Ernst von Wolzogen
Der Thronfolger - Erster Band
Ernst von Wolzogen

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.

In welchem sowohl die Liebe der klugen Prinzessin, wie auch die Vorlesung des dicken Kammerherrn ein Ende mit Schrecken nimmt.

Pünktlich um sechs Uhr betrat Hans Joachim von Kospoth das großherzogliche Schloß. Die gesamte Dienerschaft kannte ihn und wußte, daß er bei dem Erbgroßherzog unangemeldet aus und ein gehen durfte. Heute aber trat ihm doch der Thürsteher, ein langbärtiger Russe von ehrfurchtgebietendem Körpermaß, mit seiner grimmigsten Amtsmiene entgegen und machte ihn darauf aufmerksam, daß seine Königliche Hoheit befohlen habe, ausnahmslos niemand vorzulassen.

»Ich weiß, ich weiß!« sagte Kospoth ungeduldig. »Ich wünsche auch nur einen der Herren Adjutanten zu sprechen.«

Der Riese verbeugte sich mit den Worten: »Werrden Herr Baron Graf Bracke finden,« und gab ihm die Treppe frei.

Hans Joachim stieg hinauf und schritt durch eine Reihe leerer Zimmer nach den Gemächern der Prinzessin Eleonore. Er mußte auf seinem Wege auch die sogenannte grüne Galerie passieren, in welcher sich, wie man sich erinnern wird, eine Sammlung von Porträts befand, welche meist durch Rang, Schönheit oder intime Beziehungen zum Hof bemerkenswerte Persönlichkeiten darstellten. Der Raum war heute, wie immer, wenn keine Gesellschaft stattfand, nur durch eine einzige, auf einem marmornen Sockel stehende Lampe erleuchtet, und diese Lampe stand zufällig dicht neben dem Bildnis der schönen Sängerin Caffarelli.

Kospoth hatte seine Schritte verlangsamt, sobald er die Galerie betrat. Nach den Andeutungen, die ihm Melanie heute morgen über die Gefühle der Prinzessin gemacht hatte, empfand er doch ein gewisses Bangen, wenn er daran dachte, was dieses Gespräch unter vier Augen doch möglicherweise für Auseinandersetzungen herbeiführen könnte. Er blieb inmitten der Galerie nachdenklich stehen, um noch einmal zu überlegen, wie er eine etwaige gefährliche Wendung am besten verhindern könnte. Und wie er den Blick sinnend vom Fußboden erhob, blieb sein Auge an dem mattbeleuchteten Porträt der Caffarelli haften. Er wußte, daß sie die Mutter des Generals von Treysa gewesen war, und dennoch war ihm nie zuvor die Aehnlichkeit mit Melanie so aufgefallen wie heute. Er trat näher heran und versenkte sich in die Betrachtung der lieblichen Züge, die Angelika Kaufmanns Meisterhand der Nachwelt aufbewahrt hatte. Wenn er von diesem Kunstwerke sich hinwegdachte, wodurch der schwächlich konventionelle Stil der Zeit die Natur verbessern zu müssen geglaubt hatte, die unmöglich weit geöffneten Augen, den flitzbogenförmigen Schwung der Lippen und die allzu klassische Nase, so trat die Aehnlichkeit mit der schönen Enkelin unzweifelhaft hervor. Und wie er so minutenlang das Gemälde anstarrte, Zug um Zug vergleichend mit Melanies Bild, das ihm, wo er ging und stand, deutlich vor Augen schwebte, da war es ihm, als ob diese Züge allmählich Leben gewönnen; und schließlich löste sich gar das Bild von der Leinwand los und stieg in holdester Körperlichkeit, von dem weißen, hochgeschnürten Mullgewande duftig umflossen, aus dem goldnen Rahmen heraus.

Da stand Signora Caffarelli leibhaftig vor ihm, und ihre großen braunen Augen lächelten ihm verführerisch zu! Er trat verwirrt ein paar Schritte zurück und strich sich mit der Hand über Stirn und Augen, um den Traum zu bannen. Aber nein, die Gestalt wollte nicht von der Stelle weichen. Langsam breitete sie die Arme auseinander und öffnete leicht die frischen Lippen, als wollten sie ihm ein leises »Komm!« zurufen. Da wallte es heiß in ihm auf, und er stürzte auf die schlanke Gestalt zu, um sie mit rasender Glut in die Arme zu schließen.

Doch ohne daß er wußte, wie es geschehen konnte, war der Schemen ihm entschlüpft und stand wieder, wie vorher, zwei Schritte vor ihm, nun aber das zarte Köpfchen zur Seite gesenkt, mit ernstlich schmollender Miene. »Mein Herr, was erlauben Sie sich?« glaubte er sie sprechen zu hören. »Ich bin die Favoritin des Herzogs – und Sie sind ein Kind des Todes, wenn ich ihm verrate, was Sie gewagt haben!«

Da floß das Weiß des koketten Empiregewandes mit der unbestimmten Farbe der Wand zusammen, und das Köpfchen schaute plötzlich wieder lächelnd aus dem goldnen Rahmen hervor. Mit geballten Fäusten trat Kospoth noch dichter an das Bild heran und hätte ihm am liebsten laut zugerufen: »Ja, du schönes, engelhaftes Geschöpf, du hast es verstanden, Carriere zu machen! Du bist gewiß stolz darauf gewesen, die Geliebte des Herzogs zu heißen! – Und Melanie hat dein Blut in den Adern – und sie ist auch stolz auf einen solchen Ehrentitel.«

Und halblaut fügte er hinzu, indem er drohend die Fäuste gegen das Bild schüttelte: »Empörend ist es, einfach empörend!«

Da hörte er ganz aus der Nähe ein spitzes Gekicher. War die verführerische Großmutter etwa wieder aus dem Rahmen herausgesprungen und lachte ihn hinter seinem Rücken aus? Er wandte sich rasch um – und stand Wally von Katz gegenüber.

»Was treiben Sie denn da, Verehrtester?« redete ihn das kleine Fräulein, mutwillige Gesichter schneidend, an. »Wollen Sie etwa der Caffarelli die schönen Augen auskratzen? – Kommen Sie schnell, die Prinzessin erwartet Sie bereits. Ich dachte mir, daß Sie hier durchkommen müßten, und bin Ihnen entgegengelaufen. Ach ja, Sie verwöhnter Herr, Ihnen kommt ja hier freilich alles entgegen, wer weiß wie weit, und Sie thun, als bemerkten Sie das gar nicht.«

Kospoth war durchaus nicht in der Stimmung, auf die Neckereien und Anzüglichkeiten der kecken kleinen Dame einzugehen. Er ließ daher ihre Anzapfung ganz unbeachtet und sagte nur: »Wenn Ihre Hoheit sich bereits freigemacht hat, so darf ich wohl annehmen, daß es dem Großherzog jetzt besser geht?«

»Ja, er schläft, und die Frau Großherzogin ist bei ihm,« versetzte die Katz. »Denken Sie, die Großherzogin weiß immer noch nichts,«

»Was weiß sie noch nicht?«

»Ach, thun Sie doch nicht so! Denken Sie denn, unsereins verstünde gar nicht ein bißchen zu kombinieren? Ach, ich habe die Geschichte längst heraus. Ich bin gar nicht so dumm, wie manche Leute aussehen, hihi! Wölfchen und ich . . . Ach so, Pardon! Graf Bracke und meine Wenigkeit haben unsre Köpfe zusammengesteckt, und da hatten wir uns in fünf Minuten die ganze Affaire zusammengereimt. Ach ja, die Hofluft schärft die Nasen und auch die übrigen Sinnesorgane. Sie freilich, Sie gelehrter Herr Baron, Sie kann man mit der Nase auf etwas stoßen und Sie sehen doch noch nichts.«

»So, wirklich?« rief Kospoth ungeduldig. »Haben Sie vielleicht den Auftrag, meine Nase so unsanft zu behandeln?«

»O, wie können Sie so etwas glauben? Das wäre eine sehr unbrauchbare Hofdame, die nur auf allerhöchsten Befehl handeln wollte! Man muß aber mit seiner gnädigsten Herrschaft so mitempfinden lernen, daß man ihre geheimsten Wünsche ahnt. Dazu gehört freilich Talent. – Mancher lernt's nie! Unser gutes Wölfchen Bracke zum Beispiel – du liebe Zeit, der hält sich für ein fabelhaft schneidiges Kerlchen und hatte doch bis auf den heutigen Tag noch nicht gemerkt, wo der Erbgroßherzog seine Schummerstündchen zu verleben pflegt, hihi! Denken Sie, er hat sich selber noch immer Hoffnungen gemacht auf die Treysa! Sie hätten nur sehen sollen, wie das arme Tierchen den Kopf hängen ließ, als ich ihm heute reinen Wein einschenkte. Ich müßte bloß ein Mann sein, ich wäre heute mindestens schon Legationsrat!«

»Sind Sie wirklich so fest überzeugt von Ihrem untrüglichen Scharfblick?« sagte Kospoth wegwerfend, denn ihr leichtfertiges Geschwätz ärgerte ihn. »Was Sie mir da von der Prinzessin andeuten, das ist ja Unsinn.«

»Sie sind eben blind geboren,« versetzte sie, mitleidig die Achseln zuckend.

»O durchaus nicht! Ich sehe sogar sehr scharf – und ich habe mich niemals einer Brille bedient, mein gnädiges Fräulein! Es gibt auch Dinge, die man nicht sieht, weil man sie nicht sehen darf!«

Das kleine Fräulein legte ihre Hand auf seinen Arm, erhob sich auf die Zehen und flüsterte ihm eifrig zu: »Lassen Sie die Prinzessin ja nicht merken, daß Sie nicht sehen wollen! Wenn Sie ihre Eigenliebe kränken, wird sie gefährlich. Oh, she is quite a character, die Prinzessin! Wehe dem, der ihr in irgend etwas entgegentritt, worauf sie einmal ihren Kopf gesetzt hat! Ich kann Ihnen sagen, sie ist in ihrer Feindschaft noch zuverlässiger als in ihrer Freundschaft. Also seien Sie klug.«

Sie waren unter solchem Gespräch bis ins Vorzimmer der Prinzessin gelangt, und das Fräulein von Katz lief ihm nun rasch voraus, um ihn ihrer Herrin zu melden.

Wenige Augenblicke später stand er in dem kleinen Musiksalon Eleonoren gegenüber, und Wally zog sich geräuschlos zurück.

Hans Joachim beugte sich zum Kusse über die Hand, die ihm die Prinzessin entgegenstreckte, und sagte: »Ich freue mich aufrichtig, daß Hoheit mir selbst Gelegenheit gegeben haben, mich zu verabschieden; ich hätte sonst vielleicht so ungezogen sein müssen, ohne Urlaub abzureisen.«

»Ist das Ihr Ernst? Sie wollen abreisen?« rief die Prinzessin erstaunt und unvermögend, ihren Schreck ganz zu unterdrücken. »Jetzt gerade wollen Sie fort? O, das ist kein Abschied, das ist Fahnenflucht! Aber kommen Sie, setzen wir uns! Sagen Sie doch . . .« Sie hielt flüchtig Umschau in dem von einer großen rotbeschirmten Lampe angenehm mild beleuchteten Musiksalon und erwählte alsbald jenes kleine Ecksofa, das nur für zwei Personen Platz hatte.

Er folgte ihrer Einladung, sich an ihre Seite zu setzen, ohne sich irgendwie merken zu lassen, daß er in der Wahl gerade dieses kosigen Plätzchens etwa eine schmeichelhafte Absicht erblickte. Auch hielt er sich ihr so fern wie möglich und bewahrte, den Klapphut auf ein Knie gestützt, eine durchaus förmliche Haltung.

»Also sagen Sie,« begann die Prinzeß aufs neue, »weshalb wollen Sie uns so Hals über Kopf im Stiche lassen? Hat Sie mein Bruder vielleicht gekränkt? Dann müßten Sie schon der Aufregung von heute morgen etwas zu gute halten.«

»O durchaus nicht, Hoheit, ich habe niemand anzuklagen als mich selbst! Ich gehöre einmal mit meinen Ansichten an keinen Hof – am wenigsten als beratender Freund eines Thronfolgers, der durch meinen Einfluß ja nur zu leicht in Konflikt mit seinem regierenden Vater geraten kann. Sie waren heute morgen Zeuge unsrer Unterhaltung, Hoheit; Sie wissen also, daß ich gerade in diesem Falle die rücksichtslose Leidenschaft des Prinzen entschieden nicht gebilligt habe, und dennoch wird es nicht ausbleiben, daß man mich mehr oder weniger für die Folgen dieser Rücksichtslosigkeit mitverantwortlich macht. Das wird auch der Großherzog thun, so gerecht und duldsam er auch sonst gegen Andersdenkende ist. Ich hätte das voraussehen müssen – ich habe es ja auch vorausgesehen – Hoheit wissen selbst, wie sehr ich mich dagegen gesträubt habe, die Einladung Ihres Bruders anzunehmen. Es war eine Schwäche von mir, wenngleich eine Schwäche, die schon die allergewöhnlichste Höflichkeit gebot, daß ich der großen Liebenswürdigkeit, mit der mir die höchsten Herrschaften – und allen voran Hoheit selbst – hier entgegengekommen sind, nicht zu widerstehen vermochte.«

Eleonore blickte ein kleines Weilchen nachdenklich in ihren Schoß, dann begann eine sanfte Röte in ihrem feinen, schmalen Gesicht aufzusteigen, sie richtete ihren Blick mit sanftem Vorwurf auf Kospoth und sagte leise: »Ich muß Ihnen gestehen, es schmerzt mich, daß Sie so kühl von unsrer Liebenswürdigkeit sprechen – Liebenswürdigkeit ist schließlich nur die Scheidemünze im Verkehr gebildeter Menschen. Sie werden doch nicht bezweifeln, daß Ihnen zum mindesten mein Bruder in aufrichtiger Freundschaft zugethan ist – und von mir darf ich auch behaupten, daß der Umgang mit Ihnen, der so überaus fördernde Gedankenaustausch mit einem geistig so selbständigen Manne mir – ich darf wohl sagen: zu einem ernsten Bedürfnis geworden ist. Es liegt in Ihrer Selbstanklage für mich wenigstens eine Unterschätzung meiner geistigen Freiheit, die mich noch schwerer kränken würde, wenn sie von einem andern käme als gerade von Ihnen, der Sie freilich gewohnt sind, die höchsten Ansprüche zu stellen.«

»Hoheit sehen mich tief beschämt,« versetzte Kospoth in nicht geringer Verlegenheit. »Ich weiß in der That nicht, wie ich einen solchen Vorwurf von mir abwälzen soll. Aber glauben Sie mir, wenn irgend etwas mich selbst mit meiner Untreue gegen meine Pflicht aussöhnen kann, so wird es die stolze Erinnerung an die Stunden sein, die ich hier in diesem Zimmer verbringen durfte. Der freie Gedankenaustausch mit einer hochstrebenden, geistig bedeutenden Dame bedeutet für einen rastlosen Arbeiter meines Schlages die schönste Erquickung und Belohnung zugleich.«

»Ah, Herr von Kospoth!« rief die Prinzessin mit feinem Lächeln. »Sie haben mir bisher noch nicht Gelegenheit gegeben, Sie in der Rolle eines Schmeichlers zu bewundern! – Aber ernsthaft gesprochen: Glauben Sie denn wirklich, daß Ihre Aufgabe nur darin bestehen könnte, auf die blöden Massen aufklärend zu wirken? Gibt es nicht Hunderte von Bekennern Ihres Glaubens, welche diese Pflicht unter sich teilen können? Müssen denn die Revolutionen durchaus immer von unten herauf gemacht werden; sollte es sich nicht der Mühe verlohnen, den Hebel einmal oben anzusetzen? Den Fürsten macht man nachher immer den Vorwurf, daß sie sich verständnislos vor den Forderungen einer neuen Zeit verschlossen hätten. Können sie denn wirklich so viel dafür, wenn sie niemand finden, der sie zur rechten Zeit von der Gerechtigkeit dieser Forderungen überführt? Wie sollen wir in unsrer Einsamkeit dazu kommen, die Dinge unbefangen zu betrachten, Verständnis zu gewinnen, zum Beispiel für die Bedürfnisse der unteren Gesellschaftsklassen, in deren Verhältnisse es uns fast unmöglich ist, einen Blick zu werfen!? Was wir zu sehen bekommen von Krankheit und Not, das wird ja doch immer zum Zwecke der allerhöchsten Besichtigung mehr oder minder appetitlich zubereitet. Ach, Potemkinsche Dörfer sind nicht nur in Rußland an der Tagesordnung – wir bekommen alle keine rechten Wirklichkeiten zu sehen! Vor uns erscheint man immer nur im Feiertagskleide. Von der Stimme des Volkes hören wir schließlich doch kaum etwas anders als das Hurra-Hoch der Schulkinder und Schützenbrüder, die offiziellen Begrüßungsreden der Bürgermeister und so weiter und so weiter. Und wenn wir dann auch die Blätter der Opposition lesen – vorausgesetzt, daß man sie zu uns dringen läßt – so klingt uns daraus meistens eine Sprache entgegen, die wir für Lüge, für plebejische Bosheit halten müssen, weil unsre Ohren in Wirklichkeit nie ihresgleichen hören. Was Wunder, wenn wir die übrige Menschheit nur einzuteilen vermögen in unsre getreue Ritterschaft, das brave gläubige Volk und eine Handvoll böswilliger Schreier, die ihre Intelligenz dazu mißbrauchen, Haß und Neid zu säen, damit sie desto besser im Trüben fischen können. Die Leute, von denen wir umgeben sind, haben ja das stärkste persönliche Interesse daran, uns die Dinge nie anders als in solcher Beleuchtung sehen zu lassen. Begreifen Sie denn nicht, von wie unschätzbarem Werte es für einen ehrlichen Fürsten sein muß, einen Mann zum Freunde zu haben, der mit echt aristokratischer Gesinnung ein wirkliches Verständnis und ein warmes Herz für das Volk verbindet und der den Freimut besitzt, zu seinen Fürsten wie zu seinesgleichen zu sprechen.«

Mit schöner Begeisterung, nur selten einmal stockend und nach dem rechten Worte suchend, hatte die Prinzessin gesprochen, und ihre sonst so kalten grauen Augen hatten einen warmen Glanz angenommen, als sie am Schluß ihrer Rede Kospoth so herausfordernd anblickte, und er konnte nicht umhin, sie zu bewundern und sich voller Beschämung darüber zu schelten, daß er von diesem ernsten, hochherzigen Weibe so kleinlich hatte denken können, um sich von den kupplerischen Anspielungen eines Fräuleins von Katz beeinflussen zu lassen.

»O Prinzessin, warum müssen Sie mir das Herz so schwer machen?« rief er warm. »Sie haben recht in allem, was Sie sagten, und von diesem Gesichtspunkt aus habe ich auch stets meine Stellung zu Ihrem Bruder aufgefaßt und dann später mein Verweilen hier bei Hofe vor mir selbst gerechtfertigt. Aber fort muß ich nun doch – wenn ich ein ehrlicher Mann bleiben will – jetzt ganz besonders, wo ich gesehen habe, wie sehr gerade Sie, Hoheit, geneigt sind, mich zu überschätzen.«

Eleonore errötete tiefer und atmete rascher. Sie versuchte zu lächeln, um ihre Erregung zu verbergen, und sagte scherzend: »Lassen Sie doch die Hoheit und thun Sie endlich Ihren langweiligen Hut beiseite. Es scheint beinahe, Sie wollen mir sagen, daß Sie sich vor mir fürchten.«

Er hatte sich erhoben, um den Klapphut auf ein Tischchen in der Nähe zu legen. Nun setzte er sich wieder zu ihr und sagte rasch, indem er sich mit seinen Handschuhen zu thun machte: »O nein, gewiß nicht! Ich fliehe nur vor mir selber. Ich kann hier nicht länger bleiben, wenn ich nicht in Gefahr kommen will, alle Rücksichten beiseite zu setzen, die ich . . . Ich habe eben erfahren müssen, daß alle geistige Selbstzucht, die schönsten Grundsätze nicht im stande sind, uns aufrecht zu erhalten, wenn das Menschliche, das allzu Menschliche hier – (er legte dabei die Hand aufs Herz) – es anders mit uns beschlossen hat.«

»Endlich!« jauchzte es auf in Eleonorens Seele. Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen – wußte sie doch, daß sie in der nächsten Minute ihren Kopf an seine Brust legen und mit durstigem Ohre das trunkene Gestammel seiner Leidenschaft einsaugen würde! Sie lehnte sich, hoch atmend, in ihre Ecke zurück und preßte in Erwartung dessen, was da kommen mußte, ihre etwas schmalen Lippen zusammen.

Aber er schwieg – er wagte nicht das Wort zu sprechen! Er schien darauf zu warten, daß sie es ihm auf die Lippen legen sollte; aber das vermochte sie nicht. Sie dachte an Tante Georgine und erschrak vor dem bloßen Gedanken eines solchen Entgegenkommens.

Und nun erhob er sich langsam und sagte, ihr ernst ins Auge schauend: »Leben Sie wohl, Prinzessin, und nehmen Sie meinen tiefgefühlten Dank für die schönen Stunden, die Ihre Güte mir geschenkt hat! Ich werde Georg nicht mehr wiedersehen: sagen Sie ihm . . . aber nein, Sie werden ihm gar nichts zu sagen brauchen. Was ich Ihnen eben andeutete, das hat er sicher schon selbst bemerkt. Also – leben Sie wohl, meine gütige Hoheit, und erhalten Sie mir Ihre Gesinnungen!«

Die Prinzessin erhob sich rasch und streckte ihm beide Hände entgegen. Er ergriff ihre Rechte und führte sie, sich tief darüber beugend, an seine Lippen, und während er sie küßte, flüsterte Eleonore verwirrt und erschrocken: »Sie wollen wirklich fort? Aus diesem Grunde fort?« Dabei führte sie ihre Linke an ihr Herz.

»Ja, Prinzessin, aus diesem Grunde,« versetzte er rasch, indem er ihre Hand losließ und sich zum Gehen wandte.

Sie holte ihn mit zwei raschen Schritten ein und flüsterte verwirrt und erregt, kaum wissend, was sie sprach: »Nein, Baron, Sie dürfen nicht gehen, aus diesem Grunde nicht! O, Sie wissen ja noch gar nicht, wie sehr ich mit meinem Bruder fühle, wie sehr ich es begreife, was er in seiner Leidenschaft angerichtet hat. Und Sie begreifen es auch – Sie haben es ja selbst gesagt, daß dies Menschliche in uns stärker ist als alle Überzeugungen selbst. O, glauben Sie mir, wenn ich ja noch solche Vorurteile gehabt hatte, Sie haben mich davon frei gemacht. Ihre Worte haben meinen Geist befreit und Ihr . . .«

Sie stockte und wurde dunkelrot. Ihr Blick schweifte wie suchend über das Sternmuster des Parkettfußbodens, und sie zog in der Verwirrung ihr duftendes Spitzentüchlein hervor und führte es an die schlanke Nase. Und er stand vor ihr, seinen Ohren nicht trauend, und wußte kein Wort zu erwidern.

»So kommen Sie mir doch zu Hilfe!« sagte sie endlich ungeduldig. »Müssen Sie es denn wirklich von mir selber hören, daß ich seit jener herrlichen Schlittenfahrt täglich und stündlich auf das gewartet habe, was Sie auch jetzt noch nicht auszusprechen wagen?«

Kospoth hätte nicht verwirrter, ratloser dastehen können, wenn man ihm mitgeteilt hätte, daß er soeben zum Kaiser von China erwählt worden sei. Noch weiter zurückweichend, vermochte er nur zu stottern: »Prinzessin, was sagen Sie mir da! Die Schlittenfahrt . . . Können Sie mir das nicht vergessen? Das war ein Traum – ich . . . ich wußte nicht, was ich that! Ich hätte nie gewagt, auch nur daran zu denken . . .«

Eleonore stieß einen unterdrückten Schrei aus und starrte ihn aus weitgeöffneten Augen an; sie vermochte kein Wort hervorzubringen. Aber er bemerkte wohl, wie der Ausdruck des Schreckens in ihrem Blick allmählich in den des Hasses überging. Ein tiefes Mitgefühl ergriff ihn plötzlich mit diesem stolzen Herzen, das er so grausam hatte enttäuschen müssen.

Nun streckte er ihr die Hand entgegen und begann in warmem, flehendem Tone: »Eleonore, wenn Sie wissen, was Liebe heißt, dann werden Sie mir einst vergeben können, daß ich diesen Irrtum angerichtet habe und daß ich jetzt so von Ihnen scheiden muß. Ich liebe Melanie von Treysa, und ich habe ihr meine Hand angetragen; sie hat sie zurückgewiesen, weil die Leidenschaft Ihres Bruders ihr schon Kopf und Herz verwirrt hat. Aber ich kann doch nicht von ihr lassen – auch wenn sie wirklich dem Erbgroßherzog angehören sollte! Sehen Sie, darum muß ich gehen. Er hat mir dasselbe angethan, was ich Ihnen, ohne daran zu denken . . . O, Prinzessin, werden Sie mir jemals verzeihen können!«

In seiner schmerzlichen Erregung hätte er sich ihr zu Füßen geworfen, wäre nicht in diesem Augenblicke hastig an die Thür geklopft worden.

Die Prinzessin warf ihren Kopf in den Nacken, um sich selbst aus ihrer Betäubung aufzurütteln, und schritt eiligst nach der Thür.

Es war Wally von Katz, welche die Unterredung zu stören wagte.

»Graf Bracke ist hier,« sagte sie, nachdem die Prinzessin sie nach ihrem Begehr gefragt hatte. »Der Großherzog ist vor einer Viertelstunde erwacht und wünschte dringend den Erbgroßherzog zu sprechen; aber Seine Königliche Hoheit ist nirgends zu finden! Graf Bracke ist ratlos und fragt gehorsamst an, ob Hoheit nicht vielleicht wissen . . .«

»Sagen Sie ihm, mein Bruder sei ausgeritten, sobald der Regen aufgehört hatte,« fiel die Prinzessin rasch ein.

»Aber von dem Stallpersonal wußte doch niemand etwas davon,« beharrte Fräulein von Katz. »Graf Bracke hat sich ganz genau erkundigt.«

»Ich sage Ihnen, mein Bruder ist allein ausgeritten,« erwiderte die Prinzessin scharf. »Sagen Sie dem Grafen Bracke, ich eilte selbst zu meinem Vater; er brauche sich nicht weiter zu bemühen.« Und sie schritt rasch an dem knicksenden Fräulein vorbei durch das Vorzimmer.

Kospoth folgte ihr auf dem Fuße, grimmig seine Unterlippe nagend. Er hatte keinen Blick für das ihn neugierig anblinzelnde Hoffräulein; aber als er am andern Ausgang des Vorzimmers des kleinen Husarenoffiziers ansichtig wurde, da blieb er stehen und sagte: »Ah, Graf Bracke! Schön, daß ich Sie treffe! Wenn Sie wissen wollen, wo der Erbgroßherzog sich eben jetzt befindet, dann, bitte, kommen Sie mit mir!«

Und mit einem erstaunten: »Was? Sie wissen?« schloß sich der Adjutant klirrenden Schrittes Hans Joachim an. – – –

Zur selben Zeit, während im Schlosse Prinzessin Eleonore ihre letzte Unterredung mit dem Baron Kospoth hatte, las der Kammerherr von der Rast seiner Doris die letzten Akte aus Richard dem Dritten vor. Der Vater nahm mit seiner gewichtigen Gestalt die ganze Schmalseite des Tisches ein und las mit ganz unnütz heftiger Anstrengung seiner fetten Stimme:

»Begebt, ihr Herren,
Ein jeder sich auf seinen Posten jetzt,
Laßt nicht schwatzhafte Träum' euch ängstigen;
Gewissen ist ein Wort, das Memmen brauchen,
Ersonnen nur als Zügel für den Starken.
Uns heiß' allein die blanke Wehr Gewissen,
Das Schwert Gesetz.
Nun vorwärts, dran und drauf!
Wenn nicht zum Himmel, in die Höll' zuhauf!«

Er schrie diese grausliche Vermahnung in einem so erschrecklichen Bösewichtstone hinaus, daß sich seine Stimme überschlug. Das nötigte ihn, einen Augenblick innezuhalten, um aus der neben ihm stehenden Syphonflasche einen tüchtigen Schluck in sein Glas zu spritzen.

Doris benutzte die kurze Stille, um aufmerksam zu lauschen. Ihr Dachzimmer lag nämlich über der Wohnstube, in welcher die Vorlesung heute ausnahmsweise einmal stattfand, da nebenan in dem gemütlichen Arbeitskabinett ihres Vaters der Ofen des nassen Wetters wegen zu arg geraucht hatte. Schon mehrmals hatte sie geglaubt, dort oben das Geräusch von Schritten zu vernehmen, und war deshalb dem Gange des Trauerspiels mit nur geringer Aufmerksamkeit gefolgt. Sie hatte erst sogar Kopfschmerzen vorgeschützt und gebeten, die Vorlesung für heute ausfallen zu lassen; aber ihr Vater wollte davon durchaus nichts wissen, da ja nur noch zwei Akte zu lesen wären und er gerade heute an dem theaterfreien Abend und bei dem abscheulichen Wetter nichts mit seiner Zeit anzufangen wisse. So hatte sie denn endlich wohl oder übel nachgeben müssen und war mit ihm hinuntergegangen – nur wenige Minuten, bevor der Erbgroßherzog sich, in einen langen grauen Wettermantel gehüllt, ins Haus geschlichen hatte.

Der Kammerherr goß sein Sodawasser hinunter, wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn, räusperte sich gewaltig und begann aufs neue zu poltern:

»Was soll ich euch noch weiter . . .«

»Vater, hast du nichts gehört?« rief Doris zusammenzuckend und schlug die großen Augen zur Decke empor.

»Was denn, Kind?«

»Dort oben . . . Schritte, ich habe es ganz deutlich gehört.«

»Aber, Doris, ich glaube, du leidest heute an Hallucinationen!« rief der Kammerherr ärgerlich. »Wer soll denn da oben sein?«

»Ja, aber . . . ich weiß nicht . . . ich will doch lieber einmal nachsehen – vielleicht . . .«

»Ach was, Unsinn! Dich hat wohl die Gespensterscene so aufgeregt, daß du schon Poltergeister im Hause hörst. Vielleicht ist es auch die Katze. Nun hör' aber zu, wir sind ja gleich fertig.« Und von neuem setzte er mit seinem blutdürstigen Tyrannengebrüll ein. Und als er bald darauf bei den berühmten Schlußworten des Königs anlangte, da ward er so rot im Gesicht vor Anstrengung und rollte die wässerigen Aeuglein so wütend, daß es der armen kleinen Doris noch unheimlicher zu Mute wurde als bisher. Sie verkroch sich förmlich unter den Schutz ihres Buckels und starrte so entsetzt dem Vater ins Gesicht, als ob sie fürchte, daß ihn im nächsten Augenblicke vor ihren Augen der Schlag rühren würde.

»Du Sklav', ich setzt' auf einen Wurf mein Leben
Und biete jedes Zufalls Würfel Trotz!
Ich glaube gar, sechs Richmonds sind im Feld – Fünf
Hab' ich schon an seiner Statt erschlagen –
Ein Pferd! Ein Pferd! Mein Königreich für 'n Pferd!
(Sie gehen ab. Trompetenstöße. Es treten auf . . .)«

Aber weiter kam er nicht. Denn in diesem Augenblicke wurde mit großer Heftigkeit an die Thür gepocht, und auf des Kammerherrn wütendes »Herein!« erschien mit verstörtem Angesicht das Dienstmädchen von Treysas auf der Schwelle und fragte, ob Fräulein Melanie nicht hier sei.

»Wie Sie sehen, nein! Was gibt es denn, zum Teufel?« schnaubte sie der Kammerherr an.

Das Mädchen stieß atemlos heraus: »Die Frau Generalin liegen im Sterben, und das gnädige Fräulein ist nirgends zu finden!«

Der Baron sprang von seinem Stuhl auf und sagte unruhig: »So? Ach, das ist ja . . . Na, dann suchen Sie nur nicht weiter im Hause. Sie wird ausgegangen sein, um ein bißchen frische Luft zu schöpfen; es regnet ja nicht mehr. Ich will mich doch gleich selbst aufmachen – weit kann sie ja nicht gegangen sein. Geh doch einmal hinüber zu Treysas, Doris, und sieh, ob du dich inzwischen nützlich machen kannst.«

Das kleine Fräulein hatte sich indessen schon von ihrem Platze aufgerafft und war, die zitternde Rechte auf den Rand des Tisches stützend, vorwärts geschritten. Der Vater bemerkte ihre Aufregung, ihre Schwäche, und bot ihr besorgt den Arm, um sie hinauszuführen.

Draußen auf der Treppenrast aber machte sie sich plötzlich los und eilte schwankenden Schrittes in gefährlicher Hast einige Stufen hinauf. Im Nu war der Vater an ihrer Seite und herrschte sie schroff an: »Wo willst du hin? Nicht da hinauf!« Und leiser setzte er hinzu: »Komm, Komm! Sei ruhig! Ich bleibe ja bei dir.«

Aber Doris machte sich abermals von ihm los, klammerte sich mit beiden Händen am Geländer fest und rief, so laut ihre schwache Lunge es vermochte: »Nein, nein, laß mich los! Ich muß hinauf; ich weiß, sie ist da oben! Melanie! Melanie!«

Und sie hastete und stolperte weiter die Stufen empor, immerfort mit ihrer jammervoll klagenden dünnen Stimme den Namen der geliebten Freundin rufend.

Der Kammerherr sah mit Entsetzen, wie die koboldartige Gestalt seines Kindes, mit den langen Armen an dem Geländer hinaufgreifend, sich in dem Schatten da oben verlor, welchen das in der Zugluft flackernde Licht der kleinen Flurlampe nicht mehr zu erreichen vermochte. Und nun sah er sie schemengleich da oben über die Diele huschen – und dann hörte er, wie sie die Thürklinke im Dunkeln zu ertasten suchte.

»Sei doch still!« rief er noch einmal mit heiserer Stimme hinauf. »Die Leute unten im Hause hören dich ja!«

Da fiel ihm das Dienstmädchen ein. Richtig, da stand es noch und starrte ängstlich gleich ihm nach dem finstern Bodenraum hinauf und neugierig zugleich auf das, was sich dort begeben sollte.

»Was stehen Sie denn noch hier herum?« rief er das Mädchen an. »Gehen Sie hinein und melden Sie, Fräulein Melanie käme sofort.«

Aber die Person rührte sich nicht vom Flecke und starrte nur immerfort mit offenem Munde nach oben.

Und jetzt erschallte Doris' dünne Kinderstimme von oben: »O Vater – Vater, ich wußte es ja!« Und dann pochte sie mit all ihrer schwachen Kraft gegen die Thür und schrie, so laut sie konnte: »Melanie, deine Mutter stirbt!«

Da ertönte in der Dachstube ein lauter Schrei, und gleich darauf wurde die Thür so heftig aufgeworfen, daß die arme Doris, von dem Stoße getroffen, rückwärts taumelte und mit einem matten Schmerzenslaut zusammenbrach.

Ohne sich nach ihr umzusehen, rannte Melanie an ihr vorbei und die Treppe hinunter. Sie sah nicht den Kammerherrn und nicht die Magd, sondern lief geradeswegs durch die offenstehende Thür in die Wohnung hinein.

Das Dienstmädchen schien versteinert, es stand immer noch mit offenem Munde da und rührte sich nicht vom Flecke, so daß dem Baron nichts anders übrig blieb, als sie unsanft bei den Schultern zu packen und ihrer jungen Herrin nach zur Thür hineinzuschieben und diese dann hinter ihr ins Schloß zu drücken.

Alsdann stieg er selbst die Treppe hinauf und rief, nachdem er sich vergewissert hatte, daß kein Lauscher in der Nähe sei, leise in die offen stehende Thür des Ateliers hinein: »Königliche Hoheit, sind Sie noch da?«

Der Prinz, bereits wieder mit seinem grauen Mantel angethan, trat geräuschlos aus dem dunkeln Schatten heraus in die Thüröffnung und flüsterte zurück: »Wie Sie sehen, ja! Teufel! Das gibt einen Skandal! Hören Sie, Baron, wenn Ihre Tochter ein Wort sagt . . . es ist ja nicht meinetwegen! aber Melanie! Mein Gott, mein Gott, was ist da zu thun?«

»Für Doris stehe ich, sie wird schweigen,« versetzte der Kammerherr. »Und was das Uebrige anbetrifft: Königliche Hoheit können sich auf meine Diskretion verlassen; ich werde schon irgend etwas ersinnen.«

Und dann zündete er eine Kerze an und leuchtete vorsichtig hinter den Thürflügel, wo sein armes Kind wie leblos am Boden ausgestreckt lag. Er ergriff die leichte Last unter den Armen und der Erbgroßherzog auf seine Bitte die Füße. So trugen sie die Bewußtlose in das Atelier hinein und legten sie vorsichtig auf den breiten Diwan nieder. Und wie der dicke Baron die armselige kleine Gestalt da so wie tot hingestreckt sah, da begann sich selbst in ihm das Gewissen zu regen. Er hörte nicht, was Georg Friedrich zu ihm sprach, sondern wies nur immer mit der Hand nach der Thür, und dann, als der Prinz hinaus war, ließ auch er seinen schweren Körper auf das alte Ruhebett niedersinken. Er preßte die kalte Hand seines Kindes gegen seine dicken Lippen – und seine heißen Thränen tropften unaufhaltsam auf diese schmale weiße Hand hernieder. – –

Als Georg Friedrich sich eben durch die Hinterthür hinausgeschlichen hatte, trat ihm aus dem Dunkel der Nacht eine hohe Gestalt entgegen. Er stutzte, er wollte zurückweichen – oder an ihr vorbei – er wußte nicht, was er wollte; aber er hatte Hans Joachim von Kospoth erkannt, wie dieser ihn.

»Guten Abend, mein Prinz!« rief Kospoth leise in grimmigem Hohn. »Es trieb mich, dich doch noch einmal zu sprechen vor meiner Abreise. Du siehst, ich wußte, wo ich dich finden würde.«

Georg Friedlich packte ihn heftig am Arm. »Was soll das heißen?« knirschte er. »Willst du mir hier eine eifersüchtige Scene machen?«

»Einen Augenblick! Du sollst gleich hören, was ich will.« Und er rief halblaut in den finstern Gartenweg hinaus: »Hierher, Graf, bitte, hier ist Seine Königliche Hoheit.«

»Das ist ja ein förmlicher Hinterhalt!« brauste der Prinz auf, als er in dem rasch herzutretenden Offizier seinen Adjutanten erkannte.

»Verzeihung, Königliche Hoheit!« schnarrte der kleine Graf Bracke. »Man sucht Sie überall. Der Großherzog verlangt seit einer halben Stunde nach Ihnen. Die Frau Großherzogin ist bei ihm und hat Königliche Hoheit sofort zu sehen gewünscht.«

»Kommen Sie, meine Herren,« versetzte der Erbgroßherzog rasch mit fürstlicher Nachlässigkeit und wollte eilig voranschreiten.

Da vertrat ihm Kospoth noch einmal den Weg und sagte: »Nur noch ein Wort mit Ihnen, mein Prinz! Ich werde Sie nicht in die Stadt zurückbegleiten. Ich möchte Ihnen nur sagen – und ich rufe Sie zum Zeugen an, Graf Bracke! – daß ich mir erlauben werde, Sie vor die Mündung meiner Pistole zu fordern, wenn Sie sich etwa einfallen lassen sollten, dieser Dame da oben Ihr fürstliches Wort nicht zu halten. Leben Sie wohl!«

Er machte eine kurze Verbeugung und schritt nach der entgegengesetzten Richtung hin davon.

Der kleine Adjutant brauchte einige Sekunden, um sich von seinem maßlosen Erstaunen zu erholen. Dann aber that er dem rasch davon Schreitenden einige Schritte nach und sagte: »Königliche Hoheit gestatten mir doch, den Menschen für diese Frechheit auf der Stelle zu züchtigen!«

Aber der Erbgroßherzog rief ihn hastig zurück mit den Worten: »Nein, lassen Sie das bleiben, lieber Bracke – ich werde mich schon selbst zu wehren wissen.«

»Königliche Hoheit wollten!? . . .«

Aber der kleine Adjutant bekam auf dem ganzen Wege bis zum Schlosse keine Antwort mehr von seinem hohen Herrn zu hören.

 

Ende des ersten Bandes.

 


 << zurück