Ernst Zahn
Der Schatten
Ernst Zahn

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6.

Unterhalb des Gurschenwaldes stehen Violanta und der Renner-Adelrich. Gerade eben ist das Mädchen über den Fußsteig heraufgekommen. Der Adelrich hat sie erwartet. Er hat seine besten rauhhaarigen Kleider an, sieht darin ganz stattlich aus; die Violanta geht in ihrem schwarzen Kleid, an dem von oben bis unten kein Band und keine Zier ist, gegen das nur der Hals und die Handgelenke noch viel scheiniger weiß abstechen als von anderm Gewand. Unter den Augen hat Violanta dunkle Ringe, sie hat ein paar schlechte Nächte hinter sich. So ganz glatt ist der Entschluß, der sie herbringt, doch nicht fest geworden; der Marianus ist auch ein paarmal gekommen des Nachts und hat sie schrecken wollen; aber eine Schwache ist sie nicht und weiß, was sie will. Eine angesehene Bäuerin will sie werden, vor der die Leute Respekt haben sollen! Die Brust schwillt ihr von Zukunftshoffnungen; nun steht sie am Eingang des Weges zu dieser Zukunft, tapfer, ohne die leiseste Furcht, fast fröhlich. Sie sieht den Adelrich an wie einen guten Kameraden, gerade in die Augen, ohne Erröten, als das »Gut Tag« zwischen ihnen hin und wieder geht.

Der Tag hat einen Werktagsrock an, obwohl es Sonntag ist. Nebel hangen über alle Berge herein. An die Gurschenwaldtannenspitzen sind sie gespießt, von dort her kommt manchmal ein feines Stäuben kalten, nässenden Regens.

»So, bist da?« sagt der Adelrich, dann räuspert er sich, steckt die Hände in die Hosentaschen, lehnt sich an den Hag, der die Matte nach dem Weg zu grenzt. »Ein wenig – fast – erraten wirst schon können, was ich – warum, daß ich dich habe kommen heißen.«

»Ja, das schon,« sagt Violanta ganz offen.

»Und?« fragt er da, als sei ihm nun alle weitere Rede erspart.

»Was sagt Eure Mutter?«

»Komm mit zu ihr, so kannst es selber hören. Du bist ihr so recht wie mir.«

Ein paar Schritte tut Violanta bergan, den Kopf gesenkt, als hätte sie noch einmal zu überdenken, was sie sagen will. Dann kommt sie zurück. »Ich muß es Euch noch einmal sagen,« beginnt sie, »ich bin aus der Intschihütte.«

»Das hat mir zu Anfang Bedenken gemacht, jetzt nicht mehr,« sagt der Adelrich ehrlich.

»Die darin gewohnt haben,« fährt sie unbeirrt fort, »sind immer verrufen gewesen. Wenn es Euch einmal reuen würde, daß Ihr eine genommen habt, von der die Leute spöttisch hinreden: Bah, nur so eine ist sie.«

»Von dir tun sie das nicht,« sagt er ernsthaft. Das Zeugnis tut ihr so wohl, daß ein Sturm von Freude in ihr aufspringt. »Ist es Euch ernst?« fragt sie noch einmal.

»Bei Gott ist es mir ernst, Mädchen,« gibt der Adelrich zurück, dabei hebt er zaghaft und linkisch die Hand und sucht nach der ihren. Violanta aber kommt ihm mit der Rechten entgegen; sie legt sie fest in die seine. Als er ihren Druck fühlt, spannen sich seine Finger, eine andre als die starke Violanta könnte es schmerzen, wie er sie zudrückt; was sie nachher nie aussprechen, was sie vielleicht selber nicht klar fühlen, das ahnt doch jedes, daß sie sonderbar füreinander geschaffen sind. Sie lösen ihre Hände bald wieder. Es ist nicht der Platz, und sie sind nicht die Leute, verliebt zu tun. »Komm heute abend zu uns herüber,« sagt Adelrich, »da können wir alles besprechen«. Damit machen sie sich auf den Heimweg. Und wie am Tag ihres ersten Zusammentreffens gehen sie langsam dahin, eines diesseits, eines jenseits der Straße.

»Lang warten möchte ich schon nicht mit der Hochzeit,« spricht der Adelrich einmal herüber.

»Mir ist es recht,« gibt Violanta lächelnd zurück; »nur eine Magd muß meine Frau zuerst haben.«

Dann fällt wieder Schweigen zwischen sie. Durch den grauen Himmel bricht ein leiser Glanz; tief hinten muß irgendwo die Sonne stehen. Es liegt ein heimliches Licht, von dem man nicht weiß, woher es kommt, über ihrer feuchten Straße. Langsam schreiten die zwei großen Menschen und mit vornübergebeugten Köpfen dahin. Kurz vor dem Dorfe blickt Violanta noch einmal auf. Unwillkürlich verhält sie den Schritt bei dem, was sie sagt. »Euer Bruder, der Marianus, was wird der dazu sagen? Er ist einer, der – ein Offizier – eine reichere Schwägerin würde ihm vielleicht besser gefallen.«

Adelrich kommt über die Breite der Straße zu ihr herübergeschritten und tritt vor sie hin, so daß sie beide stillstehen müssen.

»Das muß ich dir noch sagen,« hebt er mit gedämpfter Stimme an, »von dem Marianus wird daheim und vor der Mutter nicht viel gesprochen. Einmal, wenn wir verheiratet sind, sage ich dir alles! Jetzt – ich rede nicht gern über andre, am allerwenigsten über den Bruder – er hat viel auf dem Gewissen. Er kommt wohl nicht mehr ins Land, er wird sich schon hüten. Aber – einmal wenn wir allein sind – erzähle ich dir schon alles.«

Sein Gesicht trägt einen versteckten Ausdruck von Kummer; er nickt mit dem Kopfe, während er spricht, so daß jedes Wort mit schmerzlichem Nachdruck hervorgestoßen scheint. Dabei kann Violanta fühlen, wie er ihr schon Vertrauen schenkt, als hätte er sie in langen Jahren erprobt. Ihr Herz fängt zu klopfen an, einen Augenblick lang ist ihr, als sollte sie die Hand auf die seine legen und sagen: »Ich habe dir auch noch etwas zu beichten, du«. Dann aber blitzt die Furcht in ihr auf: Und wenn er dich dann nicht mehr haben wollte! So begräbt sie in derselben Stunde wieder, was längst begraben gewesen und was – so will sie es – nicht mehr wach zu werden braucht.

Der Adelrich hat sich umgewendet; sie heben beide an, weiterzugehen, er schreitet jetzt dicht an ihrer Seite. So gelangen sie ins Dorf und zu den zwei Häusern, wo sie wohnen. Durch Spießruten neugieriger Blicke sind sie gegangen – jetzt, da sie am Rennerhaus stehen, um sich Ade zu sagen, drehen sich alle Vorübergehenden nach ihnen um und aus den Fenstern der Nachbarhäuser sehen die Köpfe der Gaffer.

»Weißt was,« sagt Adelrich, »könntest wohl noch schnell mit zur Mutter heraufkommen.«

Violanta nickt nur. Da nimmt er vor den Augen derer, die zusehen, ihre Hand und führt sie ins Haus, und führt sie so durch den schönen gewölbten Flur, über die Treppe hinauf nach der Stube, wo die Rennerin lesend über einem Kalender sitzt. Die große Stube ist leer; das Dienstvolk streicht an Sonntagen auswärts herum. Die Rennerin hat eine Brille an und hält den Kopf tief auf das Buch gesenkt, die weiße Kopfhaut schimmert durch das dünne schlichte Haar, die eine rauhe Strähne über der Stirn hängt ihr ins Gesicht herab. Sie scheint nicht daran zu denken, wer eintreten möchte. Erst als sie das Doppelschreiten fester Füße von der Schwelle her hört und im selben Augenblick der Adelrich sein lautes »Mutter« sagt, blickt sie auf und steht rasch auf. Etwas wie Staunen malt sich in ihren Zügen, aber dann fliegt ein breites Lachen flüchtig darüber, sie nimmt die Brille ab, ihre trüben Augen blicken die Violanta herzlich an. »So schnell habe ich nicht gemeint, daß es ginge,« sagt sie. Dann tritt sie hinter dem Tisch hervor und streckt dem Mädchen die Hand hin. Sie machen nicht viel Worte. »Sie hat ›ja‹ gesagt, Mutter,« sagt Adelrich einfach.

»Sei auch willkommen,« sagt die Rennerin zur Violanta, dann heißt sie sie sich setzen, und die andern lassen sich nieder bei ihr. Ernsthafte Dinge beginnen sie zu besprechen, wie der Haushalt ist und was das Geschäftswesen erfordert; offen, wenn auch ihr Vertrauen noch mehr sparend als der Adelrich, spricht auch die Rennerin. Violanta sitzt geradeaus am Tisch, hat die Arme auf die Platte gelegt und horcht aufmerksam zu. Zuweilen klingt ihre feste Stimme in das Gespräch der andern; was sie sagt, ist just so klar und stark wie die Stimme.

Als Violanta geraume Zeit später das Haus verläßt, ist ihr Schritt leicht; ihrer Lebtag ist sie noch nie so frei ausgeschritten. Das Herz schlägt ihr, wenn sie an das Haus denkt, in das sie kommen soll, an die Rennerin, die gerade, angesehene, an den Bauern, der ihr Mann werden wird! Sie trägt die Brust voll hoher und froher Vorsätze mit fort und fühlt sich stark und jung.

Froh und stark und jung fühlt die Violanta sich ihre ganze Brautschaft hindurch. Im Dorf hebt ein Sturm von Staunen und Wundern und Neiden an. Haben schon vorher viele die Augen alleweil an der Violanta hängen gehabt, so kann sie jetzt erst recht die Blicke aller fühlen, sobald sie sich im Freien zeigt. Sie weiß, wie sie hinter ihrem Rücken tuscheln und reden, weiß, daß sie nicht eitel Gutes sagen, aber das Flüstern ist ihr fast so behaglich wie ein trauliches Windraunen; während es dauert, drängt sich ihr die Brust hervor: zeigen wirst ihnen, was in dir steckt, Zureich-Violanta!

Als sie am Sonntag nach dem Verspruch zur Kirche geht, trägt sie einen Goldreif am Finger. An den Schwestern hat sie früher solchen Ringschmuck gesehen; sie selber hat nie derartiges getragen; seit ihr Adelrich den ganz schweren, glatten Ring an den Finger gesteckt hat, glaubt sie ihn immer ansehen zu müssen. Die innerliche Freude drängt sie auch auf dem Kirchenweg mächtig vorwärts, so daß die Nagerin, die sie führt, einmal ganz unwirsch an ihr hinaufsieht und meint: »Du hast es aber einmal eilig heute!«

Kurz vor der Kirchentür holt der Adelrich die zwei Frauen ein; nun kann Violanta unter dem Staunen der Dörfler die letzten Schritte zwischen den zwei wackeren Menschen, der Nagerin und dem Adelrich, tun. Ihr ist wohl und sicher zu mute. Ihre Augen leuchten, und als drinnen in der großen schönen Kirche der Klang der Glocken mächtiger und weihevoller noch als draußen schallt, zwingt sie etwas, zur Decke aufzublicken, und in ihr redet es heimlich: »Du, du da oben im Himmel, ich danke dir.« Dabei sind, was der Violanta sonst nie geschieht, ihre Augen naß; das Glück macht sie weich.

Ihr Verhältnis zum Adelrich ist im Grunde ein seltsames. Sie sind nicht wie Liebesleute; Violanta hat keinen Gedanken daran, daß sie das sind. Sagte ihr einer, sie müßte den Adelrich liebhaben, so zum Fressen, wie das Jungvolk in dem Stand sonst liebt, sie würde ihm ins Gesicht lachen. Der Adelrich ist steif und unbeholfen und häßlich; es fällt ihr nicht ein, ihm auch nur die Arme um den Hals zu legen. Ihn umgekehrt scheint Scheu zu fassen, wenn er zärtlich werden möchte. Manchmal, wenn sie noch beisammensitzen und ernste Reden führen von dem, was die Zukunft bringen soll, streicht er ihr mit einer zittrigen Handbewegung schmeichelnd über den Arm oder die Hand, aber es ist ein Anfassen, wie man ein zerbrechliches Gefäß betastet, und er wird feuerrot dabei und sucht seine Verlegenheit hinter eifrigem Sprechen zu verbergen. Gut ist er wie selten einer, und seine Mutter hilft ihm in seinem Gutsein der Violanta gegenüber. Diese schmäht eines Tages mit einem herben Wort sich selbst und klagt, daß sie nichts in die Ehe mitzubringen hat. Da erklärt ihr Adelrich, wie wenig zum neuen Hausstand anzuschaffen sei, und die Rennerin tritt hinzu und kramt aus allerlei Kasten und Truhen eine Menge Dinge hervor: »Das brauche ich nicht mehr! Und das kannst haben!« Und nachher sitzen sie beisammen und haben eine kurze fröhliche Stunde, während sie die Dinge durchberaten, die sie am nächsten Markttag noch ins Haus kaufen wollen. Als sie mit der Beratung zu Ende sind, meint der Adelrich: »Einmal sehen mußt doch, wie wir wohnen werden,« und heißt die Violanta mit ihm nach den Schlafkammern steigen. Über eine weißgesandete Treppe steigen sie in das obere Stockwerk des Baues, vor dessen Größe dem Mädchen etwas wie Ehrfurcht ins Herz fährt. Die Türen, die hier auf den hölzernen Flur gehen, sind alle unbemalt, alt, alle sauber wie alles im Rennerhaus. Adelrich öffnet eine von ihnen. Dahinter liegt eine niedere mächtige Stube. Zwei steife alte Bettstellen stehen darin mit buntblumigen Bezügen. Buntblumig sind die kurzen Vorhänge an den Fenstern, und eine Zierborte von gleichem Stoff zieht sich um den Sockel eines grünen Kachelofens, der an der einen Wand steht. »Da schlafen wir,« sagt Adelrich.

Sie stehen auf der Schwelle, keines tritt hinein, als hielte Scheu sie beide zurück. Mit vorgebeugten Leibern spähen sie hinein.

»Das ist aber schön,« sagt Violanta mit engem Atem. Sie stehen ganz nahe beieinander, und da faßt es den Adelrich zum erstenmal, daß er den Arm eng um das Mädchen legt. »Gefällt es dir?« sagt er. Dann küßt er sie auf die Stirn; beide werden blutrot dabei, aber die Violanta lehnt sich an ihn und erträgt es, daß er den Arm nicht löst, während sie von der Stubenschwelle weg und einer andern Tür zugehen. Auch diese öffnet Adelrich, langsamer, wie mit einer heimlichen Andacht. »Da wohnt die Mutter,« erklärt er. Violanta sieht in eine Stube, die nur um weniges kleiner ist als die von vorhin. Auch sie enthält zwei Betten, aber über dem einen hängt ein hinter Glas gesteckter Grabkranz; in dem Bett hat der Ratsherr Renner gelegen. An den Fenstern, mit Ausnahme eines einzigen, sind die Läden geschlossen, so herrscht ein dämmeriges Licht in der Stube; das eine jedoch wirft seine Helle breit an eine Wand, an der ein Bild hängt, eine Photographie, in schmucken Rahmen gefaßt: der Marianus Renner als Offizier. Die Violanta hat sich langsam in der Stube umgesehen; als ihre Augen über das Bild gleiten, kann sie es nicht hindern, daß sie zusammenzuckt. Der Adelrich, der den Arm noch immer um sie gelegt hält, muß es merken, wie es ihr einen Ruck gibt. Aber er wähnt, daß sie sich von dem Bild abwende, um ihn nicht wissen zu lassen, was sie gesehen. »Da hängt er – ja – ja – da,« sagt er still, »die Mutter will ihn nicht wegtun, er ist ihr halt immer noch der Liebste.«

Violanta ist wieder ganz ruhig, sie steht geradeauf. »Wenn das Bild anzusehen ihr weh tut,« sagt sie mit fast harter Stimme, »so nimm du es weg; es ist manchmal gut, wenn man nachhilft, wo eines nicht selber herzhaft zugreifen darf.«

Der Adelrich weiß nicht recht, was er darauf antworten soll. »Ja, ja,« murmelt er, »das könnte ich ja – so – könnte ich.« Damit wenden sie sich auch schon aus der Stube und anderen Kammern zu. Als Violanta eine Viertelstunde später, von Adelrich geleitet, unten aus der Wohnstube tritt, um heimzugehen, ist ihr zum erstenmal, als fiele in das wölbige Stiegenhaus, über das sie immer so froh und mit heimlichem Stolze steigt, ein Schatten.


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