augenblick, als sich das Kind im Wagen leise rührte, wurde der Entschluß wankend. »So – so – so,« tröstete sie den Kleinen. Davonlaufen konnte sie doch nicht!

Davonlaufen konnte sie nicht, und Ersatz kam nicht ins Haus. Sie mahnte den Vetter ein paarmal. Der murmelte etwas; im Ernst tat er nichts. Die Zeit ging darob. Das Kind wurde getauft, evangelisch getauft. Die Zerahnin war gekommen: Das Kind sollte den Glauben der Mutter haben, meinte sie. Wilhelm zeigte ihr gegenüber die alte Festigkeit. »Da gibt es nichts anders,« sagte er. »Der Antistes tauft das Kind.« Es war wieder einer von den Augenblicken, da er den Mann zeigte. Verena klopfte das Herz. Wenn er in allem so fest sein könnte! Die Zerahnin zog ab.

So taufte der Antistes den Knaben auf den Namen des Großvaters: Balthasar. Verena und ihr Bruder standen Pate. Wilhelm hatte es so gewollt. Als sie das Kind dem Geistlichen hinhielt und ihr klar war, daß sie ein Amt an ihm übernahm, empfand sie zum erstenmal, daß es ihr lieb geworden.

Das Gefühl, vor dem Taufstein erwacht, wuchs von da an wie der kleine Balthasar selber. Der ging durch alle die kleinen Fortschritte, die das Gedeihen eines Kindes ausmachen. Die blonden Haare wuchsen ihm seidenweich und gelockt. Es zeigte sich, daß er die blauen Augen des Vaters und die weiße Haut der Mutter hatte. Er lernte Laute stammeln, sprechen und gehen und jauchzen und lernte großen Menschen das Herz wärmen. Verena und Friederike, die Magd, selbst die Gesellen waren bald inne, daß das Kind ein Sonnenschein im Hause war, und hatten alle helle Gesichter in seiner Nähe. Auch Wilhelm freute sich an ihm manchmal, wenn die Augen klar genug waren, im eignen Hause zu sehen; aber das war nicht oft, denn das Haus kümmerte ihn nicht viel. Auch des Geschäftes nahm er sich weniger an. Verena war da und hielt alles in Ordnung, wußte auch, daß sie da sein mußte, und fühlte, daß es ohne sie nicht gehen würde. Ihre Gestalt und ihr Gesicht wurden hagerer in dieser Zeit. Sie war nicht mehr ganz jung; etwas Eckiges, Herbes kam in ihr Wesen, obwohl sie noch immer hübsch war und sich in diesen Tagen eines Antrages zu erwehren hatte, den ein ehrlicher und wohlhabender Handwerker in der Nachbarschaft ihr machte. Vielleicht entstand aus dem Erstaunen, das unter den Nachbarn über die Zurückweisung dieses Freiers herrschte, das Gerede, das einige Wochen später die Friederike Verena zutrug: daß der Aufenthalt der ehemaligen Braut im Hause des Witwers sich nicht schicke! Verena biß die Lippen zusammen, und es überlief ihr heiß den Rücken. Richtig, sie hatte sich lange gewundert, daß nicht geredet worden war! Und jetzt – da es kam –, jetzt müßte sie gehen! Aber, mein Gott! Das war nicht leicht! Das Kind, wer sollte zu dem schauen und zu dem armseligen Menschen, dem Wilhelm, seinem Hab und Gut? Wenn sie ging – er ließ alles zuschanden werden, so weit, wie er jetzt war! Dennoch sah sie keinen andern Weg.

Am Abend, als Wilhelm Hut und Rock von der Wand in der Backstube langte und sich zum Ausgehen rüstete, sagte sie: »Ich hätte noch etwas zu reden mit dir.«

Sie waren allein. Er machte ein verdrossenes Gesicht. »Was gibt es?« murrte er.

»Sie reden von uns – in der Nachbarschaft,« begann sie. »Ehre und guten Namen kann ich mir nicht nehmen lassen. Sieh zu, daß du bis in drei Wochen jemand bekommst ins Haus. Länger kann ich nicht bleiben, keinen Tag länger. Es ist das letztemal, daß ich es sage.«

»Immer das gleiche,« sagte er barsch und hoffte wie früher ihr auszuweichen.

Verena achtete nicht darauf. »Jemand für das Kind und jemand für den Laden mußt nehmen,« fuhr sie fort.

Er lachte kurz. »Und was noch?« sagte er. »Meinst, ich schüttle mein Geld aus dem Ärmel?«

Es war etwas Wahres daran. Er konnte sich die Ausgaben nicht leicht gestatten. Verena schwieg einen Augenblick. Derweilen hob Wilhelm das nicht mehr junge Gesicht und sah sie aus den mit schweren Schatten untermalten schläfrigen Augen forschend und gedankenvoll an. Mit der Hand strich er einmal durch das sich lichtende Haar.

»Es muß einen Weg geben,« begann Verena wieder. Da begegnete sein Blick dem ihren. »Pah,« murrte er verdrossen, »so laß uns heiraten zusammen.«

Sie fuhr zurück. Ihre Augen blitzten zornig. Dann kam das Blut und färbte ihr ganzes Gesicht. Er sah es, und es rüttelte ihn auf. Er schien sich der Vergangenheit zu erinnern. »Ich weiß schon noch,« begann er stotternd. »Jetzt ist es anders, aber – – – ich meine es, Vrene, sicher – ich bin dir dankbar, wenn du es tust.«

Seine Worte klangen jetzt dringend, fast ängstlich, aber Verena fühlte, daß er nur war wie ein Ertrinkender, der eben nach der Rettung greift, die sich just bietet. Dennoch brachte sie kein Wort heraus.

Er ging hin und warf sich auf einen Stuhl. Schwer und gedrückt saß er da. Er war viel anders geworden gegen früher, noch breiter in den Schultern, aber aus dem Gesicht sah das böse Leben.

Verena besann sich immer. Sie mußte ihm »nein« sagen und das Wort fiel ihr ein, und wenn sie sprechen wollte, würgte es sie.

Jetzt erhob er sich wieder. »Überdenk's!« sagte er mühsam wie vorher; aber immer klang auch die Angst noch im Ton. »Ich weiß es, daß ich dir dankbar sein muß, wenn du es tust, für das Kind und mich,« fügte er hinzu.

»Was denkst?« stieß sie jetzt hastig und verwirrt heraus.

»Überleg's!« sagte er wieder. »Kannst mir morgen Bescheid sagen oder –« Mit diesen Worten schob er sich langsam an ihr vorbei, der Tür zu. »Gute Nacht!« grüßte er dann plötzlich. Verena hörte, daß er aufatmete, als er auf die Schwelle trat und sie ihn nicht zurückrief. So ließ sie ihn gehen. Dann sammelte sie ihre Gedanken. Sie mußte ins klare kommen, was geschehen sollte. Oben in der Stube der Base wollte sie sich alles zurechtlegen.

Es war ganz dunkel im Zimmer, als sie dieses erreichte. Der Kleine schlief. Verena setzte sich ans Fenster. Die Nacht hatte nicht einmal Sterne, so hing das Stück Himmel wie eine schwarze Decke über ihr. Einzig aus der Tiefe der Gasse herauf kam zuweilen ein roter Schein, der wie das Aufzucken einer Flamme über die jenseitige Hausmauer glitt. Unten brannte eine Laterne. Verena sah in das einförmige Schwarz des Himmels hinaus. Auch wenn es hell gewesen wäre, würde sie nichts gesehen haben, denn ihr Blick ging nach innen. Zu einem Entschluß mußte sie kommen!

Fort mußte sie! Und es ging doch nicht! Es schien ihr wider das Gewissen zu gehen! Und – was hatte er gesagt, der Wilhelm? – heiraten zusammen!

Ihre Lippen zuckten. »Was für eine Freude du haben kannst an dem Antrag, Verena!« sagte sie sich. Er nahm sich nicht die Mühe, zu verbergen, daß er sie aus Not nahm! Das war anders – Herrgott – anders war das, als sie vor Jahren einmal gemeint hatte, daß es kommen würde! – Aus Not! – Aber, das war es eben! Das ließ sich nicht mehr auswischen, daß sie ihm nötig war, bitter nötig. Und feig war es, fortzulaufen, und selbstsüchtig!

Sie stand auf. Es rang sich etwas los in ihr. Mit dem Rücken lehnte sie gegen das Fenster. Not tat sie ihm! Nun denn! So lange hatte sie schon ausgehalten! Warum nicht auch das noch tun! Aus Not! Aus seiner großen Not!


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