Ernst Zahn
Der Schatten
Ernst Zahn

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2.

Der Tag vergeht. Oben in den Matten hocken die Soldaten, vergessen, verschlafen. Der Leutnant Renner steht wieder bei der Violanta. Den ganzen Tag ist er der nachgestrichen, seinetwegen hätte von der feindlichen Abteilung die Straße herabkommen können, wer wollte. Der Renner kümmert sich den Teufel um Pflichten, wenn er seinem Vergnügen nachgeht; das hat er immer so gehalten! Drüben ist das Bataillon über den Fruttneller Berg gestiegen; auch der Stab ist ihm nachgezogen.

»Rein vergessen haben sie uns,« lacht der Fedier oben an der Lehne.

Der Leutnant steht bei der Violanta an der Kapelle, die am Waldeingang oberhalb der Intschihütte sich erhebt. Diesmal hat er das Mädchen für sich; keiner stört sie.

Zu der St. Matthiaskapelle kommen die Bauern wallfahrten, wenn sie Herzensnot haben. Die hohen Waldstämme beschatten den morschen, grauen Kapellenbau. Eine Mauer schließt den kleinen Vorraum gegen den Fluß hin ab, der in der Tiefe zischt.

Der Tag ist am Versinken. Die Sonne brennt nicht mehr, dennoch ist es heiß; es ist, als dehnten sich die Felsen und Steine atmend und stießen die Glut wieder aus, die sie tagsüber eingesogen. Die Tannen stehen reglos; etwas Erhabenes liegt in der Totenstille, mit der sie ihre Wipfel über der Kapelle halten. Der Himmel ist fern, von absterbendem Blau, in dem es wie ein unbestimmtes Silberzucken kommender Sterne geht. Weitab und verloren wandern Töne wie von singenden Kinderstimmen, fast als zöge ein Kreuzzug kleiner Menschen über einen fernen Berg. Auf der Höhe im Westen von der Fruttneller Kirche her läutet die Aveglocke. Der Wind verträgt die Töne dem höchsten Wald zu, nach den Firnen hinauf.

»Ist dir der Tag nicht kürzer gewesen als sonst?« fragt der Leutnant die Violanta. Diese zuckt die Achseln und setzt sich auf die Mauer ob der Wildbachtiefe. Der Renner steht zwei Schritte von ihr entfernt. Sein Blick schleicht mit einer versteckten Gier über die schönen Linien ihres Körpers. Aus der Violanta kann ein stattliches Weib werden!

»Soll ich einmal wiederkommen?« fragt er. Seine Stimme ist nicht mehr laut; sie ist wie der heiße Atem des Abends. Dabei hat er, herantretend, den Arm fest um die Gestalt des Mädchens gelegt. Dieses gibt auf seine Frage gleichgültig Bescheid: »Warum nicht? Wenn Ihr wollt!« Aber dem Arm entwindet sie sich nicht, läßt es auch geschehen, daß er das Gesicht an das ihre drückt und sie küßt. Sie sieht dabei immer irgendwohin ins Leere; ihr Atem geht nicht rascher.

Der Renner flüstert ihr heiße Worte zu und umspannt sie fester mit beiden Armen; er hat etwas in seiner Art, das einem Mädchen wohl den Kopf wirr machen kann. In diesem Augenblick kommen Hufschläge durch den Wald herab. Der Leutnant lauscht unwillkürlich. Es ist leicht zu unterscheiden, daß sich ein Reiter naht. Er läßt die Violanta sitzen und tritt in die Straße hinaus. Ein Adjutant sprengt auf der Bergstraße heran.

»Vorwärts, Herr Leutnant. In Fruttnellen ist Nachtquartier. Führen Sie ohne Zögern Ihre Leute dahin.«

Der Leutnant nimmt die Meldung in dienstlicher Haltung entgegen. Der Adjutant salutiert, wendet sein Pferd und sprengt seines Wegs zurück. Mit zwei Schritten ist Renner wieder bei dem Mädchen. Er packt ihren Arm mit einem zwingenden Griff. »Morgen ist Sonntag,« keucht er hastig. »Da bin ich dienstfrei. Morgen abend komme ich, hörst? Lassest mich ein, hörst? In deine Kammer, hörst?«

Sein Blick geht ganz nah in den ihren; dabei ist der seine wie ein flackerndes Feuer, der ihre verträumt, als wanderten ihre Gedanken weitab. Erwartet ihre Antwort nicht ab, sondern wendet sich rasch und geht nach der Hütte hinab. Auch ohne weitere Worte bleibt der Violanta der aus seinem Gebaren sprechende Bescheid zurück: Nein sagst du mir doch nicht!

Das Mädchen erhebt sich nach einer Weile, sie dehnt die Arme leicht, streckt sich zu ihrer schlanken Höhe und schreitet bedächtig der Hütte zu. Auf der Straße vor dieser stehen die Soldaten, ein paar Scherze fliegen ihr an, als sie vorübergeht; der Leutnant streift sie mit einem jähen Augenblitz, dann schallt seine rauhe Stimme laut und barsch: »Vorwärts marsch!« Die kleine Schar zieht bergan und waldein.

Das Mädchen steigt über die Steintreppe in die Matte hinauf, lässig wendet sie den Kopf nach den Davonziehenden. Der Zureich, ihr Vater, tritt aus dem Stalle und neben sie. »So, kommst auch wieder einmal?« sagt er. Die Violanta dreht sich wortlos von ihm ab und wendet sich der Hütte zu.

Einen Augenblick später hantiert sie oben in Stube und Küche, wo die Mutter sie mit Keifen empfangen hat. Stube und Küche in der Zureichwohnung sind widerlich verwahrlost, wie anderswo kein Viehstall. In der Stube liegt eine Kotschicht auf dem tannenen Boden, eine Staubschicht über Fenstern, Stühlen und Gerät, eine Fettschicht auf der Platte des runden tannenen Tisches. Die Küche ist heiß, schwarz, dumpf, voll Rauch, der gute Rahmen zur Zureichin, die, wie sie keifend darin steht, nur noch der Krallen und des Besens ermangelt, damit die Hexe vollständig ist.

Zu verwundern ist, daß die Violanta an sich selber so sauber ist. Dabei sticht die Ruhe und Lässigkeit ihres Wesens sonderbar gegen die hastige, verfahrene Art der verkommenen Alten ab. Eine Weile gehen die zwei Frauen hin und wieder; die Violanta legt einmal auf den fetten Tisch in die Stube drei Löffel und stellt eine grüne Flasche dazu. Kurz darauf kommt der Zureich die Treppe heraufgestiegen; er trägt einen Schwall von Schweiß und Stallluft in die Stube hinein, tritt gleich an den Tisch, packt die Flasche und setzt sie an die Lippen. Erst nachdem er einen tüchtigen Zug getan hat, läßt er sich auf einem der Bretterstühle am Tische nieder. Die Zureichin trägt eine irdene Schüssel herein, mit einer unappetitlichen, dampfenden Brühe darin; mit schlürfenden Schritten – sie hat unförmige, zertretene Filzschuhe an den Füßen – geht sie zum Tisch und setzt die Schüssel nieder; weil sie diese krumm hält, läuft auf einer Seite die Brühe aus und ihr über die Hand; da flucht sie, zieht die Hand zurück und reibt sie am ekligen Rock sauber. Dann hockt sie hin, ihrem Manne zur Seite. Jetzt kommt auch die Violanta herein, setzt sich zu den beiden, die schon mit dem Löffel in der Suppe sind, und die Abendmahlzeit hebt an. Sie sind eine häßliche Gruppe; der Zureich und sein Weib lehnen weit über den Tisch, sind mit den Mäulern halb in der Schüssel, und die Brühe läuft ihnen aus den Mundwinkeln; während sie hastig essen, ist etwas Tierisches in ihrer Art. Die Violanta ißt langsamer, obwohl auch sie die schlanken Arme breit auf den Tisch gestützt hält; aber auch in ihrem Blicke glimmt das, was in den Augen der Alten leuchtet, eine Art Mißgunst, als könnte eines der andern zuviel bekommen. Mit den Blicken milchschlürfender Katzen sehen sie einander an, reden auch nicht, höchstens daß der Zureich einmal ein wüstes Wort durch die Zähne stößt, wenn er sich an einem besonders heißen Löffel die Zunge verbrennt. Allgemach wird die Schüssel leer, eins nach dem andern legt den Löffel weg und fährt sich mit dem Arm über den Mund. Die Zureichin fängt an, von den Soldaten zu reden; die Violanta, die aufsteht und Schüssel und Löffel wegträgt, gibt hin und wieder einsilbige Antworten. Der Baschi zieht einen Brief aus der Tasche, einen schmutzigen, zerknüllten Fetzen. »Die Justina hat geschrieben,« sagt er. Dabei dreht er den Brief in den schweren, schwarzbraunen Händen und buchstabiert noch da und dort ein Wort. »Ein Paket schickt sie noch,« erzählt er weiter, und ein widerlich vergnügter Ausdruck macht sich in seinen groben Zügen breit. Die Alte nimmt ihm den Brief aus der Hand und liest ihn mit einer unbäurischen Fertigkeit; das Leben hat sie in ihrer Jugend einmal nach einer großen Stadt verschlagen, wo sie neben vielem Schlimmen auch einiges Gute, so das Lesen, gelernt hat.

»Kleider schickt sie heim, die Justina,« zählt sie aus dem Brief lesend auf, »einen Hut für dich von ihrer Frau,« erklärt sie nach der Violanta hinüber. Dann stockt sie und grinst. »Und einen Ring,« fährt sie dann mit einem merkwürdigen Kichern, das wie das Überbrodeln einer in ihr kochenden Schadenfreude ist, weiter, »einen Ring, den sie gefunden hat, einen beim Eid ganz goldenen.«

Der Zureich, den manchmal doch die landesübliche Ehrlichkeit sticht, fährt trocken darein: »Die Frau, der Justina ihre, hat ihn verloren. Wenn sie sich nur nicht einmal die Finger verbrennt, das Mädchen.«

Die Zureichin zuckt leichtfertig und wortlos die eckten Achseln. Die Violanta ist auf dem Weg vom Tisch zur Stubentür plötzlich und unwillkürlich stehengeblieben wie vor einem Stein, über den sie nicht hinüberkommt. Sie dreht den Kopf nach den Alten zurück und weiß selber nicht, was ihr ist. Etwas in ihr bäumt sich auf, aber um ihr Leben könnte sie nicht sagen, was es ist; denn es ist in der Stube nichts geschehen, was außergewöhnlich wäre. Sie geht dann hinaus, still, ohne weitere Gedanken, nur ein Gefühl an sich, als ob sie an Händen und Füßen Ketten schleife. Dieses Gefühl verläßt sie an dem Abend nicht, weshalb sie auch, wie einer eben dem Bett zuschleicht, den die Beine nicht mehr willig tragen, früher als sonst über die Leitertreppe nach der Kammer hinaufsteigt, die im Giebel der Hütte liegt. Die Kammer liegt nach hinten hinaus; mit einem währschaften Sprung kann einer von ihrem Gesimse den steilen grünen Mattenhang erreichen.

Die Violanta, als sie mit einer lässigen Bewegung die Tür der Kammer aufstößt, erschrickt fast vor der Helle, die darin herrscht. Auf der Leitertreppe ist es dunkel gewesen; auf den staubschwarzen Brettern des Kammerbodens, über dem einen Stuhl mit dem Scherben von einem Waschbecken darauf und über dem Bett mit dem flickigen Bezug liegt ein Lichtschein, so hell wie fast am Tag. Das Fenster steht offen, eine milde Kühle quillt herein; auf seinem Gesimse ist der Lichtschein am hellsten; dort sieht es sich an, als sei flüssiges Silber über das dürre, gesprungene Holzwerk gegossen; es flirrt und zuckt in kleinen Tümpeln, wie wenn aus einem Regen milde Wässerlein zurückgeblieben wären; der Mond ist auf.

Mit derselben lässigen Art, mit der sie hereingekommen ist, ergreift die Violanta ihren Stuhl, bringt ihn mit einem Schwung ans Fenster und setzt sich mitten in den weißen Mondschein hinein, setzt sich so jäh hinein, daß es ist, als sei eine ins Wasser gesprungen und gehe ein leises Sprühen glänzender Tropfen rings um sie. Dann kommt der Schein wieder zur Ruhe, und es ist, als fließe er ihr zärtlich über Schultern und Arme, in jede Linie des Antlitzes und über den braunen schlanken Kopf. Wie aber der Schein jeden der Züge hell überleuchtet, zeigt es sich, daß die Violanta ein Gesicht hat, an dem, wenn es wie jetzt den Himmel anstaunt, der Herrgott sein Wohlgefallen haben kann. In dem Lichtschein zeigt sich die hohe glatte Stirn, die Nase, die einen so geraden und feinen Bug hat, daß er im Mondschein wie ein frischer Messerschnitt schimmert, die festen schmalen Lippen und das schön geformte Kinn; der Kopf steht aus den Fetzen des Gewandes, dem Schmutz der Kammer auf wie ein zum Trödler getragenes Kunstwerk aus dem Allerlei seiner Bude.

Die Violanta stützt den Kopf in die eine Hand und sieht in die helle Nacht hinaus; sie lehnt schwer an der Brüstung und gähnt; es macht sie schläfrig, daß sie noch immer ein Unbehagen an sich hat, aus dem sie nicht klug werden kann. Sie muß mit lässigen, traumartigen Gedanken an den Leutnant denken. Halb verschwommen fühlt sie noch die Freude an den Schmeichelreden, die der Reiche von Oberalpen für sie gehabt hat, und ein kindisches Wohlgefallen an seinem glänzenden Soldatenrock. Dann erinnert sie sich seiner Worte, daß morgen Sonntag ist und daß er kommen will. Dabei neigt sie sich unwillkürlich mehr aus dem Fenster und schaut auf die grüne Lehne hinab. Fast ist ihr, als stände er schon da unten und riefe leise herauf: »Laß mich ein, du!« Das Herz schlägt ihr um keinen Schlag rascher. Eine leise Neugier ist in ihr, wie es sein wird, wenn er wirklich kommen und dort stehen wird! Und ob sie ihn einläßt? – Bah, warum nicht? – In der Intschihütte geschieht allerlei, was andernorts nicht geschieht! Daß einer im Offiziersrock zu Besuch kommt, ist zwar etwas Neues, aber warum sollte man nicht etwas Neues erleben wollen!

Als ihr unter dem Mondlicht und den Gedanken der Kopf ins Nicken kommt, steht sie auf, entkleidet sich und legt sich ins Bett. Sie ist so schläfrig, daß sie schon im Sichlegen einschläft und das Niederlegen wie ein Sinken empfindet. Sie fühlt sich sinken, sinken – tiefer und tiefer. Plötzlich fährt sie noch einmal auf; es ist ihr gewesen, als schlage ihr Körper im schmerzhaften Fall plötzlich auf. Sie öffnet die Augen weit und groß, das Bewußtsein kehrt ihr zurück, aufrecht im Bette sitzend sieht sie die vier Wände der Kammer an: Da bist, du! Da legt sie sich wieder und läßt den Schlummer an sich kommen.

Als sie erwacht, ist der Sonntag da. Er schaut mit demselben heißen, blauen Himmel zum Fenster herein wie der gestrige Tag und hat denselben heißen Atem. Dabei vergeht er noch langsamer wie ein Werktag, weil er keine Arbeit bringt. Gegen den Mittag fällt der Violanta ein, daß heute der Tag ist, an dem die Offiziere Urlaub haben und an dem der Renner kommen will. Bah, der wird schön wegbleiben, denkt sie und kümmert sich nicht. Wenige Augenblicke später sieht sie eine Schar dienstfreier Soldaten über den Steg an der Hütte vorüberziehen. Der Fedier von der Halde ist darunter, erzählt den andern etwas im Vorübergehen, lacht und jauchzt eines herauf. Da ist der Violanta, als ob der Renner doch kommen könnte.

Am Abend, als es dunkel ist, kommt er wirklich. Er steht nicht an der Halde und ruft: »Laß mich ein, du«, aber als die Violanta das Wasser vom Brunnen holt, steht er plötzlich hinter ihr, legt die Arme fest um sie und sagt: »Da bin ich!«

Eine Weile plaudern sie zusammen; dann will sie gehen. »Du kommst wieder,« sagt er.

Ohne Antwort geht sie fort, aber wie er es verlangt hat, kommt sie nach einer Stunde zurück. Er staunt über die eigentümliche Ruhe, mit der sie alles, auch sein Schöntun, über sich ergehen läßt. Sicherer wird er, legt auch mit festem Griff den Arm um ihre Hüfte. Nach einer Weile sagt er: »Hier könnte mich einer sehen in der Uniform.«

Sie horcht auf und sieht ihn neugierig an. »In deiner Kammer sieht mich keiner,« sagt er dann wieder. Als er es ein paarmal gesagt hat, steht sie wortlos auf und geht ihm voran hinauf in die Kammer, gleichgültig, wie im Traumwandel. –

Dann lugt in die Kammer der Violanta der dritte Tag, kühl und frisch. In der Nacht ist ein Wetter niedergegangen; ein kühler Ostwind bläst. Aus der grünen Lehne steigt ein leiser Dampf. Silbertropfen hängen an den Gräsern und an den Ästen der nahen Tannen. Einmal, als ein Vogel durch das dunkle Nadelgeäst streicht, geht ein Sprühregen glitzernder Tropfen auf den Waldboden nieder. Die Violanta steht am Fenster und sieht es; sie erschrickt, als wäre der Tropfenschauer ihr über den Nacken gegangen. Sie ist halb angezogen, Hals und Arme sind bloß; diese trifft der starke, frische Windstoß, der über die Lehne herabgefahren kommt und sich durchs Fenster zwängt, als wolle er das Mädchen wegdrängen. Unwillkürlich legt sie die Hand an den Fensterpfosten, wie zum Halt; und so klein der Widerstand ist, den sie leisten muß, so weckt doch die unscheinbare Anstrengung eine seltsame in ihr schlummernde Kraft. Ihre Gestalt reckt sich unwillkürlich; von ihrer Stirn springt es wie ein eiserner Ring, der sie umspannt hielt. Der Kopf ist ihr dumpf gewesen und wird ihr plötzlich frei, ist plötzlich voller klarer, schmerzlich klarer Gedanken.

»Jesus Maria,« sagt die Violanta.

Das Einschlafen fällt ihr ein, da ihr gewesen ist, als ob sie sinke, sinke und plötzlich mit schmerzhafter Wucht aufschlage. Und dann ist ihr, als sei das Aufschlagen in diesem Augenblick erfolgt, heftig, Kopf und Glieder und Sinne erschütternd. »Jesus Maria,« sagt sie noch einmal. Ein unsäglicher Ekel erfaßt sie plötzlich. Sie sieht die vier Kammerwände an. Eng ist ihr darin! Lange hat sie darin und in der Hütte gewohnt! Und heute, jäh, wie vom Himmel gefallen, erfaßt sie ein Ekel vor Kammer und Hütte! Hastig zieht sie sich an. Als sie hinausgehen will, fällt ihr Blick auf den Stuhl, wo das Waschbecken steht; eine kleine, wertlose Tuchnadel liegt neben dem Becken; das gelbe Metall glänzt in der Helle, die durchs Fenster strömt. Das Mädchen ächzt; der Laut ist fast wie ein unterdrückter Wutschrei. Das hat er ihr mitgebracht, er, der Marianus Renner! Und sie hat es willig genommen, gestern abend noch! Selbst Freude hat sie daran gehabt! Aber jetzt! Sie geht auf den kleinen Gegenstand zu, faßt ihn und schleudert ihn durchs Fenster in weitem Bogen an die Lehne hinauf. Dann geht sie hinab an die Arbeit. Sonst hat sie sich behäbig Zeit genommen, heute schüttert der Boden unter den festen, raschen Schritten, mit denen sie in die Küche tritt. Sie nimmt den Milcheimer vom Nagel und macht sich auf den Weg zum Stall. Auf dem Flur begegnet ihr die Mutter. Die sieht sie mit einem höhnischen Ausdruck an, sieht ihr gerade ins Gesicht, als sollte sie, die Violanta, die Augen senken. Ein Guttaggruß geht nicht zwischen ihnen.

»Wo ist der Renner hingekommen gestern abend?« fragt die Alte unvermittelt; ein häßliches Grinsen begleitet die Worte. Die Violanta zuckt die Achsel. »Weiß ich's?« sagt sie. Aber sie ist totenbleich dabei, und während sie weitergeht, ist ihr, als sollte sie sich umdrehen und ausspeien vor der eignen Mutter.

Eine Weile später hocken der Zureich und sein Weib zusamt dem Mädchen über ihrer Morgenmilch. Sie reden nicht viel; die Zureichin stichelt ein paarmal: »Der ist bald wiedergekommen, der Renner,« und dergleichen. Die Violanta schlürft die Milch, sieht starr in den Tisch und sagt kein Wort; sie steht wieder auf und geht hinaus. Auch in der Wohnstube ist ihr eng, als hielte sie es nicht mehr aus darinnen. Dann steigt sie wieder nach ihrer Kammer hinauf; es ist ihr, daß sie noch etwas mit sich auszumachen hat. Sie setzt sich auf den Stuhl, staunt vor sich hin und rechnet ab: »Was ist denn?«

Die Gedanken kommen ihr. Verrufen sind wir immer gewesen! Dem Urgroßvater haben sie den Kopf abgeschlagen. Seitdem sind alle Zureich verrufen. Von der Mutter reden sie schlecht, haben sie alleweil geredet, von den Schwestern auch. Und mit Recht! Was nur wieder in dem Brief gestanden hat vorgestern! Dann ist er gekommen! Ganz gern hat sie ihn kommen sehen! Ganz gern hat sie sich schön tun lassen. An nichts ist er groß schuld, der Gast! Und jetzt! Aufgeschlagen ist sie – im Fallen, wo es tiefer nicht ging – und erwacht!

Die Violanta steht von ihrem Stuhle auf; eine alte Kiste, die an ihrem Bette steht, macht sie auf und kramt darin und packt ein Bündel. Das geht alles sicher und schnell; den Sonntagsrock zieht sie an, das Werktagsgewand packt sie auch noch dem Bündel bei. Dann geht sie in die Stube hinunter. Sie ist leer. Vater und Mutter aber hört sie unten am Hause reden, und hinunter steigt sie, gerüstet wie zur Reise. Der Vater hat ein Beil in Händen und den Tragkorb auf dem Rücken; die Mutter langt sich einen zweiten Korb von einem Nagel am Haus, wo das breite Dach schützt, was daran hängt. Als ihre Blicke auf das Mädchen fallen, schießt ein jähes Staunen darin auf.

»Wa–, was ist mit dir?« fragt der Zureich.

»Ade, Vater,« sagt Violanta und drückt ihm flüchtig die kräftige Hand, die das Beil hält. »Ade, Mutter!« Nach der Alten sieht sie sich kaum um.

»Bist verrückt?« sagt die Zureichin, als sie Worte findet.

»Ich gehe fort,« sagt die Violanta. Sie steht kerzengerade in den Schuhen; der Kopf sitzt ihr im Nacken, als sagte sie: »Halte mich einer, wenn er kann.«

»Bist verrückt!« murrt da auch der Zureich.

»Ich gehe einen Dienst suchen,« gibt das Mädchen, schon einen Schritt entfernt, Auskunft. Da bekommt der Alte einen roten Kopf. »Warum?« fragt er.

»Es gefällt mir nicht mehr da.«

»Warum?« kreischt die Zureichin, die das Staunen wild macht.

»Es gefällt mir einfach nicht mehr.« Mit dem wendet sich das Mädchen zum Gehen. Aber die zwei Alten fahren hinter ihr her. An jedem Arm halten sie zwei krallende Hände. »Da bleibst! Bist verrückt? Ich will dich lehren!« schallt es durcheinander.

»Laßt mich,« keucht die Violanta. Ihre Augen glimmen. Sie hebt die festen Arme mit einer mächtigen Bewegung und schüttelt die Alten von sich. Ein paar Sprünge bringen sie aus ihrem Bereich. Der Vater stürzt ihr nach. Da beginnt sie zu laufen und stäubt straßan in den Wald.

»Von der Polizei laß ich dich heimholen,« kreischt der Alte hinter ihr. Sie jagt davon wie der Sturm. Er holt sie bei weitem nicht ein. Als sie tiefer in den Wald hinein gelangt ist, mäßigt sie die Eile; vor und hinter ihr ist die Straße leer und still. Dem Vater ist das Nachkommen verleidet. Sie bleibt stehen und lauscht. Zu beiden Seiten der Straße stehen die mächtigen Tannen, ein Stück bergan enden die dunkeln, stillen Baumwände, liegt die Straße frei und schimmert weiß herab. Dort streben die Matten zur Linken und zur Rechten steil an, über diesen steht wiederum düsterer Wald, kahles Felswerk ragt aus ihm auf, schroff, spitz, turmschlank oder wie Wälle und Mauern; hoch oben aber, weiß und klar und groß, schimmern Schneegipfel und Firne. Das steht alles im Norden an den wolkenlosen Himmel gebaut. Der Violanta, die sich mit einem Aufatmen bergan auf den Weg macht, sicher geworden, daß keiner mehr sie verfolgt, schlägt ein kühler Wind entgegen, der wie ein Atemzug jener fernen Firne ist. Da läßt sie ihr Bündel fallen, die Arme gleiten ihr zu beiden Seiten herab, die Brust dehnt sich. Unbekümmert, ob einer und wer sie hört, selber kaum wissend, was sie tut, stößt sie einen wilden, gellenden Schrei aus. Als sie geschrieen hat, ist ihr leichter zumute, freier, so, als seien schwere Eisen von ihr gefallen.


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