Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Am andern Tag tat der Vetter Wilhelm, als ob nichts geschehen wäre. Als Verena und seine Mutter am frühen Morgen in die Backstube traten, richtete er seinen schweren, nackten Oberleib von der Teigmulde auf und sagte laut sein: »'Tag! Leid ihr auch schon auf!«

Verena, die seinen Blick suchte, war es, als meide er den ihren, denn er bückte sich rasch wieder über seine Arbeit. Im Laufe des Vormittags kam er zu den Frauen in den Laden. »Jetzt will ich verschnaufen,« sagte er, stellte sich hin und riß Witze in seiner polternd-trockenen Art. Plötzlich unterbrach er sie mit den an Verena gerichteten Worten: »Schön war es auf dem See gestern, gelt?«

Die Base Katharina, die nicht von ihrem Strickstrumpf aufblickte, sagte, eine Masche aufnehmend: »Sie hat erzählt, daß es schön gewesen sei, die Vrene.« Diese fing dabei einen Blick Wilhelms auf, aber nicht den, nach dem sie hungerte. Er schien ihr wohl vertraulich zuzuwinken, zugleich aber war es, als ob er heimlich über das, was gestern gewesen, lachte. Verena beugte den Kopf. Die Ladentür ging. Sie aber ließ die Base den Kunden, der eintrat, bedienen; ihr stieg langsam und dunkel das Blut in die Wangen. Wilhelm ging in die Backstube zurück.

Als Verena eine Weile später dort an ihm vorbei mußte, um etwas aus der Wohnung zu holen, faßte er ihren Arm und drückte ihn zärtlich, wieder aber nur wie zum Spiel. Ein stiller Zorn überkam sie. Sie sah ihm groß und fest ins Gesicht. Er versuchte zu lachen, aber es mißlang ihm, und er wurde verlegen. Da riß sie sich unsanft los und ging.

Dann ging der Morgen so hin. Die Essenszeit kam. Wilhelm machte ein verdrießliches Gesicht. Um Verenas Nasenflügel ging das leise Zittern wie immer, wenn sie erregt war, und sie sprach nicht. Darob wurde die Base aufmerksam, »Habt ihr etwas miteinander?« fragte sie.

»Dummes Gefrage! Was sollen wir haben!« gab Wilhelm schroff zurück; er hatte oft eine rauhe Art. Die Base wandte sich zu Verena. »Du?« fragte sie, als erwarte sie von ihr Bescheid. Aber diese antwortete dasselbe, nur weniger grob: »Nein, Base, was sollen wir haben!«

Weil sie ungemütlich war, war die Mahlzeit bald zu Ende. Der Gesell und die Magd schoben die Teller zurück und standen zuerst auf. Dann erhob sich Wilhelm geräuschvoll und ging durch den Laden und hinaus. Als eine Weile nachher Verena und die Base in den Laden zurücktraten, sahen sie ihn mit verschränkten Armen neben einem Nachbarn im Hofe stehen. Sie blickten nach der Straße hinüber, wo nach der Mittagspause das Leben und Treiben neu und geräuschvoller anhob, und unterhielten sich lachend. Einmal rief Wilhelm ein vorübergehendes junges Mädchen an; Verena sah es deutlich, wie es rot wurde und einen Scherz verlegen zurückgab. In diesem Augenblick verdunkelte ein großer Möbelwagen die Aussicht und hielt eine Weile dicht vor dem Hofe.

»Das ist der Modistin ihre Fuhr,« sagte die Base zu Verena. Dann streckten sie beide die Hälse. Es war ein Ereignis, daß in der nächsten Straße, der Münstergasse, ein unbekannter Mensch einzog. Die ganze Nachbarschaft hatte seit einigen Wochen davon gesprochen, klatschte von der Putzmacherin, die da einziehen wollte, daß sie ein großtuerisches Wesen, mit ihrer hohen Erscheinung und ihrem schneeweißen Haar ein auffallendes Aussehen habe, und – daß eine Putzmacherin alleweil nichts bürgerlich Ehrbares sei!

Der Wagen fuhr jetzt weiter und die Münstergasse hinan. Die Base und Verena, auch Wilhelm nach einer Weile gingen an ihr Tagwerk. An demselben Abend bekamen sie im Höflein einen neuen Kunden.

Es war lange dunkel. Im Laden brannte die Petrollampe. Tag und Geschäft wollten still werden. Da ging die Ladentür und ließ Hilde Zehran herein. Sie ging auf feinen kleinen Schuhen; von den weißen Strümpfen blitzte beim Gehen noch just ein Schimmer unter dem hellen, der Herbstzeit nicht mehr angemessenen Kleide hervor. Um den Kopf hatte sie ein weißes Tuch geschlungen. Einzelne blonde Locken machten sich frei darunter und fielen in Stirn und Schläfen. Ihr Gesicht war sehr weiß, die Züge beinahe verschwommen, so weich waren die Linien. Über den blauen Augen lagen weißblonde Brauen, so daß sie kaum sichtbar sich von der Haut abhoben.

»Guten Abend,« sagte Hilde. Ihre Stimme klang zimperlich, und dieselbe Zimperlichkeit lag in ihrem Wesen, aber sie paßte zu der kleinen, leichten Gestalt.

»Ein Weißbrot möchte ich haben,« lispelte sie.

Verena gab es ihr hin und nahm ihr das Geld ab. Inzwischen hatte Wilhelm von der Backstube her die Fremde erblickt und kam in seiner sauberen Oberschürze herüber. Er rückte die kleine, mehlweiße Kappe, die er auf dem dichten Blondhaar trug, und sagte ein: »Guten Abend, Fräulein!« Da sah sie auf, lächelte und grüßte wieder. »Ich werde jetzt oft kommen,« sagte sie zu den Frauen, während sie sich der Tür zuwendete; »wir sind eben eingezogen drüben an der Münstergasse.«

»Ah so,« sagte freundlich die Base. Sie hatte untätig gesessen, den Blick auf das Mädchen geheftet.

Dieser tat jetzt Wilhelm die Tür auf; darüber erstaunt, sah sie im Hinausgehen zu ihm auf, lächelte wieder, zirpte ein: »Gute Nacht!« und trippelte hinaus.

»Der Modistin ihre Tochter, der Zerahnin ihre,« sagte die Base.

»Das ist eine wie von Porzellan,« sagte Verena und meinte es; zum erstenmal in ihrem Leben war sie sich neben der andern wie ein arger Bauernklotz erschienen.

Wilhelm schloß hinter jener gemächlich die Tür. »Gefallen könnte einem die,« sagte er offen. Die Base sah zornig zu ihm auf. »Einen schönen Geschmack hast,« sagte sie.

Da lachte er und entwaffnete die Mutter mit dem andern Wort: »Unsre Verena ist schöner, das gebe ich zu.« Dabei schaute er Verena an, und es war, als komme ihm die gute Laune plötzlich zurück, die ihm den ganzen Tag gefehlt hatte. Er setzte sich zu den Frauen hinter den Ladentisch und begann in seiner gemütlichen Art von dem und jenem zu erzählen. Auch auf die Zerahnin, die Putzmacherin, kam er nachher wieder. »Einen Haufen Verehrer soll sie haben, trotz ihrer weißen Haare,« berichtete er.

»Das kann ich mir denken,« sagte die Base.

»Eine Deutsche ist sie,« erzählte er weiter.

»Und katholisch,« fügte die Base hinzu. Es war, als habe sie einen Stecken im Rücken, als sie das sagte, und die Haut ihrer bleichen Backen lag straff, so hart setzte sie die Lippen zusammen.

Verena saß ganz still. Ihr tat das Herz weh. Sie mußte immer heimlich den Vetter Wilhelm ansehen und fragen: »Bist du's wirklich? Bist du der gleiche von gestern?« –

Zu dem, der auf dem See gewesen war, wurde der Vetter Wilhelm auch die nächsten Tage und Wochen nicht. Er war freundlich, war die Fröhlichkeit im Haus, wie er sie immer gewesen war, aber was auf dem See geschehen, schien er vergessen zu haben. Und je mehr Verena dessen inne wurde, desto mehr überkam sie ein Gefühl heißer Scham. Sie fühlte, wie das Blut in ihr stieg, wenn sie an jenen Abend dachte, und sie hätte die Hände vors Gesicht schlagen und entlaufen mögen. So schämte sie sich.

Da half ihr eine schwere Last, die ihr auf die Schultern fiel, die Last ihres Innern leichter tragen. Die kränkelnde Base wurde kränker. In einer Nacht hob es an. Die Base Katharina hatte einen Erstickungsanfall. Am andern Morgen vermochte sie sich nicht zu erheben. Dann wiederholten sich die fürchterlichen Beengungen. Solange sie dauerten, war es wie ein bitterer Krieg zwischen Leben und Tod. Das Leben siegte immer noch, aber der Körper war erschöpft, und als die Base endlich so weit wieder genas, daß sie außer Bett sein konnte, reichten ihre Kräfte doch nur zu dem kurzen Gang vom Lager zum Stuhl am Fenster. Verena pflegte sie, soweit ihr Zeit blieb, »Wenn du nicht wärst, wäre ich lange tot,« sagte die Base zu ihr. Wenn sie des Tages die fürchterliche Atemnot befiel, kam die Magd in den Laden gelaufen, den Verena an Stelle der Base bediente: »Vrene, komm!« Nachts lag Verena in der gleichen Stube mit der Kranken und hatte wenig Schlaf; alle Augenblicke kam der keuchende, angstvolle Ruf: »Vrene!« vom Bett der Base her.

Unmerklich wuchs die junge Verena so zu der heran, um die sich im Waserschen Hauswesen alles drehte. Von Wilhelm sah sie fast weniger als früher. Er arbeitete schweigend und fleißig, denn das Geschäft ging gut. Weil er aber an der Mutter hing, trotzdem er oft rauh zu ihr war, war ihm nicht zum Scherzen wie sonst. Die Sorge um die Kranke machte ihn wie Verena wortkarg, so daß sie manchmal in Gedanken an die, die oben litt, in den Untenräumen, ohne aufeinander zu achten, still aneinander vorübergingen. Dabei war es erstaunlich, daß Wilhelm nicht gewahr wurde, wie Verena allmählich in allem an die Stelle der Mutter gerückt war, und weder ihre stumme Pflichttreue noch die Geschicklichkeit, mit der sie allen Pflichten nachkam, bemerkte. Eines Abends saßen die drei in der Wohnstube beisammen. Die Base und Verena sprachen von den Geschäften, die der Tag gebracht hatte. Die Alte wollte vieles wissen, ob das getan und jenes besorgt, dieses begonnen und jenes befohlen sei. Verena hatte zu zehn und mehr Malen nur eine Antwort: »Ja, Base, es ist alles geordnet.« Da drängte sich der kranken Frau mehr noch als sonst die Erkenntnis auf, wie das Mädchen ihr unentbehrlich und eine große Stütze geworden, und weil sie selber für den Dank, der in ihr lebendig war, nicht das richtige Wort fand, blickte sie unwillkürlich nach dem Sohne hinüber, als erwarte sie von diesem, daß er ihr reden helfe. Er hatte, über einer Zeitung sitzend, dessen kaum acht gehabt, was gesprochen worden war; die Base aber erzürnte sich darob und wandte sich jäh zu ihm mit den Worten: »Hast gehört, was sie alles tut, die Vrene?«

Aus dem zornigen Ton ihrer Stimme erkannte er, was sie meinte. Er lachte. »Ja, ja, sie wehrt sich,« sagte er.

»Wehrt sich,« schmälte die Base, »jawohl; wehrt sich – Gott können wir danken, daß sie uns ins Haus gekommen ist.«

»Redet doch nicht so,« wehrte Verena und versuchte dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, was ihr nach einiger Mühe gelang. Sie bemerkte aber, wie Wilhelm gleichsam verdutzt sie darauf heimlich beobachtete, als beginne die Wahrheit, die in den Worten seiner Mutter lag, sich ihm erst jetzt aufzudrängen. Er begann auch von da an, Verena eine scheue Höflichkeit zu zeigen, neben der die leichtfertige Fröhlichkeit, mit der er die Erinnerung an jene Seefahrt auszulöschen bemüht gewesen war, nicht mehr Raum hatte. Anerkennung hatte er aber auch fürder nicht für sie, schien vielmehr je länger desto mehr Verenas Wirken als selbstverständlich und sich so gehörend zu betrachten und ihre Gegenwart als etwas lang Gewohntes und Alltägliches kaum mehr zu beachten.

An den Mahlzeiten nahm die Base schon lange nicht mehr teil. Verena und Wilhelm aber waren schweigsame Esser. So lag die Unterhaltung bei der Magd und den Gesellen, von denen seit einiger Zeit zwei im Hause waren. Einmal nun fügte es sich, daß die letzteren auf die Putzmacherin Zerahn in der Nachbargasse zu reden kamen. »Da geht's lustig zu, bei der, meine ich,« hob der eine an.

»Den ganzen Laden hat sie oft voll Mannsvolk stehen,« sagte der andre.

Die Magd fiel mit den Worten dazwischen: »Der Alten machen sie den Hof und die Junge meinen sie.«

Da drehte Wilhelm plötzlich den Oberkörper, der schwer auf beiden Ellbogen geruht hatte, seitwärts und murrte über die Achsel hin: »Gelt, kehrt vor euern Türen, ihr drei, und laßt andre Leute in Frieden.«

Er sagte das schwerfällig und gewichtig, und der Zorn bebte heimlich in seiner Stimme. Dem Gesindevolk blieben einen Augenblick Worte und Bissen im Munde stecken, und geraume Zeit war es nachher ganz still am Tisch. Verena aber bedrängte etwas, warum erregte er sich der fremden Leute wegen? Es fiel ihr zum erstenmal ein, daß der Vetter oft um den Weg war, wenn das spielhafte Ding aus der Nachbargasse, das Zerahnmädchen, in den Laden kam, und ein leiser Argwohn regte sich in ihr. Sie sah Wilhelm fest an. Der aß, über seinen Teller geneigt, etwas Störrisches in der Haltung, und blickte nicht auf. Sie wußte, daß er grob wurde, wenn sie ihn jetzt anredete, und schwieg deshalb. Dann aber, während sie mechanisch und langsam ihren Teller leerte, begann etwas in ihr zu zittern und weich zu werden, wuchs und drängte; es war, als müßte sie dem Wilhelm die Hand auf die Schulter legen: »Du, schöner wollen wir es haben zusammen! Besser zusammenhalten wollen wir – schon der Base zulieb.« Das Herz klopfte ihr, aber sie blieb sitzen. Es ging ja nicht, daß sie das sagte. Dann läutete die Ladenglocke und sie mußte hinüber, einen Kunden zu bedienen.

Am gleichen Abend sah Verena den Wilhelm mit der Hilde Zehran an einer dunkeln Ecke des Hofes stehen. Es war eine Nebelnacht, das Pflaster der Straße war feucht, die Ladenfenster warfen einen trüben roten Schein hinaus. Die beiden Gestalten waren schwer zu unterscheiden. Verena kannte aber den Vetter an seiner weißen Schürze und das Mädchen an dem schneeigweißen Gesicht. Strich er der nach, der, der man die Flatterhaftigkeit auf hundert Schritte ansah?

Ein paar Tage später sagte die Magd: »Unser Herr geht auch zur Zerahnin hinüber.« Sie, die so lange im Hause war, durste sich etwas herausnehmen und sprach die Worte so dahin, während sie in der Backstube fegte. Als Verena nichts antwortete, fügte sie nach einer Weile hinzu: »Wenn es die Frau wüßte!«

Verena schnitt ihr mit einem strengen Wort die Rede ab: »Er wird wissen, was er tut, der Herr.«

Dann ging sie hinaus, nach der Base zu sehen. Aber die Treppe, die sie hinaufstieg, schien ihr heute endlos. In der Stube fand sie die Base unter dem offenen Fenster liegen, trotzdem ein kalter, regnerischer Apriltag war. »Jesus!« stammelte Verena und eilte zu ihr. Sie gab keinen Bescheid; es war fürchterlich zu sehen, wie sie mit dem Ersticken kämpfte. Am Ende verließ sie die Kraft und sie wäre gefallen. Verena nahm sie in ihre Arme und brachte sie mühsam zu Bett. Aber die Schrecken des Anfalls wuchsen. Da rannte das Mädchen und jagte einen Gesellen zum Doktor.

Wilhelm war eben von einem Ausgang zurückgekommen. Er stieg mit Verena zur Mutter hinauf. Es war das erstemal, daß er selbst Zeuge eines schweren Anfalls war und es schien ihn heftig zu erschüttern. Er war kreideweiß im Gesicht und stand tatlos beiseite, während Verena sich um die Kranke mühte. Als das Mädchen ihn einmal mit einem Blick streifte, tat er ihr fast leid, so unbeholfen und sichtlich von innerer Qual bedrängt stand er da.

Der Arzt kam bald, ein alter, schlichter Herr, der schon immer bei den Wasers ein- und ausgegangen. »Ja, ja,« murmelte er kopfschüttelnd, während er für die Leidende tat, was er konnte; »wenn das so kommt, jetzt, so – so könnte es doch gefehlt sein einmal.« Er machte ein bedenkliches Gesicht dabei. Aber unter seinen Bemühungen erschöpfte sich die Kraft des Anfalles.

Vom Bett erhob sich jedoch die Base nicht mehr. Verena und Friederike, die Magd, blieben abwechselnd um sie. Wilhelm begann sich mehr des Ladens anzunehmen. Es schien, als werde er häuslicher und ernster. Manchmal ging er während der Woche keinen Abend fort; nur zwischen Tag und Nacht verschwand er oft für kurze Zeit. Als Verena einmal in die Münstergasse hinüberlief, in der dort befindlichen Apotheke etwas zu holen, sah sie den Vetter mit der Zerahnin im Gespräch vor deren Laden stehen. Er bemerkte auch sie, und als er zurückkam, war er scheu und gedrückt. ›Er schämt sich,‹ dachte Verena, und der Gedanke machte sie froh, weil ihr schien, daß kein Ernst in der Sache sein könnte, so lange er sich ihrer schämte.

In diesen Tagen machte der greise Antistes bei der Base den ersten Krankenbesuch. Verena saß im Laden und hatte nicht acht, daß sich jemand der Haustüre näherte. So erfuhr sie erst von des Antistes Anwesenheit, als die Magd sie rief. Als sie in die Stube der Base kam, lag der glänzend gebürstete Zylinder des Geistlichen auf dem Tisch. Er stand am Bett, wie immer schwarz gekleidet, eine hohe, vornehme Gestalt; seine Locken glänzten wie feine weiße Seide. Bei des Mädchens Eintreten wandte er diesem das scharfgeschnittene Gesicht zu, dessen Strenge selbst die Freundlichkeit, die er seinem Wesen zu geben bemüht war, wenig milderte. Er sagte Verena ein paar gute Worte, daß er sich freue, die Base in so trefflicher Pflege zu wissen, daß er erst vor kurzem von der schweren Erkrankung gehört und daß es ihm leid tue, einen fleißigen Gast seiner Kirche missen zu müssen. Seine Worte hatten wenig Wärmendes, aber es ging von ihnen wie eine Stärkung aus, und wiederum empfand Verena, daß in der herben Art des Mannes etwas Verwandtes mit der Erscheinung des streithaften Glaubenslehrers war, dessen Standbild unten am See sich erhob. Als der Antistes sich kurz darauf verabschiedete und das Zimmer verließ, hielt sie die Tür für ihn offen und schloß sie hinter ihm und es war ihr nachher, als habe sie noch vor keinem Menschen solche Ehrfurcht empfunden wie vor diesem Pfarrer.

»Ist es nicht schön von ihm, daß er gekommen ist?« sagte die Base, und auf der bleichen glänzigen Haut ihrer Wangen stand das Rot der Erregung.

»Ja, ja,« nickte Verena.

Dann verlangte die Base die Bibel und las mit halblauter Stimme ein Kapitel ums andre. Es war, als habe der Besuch des Antistes ihr eine Sehnsucht nach dem Worte Gottes geweckt.

In der Zeit, die nun folgte, und während die Krankheit der Waserin es dieser unmöglich machte, aufzustehen, kam der Wunsch mehr denn früher in ihr auf, sich auf ein mögliches nahes Ende vorzubereiten. Sie sprach viel von dem, was werden sollte, wenn sie selber nicht mehr da sei, und Verena fühlte, wie ihr Blick ihr oft sinnend durch die Stube folgte und wie sie in bezug auf sie, Verena, etwas auf dem Herzen trug. Nach langem Zögern und während sich unschwer erriet, daß sie nur mit Scheu und Überwindung sprach, hob die Base eines Abends an: »Wie geht es mit dem Wilhelm jetzt?«

Verena saß nähend am runden Tisch. Die Stehlampe warf ihren Schein auf ihr Gesicht. »Gut geht es,« sagte sie; »er ist ja immer fleißig gewesen.«

»Ja – ja,« machte die Base. Dann schwieg sie und hob erst nach langer Pause wieder an: »Und wenn ich jetzt sterben sollte?«

Verena fühlte, daß ihre Wangen heiß wurden. Sie sah nicht auf. »Davon müßt Ihr nicht sprechen,« sagte sie.

»Wohl, wohl,« widersprach die Kranke, »wohl, wohl muß man davon reden. Es wird nicht mehr lange dauern, meine ich.« Dann schien eine innerliche Angst in ihr zu wachsen, »Was soll er anfangen, der Wilhelm, allein?« stotterte sie dann: »Du – würdest wieder gehen, du, Vrene?«

»Ich müßte, denk' wohl.«

»Magst ihn nicht?« fragte die Base.

Nun war Verenas Gesicht dunkelrot. Sie sah auf, halb lächelnd und doch eine Feuchte im Blick. »Doch habe ich ihn gern,« sagte sie, »wie fragt Ihr auch, Base?«

Da nahm jene alle Kraft in einem Seufzer und einem Wort zusammen: »Weil ich dem Herrgott danken würde, wenn es sein könnte, daß ihr Mann und Frau würdet, der Wilhelm und du.«

Verena legte den Arm auf den Tisch und sann nach, ehe sie sprach. Sie spielte mit der Nadel auf der Tischplatte. »Seht Ihr,« sagte sie langsam und ernsthaft, »der Wilhelm will das nicht.«

»Und du?«

»Ich? – Ich kann es nicht sagen,« wich sie aus.

Die Base schwieg jetzt, war müde und lag still. Es schien dann, als habe sie sich mit Verenas Antwort beschieden.

Dem Tage folgte eine schwere Woche. Das Leiden der Waserin wuchs. Wilhelm mußte verschiedene Male gerufen werden, daß er die Mutter ans Fenster trage; frische Luft verschaffte ihr Erleichterung. Die Qualen der Mutter ergriffen ihn seltsam. Er hatte oft Tränen in den Augen, wenn ein Anfall vorüber war und war nachher fügsam und voll Liebe gegen die Kranke, auch dankbar gegen Verena. Es schien, daß er zu erkennen begann, was sie für die Mutter tat.

Eine Samstagnacht war besonders schwer für die Kranke gewesen. Als Verena am Sonntagmorgen den Laden geschlossen hatte, der bis zum Beginn des Vormittagsgottesdienstes offen blieb und in ihrer Kammer ihr Sonntagsgewand anlegte, hörte sie nebenan die Base eifrig und ernsthaft sprechen und vernahm neben ihrer kurzatmigen, heiseren Stimme die laute, feste Wilhelms. Die Unterredung dauerte lange; Verena wollte sie nicht unterbrechen; denn es war ihr unwillkürlich, als verbiete der ernsthaft-bedächtige Klang der beiden Stimmen eine Störung. Als sie aber, weil ihr die Zeit lang wurde, ihre Kammer verließ, um nochmals in die Ladenräume hinabzusteigen, trat Wilhelm aus der Stube der Mutter, in seinem Äußern ganz das Bild des überlasteten Baumes, das er immer bot, tragend und winkte ihr. »Ich möchte dir etwas sagen, Verena.«

Er nahm sie am Arm, als sie näherkam, und schob sie mit linkischer Gebärde in die schone, schlichte Wohnstube.

»Setz dich,« sagte er. Seine Art, in der eine gewisse Wichtigkeit lag, machte Verena Herzklopfen. Sie ließ sich auf den ersten besten Stuhl an der Wand nieder. Der Haussegen hing gerade über ihrem krausen Haar. »Mit Gott fang an, mit Gott hör auf.«

Wilhelm zog die Tür ins Schloß, die nach der Schlafkammer der Mutter hin offen gestanden. Dann kam er und stellte sich vor Verena hin, hemdärmelig, aber sonst in seinem schönen Sonntagsstaat. »Sie spricht immer vom Sterben, die Mutter,« sagte er.

»Ja, eben,« erwiderte Verenas »ich kann es ihr nicht ausreden.«

»Sie hat auch recht – es ist kein Spaß mit ihr.«

»Sie hat sich immer wieder erholt, wenn sie manchmal noch so schlecht schien.«

Wilhelm schien auf diese Worte nicht gehört zu haben. Er sagte unvermittelt: »Es ist wahr, wir könnten nicht beieinander wohnen nachher, du und ich.«

Verena sah um sich, als suche sie eine Türe.

»Wenn du wolltest –« stotterte Wilhelm: »als meine Frau könntest bleiben.«

Seine Verlegenheit und Unbeholfenheit gaben Verena ihre Ruhe zurück. »Nein,« sagte sie schlicht, »das wäre nicht das rechte, wenn du eine nehmen würdest, weil deine Mutter es dir rät.«

Bei ihrem Nein war er erschreckt aufgefahren. Jetzt kam er näher. Man sah ihm die Erregung an. Es lag deutlich eine Angst davor in seinem Wesen, daß die Werbung vergeblich sein könnte. »Du mußt es nicht so auffassen, Verena,« sagte er mit unsicherer Stimme; »es ist nicht, daß die Mutter mich überredet hat. Es ist – ich sehe es schon selber – daß es ein Glück für mich ist, wenn du mir ja sagst, daß – ich eine solche nicht mehr finde wie dich.«

Verena kam das Mitleid mit ihm an. Sie erinnerte sich, was die Base ihr bei ihrer Ankunft von ihm gesagt hatte: »Er sollte immer einen um sich haben, der ihm recht bleiben hilft.« Sie fühlte deutlich, daß er in diesem Augenblick empfand, was er ihr zu sagen versuchte: Einen besseren Freund als dich kann ich nicht finden. Sie war ihm auch immer gut gewesen. Und seit damals auf dem See – das hatte sie sich immer gesagt – »ein andrer kann dir nichts mehr gelten.« Aber gerade jener Abend – –

»Weißt,« sagte sie laut, langsam und ernst, »das muß ich dir sagen. Eines verstehe ich nicht – was du gemeint hast – damals auf dem See!«

Er errötete. Dann schien die Erinnerung ihm das zu geben, was ihm bisher gefehlt hatte; eine warme Empfindung für Verena wallte in ihm auf. »Ich – ich – gutmachen möchte ich das ja eben jetzt, Vrene,« sagte er.

Seine Stimme zitterte. Verena gewahrte die Veränderung. Eine heiße Freude sprang in ihr auf, über die sie sich selber nicht klar war. Sie überlegte nicht mehr sorglich wie vorher. Wenn er jetzt das rechte Wort fand, der Wilhelm –

»Sag mir jetzt nicht nein, Vrene,« sagte er. Er streckte seine schwere, breite Hand aus.

Da legte Verena die ihre hinein. »Ja, nun, wenn du es meinst!«

Sie stand auf. Er trat neben sie und legte den Arm um ihre Hüfte. »Ja, siehst, das ist jetzt ein Glück für mich,« sagte er. Es war ein sonderbares Wort, fast als hätte er es auswendig gelernt. Sein Ton war auch trockener als vorher. Trocken und fast zum Lachen war auch sein Gebaren. Er wollte Verena nach der Nebenstube führen. Da schien ihm einzufallen, daß man eine Braut küsse. So faßte er sie bei den Achseln und küßte sie auf die Stirn. Es war, als dächte er schon an etwas andres, als er es tat.

Dann gingen sie zur Mutter hinüber.


 << zurück weiter >>