Ernst Zahn
Der Schatten
Ernst Zahn

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1.

Das Reußtal aufwärts manövriert ein Infanterieregiment. Auf der Landstraße hält der Stab eines Bataillons, der Major und sein Adjutant zu Pferde, eine Schar jüngerer Offiziere zu Fuß; hinter ihnen schlängelt sich die Reihe der Soldaten talwärts.

»Leutnant Renner!« befiehlt der Major; die Stimme schnarrt kriegerisch. Der Genannte tritt vor, salutiert, steht stramm aufgerichtet; der Kommandant hat sich den stärksten aus der Schar ausgelesen; neben ihm sehen die andern aus wie schlanke Weiden neben einem Eichstamm. Der Leutnant Renner ist ein in die Uniform gesteckter Bauer.

»Sie sehen die Hütte dort höher am Berg jenseits der Reuß,« sagt der Major.

»Zu Befehl, Herr Major, die Intschihütte,« gibt der andre zurück und schlägt die Absätze zusammen; in seinem Ton liegt etwas wie: Da herum kannst mich fragen, was du willst, das kenne ich wie meine Tasche.

»Nehmen Sie mit zehn Mann bei der Hütte Stellung. Weichen Sie nicht, bis Sie abgerufen werden. Melden Sie, wenn auf der Straße sich Auffälliges zeigt.«

Leutnant Renner stößt auf die Weisung seines Vorgesetzten abermals ein kurzes »Zu Befehl« heraus, dreht sich um und eilt zu den Soldaten zurück. Kurz darauf marschiert er mit seiner Abteilung die Straße bergan, der ihm gewiesenen Hütte zu.

Der Tag ist heiß. Staub liegt auf der Landstraße, Staub klebt am Buschwerk und an den Gräsern, die aus den Matten in die Straße hängen. Der Wind hat in das graue Straßenmehl geblasen, nun ist es weit hinan an die grünen Lehnen gestreut. Der Leutnant und seine Untergebenen stampfen fürbaß; anfangs ist ihre Haltung stramm, ihr Schritt regelmäßig: als jedoch eine Wendung der Straße sie den Blicken der Zurückgebliebenen für eine Weile entzieht, wird beides nachlässiger. Sie laufen dahin, wie der Bauer über Heimboden läuft. So sind die Urväter im Hirtenhemd mit Morgenstern und Hellebarde schwerfällig über die Bergwege geschritten; die Nachkommen hat man in Uniformen gesteckt, hat sie gedrillt, aber der Drill fällt alle Augenblicke ab wie schlecht zugeknöpftes Gewand; was zurückbleibt, ist der Bauer, wie er vor tausend Jahren schon im Lande saß.

Der Leutnant Renner trägt den Säbel unterm Arm. Er dreht einmal das wetterharte, bleiche Gesicht kurz nach den ihm Folgenden zurück.

»Da hinüberhocken,« knurrt er, »das kann kurzweilig werden! Die andern steigen über den Fruttneller Berg. Da können wir wie die Verlorenen inzwischen ins Leere gaffen.« Damit blickt er wieder dem höher am Berge liegenden Ziele zu; sein Gang hat etwas Verdrossenes; an der knappen Uniform zeichnet sich das harte Muskelwerk seiner Arme und Beine; in dem stoßweisen Vorwärtsbewegen seines hochgewachsenen Körpers liegt etwas von der rohen Kraft eines ziehenden Stieres. Seine Worte haben den Soldaten die Zunge gelöst. Sie heben eine ungezwungene Unterhaltung an; eines und des andern Rede gilt dem Offizier; der antwortet gar nicht oder nur mit einem kurzen Ja oder Nein. Indessen kommt der Wald, der dunkle, totenstille Tannenwald, der bislang hoch oben die Mattenhalden gesäumt hat, an die Straße herabgestiegen. Wie zwei mit einer faulen Bewegung die Leiber dehnende Riesen treten die Berge diesseits und jenseits der Reuß näher zusammen. Zwischen ihnen in engem, felsigem Bett tief unter der Straße zischt der Fluß; der hat eine Verwandtschaft mit dem Wesen des Leutnants; er wirft sich an die Felsen mit roher Gewalt: »Durch will ich.« Über der Straße und dem Wald und den Felsenzacken, die wie Ruinen gewaltiger Burgen aus dem Walde aufsteigen, steht der heiße blaue Himmel.

Die Schar der Soldaten stampft voran, über eine Brücke, dann steiler an. Ein Stück unterhalb der Stelle, wo die Straße sich in den Wald verliert, steht die Intschihütte.

»Nicht einmal ein Wirtshaus ist in der Nähe,« murrt einer aus der Schar, die sich dem Holzbau nähert. Der Leutnant Renner läßt seine Augen über die Hütte und ihre Umgebung schweifen, helle, graue, tiefliegende Augen; von diesen, die kohlschwarze Wimpern und ebensolche Brauen haben, hat einer seiner Soldaten noch heute morgen das Bild gebraucht, daß sie wie Lichter seien, die im schwarz ausgeschlagenen Flur eines Trauerhauses brennen.

Der Leutnant sagt ein rauhes »Halt«. Seine Stimme ist von einer leisen Heiserkeit belegt, als hätte er sich überschrieen. Die Soldaten stehen mit einem Ruck. Der Offizier schwingt sich auf die Matte hinauf, die an der Straße in einer von Grünwerk durchwusteten Mauer endet. An der hängenden Matte hin steigt er der braunen Hütte zu, die unsauber dasteht, wie ein ungewaschener Mensch. In ihrem Unterbau aus roh verputztem Mauerwerk liegt der Stall, seine Tür steht offen, ein schmieriger, bepflasterter Vorplatz liegt daran. Über dem Stall steht das Holzstockwerk mit den Wohnräumen für die, denen die Intschihütte gehört. Das Holzwerk ist schwarz und rissig, unglaublich alt, an den niedern Stuben fehlen ein paar Scheiben; die noch da sind, sind blind, schwarz fast wie das Holzwerk selber. Der Leutnant Renner wirft einen flüchtigen Blick nach den Fenstern hinauf, an denen zwei Weiberköpfe sichtbar sind, ein alter und ein junger; dann geht er vorüber, biegt um die Hütte und steigt hinter ihr auf eine Bodenschwellung, von der ein unerwarteter Auslug ist. Zwischen den Waldtannen hindurch läßt sich weit hinauf die Straße ins Gebirge verfolgen. Ein paar herumliegende Felsbrocken sind wie Wälle für Wachtposten bereitet. Der Leutnant nickt unwillkürlich. Dann ruft er seine Leute und verteilt sie, hierhin, dorthin, einen Posten schiebt er bis an den Wald vor, einen andern stellt er unter die Tannen, die dräuend wie schwarze Wächter vom obern Mattensaum auf die Intschihütte niederschauen. Er selber mit vier Mann wirft sich hinter die Steine ins Gras. So hocken sie, und die Sonne brennt auf sie nieder.

Unten aus dem Stall ist ein Mensch getreten, mittelgroß, barfuß, die Füße von einer Schmutzkruste überzogen, in rauher, schwerer Hose, die ein Ledergurt hält, und in schmutziggrauem Hemd. Er hat einen grauen Wollkopf, alte wetterbraune Züge und hellblaue Augen. Er späht nach den Soldaten hinauf, murmelt einen Fluch und etwas von »Gras zertreten« in sich hinein und geht wieder an seine Stallarbeit zurück. Der Leutnant hat den geifernden Alten halb höhnisch, halb belustigt angesehen, jetzt schlägt er eine kurze, heisere Lache auf und sieht seine Soldaten an.

»Der Zureich-Baschi,« sagt einer von diesen. Ein andrer, junger, vorlauter fällt ein. »Dem sein Großvater ist der letzte gewesen im Land, den sie geköpft haben.«

»Ich weiß,« sagt der Leutnant mit gleichgültigem Achselheben.

»Seither haben sie den Gestank nicht mehr aus der Hütte gebracht,« wirft der erste grob ein.

»Sie haben sich auch keine Mühe gegeben,« sagt einer von denen, die bisher geschwiegen haben, faul daher, wie sich's in der Sonnenhitze redet.

»Wieso?« Damit dreht sich der Leutnant ihm zu.

»Bah,« gibt der zuletzt gesprochen hat, der Fedier, zurück, der ein Kind der Gemeinde ist, zu der die Intschihütte gehört, »bah, dem Zureich sein Vater ist der größte Holzfrevler und Wilddieb gewesen talauf und talab: der da unten, der Baschi, hat's ihm nachgemacht! Ist es wahr oder nicht, Sepp?« wendet er sich an den Kameraden, der das Gespräch angehoben hat. Dieser, ein blatternarbiger Mensch mit Triefaugen und wulstigen Lippen, nickt, gähnt und meint mit einer fetten Stimme: »Und seine Mädchen erst! Die beiden ältesten sind dienen gegangen. Die erste hat ihren Dienstherrn zu St. Felix bestohlen hinten und vorn, die zweite ist sonst nicht sauber, heimkommen darf keine mehr. Wir Steger verbitten uns derlei Volk.«

»Donnersschöne Mädchen sind sie gleichwohl alle,« platzt der Vorlaute, Junge wieder dazwischen.

Der vierte Soldat, ein bartloser hagerer Mensch, der im Bergland fremd ist, hat nichts dazu zu sagen. Er sieht, am Hang hockend, die Ellbogen aufs Knie gestützt, nach der Hütte hinunter; der Ausdruck seiner Züge ist gleichgültig; aber plötzlich springt Leben hinein; unwillkürlich neigt er sich vor. An der Hütte unten liegt ein morscher Holztrog, in den aus einer rostigen Eisenröhre das Wasser einer Quelle fällt. Zu dem Brunnen ist ein Mädchen getreten.

»Hm,« räuspert sich laut, damit die am Brunnen ihn hören soll, der, den der andre Sepp genannt hat; seine Augen glänzen. »Dem Baschi die Jüngste,« murmelt er nach dem Leutnant hinüber. Die Augen von allen fünfen hängen an der am Brunnen stehenden Gestalt. Die steht wie ein schlanker junger Baum im Licht der Sonne.

»Ein Fressen wäre sie, die da,« sagt der Sepp; es klingt, als schlürfe er einen Leckertrank. Das Mädchen am Brunnen hat einen Eimer unter die Röhre gestellt; mit der linken Hand hält sie ihn leicht auf dem Brunnen fest, die rechte stemmt sie in die Seite. Beide Arme sind nackt bis zum Ellbogen, sind rund, und ihre Haut, wie die des Halses, wo dieser aus dem geflickten braunen Rock tritt, hat einen fremdartigen Schmelz. Die Gestalt ist von großem Ebenmaß, das braune Haar des schlanken Kopfes, obwohl wild und nachlässig aufgesteckt, weich und schön.

»Hm,« räuspert sich der Sepp noch einmal. Die am Brunnen dreht sich um. Sie hat einen festen, feinen Mund, den ein halb höhnisches, halb allzu freies Lachen umspielt. Aus Augen, deren Pupillen so schwarz sind, daß sie wie zwei Kugeln im Weiß stehen, sendet sie einen herausfordernden Blick zu den Soldaten herauf.

Der Leutnant Marianus Renner richtet sich vom Grase auf, langsam; es soll keiner ihm ansehen, daß er Eile hat, mit der da drunten Bekanntschaft zu machen. Er dehnt und reckt sich, sein im Gegensatz zu dem starken Körper hageres, von schwarzen Bartstoppeln bedecktes Gesicht rötet sich leicht, in seinem Blick glimmt es; vielleicht aber ist es nur der heiße Schein der Sonne, der sich auch in Augen spiegeln kann. Langsam schnallt er den Säbel los und läßt ihn ins Gras klirren; einen Daumen in die Hosentasche gehängt, steigt er zu dem Mädchen hinab. Der Fedier stößt dem Sepp den Ellbogen in die Rippen; ihre Blicke kreuzen sich verständnisvoll und suchen Beifall in denen der andern.

»Der geht sich die Zeit verkürzen,« sagt der, der bisher geschwiegen hat.

»Oho, der ist auf die Weiber, wie der Fuchs auf die Hühner,« raunt der Fedier.

»Kennst du ihn so nah?« fragt der Ortsfremde.

»Wer den nicht kennte hier herum!« fährt der Fedier fort. »Von dem gehen ein paar Stücklein im Land. Wenn er nicht dem Ratsherrn seiner wäre zu Oberalpen, so möchte nicht immer alles glatt abgegangen sein.«

Der Jüngste wiegt den Kopf. »Ach bah, wild ist er, trinken kann er, und die Weiber hat er gern, das ist wahr, aber –«

»Angehen tut es ja keinen,« wirft der Ortsfremde ein, der ein ruhiger Mann ist und nicht gern über andre reden hört.

Der Leutnant steht indessen schon unten bei der Zureichtochter.

»Tag,« sagt er, »kennst mich noch?« Er bohrt die Augen mit vertraulicher Dreistigkeit in die ihren.

»Ich bin auch schon da vorüber gekommen,« fährt er fort, als das Mädchen aufrecht und kühl dasteht und seine Worte so gleichgültig fallen hört, wie das Wasser, das schon über den Rand ihres Eimers hinausläuft. Erst jetzt dreht sie sich ihm zu und sieht ihn an. Eine Erinnerung scheint in ihr aufzudämmern; verwundert forscht sie in seinem Gesicht und läßt dann den Blick halb in Staunen, halb mit unverhohlenem Wohlgefallen über seine Uniform gehen. »Ja, seid Ihr nicht –« fragt sie.

»Der Renner von Oberalpen,« hilft er nach, »fünf-, sechsmal bin ich schon mit Holz da vorbeigefahren.«

Das Zureichmädchen lächelt zum Bescheid; ihre Gedanken sind indessen auf der Wanderschaft. Sie vergegenwärtigt sich die Zeiten, da sie den Renner gesehen hat. Bei einer der Schwestern, die jetzt fort ist, ist er zweimal gestanden, dessen erinnert sie sich. Auch schön getan hat er jener! Und nachher ist die Rede von ihm gegangen, und daß er ein Reicher aus dem Oberland sei.

»Habt Ihr Dienst?« fragt sie.

»Ja,« gibt er zurück und streicht mit zwei Fingern wohlgefällig den erst sprossenden schwarzen Schnurrbart. »Vielleicht kann ich den ganzen Tag da um die Hütte herumhocken,« fügt er hinzu. Inzwischen nimmt das Mädchen den Eimer vom Brunnen und schickt sich an, wegzugehen. Der Leutnant schießt einen blitzartigen Blick zu den Soldaten hinauf. Wenn er sich auf die richtige Seite stellt, verdeckt ihn die Hütte den Gaffern. So tut er ein paar Schritte, packt am Eimerhenkel mit an und hilft dem Mädchen das Wasser bis zum Hause tragen. Dort stellt er den Eimer mit solcher Plötzlichkeit zu Boden, daß auch das Mädchen nachgeben muß. Dann weiß er es einzurichten, daß er einen Blick zur Stalltür hinein zu tun vermag; der Zureich, der Bauer, ist nicht mehr dort. »Du hast da auch ein langweiliges Hocken,« knüpft er das Gespräch mit dem Mädchen wieder an. »Halb aus der Welt! Bis zum Dorf kann einer laufen, gerad laufen kann einer.«

»Ja,« gibt sie zu. »Einsam ist es schon, darum sind die Schwestern fortgegangen.«

Der Leutnant lehnt sich ans Haus; er hat ihre Hand zu erhaschen gewußt, mit der er spielt. Er weiß, wie einer mit Weibern umgehen soll; sie gibt sich auch nicht die Mühe, die Hand freizubekommen.

»Wie heißest?« fragt er wieder und zieht sie vertraulich zu sich heran. »Violanta,« gibt sie Bescheid und blickt ihn dabei mit Augen an, in denen Staunen und Neugier neben einer Art stolzer Zurückhaltung leuchten.

»Den Namen hörst sonst auch landauf, landab nicht,« meint der Leutnant. Sie zuckt die Achseln. »Die Mutter hat für alle drei so verrückte Namen ausgesucht,« sagt sie schroff.

Die Mutter, die sie nennt, steht in dem Augenblick oben an der baufälligen Treppe, die zur Hüttentür führt und an deren Fuß der Leutnant und die Violanta noch immer verweilen. Ein zerlumptes Weib, hoch, hager, schmutzig, alt, in einem Rock, der die Spuren schweren Tragens, und mit einem Gesicht, das die Spuren schweren Lebens an sich hat. In dem lederfarbigen, runzligen Gesicht stehen schwarze Brauen und schwarze Augen; die Violanta hat sie geerbt; aber in den Zügen der Alten heben sie nur das Hexenhafte des Ausdrucks.

»Kommst bald mit dem Wasser?« krächzt sie mit einer heiseren Stimme über die Treppe herab. Dabei grinst sie den Leutnant, der des Mädchens Hand noch immer hält, mit einem frechen, gemeinen Lachen an. »Ihr könnt ja mit heraufkommen,« sagt sie zu ihm; selbst dem Renner, der kein Feiner und Wählerischer ist, ekelt vor dem Weibe. Er wendet sich mit einer wegwerfenden Bewegung und geht davon, der Violanta einen langen Händedruck als Andenken zurücklassend. Dieser sind zwei rote Flecken auf die schönfarbenen Wangen geflogen. Sie steigt die Treppe hinauf und geht an der Mutter vorbei wie an einem Stück Holz. Es ist keine Liebe zwischen beiden.


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