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Ernst Zahn.

Wenn der Deutsche auf seiner Fahrt nach Italien in Göschenen vor dem Eingang in den Gotthard aussteigt, um im Bahnhofrestaurant schnell ein gutes Mittagessen zu tilgen, so hat er Gelegenheit, einen Wirt zu sehen, der ernst und still umhergeht, die Fremden mit einer leichten Verbeugung grüßt, mit prüfendem Auge die eifrigen Kellner in ihrem Dienst beobachtet und geräuschlos Befehle und Winke erteilt, damit jedermann gut bedient werde. Kaum einer der Reisenden hat eine Ahnung, wer dieser Wirt mit der hohen Stirn und den ruhigen Augen ist. Auch die Schweizer wissen es in der Regel nicht. Und doch kennen ihn Tausende diesseits und jenseits des Rheines und zählen ihn zu ihren Lieblingen. Es ist Ernst Zahn, der Dichter. In andern Ländern möchte man wohl darin eine arge Disharmonie sehen, daß einer ein Wirt und ein Dichter zugleich sei. Allein in der Schweiz blüht noch die alte Eigenart; die meisten Dichter haben ihren besonderen Beruf und fühlen wie der Altmeister Gottfried Keller, daß die Stunde des dichterischen Schaffens eine tiefe Erholung von des Tages ernster Arbeit ist, in welcher sich das Wertvolle und Bleibende des Alltags verdichtet zum poetischen Kunstwerk. Alle diese Schweizerdichter leben still für sich, keiner will Schule machen, sie sehen sich selten, sie drängen sich in keine literarischen Vereine, um bewundert zu werden. Man weiß von ihrem Leben wenig. Und das ist gut. Die Eigenart bleibt dadurch rein und keusch, und die Kunst hat ihren reichen Gewinn davon.

So schafft Ernst Zahn in dem Bergdorf Göschenen im Lande Uri. Der große Heerstrom der fremden rauscht lärmend an ihm vorüber, sein Blick bleibt doch wie auf ein fernes Ziel gerichtet, während die Seele unter dem Lärm des Tages denkt und dichtet. Abends geht er dann heim in seine kleine Villa zur »Bergruh«; sie steht abseits am schmalen Weg in die Göschener Alp auf einer sonnigen Matte; der herrliche Dammafirn leuchtet auf das Eigen hernieder und zur Rechten und Linken ragen die gewaltigen Felsburgen des Salbitschin und der Spitzliberge. Das Liebliche, Leuchtende und das Finstere, Drohende sind hier so nahe und eigenartig beisammen, daß man den Dichter um seinen Lugaus beneiden muß. Auch der Künstler steht unter dem Einflusse der Umgebung. So findet man denn in Zahns Dichtungen die ganze Eigenart der Bergwelt und ihrer Bewohner wiedergespiegelt als künstlerischen Reflex.

Ernst Zahn wurde geboren 1867 in Zürich. Seine Eltern waren daselbst Wirtsleute. Erst schien der Knabe wenig zu taugen, plötzlich aber entfaltete er sich, als die richtige Erziehung eintraf. Er sollte auch Wirt werden. Zu diesem Zwecke ging er nach Frankreich und England, um da die Landessprachen und den Hoteldienst kennen zu lernen. Der Vater wurde dann Bahnhofwirt zu Göschenen, und so kam Ernst Zahn, kaum mehr als zwanzigjährig, auch dahin. Nach wenigen Jahren übernahm er das Geschäft, nachdem er sich glücklich vermählt hatte. Daß er jung in die Berge zog, war ein Glück, denn da war seine Seele noch ungemein empfänglich für die neuen zahllosen Eindrücke in der ihm bisher nahezu fremden Gebirgswelt. So wurde er denn zum eigentlichen Alpendichter der Schweiz, feine Novellen, Romane und Dramen haben fast alle das Gebirge als wirkungsvollen Hintergrund. Gar nicht selten treten die Berge in den Vordergrund und wirken gewaltig mit an der Gestaltung und Verschlingung menschlicher Schicksale. Das ist aber eben das Neue und Bedeutende in Zahns Schöpfungen, und hierin übertrifft er J. C. Heer, Rosegger und Ganghofer wesentlich. Das ursächliche Verknüpftsein des Menschen mit der ihn umgebenden Natur, der Kampf und die Auflehnung gegen die Elemente, die zähe Liebe und Treue zum angestammten Boden, der doch so launisch ist – das darzustellen versteht Zahn, hart und rauh wie die Schroffen und Schluchten, lieblich und weich wie die Alpwiesen, aufleuchtend wie der vom Frühschein bestrahlte Firn dunkel wie die düstern Lärchen- und Tannenhänge, so sind auch die Menschen, die da wohnen. Das Naturleben in den Alpen ist viel kampfreicher als das des Hügellandes oder der Ebene. Weichste Lyrik und gewaltige oft brutale Tragik wechseln fast ununterbrochen. Die beständigen Kontraste der Natur und ihres Lebens wirken zurück auf das Volk, das diese Stätten bewohnt. Dadurch bekommt es jenen kurzen Gruß, jene karge Rede, hinter welcher man irrtümlich verkümmerte Seelen wittert, jene Verschlossenheit der Energie, der zähen Ausdauer und des raschen Handelns und Entschließens, jene erstaunliche Leistungsfähigkeit, welche die alten Eidgenossen im Kampfe mit Österreichern und Franzosen an den Tag legten; aber auch jenen wilden, verhängnisvollen Trotz, welcher kraftvolle Menschen in Schuld und Unglück bringen kann. – Gleich in seiner preisgekrönten Jugendnovelle » Kämpfe« 1893 führt uns Zahn solche Menschen vor Augen. Liebe und Haß, Aufbau und Zerstörung kämpfen hier verzweiflungsvoll miteinander, bis die tragische Katastrophe kommt. Die Szenerie zu dieser dramatischen Geschichte liefern der Gotthardpaß und die Gegend von Andermatt und Göschenen. Zahn denkt bescheiden von dieser Novelle, obschon sie selbst mit Gottfried Kellers »Romeo und Julia« schon verglichen worden ist. Denselben Reichtum an Handlung und an prachtvollen Naturschilderungen zeigte das mit Leidenschaft geschriebene Novellentrio » Bergvolk« 1896. Unheimlich scharf, ja schier übermodelliert erscheinen hier die Charaktere. Es gärte eben im Dichter, und die Menschen, die er hier vorführt, sind alle in heftiger Gärung, wie finsteres Wolkengeschwader liegt es darüber; Föhnluft ist es. Der Jugend liegt entschieden die Novelle besser als der Roman. Erst eine reifere Lebenserfahrung, reich an Erlebnissen und Beobachtungen, vermag epische Dichtung zu gebären. So mißlang denn im Aufbau der historische Roman » Erni Behaim« 1898, obschon die Vertiefung der Psychologie hier deutlich auffällt. Ganz bedeutend wurden dagegen die neuen Novellen » Menschen« 1899. Wahrhaft erschütternd ist darin die Erzählung »Menschen,« in welcher Zahn mit siegreicher Kühnheit ein Problem behandelt, welches auch in der Weltstadt drunten seine dunklen Schatten wirft, nämlich: Darf der starke Mann, so er ein unbedeutendes geringes Weib hat, bei einem reinen Mädchen um Liebe heischen und gewähren, ohne sich zu bemakeln? Der Dichter antwortet ja, wenn auch seine Novelle tragisch endet, indem die sich hingebende Hansi mit ihrer Leibesfrucht in der Lawinennacht den Tod sucht, um den Ruf des geliebten Mannes zu retten. – – Weniger Beachtung fanden die Novellen und Skizzen » Echo« 1901. Um so mehr schlugen ein der historische Roman aus der Franzosenzeit » Albin Indergand« und die Bauerngeschichte » Herrgottsfäden.« Beide sind ungemein lebhaft, dramatisch, reich an Kontrasten. Man merkt, wie Zahn gewisse Charaktere immer schärfer und deutlicher herauszumeißeln versucht, so daß sie zuletzt mit plastischer Schärfe vor uns stehen, besonders jene kraftvollen Eisennaturen, deren freie Persönlichkeit immer wieder in Konflikt kommt mit der eisernen Notwendigkeit der Alltäglichkeit. Gerade diese Menschen unterliegen leichter als Normaltypen einer Wallung des Blutes und verwirken sich dadurch in schwere Not und Schuld und Sühne. Aber um so schöner und mächtiger tauchen sie nach der Gärung aus der Schmutzwelle hervor. Durch Taten und Einsetzung ihres besten reinigen sie sich von Schuld und Fehle. Größe ist es also, was Zahn darzustellen sucht, Größe des Menschen im Gebirge.

Die Stärke unsres Dichters liegt einstweilen entschieden in der Novelle. Das zeigt die Novellensammlung »Schattenhalb« 1903. Wie grandios ist hier das Erwachen eines großzügigen Weibes nach einer unseligen Verirrung gezeichnet, und wie furchtbar muß es kämpfen und büßen für jene dumpfen Minuten, wo es kaum recht wußte, was Sünde war. Zahns Kenntnisse der menschlichen Seele sind hier schon so sehr gewachsen, daß die Novelle »Schatten« allein ihn zum Dichter stempeln könnte. 1904 erschien der Roman »Clari-Marie,« eine Verherrlichung der Nächstenliebe, und 1906 endlich das reiche Novellenbuch »Helden des Alltags.« Die Erzählungen waren vorher schon in verschiedenen Zeitschriften erschienen, so in der deutschen Rundschau die tiefe Novelle »Verena Stadler.«

Während Zahn bisher seine Geschichten fast ausnahmslos im Gebirge sich abspielen ließ, so scheint er in der neuesten Zeit wieder mehr nach der Stadt hin zu blicken. Da der Dichter bedeutend gestiegen ist in der Analyse von verwickelteren und subtileren Seelenzuständen, so darf uns diese Erweiterung seines Novellenbezirkes nur freuen. Dann kann er in Deutschland erst recht empfangen werden als ein würdiger, selbständiger Nachfolger von Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer.

Als Lyriker ist Zahn fast unbekannt. Schon 1894 war ein Bändchen Gedichte » In den Wind« erschienen. Es enthielt Liebesreime, Bilder aus der Natur, Lieder eines Alten, Bilder aus Haus und Welt, Widmungen und Gelegenheitsverse. Der Dichter hat seither dieses Feld persönlichen Empfindens längst verlassen und ist zum objektiv arbeitenden Manne herangereift. Dadurch kam er um die Klippe der Einseitigkeit glücklich herum. Die Jugendphase »der subjektiven Lümmelei,« wie sich Keller hierüber auszudrücken pflegte, macht eben jeder Künstler durch, jene Periode entsetzlicher Seelenstürme, welche hart am Grabe vorbeiführen, während eben dieselben Gewitter das Herz mit denjenigen Blitzfunken laden, aus welchen später bei reifem Können die großen Werke gemacht werden. Spitteler Carl, Lachende Wahrheiten 1905. »Die Persönlichkeit des Dichters.« Die Novellen »Bergvolk« mögen uns also verständlich sein. Am besten sind damals die Liebesreime geraten mit ihrer feinen und doch starken Empfindung, sei es, daß sie erstes Begegnen und Erwachen der Liebe besingen, oder das Finden, Besitzen, Sehnen und Verlieren. Als Probe das kleine

Wie alles kam.

Wie alles kam? – Ja, wer das wüßt',
Wie alles so gekommen ist! –
Erst war's ein stumm verloren Schaun
Und dann ein wundersam Vertraun,
Erkennen dann und dann Verstehn,
Ein tief dir in die Augen sehn.
Ein Schweben zwischen Glück und Qual,
Und Liebe ward's mit einemmal! –
Nun halt ich dich, du süßes Kind,
Und halt dich fest und halt dich lind.
Und durch die Brust ein Beten glüht:
Daß Gott dich hüt!

Auch in der Ballade hat sich Zahn versucht, aber ohne jene spielende Schmiegsamkeit in Form und Ausdruck zu erlangen, wie sie Schiller, Goethe, Uhland und C. F. Meyer haben.

Als Dramatiker kennt man ihn in Deutschland wenig. Und doch, glauben wir, hat unter den lebenden Schweizerdichtern keiner so viel dramatisches Denken und Gestaltungsvermögen in sich wie er. Bis jetzt hat er zwei Stücke geschrieben, das Versdrama » Sabine Rennerin« und das Volksstück » Josepha.« Beide wurden auf Schweizerbühnen in Bern, Zürich und St. Gallen mit Erfolg gespielt. Heroische Frauengestalten mit großer Freiheitsliebe und erschütterndem Aufopferungsvermögen zeichnet Zahn gern auch in seinen Novellen. Vielleicht gehören sie auch besser dahin als ins Drama, wo das männliche Element sein Gebiet hat. – Der große Wurf, auf welchen man auch in Deutschland wartet, muß kommen. Dann gibt Zahn der Schweiz auch ihren Dramatiker. Ein vortrefflicher Novellist wird er trotzdem bleiben.

Zofingen, August 1906.
Dr. Heinrich Ernst Jenny.


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