Ernst von Wolzogen
Der Thronfolger – Zweiter Band
Ernst von Wolzogen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel.

Der Thronfolger benimmt sich auffallend.

Es war dem Erbgroßherzog unmöglich gewesen, den Schluß der Vorstellung abzuwarten. Er mußte Zeit gewinnen, um seiner Aufregung Herr zu werden, bevor er sich wieder unter diese lächelnd lauernden, festfrohen Menschen begab. Er verließ unbemerkt das Theater und ging, da sein Coupé noch nicht zur Stelle war, zu Fuß nach Hause. Im Schlosse angekommen, gab er der Dienerschaft die nötigen Befehle wegen des Wagens und fügte hinzu, daß er bis zur Abfahrt zur Hochzeitsfeier ungestört zu bleiben wünsche. Er ließ sich eine Lampe auf sein Zimmer bringen, und dann schloß er hinter dem Kammerdiener die Thür ab.

Mit großen Schritten durchquerte er einige Minuten lang das hohe Gemach, dann trat er an das offene Fenster und ließ den frischen Hauch der Frühlingsnacht an seine heiße Stirne wehen. Fast unbewegt dehnte sich vor seinem Blicke das dunkle Meer der hohen Wipfel des Parkes, aus welchem nur hier und dort, im sanften Lichte des ersten Mondviertels schimmernd, das Silbergrau gewaltiger deutscher Pappeln, Schaumkämmen gleich, aufleuchtete.

Welch ein tiefer Friede in dieser klaren, weit gespannten Himmelswölbung! Aus kühler Unendlichkeit her flimmerten diese Millionen von rastlos kreisenden, furchtbaren Feuerbällen nur wie lustige Illuminationslämpchen auf die schlaftrunkene Erde herab, die, in den tiefen Schatten der Nacht weich wie in Watte verpackt, mit all ihrem milden Schmerz, ihrem nimmer ruhenden Weh dalag. Nur das Pfeifen der Lokomotiven von dem ziemlich entfernten Bahnhofe her gemahnte inmitten der träumerischen Stille an das ruhelose Treiben und Drängen des Menschengeistes. Und das wonnig unheimliche Schweigen des Waldes wurde nur hin und wider gestört durch das spöttische Lachen eines Käuzchens.

Lange lehnte Georg Friedrich zum Fenster hinaus; aber die friedliche Stille der Natur wollte nicht, mit Fliederduft und Maienluft vereint, sich einatmen lassen. Kann denn überhaupt die Natur dem denkenden Menschen Frieden bringen? Ist sie denn nicht im Grunde gerade so heuchlerisch verlogen, so des Mitleids bar und selbstsüchtig wie die menschliche Gesellschaft, aus der wir verwirrt und verwundet zu ihr hinausfliehen? Bedeckt sie nicht ihre Abgründe mit Blumen und kleidet sie nicht ihre giftigsten Geschöpfe in die reizendsten Gewänder? Kennt sie ein andres Recht als das des Stärkeren, und ist sie nicht etwa platterdings brutal, wo sie wahr ist? Der Kauz da, das ist ein Weiser, der für den sentimentalen Mondscheinzauber nur ein kaltes Lachen hat. Er flattert durch die verschwiegene Dämmerung des Waldes, in dem liebende Pärchen sich treffen und wonnesam kosen, lautlos einher und – mordet schwächere Geschöpfe im Schlafe. O nein, hier wie dort ganz dieselbe Lüge, dasselbe Bestreben, mit den raffiniertesten Künsten der Verstellung die Wahrheit zu verschleiern. Was das doch für Narren sein müssen, die immer nach Natur, nach Wahrheit schreien! Auch sein Freund Hans Joachim war solch ein sonderbarer Schwärmer gewesen, der ihm hatte einreden wollen, der wahrhaft edle Mensch müsse sich befreien von jeglichem Zwange der Verhältnisse und mit klaren, vernunftgeschärften Sinnen nur auf das eine Ziel zustreben, sich seiner innersten Natur entsprechend auszuleben – so wenigstens hatte er ihn verstanden! Als ob es überhaupt ein freies Wollen gäbe in diesem irdischen Dasein! Eiserner Zwang überall, wohin man schaut! Und ein Sklav' der höchststehende Mensch ebensosehr wie die unscheinbarste der Mikroben! Was hatte er denn anders gethan, als eben seiner innersten Natur nachzuleben versucht? Und wohin war er damit gekommen? – Eben dahin, wohin ein nervenkranker Gymnasiast heutzutage zu kommen pflegt, der nicht versetzt wurde, oder eine schmachtende Nähmamsell, der ihr Schatz untreu geworden ist!

Mit einem unterdrückten Fluch trat der Erbgroßherzog vom Fenster weg und richtete einen fast lüstern lächelnden Blick auf den Gewehrschrank, in dessen Scheiben sich das gedämpfte Licht der Lampe spiegelte und die Läufe der darin aufgehängten Mordwerkzeuge verführerisch blinken ließ. Er strich sich über die Stirn und stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. Nein! Nicht diesen jämmerlichen Komödienschluß! Etwas wollte er als deutscher Fürst aus altem, kernigem Geschlecht doch vor dem weltmüden Plebejer voraus haben! Brutal mußte er sein, wenn die Welt Respekt vor ihm haben und daran glauben sollte, daß er Charakter besitze.

Er zog den zerknitterten Brief der Geliebten noch einmal aus der Tasche und glättete ihn auf seiner Schreibmappe, dann ließ er sich langsam in den Ledersessel gleiten und las die inhaltsschweren Zeilen noch einmal durch. Es zerriß ihm das Herz, was er da las, jedes einzelne Wort bohrte sich wie mit einem scharfen Stachel in seine Seele – seine Brust keuchte, seine Nüstern blähten sich und seine Lippen zuckten in dem krampfhaften Bemühen, die heißen Thränen verzweifelten Mitleidens, selbstquälerischer Wut zu unterdrücken. Er küßte die Stellen, welche von ihren Thränen verwischt waren – und dann lehnte er sich in seinen Sessel zurück und preßte seine beiden Hände fest in die Augenhöhlen.

Lange Zeit saß er so, in dumpfen Schmerz verloren, und hörte weder das Silberglöckchen seiner Stutzuhr die Stunden schlagen, noch auch die Equipagen in den Schloßhof rollen. Endlich – die Uhr zeigte bereits ein viertel elf – setzte er sich mit einem energischen Ruck aufrecht, nahm einen Briefbogen zur Hand und schrieb mit seinen gewohnten großen Zügen, die Zeilen von unten nach oben schräg laufend, folgende Worte:

»Mein teurer Vater!

»Du hast recht, ich darf nicht länger zögern. Was mich dieser Entschluß kostet, das weiß . . .«

Er stutzte bei diesen Worten und machte mit einem halblauten, ärgerlichen »Ach was!« zwei dicke Striche hindurch; dann seufzte er tief auf und fuhr nach kurzem Besinnen fort:

»Mein Entschluß ist gefaßt. Ich werde schon morgen, dem Wunsche des Königs folgend, abreisen, und ich denke, daß bereits in wenigen Tagen das glückliche Deutschland durch die Freudenbotschaft von der Verlobung Deines gehorsamsten Georg Friedrich mit der königlichen Prinzessin Clementine überrascht werden wird. Fiat justitia, pereat mundus!

Dein getreuer Sohn

Georg Friedrich.«

»P. S. Die kleine Katz hat heute abend meinen gräflichen Leibtrabanten endlich glücklich eingefangen. Er ist förmlich beschämt über sein Glück. Darf ich ihn unter diesen Umständen noch behalten?«

Er überflog noch einmal, was er geschrieben hatte, schüttelte den Kopf und biß sich auf die Lippen. Dieser bitterböse ironische Ton würde seinem Vater wenig behagen, mußte er sich sagen –, und er erhob das Blatt, um es zu zerreißen. Gleich darauf legte er es wieder hin und faltete es mit raschem Entschluß zusammen. Besser, d. h. heuchlerischer brachte er es heute in seiner Verzweiflungsstimmung doch nicht fertig! Er steckte den Brief in den Umschlag und schrieb in festen Zügen die Adresse darauf: »An Se. Königliche Hoheit, den Großherzog u. s. w.« Dann zündete er eine Wachskerze an, um sein Siegel auf das Schreiben zu drücken.

Da klopfte es an die Thür. Er warf einen Blick nach der Uhr auf dem Aufsatze des Schreibtisches hinauf; sie zeigte auf halb elf. »Ach, schon so spät!« Das Fest bei Medizinalrats mußte schon längst begonnen haben – und Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Fürsten. Er sprang auf und schob den Riegel von der Thür zurück.

Seine Schwester, die Prinzessin Eleonore, trat rasch über die Schwelle. Sie brachte einen feinen Resedaduft mit herein und hatte bereits den weißseidenen, pelzgefütterten Umhang um die Schultern gelegt und ein leichtes Spitzentuch über ihre Frisur mit den blitzenden Diamanten gebreitet. Die raschelnde Schleppe hatte sie mit der Linken emporgerafft, in der Rechten trug sie einen kostbaren Spitzenfächer.

»Ach, du bist es!« rief der Erbgroßherzog, sie mit einem raschen, wenig freundlichen Blick musternd. »Mußt du mich wieder einmal an meine Pflicht erinnern? Ja, ja, ich mache dir viel Sorge, nicht wahr?«

»Allerdings hast du mir Sorge gemacht,« versetzte Eleonore mit leisem Vorwurf, »Kein Mensch wußte, wo du geblieben seist, als ich am Schluß der Vorstellung nach dir fragte. Ich hatte wohl bemerkt, daß du wieder mit Rast Heimlichkeiten hattest – und das machte mich unruhig.«

»Meine gestrenge Gouvernante traute ihrem Schützling das Schlimmste zu, nicht wahr?« spottete der Prinz. »Nun, freue dich, Schwesterchen, dein Werk ist vollbracht. Jetzt wirst du bald wieder gute Tage haben. Sieh 'mal, was da auf dem Tisch liegt. Du könntest so freundlich sein und 'mal inzwischen mein Petschaft aufdrücken. Entschuldige mich einen Augenblick!« Damit zog er sich in das anstoßende Schlafgemach zurück, ließ jedoch die Thür hinter sich halb offen.

Neugierig trat die Prinzessin an den Schreibtisch und las die noch nasse Aufschrift des Briefes.

»Ah, du hast an Papa geschrieben? Darf man fragen: was?« rief sie laut, indem sie sich anschickte, den Siegellack in die Flamme der Kerze zu halten.

Und aus dem Nebenzimmer ertönte die verbissene Antwort: »Ich habe das Todesurteil des anständigen Menschen in mir unterschrieben. Es lebe der Erbgroßherzog!«

Ein Lächeln des Triumphes huschte über die feinen Züge der Prinzessin, während sie langsam die flammenden roten Tropfen auf den Briefverschluß fallen ließ. Plötzlich aber nahmen ihre Mienen einen ernsten, fast schmerzlichen Ausdruck an, und als sie das Petschaft von dem Siegel abgehoben hatte, setzte sie sich in den Schreibstuhl und betrachtete mit sinnender Wehmut das großherzogliche Wappen. Es war ihr da eine wunderliche symbolische Beziehung aufgestoßen zwischen dem unbedeutenden Dienst, den sie für ihren Bruder verrichtete, und dem großen Dienst, den sie seinem schwankenden Charakter unaufgefordert, ja hinterlistig erweisen zu müssen geglaubt hatte. Sein weiches, lichterloh brennendes Herz war es, auf das sie den kalten Wappenstein der politischen Pflicht gedrückt hatte.

Sie war heute weich gestimmt. Die kleine Katz, die sie immer für eine oberflächliche, kalt berechnende Person gehalten, hatte heute während der Fahrt vom Theater sich ihr, alle Etikette vergessend, so stürmisch an die Brust geworfen, unter echten Thränen gejauchzt und gestammelt: »Nun will ich ja so gut sein! Ich bin so namenlos glücklich! Ach, süße Hoheit, verzeihen Sie mir alle Dummheiten und alle Nichtsnutzigkeiten, die ich je begangen habe . . .« Und in diesem echten Katzenstile, aber mit unverfälschten Naturtönen, war es fortgegangen bis heim zum Schlosse. Ja, bis in ihr Schlafgemach hinein hätte sie die kleine Wally mit ihrem glückstrunkenen Geschwätz verfolgt, wenn sie sie nicht beim Kopf genommen und ihr mit ein paar herzlichen Küssen den Mund gestopft hätte. Niemals zuvor in ihrem Leben hatte sie sich zu solchen Zärtlichkeiten gegen ihre Untergebenen hinreißen lassen. Sie war sich ihres eignen glücklosen Mädchentums plötzlich mit stechenden Schmerzen bewußt geworden, und sie hatte, voll neidischer Sehnsucht, von den Lippen dieses Mädchens ein wenig wegstehlen wollen von jener Fülle der Seligkeit, die der erste bräutliche Kuß in junge Herzen auszuströmen pflegt. Das brachte sie in die Stimmung, zu verstehen, was sie ihrem Bruder angethan hatte. – Und das Erbarmen kam über sie.

Als Georg Friedrich wieder aus seinem Schlafzimmer herauskam, stand sie rasch auf und ging ihm mit großen Schritten, die vornehme, schlanke Gestalt von den Falten der weißen Seide umrauscht, entgegen. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern, suchte mit feucht verschleierten Blicken seine Augen und sprach: »Ich hab' dir sehr wehe gethan, Georg, Wenn du mir das vergeben kannst, so ist es mehr, als ich verdiene. Ich weiß, es war nicht meine Sache, dich an deine Pflicht als Fürst zu mahnen – wenigstens nicht auf diese Art! Was mich dazu bewog, das war . . . o, das war so häßlich!«

Ganz leise sprach sie die letzten Worte vor sich hin, und dann lehnte sie den eigensinnigen, klugen Kopf an seine Schulter – ein Schauer lief ihr durch den ganzen Körper, so daß die kalten Brillanten in ihrem braunen Haar miterschüttert wurden und bunte Funken stoben. Dann brachen die Thränen unaufhaltsam hervor.

»Eleonore!« rief Georg Friedrich, aufs höchste erstaunt. War es doch so lange Jahre her, daß er die stolze Schwester nicht hatte weinen sehen! Sein Gemüt war so leicht zugänglich für fremdes Leid – er drückte die Schwester liebevoll an sich und drang mit sanfter Mahnung in sie, ihm ihr Herz zu öffnen.

»Nein, das kann ich nicht!« sagte sie, indem sie sich von ihm losmachte und ihre Thränen trocknete. »Wenn du es nicht errätst . . . ich schäme mich zu sehr!« Und dann reckte sie sich empor, daß die Nähte ihres straffen Mieders knarrten, und fuhr ohne Uebergang fort: »Also du hast wirklich Papa geschrieben, daß du nachgeben willst?«

»Ja, morgen reise ich zur Verlobung.«

»Ah, wirklich! So rasch? – Und hast du schon der armen Melanie geschrieben?«

Georg Friedrich nahm die Spitze seines Schnurrbartes zwischen die Zähne und versetzte, bitter lächelnd: »Nein! Wie ich das anstellen soll, das werde ich mir heute nacht noch überlegen, während wir das Strumpfband der durchlauchtigsten Medizinalrätin austanzen.«

»Mein armer, lieber Bruder!« sagte Eleonore in einem Tone, wie er ihn so weich aus ihrem Munde kaum noch vernommen hatte.

»Komm!« rief der Prinz. »Wir haben uns schon ganz ungebührlich verspätet. Ich erzähle dir unterwegs, was mich heute endlich zu dem Entschluß gebracht hat. – Ich kann es dir übrigens auch gleich in zwei Worten sagen.«

Und während er sich den Säbel umschnallte, den Dolman um die Schulter warf und den Kolpak aufs Haupt stülpte, sagte er in hartem, verbissenem Tone: »Melanie leidet unter den Folgen der Verirrung einer leidenschaftlichen Stunde. Als Thronfolger eines deutschen Bundesstaates kann ich mich aber unmöglich aus diesem Grunde zur Heirat zwingen lassen, wie mein Kutscher, wenn er mit meinem Küchenmädchen Dummheiten gemacht hat. Ganz Europa würde schreien: Das ist lächerlich! Das ist skandalös! – Und ganz Europa würde Recht haben – obgleich meiner bescheidenen Ansicht nach mein Kutscher vielleicht der sittlichere Mensch von uns beiden wäre. Nun bliebe mir noch übrig, mit ihr vereint zu sterben – und dadurch ein paar beutegierigen Dichterlingen willkommenen Stoff zu liefern. Gräßlicher Gedanke! Es bleibt mir nichts übrig, als Charakter zu zeigen und ihr zu sagen: Kannst du nicht ohne mich leben, so stirb! – Hans Jochen hat mir übrigens versprochen, mich für den Fall, daß ich einmal diesen fürstlichen Charakterbeweis geben sollte, über den Haufen zu schießen. Ich hoffe, daß er Wort halten wird. Dann ist es auf einmal ausgestanden und alle Teile können zufrieden sein!«

»Georg! Bist du bei Sinnen? Das kann nicht dein Ernst sein, das ist ja . . .«

Entsetzt über den verzweiflungsvollen Hohn in den Worten ihres Bruders, lief die Prinzessin auf ihn zu, um ihn zurückzuhalten. Aber er hatte schon die Schwelle überschritten, und draußen im Vorzimmer stand Graf Bracke und der Kammerdiener. Die Lippen fest aufeinander pressend, legte sie ihren Arm in den des Bruders und ließ sich von ihm die Treppe hinunter an den Wagen geleiten, in welchem das Fräulein von Katz ihrer bereits ungeduldig harrte.

Georg Friedrich nahm in einem zweiten Coupé mit seinem Adjutanten Platz. –

»Entschuldigen Sie, lieber Bracke, daß ich Sie so lange habe warten lassen!«

»Königliche Hoheit befinden Sich hoffentlich jetzt besser.«

»Das könnte ich eben nicht sagen. Ich will einmal versuchen, mir die Kopfschmerzen wegzutanzen. Uebrigens: ich habe Ihnen noch gar nicht so recht ordentlich Glück gewünscht. Sie werden wohl heute ausschließlich mit Ihrer Braut tanzen. Sagen Sie, wie hat sich denn das so plötzlich gemacht? Warum haben Sie sich gerade den Zwischenakt des fliegenden Holländers zur Verlobung ausgesucht?«

»Ja, ich weiß eigentlich selbst nicht recht, wie die Sache anfing. Den Kuppelpelz hat sich jedenfalls Herr von der Rast verdient.«

»Ach, der?!« rief der Erbgroßherzog, unangenehm berührt. Und er versank von da an in Schweigen und hatte für die muntere Selbstverspottung, mit welcher sein Adjutant die Geschichte seiner Ueberrumpelung zum besten gab, nur ein mattes, abwesendes Lächeln.

Fünf Minuten später stieg er bereits die Treppe zu den Festräumen in der Villa des Professors hinauf, wo die glänzende Gesellschaft schon seit einer Stunde versammelt war und in jämmerlich ausgehungertem Zustand auf das Erscheinen der jungen Herrschaften gewartet hatte. Tante Chochotte schien nicht übel Lust zu haben, ihm die arge Verspätung als eine absichtliche Nichtachtung auszulegen, und er mußte bei Tische als ihr Nachbar eine geradezu krampfhafte Liebenswürdigkeit entfalten, um sie wieder zu versöhnen. An seiner andern Seite saß die brave Frau Pastorin Cordell, und es war wahrlich keine leichte Aufgabe für den armen Prinzen, die Unterhaltung mit zwei solchen Nachbarinnen im Fluß zu erhalten und gleichzeitig sich auf eine abermalige kleine Tischrede vorzubereiten, die man doch ohne Zweifel von ihm erwartete. Er mußte rasch und viel trinken, um seiner trostlosen Stimmung Herr zu werden; dann aber wurde er so gesprächig und heiter, daß alle Welt, und besonders die Frau Pastorin, ganz entzückt von ihm war. Auch das Hoch auf das würdige junge Ehepaar glückte ihm überraschend gut, obwohl er in dem Augenblick, als er sich erhob, noch keine Ahnung hatte, was er sagen würde. Es waren lauter Redensarten, wie sie jeder loyale Zeitungsschreiber bei dergleichen Anlässen, ohne sich lange zu besinnen, aufs Papier wirft. Der Redner selbst fand den verlogenen Schwulst, den er der festlichen Tafelrunde auftischte, abgeschmackt genug; aber in seiner Galgenlaune that er sich so recht eine Güte damit an, daß er Phrasen auf Phrasen häufte, indem er den erbaulichen Gedanken von der Macht der reinen Liebe, welche die engen Schranken alter Standesvorurteile allein niederzureißen im stande sei, wie einen Kuchenteig platt ausrollte. –

Als nach Aufhebung der Tafel Prinzessin Eleonore die erste Gelegenheit ergriff, um dem Bruder mit sanftem Vorwurf ihre Bedenken über seine gefährlich liberale Rede auszusprechen, da zwirbelte er mit leisem Hohnlachen sein blondes Bärtchen auf und erwiderte: »Was willst du denn? Das ist der bekannte Thronfolger-Liberalismus, der gehört auch mit dazu. Jetzt wird mich unsere weltbewegende Presse zu ihrem Renommierfürsten erheben, und über acht Tage werde ich für diese überwältigende Ehrenbezeugung durch meine Verlobung mit einer königlichen Prinzessin quittieren. Weht der Wind aus Westen, dann kriegen die alten Excellenzen, die Worbisse und ihresgleichen, das Reißen in allen Gliedern und gehen ernstlich mit sich zu Rate, ob sie wohl auf ihre alten Tage noch einmal ihre Gesinnungen wechseln könnten! Und springt er dann plötzlich wieder nach Osten um, dann recken die wackligen Alten die Hälse wieder steif in die Höh', und die flotte Jugend läßt die Köpfe hängen und ballt die Faust in der Tasche. Was soll unsereinem denn sonst noch Spaß machen in diesem niederträchtigen Leben, wenn man sich nicht mehr daran ergötzen könnte, wie artig diese Menschenpuppen tanzen, mit denen es unsereins zu thun hat! – O, verlaß dich darauf, ich befinde mich jetzt vollständig auf der Höhe meiner Aufgabe. Ich denke, der heutige Tag hat mich thronreif gemacht; denn was man so als Selbstverleugnung zu rühmen pflegt, das ist doch meistens nur das Talent, seine Mitmenschen über seine wahren Meinungen und Gefühle geschickt zu täuschen. Sie wollen es ja nicht anders haben!«

Die Prinzessin kam nicht dazu, ihm zu antworten, denn in diesem Augenblick begann die Musik zur Polonaise aufzuspielen, und sie mußte sich dem voranschreitenden jungen Ehepaar am Arme eines der vornehmsten Gäste anschließen. In der nächsten Tanzpause aber forderte sie den Erbgroßherzog zu einem Gange durch die entlegeneren Zimmer auf; denn es drängte sie, ihm etwas zu sagen, worüber sie schon den ganzen Abend über nachgedacht hatte.

Sie fanden das Studierzimmer des Professors von Menschen leer, und Eleonore benutzte die gute Gelegenheit und sagte hastig, jedoch voll Wärme: »Du machst mir solche Angst, lieber Georg, mit deiner abscheulichen Philosophie! Wohin soll das führen – diese Menschenverachtung, dieser trostlose Pessimismus? Gerade du hast ja mehr Gelegenheit gehabt, die Menschen achten zu lernen, als leider die meisten unserer Standesgenossen.«

»Was meinst du damit?« fragte der Prinz unsicher.

Und Eleonore wandte den Kopf ein wenig zur Seite, scheinbar von einem Gemälde angezogen, und erwiderte: »Ich glaube nicht, daß du trotz deines Liebesleidens es so weit in der Weltverachtung gebracht hättest, wenn du nicht im Unfrieden von Kospoth geschieden wärest. In ihm hattest du doch einen Freund zur Seite, der sich nie zu einer dieser feigen Lügen bequemt hat, die dir die Menschheit so verächtlich machen, und der trotzdem die gesellschaftlichen Formen zu meistern verstand, wie man es von jedem Manne von guter Erziehung verlangt. Dein leidenschaftliches Temperament treibt dich immer gleich ins Extreme. Du wirfst das Unbedeutendste mit dem Allergewichtigsten zusammen, um deinen Groll damit zu heizen.«

»Hast du mich hierher gelockt, um mir diese Predigt zu halten?« unterbrach sie Georg Friedrich ungeduldig. »Wundert es dich, wenn ich ausschlage und um mich beiße, wenn mir der kategorische Imperativ die Sporen ins wunde Fleisch jagt? Hast du schon vergessen, wozu dich selbst die leidenschaftliche Verblendung getrieben hat? Und dein berühmter Kospoth. . . . Ach so, jetzt begreife ich auch! Eine schöne Zwickmühle, in der da mein armer Schädel zu Pulver verrieben wird! Haha! Hans Jochen war auch nur so lange der ideale, selbstlose Zukunftsmensch, als bis er entdeckte, daß sein Mädchen mich lieber mochte, als ihn; aber sobald ihm darüber ein Licht aufgegangen war, da hatte auch seine allumfassende Gerechtigkeit ein Ende. Er forderte seinen Carlos vor die Mündung seiner Pistole – derselbe Mann, der das Duell für ein Verbrechen oder mindestens doch für eine Dummheit erklärte!«

Eleonore antwortete gar nicht auf diese höhnische Anklage, sie schüttelte nur den Kopf und seufzte. Und dann, als sie im Nebenzimmer Stimmen sich nähern hörte, griff sie rasch nach ihres Bruders Hand und flüsterte ihm hastig zu: »Thu' mir die Liebe, Georg, und schicke den Brief, den du heute an Papa geschrieben hast, nicht ab! Ich wage nicht daran zu denken, was alles daraus entstehen könnte, und ich müßte die Verantwortung dafür mittragen – und davor zittere ich! Schreibe heute noch an Kospoth, öffne ihm dein Herz ohne Rückhalt und bitte ihn um seinen Rat! Hörst du, Georg? Versprich mir das!«

»Kospoth sollte in dieser Frage entscheiden? Das wäre doch wohl ein bißchen viel verlangt!« sagte der Prinz, ironisch lächelnd. »Ich glaube, du bist nicht recht . . .« Er zuckte die Achseln und entzog seine Hand ihrem festen Griff, da in diesem Augenblick die breite Figur des Kammerherrn von der Rast in der Thüröffnung erschien.

Schleppenden Schrittes und atemlos vor sich hin keuchend, schob sich der dicke Hofmann über die Schwelle und trocknete sich im Vorwärtstappen den Schweiß vom Gesicht. Dabei entging ihm die Anwesenheit der jungen Fürstlichkeiten, welche hinter der nach innen sich öffnenden Flügelthür standen, und er ließ sich, ungeniert ihnen den Rücken zuwendend, in einen niedrigen Polstersessel fallen und stöhnte ganz laut: »Ah! Puh! Jemine! Gräßlich!«

»Sie sind ja ganz aufgelöst, Baron!« rief der Erbgroßherzog scherzend, indem er mit zwei raschen Schritten hinter den Sessel des Kammerherrn trat, der alsbald pflichtschuldigst aufspringen wollte. »Nein, bitte, bleiben Sie nur sitzen!« fuhr er fort, indem er ihn wieder auf seinen Sitz hinunterdrückte. »Sie haben wohl aus Begeisterung über den Sieg der Boland ein wenig zu eifrig getanzt?«

Der Kammerherr bemühte sich, das gewohnte Lächeln in seine fleischigen Züge zu zaubern, und versetzte: »O nein, ich habe nur einen Rundtanz gewagt – aber der hatte es in sich! Nachdem Königliche Hoheit bei der Polonaise das Beispiel gegeben, hielt ich es für meine Pflicht, die Frau Pastorin Cordell aufzufordern. Sie sagte unbegreiflicherweise nicht nein – und das hat mir den Rest gegeben.«

Obwohl ihm der Kammerherr seit heute abend noch verhaßter war als vordem schon, konnte sich der Erbgroßherzog doch nicht enthalten, über seine klägliche Miene zu lachen. Und Prinzessin Eleonore trat auch mit einer bedauernden Bemerkung herzu, aber nur in der Absicht, in seinen Mienen nachzuforschen, ob er nicht vielleicht nur eine Komödie mit ihnen spiele, um es zu verbergen, daß er im Nebenzimmer gehorcht habe. Allein diesmal schien er in der That unschuldig zu sein, oder er war wirklich ein ausnehmend guter Schauspieler.

Er hatte sich nun doch emporgerafft und sagte mit einem so ernsthaften Gesichte, wie man es fast niemals bei ihm sah: »Ich kann Königliche Hoheit versichern, es ist mir heute so wenig nach Tanz und andrer Lustbarkeit zu Mute, daß ich am liebsten bitten möchte, mich zurückziehen zu dürfen.«

»Ja, was haben Sie denn? Ist Ihnen etwa Fräulein Boland untreu geworden?« fragte der Erbgroßherzog ironisch.

»Ich habe mein armes Kind sehr krank gefunden, als ich aus dem Theater nach Hause kam,« antwortete der Kammerherr, indem er den dicken Kopf traurig senkte, und leiser setzte er hinzu: »Sie hatte einen Brief aus Treysa bekommen, der sie maßlos aufgeregt hat.«

»Aus Treysa? Ah!« Georg Friedrich schrak zusammen und blickte hinter sich.

Eleonore huschte über den weichen Teppich geräuschlos aus dem Zimmer. Er war mit seinem Vertrauten allein und wiederholte noch einmal leise die bange Frage: »Aus Treysa?«

»Ja, Fräulein Melanie hat ihr geschrieben . . . Königliche Hoheit werden es ja inzwischen schon aus ihrem eigenen Briefe erfahren haben. Ich muß gestehen, ich war selbst ganz starr. Von dieser Möglichkeit hätte ich mir nichts träumen lassen! – Ich will Königliche Hoheit keinen Vorwurf machen – wer kann wissen, wozu die Leidenschaft. . . . Aber meine arme Doris hat sich das Unglück so zu Herzen genommen – sie redet sich ein, sie wäre mit daran schuld, weil sie sich zum Werkzeuge ihres Vaters gebrauchen ließ! O, Königliche Hoheit, das arme Mädchen, das nie ein unfreundliches Wort über seine Lippen gebracht hat, hat mir Dinge gesagt! . . . Und ich habe doch nur gethan, was ich als treuer Diener meines gnädigsten Herrn für meine Pflicht hielt.«

Georg Friedrich biß sich auf die Lippen, daß es schmerzte, und wandte sich ab. Er vermochte nichts zu erwidern; aber sein Gewissen sagte ihm: »Der Schuldigste bist du!«

Der Kammerherr schien zu erwarten, daß er ihm zu Hülfe kommen, ein entschuldigendes Wort an ihn richten würde; aber da keine Antwort erfolgte, seufzte er nur tief auf und betupfte sich abermals mit seinem gelbseidenen Schnupftuch das erhitzte Gesicht. Dann fuhr er flüsternd mit einem halb verlegenen, halb selbstbewußten Lächeln fort: »Ich glaube, Königliche Hoheit werden mit mir zufrieden sein. Wenn die Unglücksgeschichte ans Tageslicht kommt, wird alle Welt mich für den Missethäter erklären. Na, ich habe ja einen breiten Rücken, der schon einen kleinen Steinhagel aushalten kann! – Mein armes Mädel hegte ja eine solche schwärmerische Verehrung für Fräulein von Treysa, daß sie über ihren Verlust trauert, wie wenn ihr zum zweitenmal die Mutter gestorben wäre. Ich glaube aber, ich habe den rechten Trost für sie gefunden – und hoffe, damit auch Eurer Königlichen Hoheit einen Dienst zu leisten, der . . .«

»Was wollen Sie thun?« rief der Erbgroßherzog fast laut und wandte sich dabei so plötzlich herum, daß der Kammerherr erschrocken zusammenfuhr und unwillkürlich einen Schritt zurückwich.

Ein wenig unsicher und mit einem halb demütigen, halb erwartungsvoll gespannten Gesichtsausdruck sprach er: »Ich habe meiner Tochter gelobt, mein Unrecht dadurch zu sühnen, daß ich Melanies Schmach auf mich nehme und ihr meine Hand anbiete.«

Georg Friedrich öffnete die Augen weit und streckte die Arme gegen den Baron vor, als wollte er ihn an den Schultern packen.

»Herr! Das haben Sie Ihrer Tochter gesagt?« rief er mit heiserer Stimme. »Sie sind ja . . .!« Er vermochte nicht weiter zu reden.

Und das nichtsnutzige breite Lächeln legte sich wieder um den Mund des Kammerherrn, als er, die Aufregung des Prinzen völlig mißverstehend, erwiderte: »Ja, die Größe meines Opfers schien allerdings auch Doris im ersten Augenblick zu überwältigen. Ich hielt es für das beste, ihr Zeit zu lassen, sich zu fassen.«

Georg Friedrich starrte dem Sprecher ins Gesicht, als traue er seinen Ohren nicht. Nur mit Anstrengung gelang es ihm, einen sehr deutlichen Ausdruck seiner Empörung, der ihm unwillkürlich auf die Lippen trat, hinunterzuwürgen. Und der Kammerherr, der das ausdrucksvolle Gesicht seines jungen Fürsten so voll Haß und Verachtung auf sich gerichtet sah, wich erstaunt und ängstlich zurück und begann unzusammenhängendes Zeug zu stottern.

In diesem Augenblick stimmte drüben im Ballsaal die Musik einen leichtsinnig dahinrasenden Galopp an und Georg Friedrich drehte sich kurz auf dem Absatz herum, daß die Sporen klirrten, und verließ eiligst das Studierzimmer des Professors. Im raschen Durchschreiten der zwischenliegenden beiden Zimmer bemerkte er, in einem lauschigen Erker versteckt, seinen Adjutanten im traulichen Zwiegespräch mit seiner Braut. Er trat auf das Pärchen zu, verbeugte sich kurz vor dem Grafen und fragte: »Ist es erlaubt?«

»O, bitte sehr, Königliche Hoheit!« beeilte sich der zu versichern, obwohl es gegen die Sitte und ihm wenig angenehm war, sein Bräutchen schon am Verlobungstage einem Andern zum Tanze abtreten zu sollen. Er selbst ergriff Wally bei der Hand und führte sie dem Erbgroßherzog entgegen; trotzdem sie halb schmollend, halb befangen sich gegen diesen Bruch mit dem Herkommen wehren zu wollen schien.

Ehe sie noch die Schwelle des Ballsaals überschritten, hatte sie der Prinz bereits um die Taille gefaßt, und nun stürmte er durch die erstaunt Platz machenden Zuschauer hindurch in rasendem Tempo mit ihr in den Wirbel der Tanzenden hinein.

Dem Fräulein von Katz schlug das Herz in banger Sorge, daß das seltsame Benehmen des Thronfolgers sie in den Augen der Gesellschaft bloßstellen könnte. Viele von diesen Leuten erinnerten sich gewiß noch der üblen Nachrede, die vor einigen Jahren über ihre Beziehungen zu Georg Friedrich im Schwange gewesen war, und es war gar nicht so undenkbar, daß sein auffälliges Benehmen irgend einen boshaften Beobachter reizte, ihren ahnungslosen Bräutigam auf eine gefährliche Fährte zu bringen. Seit er von seiner Reise zurückgekehrt war, hatte der Erbgroßherzog kein vertrauliches Wort mehr mit ihr gewechselt und sich ängstlich gehütet, ihr gegenüber auf Vergangenes anzuspielen. Aber wie sie nun in seinem Arm lehnte und ihre leichte Gestalt wie im Fluge von ihm durch den bacchantischen Wirbel tragen ließ, da spitzte sie ängstlich die Ohren; denn sie glaubte bestimmt, daß er nur die Gelegenheit gesucht habe, ihr irgend etwas Anzügliches zuzuraunen.

Aber er blieb stumm, er hatte nicht daran gedacht, das Fräulein in Verlegenheit zu setzen. Er wollte sich nur in den Strudel stürzen, um sich zu betäuben, die hämmernden Pulse sollten die schmerzhaft einschneidenden Bande zersprengen, mit denen der Ekel ihm die Kehle zusammenschnürte, und das gewaltsam in Wallung gesetzte Blut sollte ihn davor bewahren, daß die eisige, starre, dumpfe Verzweiflung ihn nicht umkrallte, die sein fieberndes Auge in leibhaftiger Schreckgestalt schon langsam auf sich zukriechen sah. Drei, vier, fünf Mal umkreiste er mit dem kleinen Fräulein den ziemlich weiten Saal. Sie war die beste und unermüdlichste Tänzerin der Hofgesellschaft, darum hatte er gerade sie erwählt. Und er drückte sie immer fester an sich – er sah das Ungeheuer in seiner Einbildung trotz seiner rasenden Flucht immer näher kommen, und er wollte sich festklammern an das lustige, heiße, blühende Leben.

»Bitte, bitte! Ich kann nicht mehr!« keuchte Wally von Katz, als er zum sechsten Mal mit ihr herumtanzen wollte. Aber er hörte sie nicht, gewaltsam riß er sie weiter, bis sie endlich die Hand fest von seiner Schulter abstemmte und fast laut ausrief: »Sie müssen mich loslassen! Ich kann nicht mehr!«

In der Ecke, in der sie gerade Halt machten, stand ein leerer Stuhl, auf den das taumelnde Fräulein sich völlig erschöpft niedergleiten ließ. Und auch der Prinz schwankte und mußte sich an der Lehne dieses Stuhles sowie an der Wand festhalten, um nicht umzusinken. Vornübergebeugt, keuchend, stand er da und starrte an ihr vorbei mit irrem Blick in das Gewühl des Tanzes.

Wally bemerkte, wie die in der Nähe herumstehenden Gäste sie und den Prinzen neugierig beobachteten, wie man sich lächelnd seine Bemerkungen zuflüsterte, und sie geriet ganz außer sich vor Scham und Zorn. Wofür sah sie denn der Prinz an, daß er glaubte, sich mit ihr etwas erlauben zu dürfen, was kein Kavalier sich einer Dame, und noch dazu einer jungen Braut gegenüber herausgenommen hätte! Das war ja kein Tanzen mehr, das war eine wilde Jagd gewesen! Und wie er sie an sich gedrückt hatte – alle Welt mußte es bemerkt haben! Sie war dem Weinen nahe und wäre am liebsten aufgesprungen und allein durch den Saal davongelaufen. Aber das hätte das peinliche Aufsehen nur ärger gemacht.

Ah, da kam ja Graf Bracke schon auf sie zu! Gewiß war er eifersüchtig, entrüstet wohl gar. Wenn er nur keine Scene machte! – Ein öffentlicher Skandal an ihrem Verlobungstage – schrecklich!

Rasch erhob sich die kleine Katz und flüsterte dem Prinzen zu: »Führen Sie mich meinem Bräutigam entgegen, Königliche Hoheit! O, warum haben Sie das gethan?«

Der Prinz warf mit einem Ruck den Kopf in die Höh' und suchte sich zu besinnen; aber er schien den Sinn ihrer Worte nicht begriffen zu haben. Denn er sah mit einem so abwesenden Blick über sie hinweg, daß ihr wie ein Blitz der Gedanke durch den Kopf fuhr, er müsse krank sein.

Ein paar Sekunden später stand Graf Bracke vor ihnen, verbeugte sich kurz vor dem Erbgroßherzog und sagte leise, mit ernster Miene: »Königliche Hoheit gestatten wohl, daß ich meine Braut . . .«

Nun sah der Prinz mit seinem unheimlich weiten Blicke den Sprecher an, dann verzog er den Mund zu einem Lächeln und unterbrach ihn halblaut und keuchend: »Schon? Ach, schade! Fräulein von Katz tanzt so göttergleich, daß man niemals aufhören möchte. Lassen Sie mich nur noch diesen Galopp zu Ende . . . dann ist ja alles aus!«

Der Adjutant trat noch näher an seinen Herrn heran und flüsterte ihm zu: »Königliche Hoheit sind krank. Man ist bereits allgemein aufmerksam geworden. Ich möchte bitten, Königliche Hoheit nach Hause begleiten zu dürfen.«

Da packte Georg Friedrich den zierlichen Husaren fest um das linke Handgelenk und versetzte leise, fast flehend: »Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich doch tanzen! Ich werde wahnsinnig, wenn ich nicht mehr tanzen darf!«

Graf Bracke warf seiner Braut einen bedeutungsvollen Blick zu, dann reichte er ihr den Arm und geleitete sie, ohne seinem unglücklichen Fürsten weiter Rede zu stehen, aus dem Saale hinaus und wieder nach jenem Erker im Nebenzimmer, von wo aus sie der Prinz zum Tanze geführt hatte. Wally vermochte nicht mehr an sich zu halten. Sobald sie wieder auf ihrem alten Platze saß, brach sie in Thränen aus, und ihr Bräutigam konnte sie nur mit Mühe durch die Versicherung beruhigen, daß er ihr keineswegs zürne, und indem er sie bat, auch dem Erbgroßherzog nicht nachtragen zu wollen, wozu ihn seine krankhafte Aufregung verführt habe. »Du glaubst nicht,« schloß er, »wie furchtbar tief ihm die Geschichte mit der Treysa gegangen ist. Jetzt muß da eine Krisis eingetreten sein. Ich habe es ihm wohl angemerkt, daß er heut wieder einen aufregenden Brief bekommen hat. – Furchtbar leid thut er mir – aber was wird's ihm helfen? Es weiß ja schon alle Welt, daß er sich nächstens mit der Prinzessin Clementine verloben muß. Warte hier einen Augenblick, ich will mich hinter den Medizinalrat stecken, der muß ihn bewegen, nach Hause zu fahren.«

Er war noch nicht zwei Minuten fort, als plötzlich, ohne daß sie ihn hatte kommen sehen, der Erbgroßherzog vor Wally stand. Er lehnte sich über die eichene Brüstung, welche den Erker im Halbkreis umhegte, schaute mit brennenden Blicken in ihr ängstliches Gesichtchen und flüsterte: »Ach, kleine Katz, liebe, kleine Katz! Als wir uns liebten, da war alles anders, da war ich glücklich! Das ist jetzt alles aus! Komm, laß uns nur noch einmal zusammen tanzen! Es packt mich wieder, wenn ich nicht mit dir tanzen darf! Komm, komm, du warst mir doch früher so gut!« Und er streckte seinen Arm über das Geländer hinweg, um sie bei der Hand zu ergreifen.

»Prinz! Sie sind wahnsinnig!« flüsterte Wally entsetzt, indem sie rasch aus dem Bereich seiner Arme zurückwich. »Ich rufe um Hilfe, wenn Sie nicht fortgehen! Sehen Sie doch, dort kommen Leute!«

Mit wirrem Lächeln wandte Georg Friedrich sich um. Durch die nach dem Flur führende Thür trat ein Diener herein, der verschiedene kalte Getränke auf einem Präsentierbrett trug, und in der andren Thüröffnung, die nach den Wohnräumen führte, erschien im selben Augenblick schwankenden Schrittes, von dem schönen, weißbärtigen Professor begleitet, die plumpe Gestalt des Kammerherrn von der Rast. Bei seinem Anblick schien den unglücklichen Prinzen der helle Wahnsinn zu packen. Mit drohend erhobenen Fäusten stürzte er auf den verhaßten Kuppler los, um ihn zu Boden zu schlagen. Und fast hätte den Professor Cordell, der mit rascher Geistesgegenwart dazwischentrat, der wütende Schlag getroffen, wenn er nicht noch im letzten Augenblick den Kopf zurückgebogen hätte.

»Lassen Sie den Baron in Frieden,« redete der berühmte Arzt den Rasenden mit zwingendem Ernste an, und dann legte er ruhig seine Hand auf den zitternden Arm des Prinzen und hielt ihn so fest, bis der Kammerherr das Zimmer durch die Außenthür verlassen hatte. »Was wollten Sie dem Manne anthun?« begann er dann von neuem leise und vorwurfsvoll. »Königliche Hoheit wissen wohl nicht, daß er soeben an das Totenbett seiner Tochter gerufen worden ist?!«

»Was ist das?« rief Georg Friedrich laut, und die überraschende Kunde schien ihn wieder zu sich zu bringen.

Die Scene war vom Ballsaal aus beobachtet worden, und da zudem der Tanz gerade aufhörte, so war in wenigen Sekunden ein großer Teil der Hochzeitsgäste in das Empfangszimmer geströmt, hatte sich mit rücksichtsloser Neugier um den Thronfolger und den Professor geschaart und versuchte zu erlauschen, was dieser mit leiser Stimme seinem fürstlichen Verwandten mitzuteilen hatte.

»Mein Diener brachte mir vor wenigen Minuten die traurige Botschaft, daß Fräulein von der Rast von ihrem Dienstmädchen, das neben ihr in der Bodenkammer schlief und durch Schmerzensgestöhn aus dem Schlafe geweckt wurde, tot im Bett gefunden worden sei. Der Diener traute sich nicht, die Nachricht selbst zu überbringen, und so mußte ich die traurige Pflicht übernehmen.«

»Wie nahm er es auf?« fragte der Prinz rasch, mit gieriger Spannung.

»Er brach zusammen, wie vor den Kopf geschlagen, und dann stöhnte er: Sie hat sich vergiftet mit dem verfluchten Zeug – ja, pardon! er sagte: mit dem verfluchten Zeug, das Königliche Hoheit ihr geschenkt hätten.«

Nur Georg Friedrich hatte die Worte deutlich vernommen und aus dem ernsten Ton, mit dem sie gesprochen, dem vorwurfsvollen Blick, mit dem sie begleitet wurden, entnehmen müssen, daß ihn der Professor für einen Giftmischer oder dergleichen zu halten scheine.

Da übermannte ihn aufs neue eine rasende Wut, und er hätte sich diesmal wirklich thätlich an dem würdigen Herrn Geheimrat vergriffen, wenn ihm nicht in dem Augenblick, wo er wie zum Anlauf zurücktrat, der Diener mit dem Präsentierbrett vor Augen gekommen wäre. Der Mann stand mit offenem Munde, ihn neugierig anstarrend, dicht neben ihm und bekam, als er nun plötzlich den wutfunkelnden Blick des Erbgroßherzogs auf sich gerichtet fühlte, eine solche Angst, daß er dermaßen zu zittern begann, daß die gefüllten Gläser auf seinem Präsentierbrett aneinander klirrten. Der komisch dumme und zugleich entsetzte Ausdruck in diesem glattrasierten Bedientengesicht brachte wunderbarerweise den Rasenden wieder zu sich. Er sah um sich und bemerkte nun erst, daß er der Mittelpunkt der allgemeinen Neugier sei.

Die jung vermählte Geheimrätin, der man soeben die Schreckenskunde in den Ballsaal gebracht hatte, ihr fürstlicher Neffe habe die Hand gegen ihren Gemahl erhoben, stürzte in diesem Augenblicke, vor Aufregung ganz außer sich, durch das Gedränge und warf sich dem Professor um den Hals, um ihn mit ihrem Leibe zu decken. Ihr folgte auf dem Fuße, totenbleich im Gesicht, Prinzessin Eleonore und berührte den Bruder leise am Arm, wie um ihn zu sich zurückzurufen. Von der andern Seite her trat gleichzeitig Graf Bracke auf ihn zu, bereit, sich mit Aufbietung seiner ganzen Kraft auf den Wahnsinnigen zu werfen. Andre Herren drängten sich ihm nach, während die meisten Damen sich ängstlich zurückzogen.

Da reckte sich Georg Friedrich hoch auf, wie um den Bann von seinen Sinnen zu schütteln. Ein verächtliches Lächeln zuckte über sein Gesicht und dann ging er rasch auf den Diener zu, ergriff eins von den Gläsern mit Limonade und rief, es mit ironischer Höflichkeit gegen den Professor erhebend: »Vivat sequens

Mit ratlosem Erstaunen blickte einer dem andern ins Gesicht, und der Professor wußte vollends nicht, ob er hinter diesem Worte einen schauerlichen Doppelsinn, oder nur einen gleichgültigen Scherz vermuten sollte.

Da rief Graf Bracke mit lauter Stimme: »Bitte die Herrschaften zur Quadrille zu engagieren!« Ein dankbarer Blick der Prinzessin Eleonore belohnte ihn für diesen vortrefflichen Einfall, und auch der Prinz wandte sich, nachdem er sein Glas geleert hatte, rasch nach ihm um und nickte ihm freundlich zu.

Dann verbeugte er sich vor der Geheimrätin, die eben erst zaghaft ihre umklammernden Arme von dem Halse des Gatten gelöst hatte, und sagte: »Verehrte Tante, darf ich vielleicht bitten?«

»Um Gotteswillen!« platzte die kleine Durchlaucht ungeschickt heraus, setzte jedoch, sich rasch verbessernd, sogleich hinzu: »Nein, danke! Ich tanze nicht mehr.«

Gleich darauf ertönte auf Anordnung des Adjutanten, der das Amt des Tanzordners wie bei Hofe, so auch hier, zu versehen hatte, aus dem Ballsaal die Aufforderung zur Quadrille, und die neugierig herumstehenden Gäste mußten sich, um den Anstand zu wahren, bequemen, sich allmählich zurückzuziehen.

Als sie außer Hörweite waren, zog Prinzessin Eleonore ihren Bruder beiseite und redete ihm, voll ängstlicher Besorgnis, zu, sofort heimzufahren.

»Ja, du hast recht!« versetzte der Prinz und griff sich seufzend an die Stirn. »Man hält mich vermutlich für verrückt. Die Leute haben vielleicht recht. Ich fürchte selbst, ich kann mich nicht mehr lange aufrecht halten. Ich weiß nicht, was da in mir vorgeht, es ist heut zu furchtbar viel auf mich eingestürmt!«

»Du bist sehr krank, Georg! Ich komme mit dir, ich werde dich nicht verlassen.«

Er drückte ihr warm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und dann trat er wieder auf den Professor zu, der noch damit beschäftigt war, sein Frauchen, das sich immer noch zitternd an seine Seite schmiegte, zu beruhigen, und entschuldigte sein sonderbares Benehmen, so gut es gehen wollte. »Es wird mir schwer, Ihnen jetzt alles zu erklären,« schloß er; »Sie werden vielleicht einmal verstehen . . . oder auch nicht. Glauben Sie mir, ich bin nur toll bei Nordnordwest! Es ist nur, daß ich diesen Rast nicht mehr sehen kann, ohne wild zu werden. Ich denke, er soll mir nicht mehr vor Augen kommen. – Liebe Tante, es thut mir unendlich leid, daß ich Ihr Hochzeitsfest so unangenehm gestört habe.«

Die beiden Herrschaften schnitten seine Entschuldigungen durch einige bedauernde Redensarten ab, und dann ließ der Professor, da die Hofkutschen noch nicht zur Stelle waren, seinen eignen Wagen anspannen und geleitete selbst seinen hohen Gast samt dessen Schwester bis vor die Hausthür. –

Die Turmuhr hatte eben drei geschlagen, als endlich das Licht im Zimmer der Prinzessin Eleonore verlöschte. Um halb zwei Uhr hatte sie ihren Bruder verlassen, nachdem er ihr sein Ehrenwort gegeben, daß er sich zu keiner verzweifelten That hinreißen lassen wolle. Dann erst war sie in ihre Gemächer hinuntergestiegen, um sich einen bequemen Morgenrock anzuziehen und einen langen, inhaltschweren Brief zu schreiben. Die Adresse lautete: »An Herrn Baron Hans Joachim von Kospoth.« – – –

Erst spät am andern Tage erwachte der Kammerherr von der Rast aus seinem unruhigen, von schweren Träumen gestörten Schlafe. Auf seinem Nachttisch lag noch der Zettel, den er bei der Leiche der unglücklichen Doris gefunden hatte. Die wenigen Zeilen, in ihrer steifen, ungeschickten Kinderhandschrift geschrieben, lauteten:

»Sei mir nicht böse – ich kann dies Leben nicht länger ertragen. Ein paar Wochen lang habe ich geglaubt, es gebe auch für mich ein Glück durch die Freundschaft schöner, edler Menschen. Ich bin zu furchtbar enttäuscht und gemißbraucht worden von denen, die ich in der Welt am liebsten hatte. Was habe ich jetzt noch vom Dasein zu erwarten? Wem kann ich noch etwas sein? Auch wir beide, mein Vater, werden uns nie wieder recht verstehen lernen nach dem, was Du mir heute abend gesagt hast. Auch Du wirst freier aufatmen können, wenn ich nicht mehr bin. Lebe wohl und gedenke in Liebe

Deiner unglücklichen

Doris.«

Eine halbe Stunde später saß der Kammerherr einsam am Kaffeetisch und rührte minutenlang mit dem Löffel in seiner Tasse herum, ohne einmal den schweren Kopf von der Hand zu erheben, auf die er ihn stützte. Wie alt, wie verfallen der Mann aussah nach dieser fürchterlichen Nacht!

Da trat das Dienstmädchen herein und legte stumm einen Brief vor ihn hin auf den Tisch. Er starrte gleichgültigen Blickes darauf. Es war ein zartgefärbtes Couvert von absonderlicher Form, mit wunderlichen Verzierungen in Buntdruck aufgepreßt. Mechanisch griff er danach und öffnete sorgfältig, wie er es gewohnt war, mit seinem Federmesser den Umschlag, entnahm ihm einen im gleichen Stile ausgestatteten Briefbogen und las:

»Mein goldiges Kammerherrchen!

Mein süßer, wohlbeleibter Freund!

»Was höre ich von Euch? Ihr wollt mich heiraten – sagte mir soeben mein verehrter Chef mit dem malitiösesten Lächeln von der Welt. Die Idee ist großartig, ganz Eures erhabenen Geistes würdig, und ich zweifle nicht daran, daß ich mich an Eurer Seite als Baronin von der Rast ganz famos ausnehmen werde. Sollte es Euch mit Euren Gefühlen ernst sein, mein teurer Sir John, so könnte ich mich darauf gefaßt machen, daß mein eifersüchtiger Chef sich bestreben würde, mir meine fernere Wirksamkeit am großherzoglichen Hoftheater nach Kräften zu verekeln. Er läßt womöglich das nächstemal die Lindner wieder die Senta singen! Da ich aber immer für das Solide gewesen bin, so würde ich trotz alledem Euren ehrenvollen Antrag annehmen, falls Ihr nicht bis morgen früh andrer Meinung geworden seid. Der Chef will nämlich wissen, woran er ist. Also eilet mit thunlichster Beschleunigung in die Arme

Eurer

Hochachtungsvoll ergebenen
Seraphine Boland.      

»P. S. Nach dem Bombenerfolg von heute abend bin ich gar nicht darum bange, daß mich auch erste Bühnen mit Kußhand engagieren. Also wenn Du die Konventionalstrafe zahlen willst, mein süßer Freund, so folge ich Dir zum Altar, sobald Du es wünschest.«

Der Kammerherr ballte das duftende Briefchen wütend zusammen und schleuderte es mit einem Fluch zu Boden.



 << zurück weiter >>