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VI.

Das war eine stille Hochzeit. Zumal im Waserhaus merkten sie wenig davon, daß Wilhelm heiratete. Er kam am frühen Morgen – es war noch kaum Tag – in seiner Mutter Stube und steckte in einem neuen schwarzen Anzug. Er sah gut darin aus, hielt sich stattlicher als sonst, weniger vorn eingebückt. Sein blondes gewelltes Haar und die gesunde Farbe seines Gesichtes wurden durch die feierlichen schwarzen Kleider schön hervorgehoben. Die Base schüttelte den Kopf, als sie ihn ansah. In diesen Kopf wollte es nicht hinein, daß der stattliche Mensch sich an eine wegwarf, die nicht zu ihm paßte.

»Heute gilt es,« sagte Wilhelm. Er lachte ein wenig; es lag ihm daran, ein gutes Wort mit auf den Weg zu nehmen.

»Will's Gott, reut es dich nie,« sagte die Mutter. Sie gab ihm die dürre Hand, und von den Augen rannen ihr zwei dünne Tränenstreifen über die faltigen Wangen. Weil er im Innersten gutmütig war, wurde auch ihm der Blick feucht. Er wendete sich ab und wollte gehen. Da merkte er erst, daß die Verena hinter ihm stand. Er errötete jäh; in diesem Augenblick fiel ihm doch ein, daß er der bitter unrecht getan.

»Ich wünsche dir Glück,« sagte sie. Sie gab ihm die Hand nicht; beide Arme hingen ihr schlaff am Kleide nieder, und sie war sehr bleich; aber er fühlte doch, daß sie ernstlich und von Herzen meinte, was sie sagte.

»Ich danke dir,« sagte er und wandte sich der Türe zu. Der Kopf hing ihm jetzt wieder auf die Brust. Es drückte ihn doch, daß nicht alles recht war an diesem Tage. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um und sah Verena an. Er wollte etwas sagen, das schwer aus ihm herauskam; so räusperte er sich zuerst. »Gelt,« stotterte er dann – »im Geschäft – weil ich nicht da bin –«

Verena half ihm. »Ich will nachsehen im Geschäft, heute,« sagte sie. Da trat er vollends aus der Stube. »Dank,« murmelte er noch einmal kurz und trocken.

Diesen ganzen Tag brachte Verena wieder im Laden und in der Backstube zu, wo sie so lange nicht mehr gewesen war. Bei der Base saß eine Mieterin aus dem unteren Stock, eine alte Jungfer, die schon hie und da bei ihr gewacht hatte. Eben als Verena am Abend die Ladenkasse leerte und zuschloß, kamen die Neuvermählten heim. Ein Wagen brachte sie. Es regnete, und im Hausflur war es dunkel. So tat Verena, die sie hat kommen hören, die Backstubentür auf und hielt ein Licht hoch. Die junge Frau stieß soeben hastig die Haustür auf. Sie hatte ein weißes, schönes Kleid an, dem man ansah, daß eine geschickte Hand es gearbeitet hatte. Eine große Dame hätte sich seiner nicht zu schämen brauchen. Der Hilde mit ihrem farblosen, zarten Gesicht stand es wunderbar gut. Das Herz wurde dem warm, der sie ansah. Als sie Verena erblickte, machte sie ein trübes Gesicht. »Es regnet so,« sagte sie; es war, als ob sie meinte: es regnet Unglück.

Die Hausleute hatten den Wagen anfahren hören. Oben gingen ein paar Türen. Eine Anzahl Köpfe sah aus jedem Stockwerk über das Treppengeländer nieder.

Jetzt trat auch Wilhelm ins Haus. Er schien seiner Beine nicht mehr ganz sicher zu sein. Sein Gesicht war rot und glänzte. »Guten Abend!« sagte er. Dann wandte er sich an seine Frau, sagte: »Geh jetzt!« und winkte mit dem Kopf nach der Treppe. Dabei lachte er und gluckste einmal. Als sie dann hinaufgingen, stolperte er zuweilen; man hörte das schwere Anschlagen seiner Schuhe.

Die Leute, die neugierig nach ihm ausgeguckt hatten, verschwanden, bevor er herankam. Sie wußten nicht, was sie aus der Sache zu machen hatten: mit der einen versprach er sich, die andre nahm er zur Frau, der Wilhelm Waser!

Am nächsten Morgen ging alles seinen gewohnten Gang; nur daß ein stiller, kindischer Mensch, die Hilde, mehr im Hause war.

»Wie ist sie?« fragte die Base Verena. Diese sah sie gerade und ehrlich an. »Ich müßte lügen, wenn ich nicht sagen wollte, daß sie es gut meint.«

Die Base wollte nicht mehr wissen.

Die Zeit verschwand dann, aber die kranke Frau tat der Schwiegertochter die Tür nicht auf. Diese gewöhnte sich allmählich daran. Sie war keine, die einen eignen Willen hatte oder gar die Kraft, solchen zur Geltung zu bringen. So zimperlich, wie ihr ganzes Wesen war, griff sie auch ihr neues Leben an. Zuvörderst hatte sie das Lachen, gleich dahinter das Weinen. Wenn etwas nicht geraten wollte, lachte sie; sah sie einen, der nicht mit ihr lachte, so stiegen ihr die Tränen auf. In ihren drei Stuben kam sie so leidlich zurecht, da die Friederike, die Magd, ihr Hand reichte. Hatte diese einmal anderswo zu tun, konnte die Hilde mit der Arbeit nicht fertig werden. Im Laden, wohin Wilhelm sie gleich nach der Hochzeit setzte, ging es schlimmer. Sie hatte keine Gedanken für die Preise, kein Gedächtnis für die Benennungen der Brote, und wenn sie eines vom Gestell herabzulangen hatte, so ließ sie es regelmäßig mit lautem Klatsch zu Boden fahren, weil sie so geziert danach griff, als fürchtete sie das bißchen Mehl, das ihr dabei an den Fingern blieb. Wilhelm trat dann aus der Backstube, hatte einen roten Kopf und murrte ein barsches: »Paß doch auf!«

Das genügte, um zu veranlassen, daß ihm seine Frau vom Ladentisch weg und hinauf in die Wohnung lief, um zu flennen. Er aber war weder ein Feiner noch ein Geduldiger. Zweimal ging er ihr nach und ließ ein Donnerwetter über sie los, daß die Base nebenan in ihrem Bett aufschreckte.

»Hörst?« sagte sie das zweitemal zu Verena. »Da ist der Frieden schon entzwei.«

Beim drittenmal nahm der starke Mensch, der Wilhelm, sein Weib am Handgelenk und führte sie mit Gewalt dorthin zurück, von wo sie gekommen war – in den Laden. »Sei kein Narr, da bleibst!«

Die Kunden wunderten sich nachher, daß die junge Waserin immer vor sich hinschluchzte, während sie bediente. Guten Willen aber hatte die Hilde doch. Wenn sie etwas recht hatte machen können, leuchtete ihr ganzes Gesicht auf. Sie hatte nur wenig Kraft zum Rechtmachen. Dann kamen auch nach wenigen Wochen schon ihre schweren Tage. Es wollte nicht lange mehr dauern, bis ihre Zeit kam. Und sie war wehleidig, strengte sich nicht an, ließ gleich alles hangen. Wilhelm schimpfte und fluchte. Nachher ließ er sie gewähren und tat im Geschäft selbst, was ihr obgelegen hätte.

In diesen Tagen war es, daß er der Zerahnin die Tür wies. Diese steckte seit der Hochzeit mehr bei der Tochter als in ihrem Modewarenladen, versuchte in den Bäckerhaushalt hineinzuregieren und holte bei dem Schwiegersohn auch zweimal das, was bei ihr keinen Halt hatte – Geld. Wilhelm gab das Verlangte, das erstemal überrumpelt, mit einer gewissen Bereitwilligkeit, das zweitemal zögernd, mürrisch. Beim drittenmal stieg ihm das Blut bis unter das blonde Haar. »Gib mir erst wieder, was ich dir vorher geliehen habe,« sagte er zu der aufgeputzten Frau, die vor ihm stand. Es glomm ein böser Zorn in seinen Augen.

Die Zerahnin legte ein freundliches Mäntelchen um. »Ich kann jetzt nicht,« sagte sie ruhig und süß; »ich muß auch das Geld notwendig haben.«

»Wie viel sagst?« fragte Wilhelm.

»Tausend,« sagte die Zerahnin etwas gedrückt.

Wilhelm drehte ihr wortlos den Rücken. Aber sie kam ihm nach. Jetzt flennte sie. »Vergeltstagt bankrott. werde ich,« platzte sie heraus, »wenn du mir nicht hilfst.«

Da sah er sie einen Augenblick an, als ob sie ihn ins Gesicht geschlagen hätte. Dann trat er hinter den Tisch in der Backstube, so daß der zwischen ihm und der Schwiegermutter zu stehen kam. »Da,« sagte er und strich mit dem Daumen heftig und lang über die Tischplatte, als zeichne er eine Grenze. »Da bist du und da bin ich. Was dich angeht, geht mich nichts an und umgekehrt. Jetzt weißt es.«

Die Zerahnin wurde bleich. Sie hatte eine gute Meinung von sich und wußte vor heimlichem Zorn keine Worte. Tragödinenhaft warf sie den Kopf hoch und rauschte in ihrem Schleppkleide durch den Laden hinaus. Dabei vergaß sie, daß es nach dem Abgang schwer war, wiederzukommen, lernte es aber später. Sie geriet bald in Zahlungsschwierigkeiten. Der Bankrott kam wirklich. Der Schwiegersohn aber kümmerte sich nicht darum und verbot ihr, als sie ihn drängte, sein Haus.

Verena staunte zu dieser Zeit über den Vetter Wilhelm, daß er standhaft war und sich in die schiefe Sache der Zerahnin nicht einließ. Sie sah, wie er von Anfang an der fremden, großtuerischen und hohlen Art der Zerahnin gegenüber seine eigne bürgerliche Geradheit und Schlichtheit festhielt, sah letztere auch neben dem zimperlich-kindischen Wesen der jungen Frau, schwerfällig, aber gesund, mehr als bisher hervortreten und dachte gut von ihm darob. Freilich konnte sie sich auch das andre nicht verhehlen, daß Wilhelm langsam ein inneres Mißbehagen anzukommen begann, weil er mehr und mehr erkannte, wie er für die ernstere Lebensseite an seiner Frau keinen Kameraden gewonnen hatte. Er sah in Haus und Geschäft vieles vernachlässigt, was zu der Mutter und Verenas Zeiten in Ordnung gewesen, und er war nicht der Mensch, seinen Ärger darüber mit dem Entschluß zu schlagen, aus der Hilde das noch zu machen, was sie nicht war. In seiner Mißstimmung gebrach ihm die gewohnte Arbeitslust. Er lief mitten am Tage und häufig abends ins Wirtshaus und blieb lange fort. Wenn er spät in der Nacht heimkam, hörten die drei Frauen, die sich um sein Geschick kümmerten, ihn unsicher und geräuschvoll über die Treppe tappen und wußten, wie er die Zeit verbracht, selbst wenn er nicht am andern Tage mit fahlem Gesicht und hängendem Kopf herumgegangen wäre.

Verena sah zu und hatte dabei seltsame und einander widerstreitende Gedanken. Manchmal tat ihr die junge Frau leid, die in den ersten Wochen ihrer Ehe schon verlassen zu Hause saß. Häufiger aber grollte sie ihr darum, daß sie den Mann nicht zu halten verstand. Dabei und während Wilhelm es zusehends schlimmer trieb, bemächtigte sich ihrer eine Unruhe. Ihr war, als müßte sie gefesselt zusehen, wie einer ertränke. Sie fühlte die Kraft in sich, Wilhelm zu lenken und gegen seine eigne Schwäche zu stützen. Sie kannte seinen guten Kern, traute sich zu, das Gute in ihm, die Arbeitskraft und die Arbeitslust, anzufachen und durch seine Freude am Gedeihen seines Tagwerkes sein zeitweiliges Lahm- und Lässigwerden zu besiegen. Eben aber, weil sie ihn verstand und durchschaute, brannte ihr das Herz, daß sie nicht den kleinsten Teil an ihm hatte. Und aus dem Schmerzempfinden, daß sie ihm keine Freundschaft halten durfte, wuchs unwillkürlich das Leid darob, daß er ihr verloren gegangen war, neu und größer empor. Die Erinnerung an den Abend mit ihm auf dem See, der der eine Abend in ihrem Leben war, kam ihr häufiger als je zurück. Sie war nicht alt genug, um nicht Heimweh nach dem zu empfinden, was damals gewesen war. Und es war vielleicht, daß sie an Wilhelm nie fester gehangen als an diesen Tagen, da sie als fast eine Fremde zur Seite seines Weges stand.

Einmal eines Abends, da die Sonne über den grünen Hügeln stand, die im Westen den Stadtbann säumten, und ihr Licht sanft und reich über Dächer und Zinnen, nieder in Gassen und hinein in goldschimmernde Fenster der Stadt floß, waren die innere Unruhe und ein unbestimmtes Glückverlangen in Verena so mächtig, daß sie es auf ihrem Platz am Fenster in der Stube der Base nicht aushielt. Sie legte die Arbeit weg. Die Kranke schlief; sie schlief jetzt viel und war kindhaft mager und schwach geworden. Im Aufstehen kam Verena eine Sehnsucht an, einen Augenblick in Luft und Sonne sich zu ergehen. Sie gab dieser nach, bat im Vorbeigehen die Mieterin im zweiten Stock, auf eine Viertelstunde zur Base zu gehen, und lief dann barhaupt, wie sie stand und ging, hinab und hinaus in die Gasse. Das Leben in dieser und in den Straßen war nicht minder laut als sonst, aber es lag selbst über dem Lärm und Gewoge etwas Dämpfendes, Edleres und mochte in dem leisen Glanz liegen, den der scheidende Tag in Stadt und Menschentreiben warf. In einem geschäftig-raschen Gang – es litt sie nicht, irgendeinem zu zeigen, daß sie müßig sich erging – wendete sich Verena die nächste Gasse hinan und kam auf den Münsterplatz, den stillere Häuser säumten, aus dem aber in der Mitte des Frankenkaisers zweitürmige Kirche dunkel und ernst sich erhob. Sie streifte über den Platz und zu einer der braunen, schweren Eichentüren des Münsters hin, die sie öffnete. Ohne zu beten oder das Bedürfnis nach einem Gebet zu haben, stand sie dann inmitten der Säulenreihen des Schiffes. Durch die höchsten Fenster fiel auch hier das reiche Abendlicht, aber in der Tiefe und zwischen den schwarzbraunen Bänken war es düster. Es schien niemand nahe zu sein. Verena aber meinte, sehen zu müssen, daß der Antistes drüben auf die Kanzel trete, dessen Strenge in die strenge Schmucklosigkeit des großen Gotteshauses paßte, und irgendwie, als ob jener zu ihren Häupten predigte und tröstete, erstarkte sie innerlich, richtete sich unwillkürlich höher auf und nahm, als sie gleich darauf das Münster verließ, aus der starken steinernen Halle eine neue Kraft in sich mit fort, die ihr mehr Ruhe gab, als lange in ihr gewesen.

Als sie nach Hause kam und an der Backstube vorüber die Treppe erreichen wollte, hörte sie drinnen Wilhelms erregt scheltende Stimme. Ein Stuhl flog zur Seite. Dann fuhr die Tür auf, und Wilhelm trat heraus. Sein Kopf war rot; das blonde Haar stand flachsgelb von der heißen Stirn ab. Die nackten Arme, an denen die Hemdärmel aufgekrempelt waren, warf er hin und her. »Keine Ordnung ist nirgends,« schrie er nach seinen Gesellen zurück, die in stierhaft störrischer Haltung ihre Arbeit weitertaten und seine Worte über sich ergehen ließen. »Immer mehr zu tun gibt es,« schimpfte er weiter, »und, niemand hilft einem aus. Bei Gott, nicht überall sein kann ich, im Laden, in der Backstube und im Holzkeller!«

Als er Verena, die sich abgewendet hatte und langsam über die Treppe hinanstieg, erblickte, schien ihn der Zorn von neuem zu packen. »Ein Haufen Frauen im Haus,« schalt er blindlings, »und keine reicht einem eine Hand.«

»Was ist denn?« fragte Verena. Sie stand still und sah ihn ruhig an. Unter ihrem Blick kühlte er ab.

»Drunter und drüber geht es,« murrte er zänkisch, »und schon die ganzen Tage her. Wie soll die Friederike, der alte Mensch, allein fertig werden im Laden! Not täte es, daß ich selber den ganzen Tag dort stünde, aber ich kann nicht, bei Gott nicht, wenn nicht dafür hinten alles zum Teufel gehen soll.«

Verena wollte ihn nach seiner Frau fragen, die nirgends zu sehen war, aber sie besann sich, und es schien ihr unter ihrer Würde, sich durch die Frage selbst eine Genugtuung zu geben. Sie stieg eine Stufe der Treppe tiefer. Die ganze frohe Ruhe war noch an ihr, die in der Kirche über sie gekommen war. Aus dieser heraus und mit einem Klang der Stimme, der allein schon wie herzhafte Hilfe war, sagte sie: »Du brauchst es nur zu sagen; man hat dir noch immer geholfen, wenn du Hilfe gebraucht hast.«

Es war ihr bekannt, daß das Geschäft seit einiger Zeit einen starken Aufschwung genommen, insbesondere infolge Eingehens einer alten Bäckerei in der Nähe. Sie begriff also, daß Wilhelm allein auf die Dauer nicht Herr werden konnte. »Ich gehe nach der Mutter sehen,« fuhr sie fort. »Schicke mir die Friederike. Nachher will ich in den Laden kommen.«

Er murmelte etwas. Vielleicht hatte er selbst nicht diesen Ausgang beabsichtigt und erwartet und war erstaunt darüber. Ohne Dank ging er zu seinen Gesellen zurück.

Verena begab sich nach einer Weile in den Laden. Die Arbeit ging ihr leicht von der Hand. Die Kunden drängten sich zeitweise, aber sie bediente einen nach dem andern in einer ruhig-freundlichen Art, so daß keinem das Warten lang wurde. Wilhelm blickte zuweilen nach ihr hinüber. Einmal schnaufte er tief auf, als durchfahre es ihn: »Gottlob, jetzt geht es wieder!«

Später kam Hilde herab. Sie trug sich schwer, sah krank aus, und manchmal ging es wie ein ängstliches Zucken durch ihre Züge. In ihr ausdrucksarmes Gesicht trat ein großes Staunen, als sie Verena im Laden fand. Sie stellte sich eine Weile zag in eine Ecke und sah dem Mädchen zu, wie es des Amtes waltete, das ihr zustand. Einmal langte sie Verena ein Brot her aus einem Gestell, das ihr nahe war. Darauf kam sie einen Schritt näher und sagte in neidloser Bewunderung: »Wie das Ihnen von der Hand geht, Fräulein!«

Verena lachte leise: »Ich habe das lange gelernt,« sagte sie.

Auf einmal stand Wilhelm hinter ihnen und polterte: »Was tut ihr wie Fremde. Könnt ihr nicht ›du‹ sagen zueinander?« Er drehte sich ab und ging, woher er gekommen war. Hilde war rot geworden und stand in peinlicher Verlegenheit da. Verena behielt den stillen Ausdruck in ihren Zügen, tat ihre Arbeit und sagte: »Er hat recht; verwandt sind wir, so können wir auch ›du‹ sagen.«

Einen Augenblick später gab sie selber das Beispiel. »Reich mir die Tüten dort, Hilde,« sagte sie und hatte auf einmal den Ton gefunden, der beiden über eine peinliche Stunde hinweghalf.

Der Abend blieb nicht der einzige, an dem Verena im Laden mitzuhelfen hatte. Weil sie sah, daß es nottat, kam sie wieder und wieder, und es machte sich ohne Abrede, ja, ohne daß sie oder Wilhelm dazu kamen, sich darüber Gedanken zu machen, daß sie in seinem Geschäft allmählich alles das wieder übernahm, was früher ihre Aufgabe gewesen.

Indessen lag oben die Base kränker und matter. Der Doktor kam täglich. Als er eines Morgens weggegangen war, trat Verena zu Wilhelm in die Backstube. »Du solltest häufiger zur Mutter gehen,« sagte sie mit nicht ganz fester Stimme, vielleicht hast du sie nicht mehr lange.«

Er erbleichte. Gleich nachher ging er hinauf und saß lange bei der hageren elenden Frau, die ihn über vieles fragte, vom Geschäfte wissen wollte, von dem und jenem, von Nachbarschaft und Bekanntschaft, und ihm dabei, als hätte sie ihren Groll vergessen, einmal mit kraftloser und verrunzelter Hand in unbewußter Zärtlichkeit über seinen Arm strich. Aber nach seiner Frau fragte sie ihn nicht.


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