Ernst von Wolzogen
Der Thronfolger - Erster Band
Ernst von Wolzogen

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Fünftes Kapitel.

Handelt von Herbsttrieben, Hof-, Stadt- und Coulissenklatsch.

Frau Thea Lindner, die altbewährte Primadonna des großherzoglichen Hoftheaters, empfing heute ihren hohen Freund und Gönner, den Grafen Worbis, in einem sehr kleidsamen Schlafrock mit weiten Aermeln. Als der Oberhofmarschall zu seiner gewohnten Stunde, des Nachmittags um fünf Uhr, eintrat, lag die verdiente Sängerin auf der Chaiselongue in ihrem kleinen Boudoir, vorteilhaft beleuchtet von dem gedämpften Lichte der rotumschirmten Lampe, ungefähr in der Stellung der schlafenden Ariadne, die berühmten klassischen Arme, von denen die weiten Aermel zweckentsprechend zurückgeglitten waren, anmutig über dem Haupte verschränkt.

»Ah, meine liebe Excellenz!« rief sie mit matter Stimme dem Eintretenden entgegen, richtete sich halb auf und setzte vorläufig einen Fuß auf den Boden, wobei außer diesem nicht üblen Fuße auch noch ein ansehnliches Stück eines nicht eben zarten, aber wohlgepflegten, d. h. feinbestrumpften Beines, zum Vorschein kam. »Ach, meine liebe Excellenz, Sie entschuldigen wohl, wenn ich Sie so empfange! Es ist mir unmöglich gewesen, heute Toilette zu machen. Mein Nervensystem . . . .«

»O, Sie befinden sich nicht wohl, verehrteste Frau?« rief Graf Worbis mit besorgter Miene. »Bitte, bitte, bleiben Sie nur liegen, derangieren Sie sich meinetwegen nicht! Sie haben gewiß wieder Alterationen gehabt?«

»Ach ja!« seufzte Frau Thea, indem sie mit einer lächelnden Duldermiene in ihre Ariadnelage zurückkehrte. »Diese intrigante Person, die Bolandt, hat mir wieder einmal einen Streich gespielt, den mein Nervensystem wohl nicht so bald verwinden wird.«

»Ah, wirklich! Sie hat wieder gewagt . . .? Ja, ja, die Gunst unsres guten Baron Camp hat dieser Dame einen gewissen Aplomb verliehen in ihrer Anmaßung, die in der That . . . o meine arme, schöne Freundin! erzählen Sie doch, was hat man Ihnen angethan?«

Der Graf rückte sich einen niedrigen Polstersessel an das Ruhelager seiner Schönen und wagte seinem Mitgefühl durch leises Streicheln der berühmten klassischen Arme Ausdruck zu geben. Frau Lindner aber erhob die Augen in schmerzlicher Anklage gen Himmel und begann: »Denken Sie also, gestern bringt mir der Theaterdiener ein Schreiben von der Intendanz – nicht einmal ein Handschreiben des Barons, sondern ganz einfach einen büreaukratischen Erlaß, worin mir mitgeteilt wird, daß man, um mich in meiner anstrengenden Thätigkeit zu entlasten, die jugendliche Partie der Senta für diese Saison dem Fräulein Bolandt anvertrauen wolle; der Theaterdiener hatte Auftrag, die Noten sofort mitzunehmen. Was sagen Sie dazu, Excellenz? Die jugendliche Partie der Senta! Das »jugendliche« war sogar malitiöserweise unterstrichen – als ob für diesen Holländer, der doch mindestens schon sein fünfzigjähriges Jubiläum als Schiffskapitän gefeiert hat, die Senta durchaus ein so unreifes Ding sein müßte, das kaum die Eierschalen abgeworfen hat! Sie werden meine Erregung begreifen, mein teurer Freund! Ich sagte dem Theaterdiener mit einem flammenden Blicke, daß ich mir erlauben würde, die Partie persönlich in die Hände des Intendanten zurückzulegen. Ah, Sie hätten sehen sollen, in welcher Verwirrung der elende Sklave sich zurückzog! Ich suchte den Baron noch gestern nachmittag in seiner Wohnung auf – er ließ sich feige verleugnen! Aber heute morgen habe ich mich zur Geschäftsstunde in sein Bureau verfügt. Und wer saß dort auf dem Rande des Tisches und schlenkerte mit den Füßen? Natürlich die Bolandt! O, diese Person hat die Manieren eines Meerschweinchens – aber natürlich, ihr zuliebe hat der Herr Intendant nichts dagegen einzuwenden, daß man sich in dem Intendanturbüreau des großherzoglichen Hoftheaters aufführt, wie in dem Sprechzimmer eines Schmierendirektors! Und die Person bemühte sich gar nicht einmal vom Tische herunter bei meinem Eintritt. Sie nickte mir gnädig zu – einen Hut hatte sie wieder auf, von einer Geschmacklosigkeit, sage ich Ihnen – echt! Ich sah sie selbstverständlich gar nicht. ›Ah, verehrte Frau, Sie bemühen sich selbst?‹ rief mir der Baron zu. ›Nicht wahr, Sie haben doch nichts dagegen, daß ich die Senta unsrer lieben jugendlich dramatischen . . .‹ Sie hätten nur hören sollen, wie er das ›jugendlich‹ wieder betonte, aber ich war nicht verlegen um die Antwort: ›Sie scheinen vergessen zu haben, Herr Baron,‹ sagte ich, ›daß eine Bühnenkünstlerin immer genau so alt ist, wie sie aussieht.‹ Darauf wußte er nichts zu erwidern! Schließlich brachte er ganz verlegen heraus: ›Ja, meine Gnädige, Sie verkennen meine Motive vollkommen. Ich gebe gern zu, daß Ihre unverwüstliche Schönheit im Lichte der Rampe die Hälfte ihrer Jahre zu unterschlagen weiß; aber ich glaubte, Ihnen darin entgegenkommen zu müssen, daß ich Ihnen gewisse Anstrengungen erspare, welche Ihnen vielleicht gar gefährlich werden könnten. Sehen Sie, wenn Sie sich als Senta ins Meer stürzen müssen – solche Sprünge dürfen Sie doch wirklich in Ihren Jahren nicht mehr machen.‹ – Sie verstehen, das sollte eine Bosheit sein – und diese Person, die Bolandt, kicherte hinter meinem Rücken in ihr Taschentuch. Ich kochte vor Wut, aber ich nahm mich zusammen und sagte eisig kalt, mit einem vernichtenden Blick auf die Bolandt: ›Es ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Baron, daß Sie so besorgt sind um meine persönliche Sicherheit; aber ich darf mir vielleicht erlauben, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß ich bei allen meinen Sprüngen niemals zu Falle gekommen bin – was selbst gewisse sehr jugendliche Damen kaum von sich zu behaupten wagen dürften.‹ Das war doch gut heimgegeben, nicht wahr? Ah, ich hatte die Genugthuung, diese Komödiantin unter ihrer fingerdicken Schminke erbleichen zu sehen, während ich stolz an ihr vorbei zur Thüre hinausrauschte.«

»O, meine teure Frau, was müssen Sie gelitten haben!« warf der hagere Graf mit seiner stets bedeckten Stimme ein. Sie hatte sich während ihrer Erzählung wieder halb aufgesetzt, um ihre Gliedmaßen zur dramatischen Veranschaulichung der geschilderten Vorgänge zur Verfügung zu haben. Der Graf ergriff ihre herabhängende Rechte, um sie erst an sein Herz und sodann an seine Lippen zu drücken. Dann fügte er mit verschmitztem Lächeln noch hinzu: »Ich glaube überhaupt, Sie dürften mit Ihrer letzten Bemerkung den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Ich meine den Fall Bolandt, ähähä!«

»Zweifelten Sie vielleicht noch?« versetzte naserümpfend die immer noch schöne Mutter der sechs erwachsenen Kinder. »Das weiß ja die ganze Residenz, in welchem Verhältnis die Person zu dem Herrn Intendanten steht – außer seiner Frau natürlich. Es ist wirklich ein Skandal! Man müßte der Frau Baronin einmal die Augen öffnen, damit sie wenigstens nicht fortfährt, die Geliebte ihres Mannes mit solcher Liebenswürdigkeit in ihrem Hause zu empfangen. Ich begreife übrigens nicht, wie man als Frau eines Theaterintendanten so blind sein kann. Das Mädel singt ja jetzt geradezu alles – eine so blutjunge Anfängerin und die Senta! wer da noch nichts merkt . . .!«

»Seien Sie nicht grausam, Frau Thea!« bat der Oberhofmarschall. »Die gute Frau von Camp ist etwas – beschränkt, und darum hat sie auch noch Illusionen. Es sind doch die Illusionen, welche das Glück des Lebens ausmachen. Lassen Sie also der guten Frau ihr bescheidenes Glück!«

»O, glauben Sie, daß ich mich dazu hergeben würde, die Angeberin zu spielen?« entgegnete Frau Lindner würdevoll. »Bin ich vielleicht eine Klatschbase, die die schmutzige Wäsche ihrer Kolleginnen in den Salons der Gesellschaft wäscht? Unter uns, mein verehrter, lieber Freund, da ist es ja etwas andres, da lacht man ja wohl über so eine pikante kleine Coulissengeschichte. Aber Sie wissen ja am besten, ein wie harmloses Geschöpf ich von Natur bin, wenn man mich nicht gar zu sehr reizt. Und sehen Sie, die Frechheit, die Undankbarkeit dieser Person . . . so etwas empört mich in tiefster Seele!«

»Pardon! Undankbarkeit?« warf der Graf ein.

»Nun ja, ich dachte doch, wenn ein so junges Ding mit so mäßigem Talente der Verliebtheit ihres Chefs alles verdankt, dann könnte sie ihm doch wenigstens treu sein! Aber ich glaube, die Treue ist in dieser Generation überhaupt ausgestorben.«

»O, meine teure Frau Thea!« flüsterte der alte Kavalier, indem er den Ärmel ein wenig zurückzustreifen und einen leichten Kuß auf ihren Arm zu hauchen wagte.

Sie überließ ihm ihren Arm und fuhr eifrig fort: »Sie erinnern sich doch noch, daß Baron von Camp im Oktober einen Schlaganfall hatte, und seither ist es ja auch mit seiner Gesundheit nicht mehr so ganz gut gegangen. Man sprach sogar davon, daß er beabsichtige, mit Ablauf dieser Saison sein Amt niederzulegen. Die Bolandt, berechnend und rücksichtslos, wie sie ist, fragte sich natürlich gleich: wer dürfte wohl der Nachfolger werden?«

»Und da verfiel sie vermutlich auf den Kammerherrn von der Rast?« lachte der Oberhofmarschall. »Der hat es wenigstens schon oft deutlich zu verstehen gegeben, daß er sich berufen fühle, eintretenden Falls unsern Baron Camp zu ersetzen.«

»Ganz recht! Das weiß man auch in unsern Kreisen. Bei seinem außerordentlichen Interesse für das Theater . . . hahaha!«

»Sie Schelm, Sie! ähähä!«

»Natürlich hatte die Bolandt nichts Eiligeres zu thun, als beim ersten Lautwerden der Rücktrittsgerüchte ihre Netze nach dem dicken Kammerherrn auszuwerfen.« Sie senkte ihre Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern herab: »Ich weiß positiv, daß sie einen Schlüssel zur Gartenthür der Hofjägerei besitzt. Außerdem zeigt sie sich so vertraut mit den pikanten Geheimnissen dieses großherzoglichen Dienstgebäudes, daß gar kein Zweifel mehr möglich ist. Sie ist nämlich sehr offenherzig, die Bolandt.«

Der alte Herr horchte verwundert auf. »Die pikanten Geheimnisse der Hofjägerei? Was wollen Sie damit sagen?«

»Aber, Excellenz, sollten Sie allein noch nichts davon gehört haben, wie eifrig sich der Erbgroßherzog für die verwachsene kleine Malerin dort oben in der Mansarde interessiert?«

»Allerdings, ich habe davon gehört. Unser Fräulein von Katz machte mich, glaube ich, darauf aufmerksam. Aber ich wüßte nicht. . . .«

»Glauben Sie wirklich, daß Seine Königliche Hoheit die anspruchslose Kunst der armen Doris so interessiert – oder daß das schöne Fräulein von Treysa so ganz uneigennützig der Unterhaltung der kleinen Malerin so viele schöne Stunden des Tages opfern sollte?«

»Ja allerdings, ich weiß, der Erbgroßherzog ist sehr portiert für das schöne Fräulein; aber sie selbst ist so zurückhaltend, so vollkommen ladylike in ihrem Benehmen, daß ich wirklich nicht glauben kann . . .«

»Wirklich nicht? Glauben Sie wirklich nicht, daß ein so galanter, feuriger Prinz wie seine Königliche Hoheit selbst eine sehr spröde junge Dame der Gesellschaft in ihren Grundsätzen wankend machen könnte? – Vorigen Sonnabend nachmittag war Fräulein Doris von der Rast zu einem Damenkaffee bei der Frau Oberhofprediger eingeladen. Fräulein von Treysa war auch geladen, hatte sich aber damit entschuldigt, daß sich ihre Mutter sehr unwohl fühle. In der Dämmerstunde kommt die Bolandt durch die Gartenpforte und sieht einen Mann auf dem verschneiten Pfade ihr entgegenkommen. Husch! verschwindet sie hinter einem dicken Baumstamm und erkennt in dem Vorübergehenden – Seine Königliche Hoheit!«

»Ah! Was Sie da sagen!«

»Und oben im Atelier war noch Licht!«

»Und das hat Ihnen die Bolandt selbst erzählt?«

»O, wie können Sie glauben! Mit der Person wechsele ich selbstverständlich kein Wort. Ich habe die Geschichte aus zweiter Hand.«

»Sie dürfte also bereits so ziemlich stadtbekannt sein!« bemerkte der alte Hofmann bitter und legte dabei nachdenklich die hohe Stirn in Falten, und dann fuhr er, halb für sich sprechend, fort: »Ich fühle mich verpflichtet, Serenissimus von diesen Gerüchten Mitteilung zu machen. Mein allergnädigster Herr wird es entschieden nicht dulden, daß die einzige Tochter des verdienten alten Generals, eines Edelmannes aus erlauchtem Geblüt, auf diese Weise durch den Thronfolger kompromittiert werde!«

Frau Thea beugte sich neugierig vor und legte ihre Hand zutraulich auf das spitze Knie der hageren Excellenz. »Was werden Sie thun?« forschte sie begierig. »Werden Sie den Erbgroßherzog wieder auf Reisen schicken?«

Graf Worbis schüttelte energisch den Kopf. »O, gewiß nicht! Diese Reise hat Seiner Königlichen Hoheit in gewisser Beziehung gar nicht gut gethan; es haben sich da Einflüsse an ihn herangedrängt . . .«

»Ah, ich verstehe! Der junge Baron Kospoth! Ich habe den Herrn immer für etwas . . . wie soll ich sagen . . . nicht ganz comme il faut gehalten. Denken Sie, erst neulich hat er die Taktlosigkeit begangen, meinem Manne zu sagen, wir besäßen ja hier in der Bolandt ein außerordentlich hoffnungsvolles Talent! Er versteht offenbar gar nichts von Kunst – aber sagen Sie, was werden Sie denn nun mit dem Erbgroßherzog anfangen?«

»Wir werden ihn verheiraten!« versetzte der Oberhofmarschall mit Entschiedenheit und richtete sich zu seiner vollen Länge auf. Er hatte im Vorzimmer Schritte vernommen.

»Ah! Darf man wissen?« rief Frau Lindner neugierig, indem sie sich gleichfalls erhob.

»Ich habe schon diverse Prinzessinnen in petto,« erwiderte der Graf ausweichend.

Da ging die Thür auf und herein trat mit vielen Bücklingen und devoten Grimassen der Lokalkomiker Herr Ottomar Lindner.

»Ah, Excellenz geben uns die Ehre!«

»Ich war eben im Begriffe aufzubrechen, Sie verzeihen, mein lieber Herr Lindner! Was macht die auswärtige Familie?«

»Schulden, Excellenz, Schulden!« versetzte der Schauspieler mit einer Kummermiene, die sein faltiges Gesicht noch komischer als gewöhnlich erscheinen ließ. »Ja, ja, die Vatersorgen, Excellenz! Mein Sohn Roderich hat geschrieben. Ich hätte nie geglaubt, daß einem ein Einjähriger so teuer zu stehen kommt. Die andern haben alle die Flasche gekriegt, sobald meine Frau wieder die Bretter betrat – aber die Flaschen dieses Roderich – – unheimlich, Excellenz!«

»Nun, wenn Sie in Verlegenheit sind, wir können ja einmal darüber reden,« sagte der Graf, dem Komiker huldvollst die Hand drückend.

Und Frau Thea trat mit ausgebreiteten Armen auf ihren wohlthätigen alten Anbeter zu und rief pathetisch: »O, welch ein goldenes Herz Sie sich doch bewahrt haben, Excellenz!«

»Ist das ein Wunder, da ich den Vorzug Ihres Umganges genießen darf, meine teure Frau Thea?«

Er küßte ihr die schöne Hand, verneigte sich mit gewinnendem Lächeln vor beiden Ehegatten und verließ sodann, von Herrn Lindner hinausbegleitet, das traute Häuschen. – – –

Der Heimweg führte Se. Excellenz den Grafen Worbis an dem Hause des Geheimen Medizinalrats und Professors Cordell vorüber, welches fast schon ein Palast zu nennen war. Der Geheimrat konnte sich schon einigen Luxus erlauben; denn er war ein schwer reicher Mann, dem seine Praxis als Nerven- und Irrenarzt, solange er noch seine Professur an einer der größten deutschen Universitäten innegehabt, Hunderttausende eingebracht hatte. Seiner anstrengenden Thätigkeit müde, hatte er sich im fünfundfünfzigsten Lebensjahre in die kleine Residenz, der er entstammte, zurückgezogen und ehrenhalber sich zum Leibarzt des Großherzogs machen lassen, obwohl er als Spezialist wohl kaum zu wirklicher ärztlicher Behandlung der höchsten Herrschaften herangezogen werden konnte. Aber seine schöne, stattliche Erscheinung, sein berühmter Name und seine gewinnenden Manieren machten ihn zu einer bei Hofe und in der Gesellschaft sehr gesuchten Persönlichkeit. Auch sah es der Großherzog wie der Bürgermeister sehr gern, wenn reiche Leute sich hübsche Häuser in der Residenz bauten und hier ihre Renten verzehrten – und die burgähnliche gotische Villa des Geheimen Medizinalrats bildete in der That den hervorragendsten architektonischen Schmuck der vornehmen Parkstraße, in der sie gelegen war.

Als, wie gesagt, der Oberhofmarschall an dem stattlichen Gebäude vorüberschreiten wollte, sah er vor dessen Thor einen Hofwagen halten. An der Livree des Lakaien, der, auf dem Trottoir auf und nieder stampfend, sich die kalten Füße wärmte, erkannte er, daß der Wagen von einem Mitgliede der großherzoglichen Familie benutzt werde. Als er sich wenige Schritte hinter dem Lakaien befand, hörte er, wie der Mann dem Kutscher auf dem Bocke zurief: »Himmelbataillon! Jetzt habe ich's en balde satt! Was die Alte da bloß solange zu mähren hat!«

»Sagen Sie mal, wer ist denn dadrin bei dem Herrn Geheimrat?« redete Graf Worbis den Mann an, indem er ihm leicht auf den Arm tippte.

Der Lakai wandte sich rasch um und bekam einen gewaltigen Schreck, als er den allmächtigen Würdenträger gewahrte. Er riß seinen Hut vom Kopfe und stotterte ängstlich: »Ihre Durchlaucht die Prinzessin Georgine geruhen, dem Herrn Geheimrat seit einer Stunde zum Geburtstag zu gratulieren.«

»Ach so! Nun, ich will einmal nichts gehört haben,« versetzte der Graf, mit dem Finger drohend, und vermochte nicht ganz ein leichtes Lächeln zu unterdrücken. Er blieb stehen und überlegte ein Weilchen, ob er nicht vielleicht hinaufgehen und dem berühmten Manne gleichfalls eine kurze Gratulationsvisite abstatten sollte. Zwar war es ihm gar nicht bekannt gewesen, daß er heute sein Wiegenfest feiere, und wenn er als Oberhofmarschall hier erschiene, so gewänne der Besuch sofort einen gewissen offiziellen Anstrich – und er wußte nicht, wie die Herrschaften darüber dachten.

Aber während er noch unschlüssig vor dem kunstvoll geschmiedeten Gitterthor stand, that sich die Hausthür auf, und am Arme des weißbärtigen Professors erschien die kugelrunde Prinzessin Georgine und chassierte geziert an seiner Seite nach dem Wagen. Graf Worbis trat zur Seite und zog seinen Hut.

»Sie hier, mein lieber Graf?« rief die kleine Prinzessin mit ihrer etwas schrillen Stimme und drückte dabei, wie wenn sie einen Schreck bekommen hätte, die Rechte beschwichtigend gegen den stattlichen Busen. »Sie wollten gewiß unserm verehrten Geheimrat zum Wiegenfeste gratulieren?«

»Allerdings, Durchlaucht! Ich war im Begriff . . .«

»Da gehen Sie nur schnell mit ihm ins Haus! Unser verehrtes Geburtstagskind erkältet sich sonst,« fiel die Prinzessin rasch ein, indem sie auf die Barhäuptigkeit ihres Begleiters hinwies.

Doch der galante Psychiater ließ es sich nicht nehmen, seinem durchlauchtigen Gast noch beim Einsteigen behilflich zu sein. Die Prinzessin hielt die Hand fest, die er ihr zum Abschiede in den Wagen hineinreichte, und flüsterte ihm so laut, daß es der Graf vernehmen konnte, zu: »Wollen wir es ihm nicht gleich sagen? Er muß es ja eigentlich doch zuerst erfahren.«

»Gewiß, gewiß! Ich bin sehr dafür,« erwiderte jener. »Soll ich vielleicht. . . .«

»Nein, ich will lieber selbst. . . . ich will gleich beweisen, daß ich keine Menschenfurcht kenne.« Und dann rief sie dem noch am Thore harrenden Grafen zu: »Ach, meine liebe Excellenz, darf ich Sie einladen, mit mir zu fahren? Ich hätte Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.«

Graf Worbis verbeugte sich, drückte dem Medizinalrat mit einem flüchtigen Glückwunsch die Hand und stieg dann gehorsam zu der kleinen Durchlaucht in das Coupé.

Fast geräuschlos rollte der Wagen über die festgefrorene Schneedecke der Parkstraße dahin. Es herrschte völlige Dunkelheit in dem engen Raum und nur so oft der matte Schein einer der weit auseinanderstehenden Petroleumlaternen – denn die Gasleitung erstreckte sich nicht bis in den Park hinaus – über den lichtblauen Atlas huschte, mit dem das Coupé innen ausgeschlagen war, vermochte der Oberhofmarschall die Merkmale ungewöhnlicher Erregung in dem wie immer stark geröteten Gesichte der Durchlaucht zu erkennen.

Etwa zwei Minuten lang hatten sie schweigend nebeneinander gesessen, ehe Prinzessin Chochotte Anstalt traf, mit ihrer Neuigkeit herauszurücken. »Meine liebe Excellenz,« begann sie zimperlich, »Sie haben mir bereits so zahlreiche Beweise Ihrer freundschaftlichen Ergebenheit zu teil werden lassen. . . .«

Der Graf konnte sich im Augenblicke nicht besinnen, worauf die Prinzessin anspielte, denn er hatte sich niemals sonderlich viel um sie gekümmert.

»Ich schöpfe daraus den Mut, Sie um eine große Gefälligkeit zu bitten.«

»Durchlaucht haben nur zu befehlen!« beeilte sich der alte Hofmann zu versichern; innerlich aber sagte er sich: »Die wird sich gewiß hinter Cordell gesteckt haben, daß der ihr einen Aufenthalt in Italien oder sonst irgend etwas recht Angenehmes und Kostspieliges verschreiben soll, und ich kann nun bei Serenissimus die Kastanien aus dem Feuer holen. Na, das kann hübsch werden!«

»Es ist Ihnen wohl bekannt, welche aufrichtige Verehrung ich von jeher für unsern berühmten Geheimrat hegte. Ich habe immer zu ihm aufgeblickt wie zu einem . . . wie soll ich sagen – einem . . . nun, wie man zu einem solchen Wohlthäter der Menschheit eben aufblicken muß. Besonders wir Frauen von fürstlichem Stande haben ja die schöne Pflicht, alle Bestrebungen zum Heile der leidenden Menschheit zu unterstützen. Und dann bin ich ja auch selbst bei meinem angegriffenen Nervensystem . . .«

»Die und angegriffenes Nervensystem!« dachte der Graf. »Die ist ja schlechterdings nicht umzubringen!«

». . . darauf angewiesen, mich fortwährend unter der liebevollen Aufsicht eines sorgsamen Arztes zu sehen. Kurz und gut, ich habe mich heute mit Professor Cordell – verlobt!«

»Herr des Himmels!« hätte die Excellenz beinahe laut ausgerufen, so sehr überraschte ihn diese unvermutete Wendung, und laut stotterte er: »Ah, Durchlaucht! Das ist in der That ein Schritt, der . . . ich weiß nicht, wie Königliche Hoheit das aufnehmen wird. Ist es in der That Ihr fester Entschluß, Durchlaucht, oder nur . . . sozusagen eine Idee?«

»Nein, keine Idee – ein fait accompli, mein lieber Graf! Sagen Sie doch selbst, warum sollte ich nicht dem Zuge meines Herzens folgen? In meiner bescheidenen Stellung binden mich ja durchaus keine politischen Rücksichten. Es wird vermutlich zu keinem Kriege kommen wegen dieser Heirat, ja nicht einmal zu einem Kabinettssturz. Warum sollte also der Großherzog als Chef des Hauses zögern, seine Einwilligung zu geben?«

»Durchlaucht haben vollständig recht!« pflichtete der Graf bei, »aber in dieser Zeit, die in so beklagenswerter Verblendung an den geheiligten Privilegien der Souveränität zu rütteln wagt, in dieser Zeit, die die schrankenlose Freiheit des Individuums auf ihr Panier geschrieben hat . . .«

»Ach, mein lieber Graf, das ist alles sehr schön, Sie haben gewiß vollkommen recht; aber Sie müssen einer Dame schon gestatten, zunächst einmal als Weib zu empfinden. Sehen Sie, eine wenig begüterte Prinzessin wie ich muß ja von vornherein darauf verzichten, ihre Lebensaufgabe oder gar das Glück der Liebe auf Königsthronen suchen zu wollen. Ich weiß ja auch, daß ich nicht schön bin – was man mir sonst noch nachsagt, weiß ich nicht; aber ich habe viele Feinde, o ja! leugnen Sie es nicht! Man wird mir auch dies Glück nicht gönnen.«

»O Durchlaucht, ich bin überzeugt, es wird niemand sich unterstehen . . . Nur meine ich, ist es gerade in unsrer Zeit die Pflicht der Fürsten – Verzeihung für das freie Wort – alles zu vermeiden, was dieser unseligen freisinnigen Gärung einen neuen, wenn ich so sagen darf – Sauerteig zuführen könnte.«

»Sauerteig nennen Sie das? O, ich bitte Sie, sollte das Recht auf Liebe uns allein versagt bleiben?« jammerte die kleine Prinzessin, indem sie ihr Taschentuch an die Augen führte. »Und dann, wie gesagt, an der Seite dieses herrlichen Mannes hoffe ich der fürstlichen Pflicht der Wohlthätigkeit, der Sorge für die Kranken in weit höherem Maße nachkommen zu können als bisher.«

Der Oberhofmarschall seufzte kummervoll: »Es ist doch ein bemerkenswertes Zeichen der Zeit, daß unser verehrter Geheimrat es gewagt hat, um Eure Durchlaucht zu werben.«

»O, wo denken Sie hin!« rief die Prinzessin fast gekränkt. »Der Professor ist ein so feinfühliger, fast möchte ich sagen schüchterner Mann, daß er nie gewagt hätte, das erste Wort zu sprechen.«

»Ah! Euer Durchlaucht hätten . . .?«

»Ja gewiß! Was blieb mir in meiner Stellung anders übrig? Heute habe ich das erlösende Wort gesprochen. Aber unsre Herzen hatten sich schon längst gefunden. Als ich an den Folgen des Unfalls, der uns beide neulich bei der tollen Schlittenfahrt betroffen hatte, zu Bette lag, hat der teure Geheimrat mich mit einer solchen aufopfernden Sorgfalt behandelt, daß schon dies allein genügt hätte, mich über seine Gefühle aufzuklären. Aber denken Sie, er, der bedeutende, berühmte Mann, hat sich sogar bereit gefunden, meinen kranken Fuß eigenhändig zu massieren. Konnte ich da noch länger zweifeln? O nein, diesem zarten Liebeswerben konnte ich mein Herz nicht länger verschließen – und heute, an seinem siebenundfünfzigsten Geburtstag, war wohl die passendste Gelegenheit, ihm meine Hand entgegenzustrecken.«

Der Doppelposten präsentierte vor der großherzoglichen Kutsche – sie fuhren in den Schloßhof hinein und hielten einige Sekunden später vor dem Portal des Flügels, in welchem Prinzessin Georgine wohnte.

»Also nicht wahr, mein lieber Graf, Sie übernehmen die zarte Mission?« flüsterte sie dem Oberhofmarschall beim Abschied zu, indem sie ihm warm die Hand drückte.

»Ich werde mein Möglichstes thun, Seine Königliche Hoheit mit dem Gedanken vertraut zu machen,« versicherte der und zog sich nach einer tiefen Verbeugung zurück.

Mit großen Schritten eilte er durch die Korridore des weiten Residenzschlosses und dann die Treppe hinauf bis in das Vorzimmer des Großherzogs.

»Wo ist Seine Königliche Hoheit?« redete er atemlos den dort auf einem Lehnstuhl eingeschlafenen alten Kammerdiener an.

Der weißköpfige Greis taumelte empor, riß die Augen erstarrt auf und stotterte ganz erschrocken: »Mein Gott! Es ist doch nichts vorgefallen? Excellenz sind so erregt!«

»Ja, es ist allerdings etwas vorgefallen, mein lieber Wackernagel, aber nichts, was etwa die Person der höchsten Herrschaften berührte. Bitte, melden Sie mich sofort dem Großherzog!«

»Seine Königliche Hoheit sind soeben ins Theater gefahren.«

Und ehe noch der alte Kammerdiener, der sich schon einmal eine Frage herausnehmen durfte, etwas weiteres hinzuzufügen vermochte, war die hagere, hohe Gestalt des Oberhofmarschalls schon wieder über den dicken Smyrnateppich lautlos zur Thür hinausgehuscht.

In seiner Wohnung angekommen, befahl Graf Worbis alsbald anzuspannen und ließ sich von seinem Diener in die kleine Uniform helfen. Dann fuhr auch er nach dem Theater.

Er trat zunächst in die große Hofloge ein, um sich zu vergewissern, ob der Großherzog allein in der Prosceniumsloge des ersten Ranges, die er für gewöhnlich bevorzugte, anwesend sei, und er vermochte in der That niemand weiter darin zu erspähen. In der Hofloge saß außer ihm nur noch der Flügeladjutant Prinz Usingen, das Fräulein von Katz nebst noch einer andern älteren Hofdame und endlich der stets lächelnde Kammerherr von der Rast, der von den andern entfernt in einer der letzten Reihen saß und eifrig sein riesiges Opernglas gebrauchte. Graf Worbis setzte sich neben den Letztgenannten und begrüßte ihn mit stummem Kopfnicken.

»Sehe ich wirklich recht,« redete ihn der dicke Kammerherr an, »Sie, Excellenz, im Schauspiel?«

»O, es ist weniger das Schauspiel, das mich hierher zieht, als . . . Es ist mir lieb, daß ich Sie hier treffe, Baron. Ich wollte Sie nämlich um nähere Auskunft bitten über die heimlichen Besuche des Erbgroßherzogs bei Ihnen.«

Das ewige fade Lächeln verschwand doch für einen Augenblick aus dem fetten Gesicht des Kammerherrn bei dieser unvermuteten Frage, und ziemlich verlegen brachte er hervor: »O, Seine Königliche Hoheit ist so liebenswürdig, sich für das Bild zu interessieren, das meine Tochter eben auf der Staffelei hat.«

»Mehr wohl noch für das Original!« fiel Graf Worbis halblächelnd ein. »Es ist das Fräulein von Treysa. Mir sind da gewisse Gerüchte zu Ohren gekommen. Sie werden mich verstehen, wenn ich Sie dringend ersuche, fortan streng darauf zu halten, daß in Ihrer Wohnung nichts vorkommt, was diesen Gerüchten Vorschub zu leisten geeignet sein möchte.«

Der Baron bekam einen sehr roten Kopf und sprach sehr erregt auf den Oberhofmarschall ein.

Wally von Katz hatte natürlich ihre hübschen kleinen Ohren gespitzt, und sie hatten ein und das andre Wort aus der geflüsterten Unterhaltung aufgefangen. Sobald im Zwischenakt Graf Worbis die Loge verlassen hatte, machte sie sich voller Neugier an den Kammerherrn heran, um ihn auszufragen.

»Ja, stellen Sie sich vor, mein Schatz!« antwortete er ihr, »Worbis hat Lunte gerochen, und jetzt geht er hin, um unsern armen Georg Friedrich bei seinem Herrn Papa zu verpetzen!«

Die kleine Katz hatte nichts Eiligeres zu thun, als Melanie von Treysa, die auch im Theater anwesend war, im Foyer des ersten Ranges abzufassen und ihr mit schlecht verhehlter Schadenfreude die eben empfangene Nachricht zuzuraunen.

Melanie verstand sich gut zu beherrschen. Sie that, als ob sie sich über alle Verleumdung erhaben fühle – aber das Herz klopfte ihr doch recht bang in der Brust.

Die beiden jungen Damen standen noch bei einander im Korridor, als der Erbgroßherzog, aus der Loge seines Vaters kommend, auf sie zuschritt. Er hielt sich das Taschentuch vor den Mund und lachte über das ganze Gesicht. Beide junge Mädchen blickten ihm mit verwunderter Frage entgegen.

»Ah, meine Damen!« redete er sie an, kaum fähig, seine Heiterkeit zu unterdrücken. »Haben Sie schon gehört, welch ein frohes Familienereignis unserm Hause widerfahren ist? – Meine verehrte Tante Georgine hat sich verlobt!«

»Natürlich gegen den Geheimen Medizinalrat!« platzte Wally von Katz kichernd heraus.

»Sie haben es mit Ihrem bekannten Scharfsinn erraten!« sagte der Prinz lustig. »O, Sie hätten sehen sollen, mit welcher Leichenbittermiene Graf Worbis meinem Vater die Freudenbotschaft brachte – um ihn schonend vorzubereiten, natürlich. Ich bin hinausgeschickt worden, hahaha!«

»O, Königliche Hoheit, darf man das weiter erzählen?« rief die kleine Wally, schier hüpfend vor Aufregung.

»Na, warum nicht? Es ist ja unumstößliche Thatsache, versichert Worbis.«

Und das Fräulein von Katz lief davon und ließ sich die erste beste Loge aufschließen, um die welterschütternde Neuigkeit unter ihren Bekannten zu verbreiten.

Einen Augenblick blieben Melanie und der Erbgroßherzog unbeobachtet, und sie benutzte die kurze Frist, um ihm hastig zuzuflüstern, was ihr eben erst die Katz mitgeteilt hatte.

Georg Friedrich zog seine starken Brauen zusammen, riß das Gefäß seines Säbels mit einem festen Griff an sich und sagte: »Nun um so besser! Wenn man mich in Anklagezustand versetzen will, dann werde ich unsre Liebe laut vor aller Welt bekennen und die Folgen auf mich zu nehmen wissen! Vertraust du mir, Melanie?«

Ein inniger Aufblick ihrer strahlenden Augen bedeutete ihm ein begeistertes Ja.

»Auf morgen!« flüsterte er ihr zu, und dann verließ er sie raschen, klirrenden Schrittes, um sich die Treppe hinunter in seine Loge zu begeben.

Im nächsten Zwischenakt erfuhr das ganze Theater die überraschende Neuigkeit von der Verlobung der Prinzessin Chochotte – und am nächsten Morgen wußte sie die ganze Residenz.



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