Ernst von Wolzogen
Der Thronfolger – Zweiter Band
Ernst von Wolzogen

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Elftes Kapitel.

In welchem der Leser die Bekanntschaft Kospoths des Aelteren macht und Hans Jochen ein Abenteuer mit einer schmählich verkannten kleinen Dame hat.

Fast zwei Monate ruhte nun schon die Frau Generalin von Treysa, geborene von Coß, an der Seite der ehemaligen Signora Caffarelli, von Rechts wegen Therese Käferle geheißen, der liebreizenden und abenteuerlichen Ahnfrau des jungen Geschlechts, in der Familiengruft derer von Treysa, welche sich jedoch nicht in Treysa selbst, sondern in dem größeren Kirchdorfe befand, dem das Waldschloß mit den paar zum Gute gehörenden Kätnerhäuschen eingepfarrt war. Dem rauhen März war ein milderer, aber meist stürmischer April gefolgt, der mit vollgriffigen Accorden durch den dunklen Tannenwald und das kahle Geäst der alten Buchen und Eichen im Parke harfte und obendrein in der Stille der Nacht alle Schornsteine des alten Schlößchens zu einem unheimlichen Orgelkonzerte benutzte.

Manche lange Frühlingsnacht hindurch lauschte das schöne Schloßfräulein den geisterhaft klagenden Tönen und vermischte ihre eignen bangen Seufzer mit den Schmerzenslauten der in Frühlingswehen ringenden Natur: und wie die Stimme des Waldes bald zu mächtigem Donner anschwoll, bald zurückebbte zu sanftem, fernem Meeresrauschen, so wühlte der Frühlingssturm in ihrem jungen Busen die Gefühle bald auf zu wildem Schmerz und heißer Sehnsucht und beruhigte sie auch wieder bis zur still gehegten Hoffnungsfreudigkeit. Ihr körperliches Befinden bot ein getreues Spiegelbild des seelischen. Bald schlich sie bleich, verweint und kopfwehgeplagt umher; dann konnte sie wieder auf einige Tage herrlich aufblühen und fast mit Freudigkeit den nun auf ihr allein ruhenden Geschäften der Hausfrau nachgehen.

Just ebenso wechselnd in seinen Stimmungen wie seine junge Tochter war seit dem Tode der Gattin auch der greise General geworden. Es kamen Tage, wo er völlig vergessen hatte, was sein geliebtes Kind ihm angethan, wo er sich mit fast schon kindischem Behagen ihre zärtliche Verhätschelung gefallen ließ; und dann erwachte wieder die Erinnerung an das Geschehene in seinem müden Gehirn und er würdigte die arme Melanie kaum eines Wortes und wies sie, die buschigen weißen Brauen zornig gesträubt, mit ungeduldigem Murren ab, so oft sie ihm zu nahen wagte. Der einzige, der ihm an solchen Tagen ohne Furcht begegnen durfte, war der alte Friedrich – und die beiden Lieblingshunde Waldmann und Diana, denen gegenüber er an guten wie an bösen Tagen immer der gleiche blieb.

Hans Joachim von Kospoth hatte den alten Herrn nach Treysa hinausbegleitet und ihm alle Anordnungen für das Begräbnis und was sonst durch den Tod seiner Frau von Geschäften an ihn herantrat, abgenommen. Wie er aber im Grunde seines Herzens gegen ihn gesinnt sei, das war schwer zu erkennen. Er schien nach wie vor die Dienstwilligkeit seines jungen Freundes als etwas ganz Selbstverständliches anzusehen und Aeußerungen besonderer Dankbarkeit für überflüssig zu halten. Kam einmal die Rede auf die Ereignisse in der Residenz, so versank er sofort in ein mürrisches Brüten und machte seinem Groll nur durch gewisse kräftige Aeußerungen über das Schranzenpack Luft. Bei seinen immer noch fast bei jedem Wetter vorgenommenen Spazierfahrten mußte ihn jetzt außer den Hunden auch der Stallknecht begleiten. Melanie nahm er fast nur dann noch mit, wenn seine Besuche Familien mit Töchtern galten. Bald aber bat sie ihn selbst, sie gerade bei diesen Gelegenheiten daheim zu lassen, weil sie hatte bemerken müssen, daß Gerüchte von ihren Beziehungen zum Erbgroßherzog in die Kreise des Landadels gedrungen waren, Gerüchte, welche, nach dem auffällig veränderten Benehmen der Leute zu schließen, ihr sicherlich nicht das Beste nachsagen konnten. So kam es, daß auch der General den Verkehr mit mehreren Familien abbrach und immer ausschließlicher die Freundschaft des Barons von Kospoth Vater kultivierte, der sich in seinem großen burgähnlichen Schlosse Volkramstein meist recht herzlich langweilte und in Ermangelung von etwas Besserem sogar die alten Jagdgeschichten des Generals zum neunundneunzigsten und hundertsten Male anhörte.

Hans Jochen hatte vierzehn Tage bei seinem Vater zugebracht, der ihm wohl anmerkte, daß mit seinem Gemüte etwas Schnurriges passiert sein mußte, wie er sich ausdrückte, und der nicht müde ward, ihn wegen seines »Hochverrats an der heiligen Sache der Crapüle« während seiner Höflingsepisode weidlich aufzuziehen. Der alte Baron Wichhart von Kospoth war nämlich selbst trotz seiner harmlos konservativen und unzweifelhaft loyalen Gesinnung ein Mann, dem sein Selbstbestimmungsrecht über alles ging und dem alle Fuchsschwänzer und Scherwenzler ein Greuel waren. Er hatte sich in seiner Jugend mit den Wissenschaften nicht allzu sehr herumgeplagt und infolgedessen für die Studien seines Hans Jochen wenig Verständnis; aber das begriff er denn doch auch, daß das Leben bei Hofe mit sozialdemokratischen Grundsätzen nicht zu vereinigen sei. Es half dem jungen Revolutionär auch nichts, daß er gegen solchen Spott dieselben Gründe ins Gefecht führte, mit welchen Prinzessin Eleonore ihn erst jüngst zum Bleiben hatte überreden wollen; der alte Baron Wichhart hatte vielmehr für alles Reinmenschliche einen vortrefflichen Blick und daher bald genug herausgefunden, wo bei seinem Hans Jochen der Hase im Pfeffer lag.

Und so nahm er sich ihn denn eines Tages ernstlich vor und sagte ihm rund heraus: »Hör 'mal, alter Junge, die Sache fängt an, mir langweilig zu werden! Wenn du durchaus mit deiner goldnen Freiheit nichts mehr anzufangen weißt, so heirate doch, ins Dreideibels Namen! Die Melanie soll mir sogar als Schwiegertochter noch zehnmal willkommener sein als irgend eine andre. Ich wüßte auch wirklich nicht, was sie an dir auszusetzen haben könnte.«

Da mußte denn Hans Jochen wohl oder übel beichten. Alles sagte er seinem Vater, und es war ihm eine Wohlthat, es einmal gründlich vom Herzen herunter zu bekommen. Eins nur verschwieg er ihm – und das war freilich gerade das, was seine Sache für ihn so hoffnungslos machte. Er konnte ihm nicht verraten, wie weit Melanie sich hatte hinreißen lassen und wie gerade dadurch eine Heirat mit ihr auch auf seine Ehre einen schlimmen Makel geworfen hätte. Das, was er zu hören bekam, konnte der Vater freilich leicht nehmen.

»Na, hör 'mal, Hans Jochen,« lachte er, »für einen so grasgrünen Idealisten hätte ich dich doch nicht gehalten! Wenn eine leibhaftige Königliche Hoheit vor ihr auf den Knieen herumrutscht, dann kannst du dich doch nicht wundern, wenn sie die einem simplen Baron – und noch dazu einem ohne Ahnen – einstweilen vorzieht. Bilde dir nur ja nicht ein, daß irgend ein Frauenzimmer das anders gemacht hätte! Auf den Leim kriechen sie alle! – Aber nun laß 'mal erst ein paar Wochen oder Monate ins Land gehen! Die Melanie ist doch im allgemeinen ein ganz vernünftiges Mädel – sie wird sich die Dummheiten schon aus dem Kopfe schlagen. Inzwischen würde ich mich aber an deiner Stelle ein bißchen rar machen. Es macht entschieden – nimm mir's nicht übel – einen etwas gottsjämmerlichen Eindruck, wenn du ihr, trotzdem sie dir den Korb gegeben hat, gar nicht von der Pelle gehen willst! Du sollst 'mal sehen, wie du bei ihr im Werte steigst, wenn sie dich ein paar Wochen nicht sieht. – Daß der Alte nicht mehr mit ihr an Hof geht, darauf kannst du Gift nehmen. Er wird ja fuchsteufelswild, wenn man nur davon anfängt. Die Melanie überlaß nur inzwischen mir. Verlaß dich drauf, ich seh' es ihr an der Nase an, wann es für dich Zeit ist, wieder auf der Bildfläche zu erscheinen.«

»Wenn nur der Prinz nicht etwa inzwischen heimlich hierher kommt,« warf Hans Jochen finster ein. »Ich sage dir, Vater, wenn ich ihn hier träfe, mit kaltem Blute könnte ich ihn . . .« Er machte die Gebärde des Schießens.

»Na, na, halb so wild!« rief Kospoth Vater. »Ich glaube, du bist wirklich ein bißchen . . .« Er deutete auf seine Stirn. »Die Liebe ist nun einmal eine brutale Leidenschaft! Ob da zwei Hirsche sich gegenseitig das Geweih in den Leib zu rennen suchen oder zwei weiße Täuberiche aufeinander loshacken oder zwei vernünftige Männer auf einmal ihre Busenfreundschaft vergessen und mit der gespannten Pistole einer hinter dem andern herlaufen, das ist doch toute la même chose! Beim Kampfe ums Weibchen werden die Männchen närrisch; aber Kampf muß sein – sonst wär ja verflucht wenig Witz bei der Geschichte! – Uebrigens dürfte diese Affaire sehr ruhig ablaufen – hast du heute den Generalanzeiger noch nicht gelesen? – Nicht? – Na, warte 'mal! Wo war's doch gleich? Richtig, hier!« Und er las aus der genannten Zeitung: »Man schreibt uns aus . .  . . . .: In hiesigen Hofkreisen behauptet sich das Gerücht, daß die Verlobung der Prinzessin Clementine, Königliche Hoheit, mit dem Thronerben eines dem königlichen Hause von alters her verwandtschaftlich verbundenen Großherzogtums für nahe bevorstehend zu erachten sei. Wir dürften wohl kaum irre gehen, wenn wir die geheimnisvolle Reise Seiner Königlichen Hoheit des Erbgroßherzogs mit diesen Gerüchten aus der . . . . . . schen Hauptstadt zusammenbringen.«

»Das ist schändlich! Das ist eine . . .« Hans Joachim ballte grimmig die Fäuste und suchte nach Worten.

»Na, hör 'mal, so ein sonderbarer Schwärmer ist mir aber noch nicht vorgekommen,« spottete der Vater. »Ich dachte, du könntest froh sein, daß du diesen unangenehmen Nebenbuhler auf so bequeme Art los wirst. Du thust ja gerade, als ob du dich persönlich dadurch beleidigt fühlst, daß er deinen Schatz nicht heiraten will.«

»Er hat es ihr mit dem heiligsten Eide zugeschworen,« rief Hans Joachim mit der Wärme der Entrüstung, »und Melanie hat seine Schwüre ernst genommen! Vergiß das nicht, Vater! Sie mußte es ernst nehmen, nachdem er ihr einen scheinbar unumstößlichen Beweis seines eignen Ernstes dadurch gegeben hatte, daß er es wagte, seine Absicht dem Großherzog zu bekennen. Soll ich das nicht schändlich finden, daß er sich nun plötzlich, wo die Sache ihm selbst allerlei Nöte zu bereiten anfängt, kein Gewissen mehr daraus macht, das Mädchen ihrem Unglück zu überlassen?«

»Ich kenne dich gar nicht wieder, Hans Jochen,« fuhr der alte Baron auf. »Du spielst dich als einen Philosophen und Menschenkenner auf – na, ich danke! Das ist ja alles unsinniges Gefasel, was du da vorbringst. Wenn der Erbgroßherzog dem Mädel das Blaue vom Himmel herunterschwört und nachher hintritt vor seinen Vater und sagt: »Du, Papa, ich will die kleine Treysa heiraten,« so beweist er damit nur, daß er ein gefühlvoller Junge und hinter den Ohren noch nicht ganz trocken ist. Und wenn er sieht, daß seinen Vater über dieser Eröffnung vor Schrecken der Schlag rührt, und sich beizeiten auf seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit als künftiger Landesvater besinnt und in die Einsamkeit hinausflieht, um dort seinem romantischen Traum ein paar Thränen nachzuweinen, so sage ich einfach: Schön! Bon! Gut! – Und was wird das Mädel thun? Tüchtig weinen, natürlich; und sich die Haare ausraufen – bildlich heißt das! Und dann wird sie dem treulosen Verräter die heilige Pestilenz – das heißt: einen Drachen von Frau an den Hals wünschen. Und schließlich wird sie mit Kußhand einen andern nehmen, und der wirst du sein, mein Junge. Du bist ja auch in diesem Falle wirklich der erste und der beste. – Siehst du, so urteilt der gesunde Menschenverstand. – Der Prinz und du, Herr Jakobiner, ihr seid einander vollkommen würdig mit eurer romantischen Grillenfängerei.«

Hans Jochen erhob sich mit einem Seufzer und sagte, indem er den Rest seiner Cigarre ärgerlich in den Aschbecher stupfte: »Ich sehe schon, Vater, wir werden uns über diese Dinge nicht verständigen.«

»Ich möchte wissen, warum nicht,« rief der Vater jovial. »Über solche allgemein menschliche Dinge müssen sich vernünftige Leute immer verständigen können! Darauf braucht man nicht studiert zu haben. Aber du bist freilich vom bösen Geiste unglücklicher Liebe besessen, und da kann man dir ein bißchen Gestörtheit nicht übel nehmen. Na, in vier Wochen wirst du wohl auch so denken wie ich. Ich werde inzwischen die Melanie als Schwiegertochter in spe poussieren.«

»Um Gotteswillen, thue nichts dergleichen! Ich fürchte, du würdest es bald bereuen müssen!«

»Was Teufel!« fuhr der alte Baron auf und klatschte sich dabei auf den gewaltigen Oberschenkel. »Steht die Sache so?«

»Ich glaube, ja!« versetzte Hans Jochen, trübselig zu Boden blickend.

Der Vater sprang auf, versenkte seine Hände in die Hosentaschen und begann mit großen Schritten in dem dunkeln, holzgetäfelten Gemach auf und ab zu schreiten.

»Hm! hm! Das hätte ich doch der Melanie nicht zugetraut,« brummte er. Aber gleich darauf stand er still, schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und sagte: »Ach was! Unsinn! Gott verzeih mir die Sünde! Es ist niederträchtig, wenn ein vernünftiger Mann ein Mädchen wegen so etwas verurteilt. Vor so einem Unglück schützt keine Tugend, sondern nur Häßlichkeit und Temperamentlosigkeit. Ich als alter Schwerenöter muß es ja am besten wissen, daß bei solchen Geschichten allemal der Mann der Schuldige ist. Das heißt: so ein verliebter armer Teufel kann oft auch nichts dafür! Es ist eben, wie gesagt, eine brutale Leidenschaft, die sogenannte Liebe! – Na, ich hebe keinen Stein auf weder für ihn noch für sie! Aber daß du's gerade sein mußt, der die Kosten zu bezahlen hat – Donnerwetter, das ist niederträchtig! Du thust mir aufrichtig leid, mein Junge, hm, hm! Es ist ja eigentlich eine nichtsnutzige Ungerechtigkeit, daß wir uns alles erlauben und den Weibern nichts! – Na, aber was will man machen? Man ist doch nun 'mal ein gebildeter Europäer, und da kommt man über so was eben doch nicht weg.«

Hans Jochen nickte stumm mit dem Kopfe. Und dann sprachen sie von etwas anderm. – –

Drei Tage später befand sich der junge Weltverbesserer schon in der Hauptstadt des Königreichs, welche der Vater der Prinzessin Clementine regierte. Er hatte eigentlich die Absicht gehabt, nach der Rückkehr von seiner großen Orientreise sich in Berlin niederzulassen; nun aber war plötzlich die Erleuchtung über ihn gekommen, daß es für ihn bedeutend nützlicher sei, zunächst einmal die wirtschaftlichen Verhältnisse jenes industriereichen Staates gründlich zu studieren. Er studierte auch, ja; er besuchte Werkstätten aller Art, trat den Führern der sozialen Bewegung näher und hielt ziemlich häufig Vorträge in volkswirtschaftlichen Vereinen und Arbeiterversammlungen; aber er war nicht mehr so wie früher mit ganzer Seele bei der Sache. Er war unzufrieden mit sich selbst und merkte gar bald, daß auch die Parteigenossen kein rechtes Vertrauen zu ihm zu gewinnen schienen. Sein aristokratischer Name und seine intimen Beziehungen zu jenem großherzoglichen Hofe machten ihn den Volksmännern verdächtig. Ihn geradezu für einen Spitzel zu halten, das ging nicht wohl an, weil er den gebildeten Genossen durch seine Schriften schon als wissenschaftlicher Verfechter ihrer Sache bekannt war. So hielten sie ihn denn für einen Akademiker, für einen nicht taktfesten Kompromißler, dessen Vorträge man wohl mit Achtung anhören könnte, mit dem sich näher einzulassen man sich jedoch hüten müsse. Wenn er in geistvoller freier Rede seine Ideen über soziales Königtum entwickelte, fand der überwachende Polizeilieutenant niemals Anlaß, die Versammlung für aufgelöst zu erklären; aber der Beifall, der ihm dafür von den Zuhörern zu teil wurde, war dafür auch ein recht lauer, und es kam mehr als einmal vor, daß ihm beim Verlassen der Tribüne mit höhnischen Hochrufen auf die internationale Sozialdemokratie geantwortet wurde.

In seiner Seele tobte ein Kampf, der seiner reinen Begeisterung für die Sache, die er verfocht, sehr gefährlich wurde. Die herbe Erfahrung, die er mit der Freundschaft des Thronfolgers, mit der Neigung der Prinzessin hatte machen müssen, hatte so viel tiefen Groll in seinem Herzen aufgehäuft, daß er auf dem besten Wege war, ein Tyrannenhasser plumpster, lächerlichster Art zu werden, während auf der andern Seite sein hohes Gerechtigkeitsgefühl ihn davor warnte, seine zufälligen persönlichen Erfahrungen in so vernunftwidriger Weise zu verallgemeinern. Die aufrichtige Hochschätzung, die er vor dem edlen, wohlmeinenden Großherzog hegen mußte, die Leichtigkeit, mit der er den so glücklich beanlagten Prinzen wie auch dessen geistvolle Schwester von der Nichtigkeit seiner Ideen hatte überzeugen können – alle diese Erfahrungen hätten in ihm die Erkenntnis befestigen müssen, daß Unfähigkeit oder böser Wille den gerechten Forderungen der Zukunft gegenüber sicherlich an keinen bestimmten Stand, an keine bisher bevorzugte Kaste gebunden, sondern eben wie alle Intelligenz, alle guten oder bösen Charaktereigenschaften in gleicher unendlicher Verschiedenheit der Spielarten unter allen Ständen verteilt seien. Immer wieder kam ihm das kluge Wort der Prinzessin Eleonore in den Sinn, daß es eine schreiende Ungerechtigkeit sei, die Revolutionen immer nur von unten zu beginnen. Alles das war ihm klar, und dennoch fühlte er sich oft genug versucht, die lautesten Schreier wider Monarchie und Aristokratie durch den Schmerzensruf seines gemarterten Herzens zu übertönen. Mit Schrecken ward er an sich selbst inne, daß die wütende Selbstsucht der natürlichen Empfindungen der Freiheit des menschlichen Geistes weit schwerere Ketten anzulegen wisse, als selbst das grausamste Gesetz und alle gesellschaftliche Sitte.

Mit welchem Eifer auch immer er seinen Studien oblag und den Verkehr mit den Genossen pflegte, es gelang ihm doch nicht, sein Herzeleid darüber zu vergessen, und der heimliche Nebenzweck, der ihn bei der Wahl seines Aufenthaltsortes geleitet hatte, nahm ihn, wie er sich gestehen mußte, seelisch mehr in Anspruch als seine soziale Aufgabe. Des Morgens stürzte er sich mit nervöser Hast auf die Zeitung, um den Hofbericht daraufhin zu durchforschen, ob nicht etwa Georg Friedrichs Anwesenheit in der Residenz darin gemeldet würde oder gar das Gerücht von seiner Verlobung mit der Prinzessin Clementine eine offizielle Bestätigung erführe. Aber seine Nachforschungen blieben wochenlang ohne Ergebnis, und es wurde Mitte April, ohne daß er irgend etwas in Erfahrung gebracht hätte, was geeignet gewesen wäre, jener Nachricht im Generalanzeiger den Stempel der Wahrheit aufzudrücken. Es war ganz natürlich, daß er, nachdem er durch sein öffentliches Auftreten in der ganzen Residenz als Sozialist bekannt geworden war, keine Fühlung mit den Hofkreisen finden konnte, selbst wenn er sie in seiner gegenwärtigen Verbitterung hätte suchen wollen. Und in den Kreisen, die jetzt seinen vertrauteren Umgang bildeten, interessierte man sich für die Herzensangelegenheiten von Prinzen und Prinzessinnen nicht im mindesten. Er hatte auch öfters daran gedacht, irgend einen seiner Bekannten aus der großherzoglichen Residenz um Aufklärung zu bitten, aber diesen Gedanken immer wieder verworfen, weil er sich sagen mußte, daß dann unzweifelhaft in der Hofgesellschaft davon gesprochen werden, daß man Mutmaßungen aufstellen würde, die nur dazu dienen könnten, ihn als einen Spion im Dienste Melanies erscheinen zu lassen. Sonderbarerweise dachte er niemals daran, daß er eine Freundin dort besitze, die jedenfalls verschwiegen und überdies glücklich gewesen wäre, ihm einen Dienst leisten zu können – nämlich Doris von der Rast. In seiner Erinnerung wurde ihre rührende Gestalt ganz verdeckt von der ihres Vaters, des ihm in tiefster Seele verhaßten Kammerherrn.

Es war an einem Montage, als ihm, seit langer trüber Zeit zum erstenmal, beim Aufziehen der Vorhänge die lachende Frühlingssonne die Augen blendete. Er hatte sich am Abend vorher in einer Versammlung wieder einmal recht gehörig ärgern müssen und infolgedessen eine schlechte Nacht gehabt. Mit einem tiefen Seufzer hieß er das klare, langentbehrte Himmelsblau willkommen und beschloß, seine matten Lebensgeister durch einen tüchtigen einsamen Spaziergang zu erfrischen. Eine Morgenzeitung gab es ja heute nicht, er konnte sich also ohne Säumen auf den Weg machen.

Es war wirklich ein köstlicher Tag, und Kospoth fühlte, sobald er aus dem Gewühl der Straße heraus und in die parkähnlichen öffentlichen Anlagen eingetreten war, welche sich am Ufer des Flusses über eine Stunde weit ausdehnten, wie der frische Erdgeruch ihm, gleich der Blume eines edlen Weines, lieblich berauschend zu Kopfe stieg. In tiefen Atemzügen sog er diesen belebenden Frühlingsodem ein, und seinen müden Augen that das helle Grün so wohl, welches alle Hecken und Wipfel seit kurzem erst mit seinem zarten Schleier zu überspinnen begonnen hatte. Es wurde ihm allmählich leichter ums Herz, und als er sich nach stundenlangem Umherwandern ermüdet auf eine Bank niederließ, welche auf einem hübschen Aussichtspunkt am Rande eines Teiches angebracht war, dicht neben der hier vorbeiführenden Chaussee, da war er bald in einen leichten Halbschlaf versunken, und ein gefälliger Traum versetzte ihn in den heimischen Wald und zauberte ihm das Bild der Geliebten in holdester Greifbarkeit vor die Sinne. Alles war so gekommen, wie sein Vater es ihm mit solcher Zuversicht vorausgesagt hatte, bevor er wußte, welch trostlose Gewißheit trennend zwischen seiner und Melanies Zukunft stand. Diese vermeintliche Gewißheit war nur ein böses Gaukelspiel seiner überreizten Einbildung gewesen. Keiner andern Schuld als nur einer verzeihlichen Eitelkeit bewußt, durfte die Geliebte ihm nun ins Auge schauen und ihr Lebensglück in seine treuen Hände legen. O, wie süß träumte sich's an diesem stillen, milden Morgen! Ein Schwanenpaar, das mit stolz geblähten Flügeln langsam über die spiegelnde Wasserfläche dahinglitt, war das letzte Bild, das seine Augen auffingen, bevor sie ihm zufielen, Spatzengezwitscher und Finkenschlag das letzte, was sein Ohr deutlich vernahm.

Als er nach etwa einer Stunde wieder erwachte, bemerkte er zu seinem größten Erstaunen, daß er zwischen den Fingern seiner Rechten eine Visitenkarte hielt. Er traute seinen Augen nicht, als er darauf den Namen »Wally von Katz« las, und auf der andern Seite fand er mit Bleistift folgende Worte hingekritzelt: »Bin seit gestern mit meiner Prinzessin hier. Muß Sie notwendig sprechen. Seien Sie, bitte, morgen früh zehn Uhr am Eingang der neuen Gemäldegalerie.«

Er rieb sich die Augen, er glaubte noch zu träumen. Er stand auf und machte einige Schritte – aber nein, es war Wirklichkeit – er hielt das Kärtchen in der Hand und las dieselben Worte noch einmal; dann begann er auf allen Wegen und Stegen ringsumher ein planloses Suchen nach der Schreiberin. Allein vergebens! Er begegnete nur fremden Gesichtern unter den nicht eben zahlreichen Fußgängern wie unter den Insassen der vorüberrollenden Wagen.

Am andern Morgen aber war er pünktlich zur angegebenen Stunde am Orte des Stelldicheins. Er brauchte nicht allzulange zu warten. Etwa zehn Minuten nach Zehn stieg die kleine Hofdame, sehr hübsch angezogen, die breite Treppe zu dem Museum hinauf und begrüßte ihn schon von ferne mit heiterem Lächeln und vertrautem Augenwink.

»Nun, was sagen Sie zu meinem Geniestreich?« begann sie munter die Unterhaltung, ihm freundschaftlichst die Hand schüttelnd. »Ja, ja, Sie blöder Sterblicher – Pardon! Ich wollte sagen: Sie holder Schläfer – haben natürlich keine Ahnung, welcher Kobold Ihnen mein Billetdoux in die Hand gesteckt hat. Selbstverständlich haben Sie die ganze Nacht kein Auge zugethan, vor Sehnsucht, Ihre angebetete Wally von Katz wiederzusehen. Leugnen Sie nicht! Denn wenn Sie mich etwa kränken durch die Behauptung, Sie beteten mich nicht an, dann mache ich gleich wieder kehrt und Sie kriegen gar nichts zu hören.«

»Ich habe auch thatsächlich schlecht geschlafen, mein gnädiges Fräulein,« versetzte Kospoth, jedoch ohne den leisesten Versuch, auf ihren scherzhaften Ton einzugehen. »Aber gesehen habe ich Sie doch schon – Sie und Prinzessin Eleonore – gestern abend im Hoftheater. Die junge Dame, neben der unsre Hoheit saß, war also vermutlich die erwählte Braut des Erbgroßherzogs.«

»Das wissen Sie also schon! Das heißt: Erwählt par ordre . . . ich hätte beinahe gesagt: de moufti. Wir sind nämlich jetzt hier, um das Terrain aufzuklären, wie die Lieutenants sagen. Das heißt: ich glaube, meine Hoheit hat den Auftrag, die Prinzessin Clementine so quasi um Entschuldigung zu bitten für das sonderbare Benehmen ihres Zukünftigen bei seinem ersten Besuch.«

»Er war also doch schon hier und hat angefragt?«

»Mein Gott! Wissen Sie denn von gar nichts? Haben Sie denn gar keine Verbindungen unterhalten mit unserm Hofe? – Wissen Sie übrigens, daß ich drauf und dran war, Ihnen einen schönen, langen und sehr interessanten Brief zu schreiben? Heute vor acht Tagen war ja Ihr Geburtstag! Sie sind siebenundzwanzig Jahr' alt geworden – Sie wissen, Geburtstage sind meine Spezialität. Es ist mir wahrhaftig schwer geworden, Ihnen nicht zu gratulieren; aber in meiner Stellung ist es doch nicht ganz ungefährlich, etwas Schriftliches von sich zu geben.«

»Wenigstens an mißliebig gewordene Personen – ich verstehe!«

»Ganz recht! Aber für die gute Absicht können Sie mir einstweilen die Hand küssen – da! – Ich wäre nämlich sicher ins Schwatzen gekommen, wenn ich Ihnen zu schreiben gewagt hätte, und da wären mir am Ende die gefährlichsten Staatsgeheimnisse aus der Feder gewutscht. Sie wissen ja wohl, ich bin berüchtigt dafür, daß ich durchaus nicht dicht halten kann. Klatschen und petzen sind freilich als ein Laster angesehen: aber ich finde, ein wohlwollender Diplomat kann auch davon manchmal einen sehr nützlichen und löblichen Gebrauch machen. Daß ich so ein Diplomat bin, das wissen Sie ja schon – ich bin aber auch im ganzen ein leidlich guter Mensch – wahrhaftig, ich kann sogar sehr nett sein gegen Leute, die mir nichts gethan haben!«

»Daran hab' ich nie gezweifelt,« versetzte Kospoth, indem er sich lächelnd verbeugte.

»Ach, natürlich haben Sie daran gezweifelt!« rief sie kokett. »Sie haben mich, wie alle Welt, für eine mokante, süffisante, womöglich auch arrogante kleine Katz gehalten. Ich will Ihnen nur gestehen, Sie waren mir auch anfangs gar nicht sympathisch; aber ich habe mich doch bald mit Ihnen ausgesöhnt – und wie ich dann später merkte, wo Sie der Schuh drückte, und daß Sie wegen Ihrer unglücklichen Liebe zu der dummen Treysa . . . uhjeh! sehen Sie mich nur nicht so böse an! Wenn man unsern Georg Friedrich so gut kennt wie ich, dann hat man wirklich das Recht, ein Mädchen dumm zu nennen, die ihn einem Hans Jochen von Kospoth vorzieht! – Na, so bedanken Sie sich doch! So etwas Schmeichelhaftes werden Sie wohl nicht alle Tage zu hören kriegen.«

»Oh, mein gnädiges Fräulein, Sie werden mich verderben!« suchte er zu scherzen.

»An Ihnen ist doch nichts zu verderben!« gab sie schlagfertig zurück, »Sie sind ein rettungslos verlorener Musterknabe! Aber das ist ja freilich eine alte Geschichte, daß den tugendhaftesten Leuten in dieser bösen Welt am übelsten mitgespielt wird. Und sehen Sie, ich bin immer noch so brav und naiv, daß mich so was empört. Wie Ihnen damals meine Hoheit in ihrer eifersüchtigen Wut mitgespielt hat, das war ganz abscheulich – o, ich weiß alles, mir bleibt ja nichts verborgen! Es hat ihr auch leid gethan, daß sie gegen Sie so ausfallend geworden ist – sonst hätte sie sich mir gegenüber nicht verraten. Aber sehen Sie, seit der Zeit haben Sie an mir eine treue Freundin, auf die Sie sich verlassen können.«

Kospoth konnte sich nicht enthalten, das schwatzhafte kleine Fräulein ein wenig mißtrauisch von oben herab anzusehen. Außerdem waren ihm ihre persönlichen Gefühle herzlich gleichgültig, während er vor Neugierde brannte, endlich die Geheimnisse zu erfahren, mit denen sie so wichtig that. Er bedankte sich für ihr Mitgefühl mit etwas sauersüßer Miene und wagte sie daran zu erinnern, daß sie ihm immer noch nicht erzählt habe, wieso sich der Erbgroßherzog bei Gelegenheit seiner Brautschau »sonderbar benommen«.

»Ach so, das hab' ich Ihnen noch gar nicht erzählt?« rief die kleine Katz ganz verwundert, »Na, also denken Sie: am Tage nach dem Tode der Frau von Treysa reiste der Erbgroßherzog ab, wie Sie wissen. Meine Hoheit hatte es glücklich fertig gebracht, ihn davon zu überzeugen, daß er durchaus, wenn er nicht die Schuld am Tode seines Vaters auf sein Gewissen laden wollte, wenigstens zum Scheine sich seinem Willen fügen und hier am königlichen Hofe seine Aufwartung machen müßte. O, ich sage Ihnen, Prinzeß Eleonore kriegte es fertig, einen Bismarck zu überreden, daß er Eugen Richter zum Kriegsminister machen müßte! Die ist geboren für den schwierigsten Thron Europas. – Na, also, wie gesagt, unser Georg Friedrich befolgt ganz gehorsam seine Marschroute und begibt sich – bloß auf einem kleinen Umweg – um sich erst ein bißchen abzukühlen – hierher. Inzwischen aber hat meine Hoheit dem Grafen Worbis schon die nötigen Depeschen in die Feder diktiert – und wie unser Erbgroßherzog nach ein paar Tagen hier eintrifft, weiß natürlich der ganze Hof bis zum jüngsten Pagen herab, daß man in ihm den offiziellen Epouseur Ihrer Königlichen Hoheit der Prinzessin Clementine zu erblicken habe. Hier wird natürlich schleunigst Hofball angesagt und überhaupt auf alle Art dafür gesorgt, daß es den beiderseitigen Allerhöchsten Herzen nicht an Gelegenheit fehle, sich zu finden. Was thut aber unser Georg Friedrich? Er stellt sich an, als ob er nicht bis drei zählen konnte, bewegt sich hier bei Hofe herum, als ob er aus Holz geschnitzt wäre und auf Rädern liefe! Mit der Prinzessin Clementine tanzt er pflichtschuldig seine paar Touren herum und unterhält sie – es ist unglaublich! – über die moralischen Vorzüge der Vielweiberei im Orient! Das arme Prinzessel – sie ist übrigens soweit ein ganz nettes, harmloses Tierchen – lief natürlich, solange er hier war, mit verweinten Augen herum; und als er nach vier oder fünf Tagen sich wieder verabschiedete, da machten der König und sein ganzer Hof drei Kreuze hinter ihm her. Natürlich war das alles böswillige Absicht gewesen – damit er nachher dem Großherzog sagen konnte, er habe zu seinem Bedauern vor den Augen Ihrer Königlichen Hoheit keine Gnade gefunden. – Na, man muß auch gerecht sein: eine Melanie von Treysa so mir nichts dir nichts vergessen zu machen, dazu ist diese gute Prinzessin Clementine weder ihrem Geist noch ihrer Schönheit nach angethan! Unser Großherzog muß das wohl auch eingesehen haben, denn er schien sich mit dem bewiesenen guten Willen ja einigermaßen zufrieden zu geben; ich glaube aber nicht, daß der König ihm sehr entzückt über seinen Sohn geschrieben hat. Aber die Großherzogin ist ja auch eine kluge Frau, die hat gewiß zum Guten geredet und Abwarten anempfohlen. – Na, ich fürchte, sie werden lange warten können, bis der Erbgroßherzog gutwillig auf die Freite geht. Denn ich müßte mich sehr irren, wenn er nicht eifrig mit der Melanie korrespondiert – der dicke Baron von der Rast ist ja doch der geborene Postillon d'amour, nicht wahr?«

Jetzt endlich konnte sich Kospoth nicht mehr enthalten, ihren Redefluß zu unterbrechen. Er würgte einen Fluch hinunter und fragte sie dann mit aufrichtigem Erstaunen, woher sie denn das alles wisse.

»O, ganz einfach!« erwiderte sie lachend. »Ich stehe mich eben seit einiger Zeit sehr gut mit Wölfchen Bracke. Sie glauben gar nicht, was das für ein lieber Mensch ist! Er sagt mir alles, was ich wissen will. – Ich finde es übrigens hier gar nicht gemütlich zum Schwatzen, und aus den Bildern mach' ich mir auch nichts – das war bloß ein Vorwand, um ein paar Stunden Urlaub zu kriegen. Wissen Sie, ich habe einen großartigen Hunger und eine großartige Idee: gehen wir frühstücken! Wissen Sie nicht ein hübsches, feines Restaurant mit cabinets séparés, wie sie immer in den französischen Lustspielen vorkommen? Ich möchte so furchtbar gern 'mal meine Freiheit benutzen und ein bißchen durchgehen. Zwischen uns beiden ist ja so was ganz ungefährlich – Sie müssen mir bloß schwören, daß Sie es Wölfchen nicht wiedersagen.«

»Beim Barte des Propheten!« schwor Kospoth lächelnd. »Das Gräflein hat wohl ernste Absichten?«

»Ich habe sie – und das genügt!« gab Wally schelmisch zur Antwort.

Eine halbe Stunde später saßen die beiden zwar nicht in einem cabinet séparé, aber doch in einer durch Vorhänge abgetrennten Koje eines von verliebten Paaren sehr bevorzugten Weinrestaurants. Hans Joachim war zwar im Grunde durchaus nicht in der Stimmung, mit der koketten kleinen Hofdame auf Abenteuer auszugehen; aber er wußte ja, daß er das mindestens von seiner Seite aus ohne Gefahr wagen durfte – und es war ihm doch zu wertvoll, ihre geschwätzige Laune ausnutzen zu dürfen.

Es gewährte Wally von Katz ein außerordentliches Vergnügen, sich aus der reichhaltigen Speisekarte allerlei Leckereien zu einem Gabelfrühstück zusammenzusuchen und sich von dem klassischen Oberkellner bedienen zu lassen, dessen Haltung und Gesicht einen Mann zu verraten schienen, der zwar selbst über menschliche Schwächen erhaben ist, aber es doch nicht verschmäht, aus der wohlwollenden Duldung solcher Schwächen seinen Vorteil zu ziehen. Gegen Herrschaften, welche, wie dieser braungebrannte, kurzgeschorene junge Mann mit seinem niedlichen vogelaugigen Schatz, mit Austern und Chablis ansingen und darauf Chateaubriand und echten Champagner, nicht etwa billigen Kasinosekt, folgen ließen, gegen solche Herrschaften trieb er die Herablassung so weit, daß er sogar höchst eigenhändig die Bratenschüssel präsentierte!

Wally wurde bald sehr vergnügt. Solche kleinen Extravaganzen, mit etwas pikanter Heimlichkeit verbunden, bedeuteten für sie, die als armes Edelfräulein in sehr dürftigen Verhältnissen aufgewachsen und in dem ewigen Einerlei und beständigen Zwange des Hoflebens ihre unbändige Daseinslust niemals so recht auszutoben im stande war, geradezu einen Hochgenuß. Zum Essen und Trinken brauchte man sie auch durchaus nicht zu nötigen – ihr Appetit hätte sogar einer kleinen Operettensängerin Ehre gemacht – und die außerordentlichen Anstrengungen, welche sie ihrem flinken Mundwerk zumutete, erforderten eine fleißige Feuchtigkeitszufuhr.

Zu Hans Joachims größtem Leidwesen war es ihr unmöglich, mit ihrem kleinen Geplauder bei der Stange zu bleiben. Der kleine Residenzklatsch mit allen seinen Nichtigkeiten wurde von ihr mit ganz derselben Wichtigkeit behandelt, wie die so folgenschweren Meinungsverschiedenheiten in der großherzoglichen Familie, und den allerbreitesten Raum in ihrem Vortrage nahm natürlich ihre neueste Herzensaffaire mit dem kleinen Husarenlieutenant und Adjutanten ein. Mit einer Offenherzigkeit, die selbst Kospoth sich nicht enthalten konnte, reizend zu finden, gestand sie ihm alle die koketten kleinen Manöverchen ein, die sie angewendet hatte, um den harmlosen, nur unter Kameraden renommistisch schneidigen Grafen Wölschen in ihre Netze zu ziehen.

»Sehen Sie, jetzt fehlt mir nur noch eins,« kicherte sie übermütig, »die Gelegenheit, uns einmal von meiner Hoheit bei einem Kusse überraschen zu lassen; dann lasse ich einen sehr netten kleinen Schrei ertönen, werde rot bis über die Ohren und stammle in lieblicher Verwirrung: ›Verzeihung, Hoheit – ich . . . wir . . . wir haben uns eben verlobt.‹ – Na, sehen Sie, jetzt habe ich Ihnen doch gewiß einen Beweis meiner ehrlichen Freundschaft gegeben: denn wenn ich Ihnen irgend etwas zuleide thue, dann brauchen Sie mich ja bloß meinem Wölfchen zu verraten, um fürchterlich an mir Rache zu nehmen. Uebrigens können Sie mir glauben, daß ich mein Gräflein wirklich aufrichtig liebe. Er ist ein zu lieber, guter Mensch – und Sie sollen einmal sehen, was ich für eine enorm solide, exquisite Gräfin Bracke abgebe.«

»Es lebe die reizende Frau Gräfin!« rief Kospoth und stieß mit ihr an.

»Ah, jetzt fangen Sie endlich an, galant zu werden!« sagte sie und lächelte ihn über den Rand ihres Spitzkelches freundlich an.

Und er versetzte schnell: »Es wäre sehr hübsch von Ihnen, wenn Sie mir zum Danke dafür nun doch endlich erklären wollten, wie Ihre Karte in meine Hand gekommen ist.«

»Ach so, richtig! Na, dann hören Sie also! Vorgestern nachmittag sind wir hier angekommen und gestern früh benutzten wir das schöne Wetter, um die Prinzessin Clementine zu einer Spazierfahrt abzuholen. Die beiden hohen Damen hatten sich, wie Sie sich wohl denken können, allerlei im Vertrauen zu sagen. Darum stiegen sie dort am Teich aus und baten mich, in der Nähe des Wagens zu bleiben, bis sie von einem kleinen Spaziergange zurück kämen. Sobald die Fürstlichkeiten außer Sicht sind, fange ich an, am Ufer des Teiches auf und ab zu wandeln, und entdecke Sie bei der Gelegenheit schlafend auf der Bank. Mein erster Gedanke war natürlich, Sie mit einem Grashalm an der Nase zu kitzeln und mich dann an Ihrem Erstaunen zu weiden; aber bei näherer Ueberlegung ließ ich das doch wohlweislich bleiben. Denn wenn meine Hoheit mich mit Ihnen zusammen gesehen, hätte es mir leicht schlimm ergehen können – sie hätte das mindestens als Hochverrat angesehen! Es war ja auch schon keck genug, mir mit Ihnen ein Rendezvous zu geben; denn wenn sie das erfährt . . . ich wage gar nicht daran zu denken!«

»Sind denn die beiden Prinzessinnen nicht auch bei mir vorübergekommen?«

»Nein, die haben glücklicherweise die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Prinzessin Clementine hatte ganz verweinte Aeugelchen, wie sie zurückkamen – aber angenehm verweint, wissen Sie. Nachher war sie auch wieder ganz vergnügt. Ich glaube, meine Hoheit hat ihr über Georg Friedrich reinen Wein eingeschenkt und ihr Mut gemacht, ihn trotz alledem zu nehmen. Du lieber Himmel! Eine Prinzessin darf ja an das Herz ihres Zukünftigen keine allzu selbstsüchtigen Ansprüche stellen – und dann muß sie doch immer bedenken, daß von den inländischen Prinzen von Belang unser Erbgroßherzog doch entschieden der hübscheste, gescheiteste und liebenswürdigste ist – wenigstens soweit ich die Herren kenne.«

»Sie glauben also, daß die Prinzessin hier ist mit der Absicht – wenn ich so sagen darf – die Karre, die ihr Bruder in den Sumpf gefahren hat, wieder herauszuziehen. Weiß denn der Erbgroßherzog nichts von dieser Reise?«

»Der ist vor ein paar Tagen in die westlichen Jagdreviere gegangen, und das haben wir uns zu nutze gemacht, um ihn hier nolens volens zu verkuppeln. Was hilft's? Einmal muß er ja doch dran glauben!«

»In die westlichen Jagdreviere, sagten Sie?« fragte Kospoth mit finstrer Stirn. »Da liegt ja auch Treysa! Er wird doch nicht etwa wagen, sie wieder aufzusuchen?«

»Warum sollte er denn nicht?« rief Wally. Und dann legte sie ihren Ellbogen auf den Tisch, stützte ihr Kinn in das hübsche weiche Händchen und blickte mit einer Art schwesterlichen Mitgefühls zu ihm hinüber. »Ich weiß, was Sie mit dem armen Prinzen im Sinne haben,« begann sie leise. »Mein Wölfchen hat mir gewisse Andeutungen gemacht. – Eifersucht kann ich ja sehr wohl begreifen; aber ein so kluger Mann wie Sie, der müßte doch eigentlich auch gerecht sein können. Was kann denn der Prinz dafür, wenn er nun doch einmal die schöne Melanie so unsinnig liebt? Ich kenne ihn ja am besten, und ich kann Sie versichern, diesmal sitzt es tief bei ihm. Ich glaube sogar fest und steif, daß er sie wirklich geheiratet hätte, wenn Sie es nicht gerade im kritischen Augenblick mit meiner Hoheit so gründlich verdorben hätten; denn wenn die ihm beigestanden wäre, dann hätten sie sogar die großherzoglichen Herrschaften herumgekriegt. Sie sind also gewissermaßen ganz allein dran schuld, wenn Georg Friedrich seine Melanie sitzen läßt – und darum sollten Sie doch eigentlich ihm am wenigsten böse sein. Habe ich nicht recht?«

»Mein liebes gnädiges Fräulein, kluge Frauen haben immer recht,« versetzte er mit einem unglücklichen Versuch, zu lächeln. Er nagte sich die Lippe und sehnte das Ende dieses Tête-a-Têtes herbei, um an seinen Vater schreiben zu können, den er um telegraphische Auskunft ersuchen wollte, ob sich etwa der Erbgroßherzog in Treysa habe blicken lassen. Sich mit dieser schlauen kleinen Intrigantin in Erörterungen über heikle moralische Fragen einzulassen, dazu war er jetzt nicht im mindesten in der Stimmung.

Und Wally von Katz war feinfühlig genug, das zu begreifen und geschickt auf einen andern Gegenstand überzuspringen. Sie hatte auch bald in dem leichten Champagnerrausch allen Ernst vergessen und gab tausend Possen zum besten, die selbst ihm manch herzliches Lachen abnötigten.

Als sie nach einer guten Stunde etwa das Zeichen zum Aufbruch gab, waren sie wirklich die besten Freunde geworden, und er mußte dem unverwüstlich lustigen, oberflächlichen Geschöpfchen zugeben, daß es wirklich ein guter Kamerad und eine schätzbare Bundesgenossin sei.

»Es ist höchste Zeit, daß Sie mich in eine Droschke packen und nach Hause spedieren. Ich muß durchaus noch eine halbe Stunde Schlaf haben, ehe ich wieder meinen Dienst antrete. Wenn meine strenge Hoheit merkt, daß ich ein bißchen beschwipst bin – das ist nämlich Thatsache! – dann kann ich mich auf ein scharfes Verhör gefaßt machen, und mit dem Lügen kommt man bei ihr gewöhnlich nicht durch. Aber es war doch nett, nicht wahr? Meinen schönsten Dank für das Dejeuner – denn Abenteuer kann ich's wohl kaum nennen: dazu war es doch zu schrecklich harmlos, Sie Erzphilister Sie! Der große Jean hätte wirklich nicht nötig gehabt, uns so diskret die Vorhänge vorzuziehen.«

Sie stand mit gespitzten Lippen, sich auf den Zehen wippend, vor ihm und guckte schelmisch zu ihm auf.

Er mußte herzlich lachen. »Wenn Sie gestatten, mit Vergnügen!« sagte er, und dabei umfaßte er sie rasch und küßte sie freundschaftlich auf die in Wirklichkeit süßen Lippen – denn sie hatten ihr kleines Frühmahl mit Schaumtorte beschlossen.

Sie gab ihm den Kuß mit großer Herzlichkeit zurück und sagte übermütig: »Was wohl meine Hoheit darum gäbe, jetzt an meiner Stelle gewesen zu sein! Ach Gott, die armen Herrschaften haben es wirklich gar zu schlecht! – Na, vielen Dank auch noch für den Kuß – aber bilden Sie sich ja nicht etwa Dummheiten ein! Das war nämlich nur eine Kriegslist von mir: Wenn Sie mich jetzt auch nur durch die kleinste Indiskretion in Ungelegenheiten bringen, dann zittern Sie vor meiner Rache!«

Und während er sie zum Wagen führte, sagte sie noch: »Hören Sie, ich finde, Sie sind in Ihrer Toilette nicht soigniert genug. Wenn man sich von liebenswürdigen Feen auf einer Parkbank im Schlafe überraschen läßt, dann darf man nicht eine so skandalös unmoderne Krawatte tragen! Heute bin ich mit Ihrem Aeußeren leidlich zufrieden. Adieu!«

»Adieu, liebenswürdiger Kobold! Also, nicht wahr! Sie vergessen nicht, mir zu schreiben, wenn sich irgend etwas ereignet, was für mich von Interesse ist?«

»Nein, nein: ein Wort, ein Mann – ein Schmatz, eine Katz!«

Noch ein fester Händedruck, dann rollte die Droschke davon. –

Als Hans Joachim zehn Minuten später sein Zimmer betrat, fand er auf dem Tisch einen Brief seines Vaters vor, welcher also lautete:

»Mein lieber Sohn!

»Ich will nicht versäumen, Dir zu melden, daß Dein Freund Georg Friedrich in diesen Tagen hier die Wälder unsicher gemacht hat. Ich müßte mich auch sehr täuschen, wenn er nicht Mittel und Wege gefunden hätte, mit der Melanie zusammenzutreffen. Ich komme eben von Treysa zurück, wo ich 'mal zum Rechten sehen wollte. Die Melanie kam mir mit einem Gesicht entgegen, so selig und verliebt, daß ich natürlich gleich wußte, woran ich war. Das wollte ich Dir bloß schreiben, mein lieber Hans Jochen, und den väterlichen Rat hinzufügen: Schlag' Dir das Mädel aus dem Sinn! Sonst ist hier nichts vorgefallen. Der alte General wird alle Tage tapriger.

Mit Gruß

Dein treuer Vater     
Wichhard v. Kospoth.«

Hans Joachim packte sofort sein Köfferchen und fuhr mit dem nächsten Zuge nach Hause.



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