Ernst von Wolzogen
Die Kinder der Excellenz
Ernst von Wolzogen

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Achtes Kapitel.

Der Roman der Grigori.

»Das nennen Sie spazieren reiten?« hatte der Pferdevermieter in der Karlstraße entrüstet ausgerufen, als unser Freund Pflaumenschmeißer ihm seinen Braunen wieder nach Hause brachte.

»Stuteken, wie haben se dir zujericht'!« Und dabei streichelte er dem armen Tiere über die zitternden Nüstern, die immer noch schnauften wie eine Lokomotive unter Volldampf. Zwei Eisen hatte die gute Stute auf dem Pflaster verloren und naß war sie »zum Auswringen«, wie der Stallknecht mit einem vorwurfsvollen Blick auf Rudolf sich ausdrückte.

Der Amerikaner zuckte ungeduldig die Achseln, zahlte den verlangten hohen Mietspreis und gab dem Stallknecht noch ein gutes Trinkgeld. Er war selbst »zum auswringen« von dem tollen Ritt, sein Blut hämmerte gegen die Schläfen und vor seinen Augen tanzten bunte Kreise. Fast taumelnd eilte er seiner nahen Wohnung zu und warf sich erschöpft auf das Sofa.

»Fool, fool! You aught to be ashamed of yourself!« knirschte er zwischen den geschlossenen Zähnen hervor und schlug sich mit beiden Fäusten vor die Stirn.

Freilich hatte er Ursache sich zu schämen; denn er war seit kaum vierzehn Tagen Reiter und hatte doch sein Pferd in der Gewalt behalten, während sein Herz, sein streng gewöhntes, folgsames Herz ganz schnöde mit ihm durchgegangen war, als er seine stolze Angebetete dort im Tiergarten wiedergesehen hatte. Allerdings hatte er erwartet, daß sie ihn zuerst grüßen müsse, wenn sie ihm hätte zeigen wollen, daß sie ohne Groll seiner gedenke. Der Gegensatz der deutschen und amerikanischen Sitte fiel ihm in seiner Erregung nicht bei. Er war also jetzt Luft für diese hochmütige Freiin von Habenichts aus Moabit. Seit er, der technische Direktor von Jefferson and Jenkins, Gas-, Wasser- und Kanalisationsanlagen, Buffalo, es gewagt hatte, dies gnädige Händchen Nr. 6¼ für sich zu begehren, war kein Rudolf von Eckardt mehr auf der Welt für die schöne Tochter der Excellenz!

Ja, er knirschte vor Grimm und begriff sich doch selbst nicht. Auch sie war ja für ihn abgethan. Er hatte sie ja samt ihrer ganzen Sippschaft unter das alte Eisen geworfen und sein ehrliches Herz, noch dampfend von der ersten Leidenschaft, einer zweiten zu Füßen gelegt, einer zweiten, vielleicht ebenso Schönen und Stolzen, die noch dazu unter Dutzenden zu wählen, und seines allein mit warmem Danke entgegen genommen hatte. Zwar war Bianka Grigori, die Operettensängerin, nicht die deutsche Frau, die er zu suchen gekommen war, die ihm als helle Leuchte, als warme Herd- und Herzensflamme erst eine wahre Heimat da drüben über dem Ozean schaffen sollte; aber sie war doch ein hinreißendes Weib, ein Weib, dessen Leidenschaft für sich zu erwecken wohl ein stolzer Triumph heißen konnte für den ehemaligen Schlossergesellen, welcher der Beachtung einer Excellenzentochter so unwert war!

Und Rudolf wollte dieses Weib lieben aus Trotz, er wollte von ihr geliebt werden, um zu wissen, daß er liebenswürdig sei, auch im Sinne dieser eitlen, hochmütigen Baronessen der Alten Welt. Er wollte zeigen, daß der Schlossergeselle den Edelmann nicht umgebracht habe, daß ganz lächerlich wenig Anstrengung und Talent dazu gehöre, um sich vom werkthätigen Buffalonier zum eleganten Faulenzer nach der neuesten Mode von Berlin 1886 umzuformen. Wahrhaftig, dazu bedurfte es keines Umschmelzens im Hochofen der Freiheit, keines Schmiedens in der Weißglut unerbittlicher Not, wie es ihm erforderlich schien, um aus dem alten Eisen gesellschaftlicher Vorurteile, künstlich angerosteter Geistes- und Seelenkräfte blanke, stählerne Triebstangen und Räder zu formen, wie die sausende, gewaltige Maschine der neuen Kultur deren so viele verbraucht. Rudolf hatte einfach Reit-, Tanz- und Fechtunterricht genommen, den besten Schneider der Residenz ausfindig gemacht, die neuesten Theaterstücke gesehen, die neuesten Bücher gelesen, zur Uebung sich befleißigt, jedes Dienstmädchen mit »gnädiges Fräulein« anzureden, unter keiner Bedingung mehr die Hände geschüttelt . . . er war im besten Zuge, ein vollendeter, beliebiger Herr von Eckardt zu werden, den sicherlich jeder Offizier nach einiger Zeit gefragt hätte: »Bei welchem Re'ment haben Sie gestanden, Herr von Eckardt?« Daß ihn diese erste Begegnung mit Asta heute so aufgeregt hatte! Er verachtete sie ja doch – nicht wahr? Aber das sollte schon anders werden, und zwar sehr bald. Er wollte sich ihr überall in den Weg drängen, überall sollte man ihn ihr rühmen als den vollendetsten Kavalier von Berlin, als den Liebling der vornehmen jungen Mädchen, den gefürchtetsten Feind aller heiratsfähigen Assessoren und Lieutenants, den vielbeneideten Auserkorenen der schönen Grigori, den nobelsten Verschwender und imposantesten Faulenzer. Es kümmerte ihn nicht, daß er über diesem närrischen Beginnen seine einträgliche Stellung bei Jefferson and Jenkins verlieren konnte, daß er sein sauer verdientes Geld nutzlos zum Fenster hinauswarf. Er wollte nur der Baronesse Asta beweisen, daß es für ihn ein Kinderspiel sei, das alles sich anzueignen, dessen Mangel nach seiner Meinung der eigentliche Grund ihrer Abweisung gewesen war. Er wollte erleben, daß sie bereute, daß sie sich ärgerte – und dann wollte er zurückkehren, vielleicht ohne einen Cent in der Tasche und drüben in harter, herrlicher Arbeit seiner eignen Narrheit und der ganzen Alten Welt herzlich lachen. –

Nachdem er etwa eine halbe Stunde geruht hatte, zog er sich vom Kopf bis zu den Füßen um und betrat bald darauf, mit tadelloser Eleganz und bestem Geschmack gekleidet, die Straße. Er bestieg eine Droschke erster Klasse und ließ sich nach der Besselstraße fahren, wo Fräulein Bianka Grigori eine kleine, möblierte Wohnung von drei Zimmern innehatte.

Die Zofe empfing ihn wie einen alten Bekannten, denn er pflegte fast täglich um diese Zeit vorzusprechen. Sie zog sich auch sofort zurück, ohne ihn ihrem Fräulein erst anzumelden, da sie wußte, daß Herr von Eckardt immer willkommen war. Er klopfte zweimal an, ohne ein Herein zu vernehmen und trat dann ohne weiteres ein. Bianka war nicht im Wohnzimmer. Er rief ihren Namen und hörte sie aus dem anstoßenden Schlafzimmer antworten: »Sind Sie's, lieber Freund? Einen Augenblick Geduld. Cigaretten finden Sie auf dem Vertiko.«

Ordnungsliebe war nicht die hervorragendste Tugend der Sängerin. Heute sah es sogar noch ärger aus, als gewöhnlich. Wahrscheinlich war heute die Schneiderin zur Anprobe der Kostüme für die neue Rolle dagewesen, denn auf der Chaiselongue, teilweise auch auf dem Boden, lagen zahlreiche Kleidungsstücke nachlässig verstreut umher. Rudolf vertrieb sich die Zeit damit, den bunten Kram von kurzen Röckchen, Miedern, seidenen Strümpfen Stück für Stück aufzuheben, ernsthaft zu betrachten und dann fein säuberlich über einige Stühle zu legen. In der Mitte des ziemlich großen Zimmers, mit der Klaviatur dem offnen Balkonfenster zugekehrt, stand ein schöner Stutzflügel, das einzige Stück der Einrichtung, welches der Grigori zu eigen gehörte. Leider zeigte die dunkle Politur auch schon einige stumpfe Flecke, denn dem Fräulein kam es gar nicht darauf an, die Kaffeemaschine mit dem Spiritusbrenner zur Abwechslung auch einmal auf den Deckel des Flügels zu stellen. Noten lagen stoßweise darauf, einzelne Blätter waren beim letzten Durchstöbern derselben aus den Umschlägen herausgefallen und noch nicht vom Boden aufgehoben worden. Auf einem der verschiebbaren Bretter für die Lichter stand eine Aschenschale aus Metall in Form eines strampelnden Teufels mit ausgebreiteten Fledermausflügeln. Etwas Cigarettenasche war noch auf dem Elfenbein der Tasten liegen geblieben; Rudolf schlug sie sorgsam mit dem Zipfel seines Taschentuches ab. An den Wänden hingen zwischen und über abscheulichen Oeldrucklandschaften vertrocknete Lorbeerkränze mit bedruckten und bestickten Schleifen in allen möglichen Farben. Korbgestelle in Form von Füllhörnern, Schubkarren, Leiern und dergleichen, die Gerippe längst verwelkter, köstlicher Blumengaben lagen verstaubt, lose übereinander getürmt zwischen Spiegelschrank und Ofen. Ein geschweifter Damenschreibtisch, mit allerlei zierlichen Ueberflüssigkeiten überladen, sowie die übliche Staatsgarnitur, Sofa, ovaler Tisch und zwei Lehnsessel in bereits etwas fadenscheinigen, roten Plüschbezügen vervollständigten die Einrichtung. Massenhafte Photogramme von Kollegen und Kolleginnen, auch von Fräulein Grigori selbst, lagen auf der Tischdecke umher und füllten außerdem eine flache Metallschale fast vollständig aus. Zahlreiche Visitenkarten, meist durch Nadellöcher erkennen lassend, daß sie einst an Schleifen und Papiermanschetten befestigt gewesen waren, trieben sich zwischen den Bildern herum.

Rudolf machte sich das Vergnügen, aus dem Inhalt der Schale sämtliche Karten zusammenzusuchen, welche den Namen »Bodo Freiherr von Lersen« trugen. Es war ein Päckchen von dreizehn Stück, größtes Format mit Goldschnitt.

»Wenn der arme Junge wüßte, wer seine dreizehn Bouquets bezahlt hat,« dachte er und lachte leise vor sich hin. Da that sich die Thür des Schlafzimmers auf und herein trat – ein allerliebster, kleiner Offizier eines fabelhaften Regiments, eines fabelhaften Jahrhunderts. Zierliche, gelbe Reiterstiefeln, violette Trikots, kurze, gepuffte Hosen von braunem Sammet, eine ebensolche Jacke, ein üppiges, weißes Spitzenjabot, ein kecker Federhut und, an einem breiten Bandelier baumelnd, ein mörderischer Degen.

»Guten Tag, lieber Freund, wie gefalle ich Ihnen so?« sagte der kleine Offizier, militärisch grüßend. Und dann tänzelte er im Zimmer herum und sang dazu: »En avant Briquet – tralla lallala!«

»Geben Sie einmal acht auf meinen Gang! Ich will mich an das Kostüm gewöhnen und mir den männlichen Schritt einüben.« Und mit krummen Knieen, wie alle Frauen, marschierte die Grigori vor dem erstaunten Amerikaner auf und ab.

Plötzlich aber ließ sich dieser auf die Chaiselongue fallen und lachte aus vollem Halse: »O goodness gracious me! Schon wieder dies blödsinnige Operetten-Humbug! Sie stellen natürlich ein verliebtes Mädchen vor, das sich verkleidet, um zu seinem Liebhaber zu kommen, und werden in diesem reizend offenherzigen Kostüm von allen möglichen alten und jungen Herren wirklich für einen Mann gehalten – nicht wahr?«

»Ganz gewiß; und um die Täuschung vollständig zu machen, singt dieser junge Offizier auch noch Sopran.« Sie setzte sich an den Flügel, schlug einige Accorde an und ließ einen langen, hohen Triller erschallen. Dann brach sie plötzlich ab, stützte das ganze Gewicht ihres Oberkörpers mit verschränkten Armen gegen die Klaviatur, daß es einen tollen Mißklang gab und sagte ernsthaft, zornig erregt: »Sie haben ganz recht, Freund! Es ist eine Schande, daß man im Dienste dieses Unsinns auch nur einen Finger rührt! Künstlerin? Lächerlich! Ich bin nichts Bessres als die Riesendame, die sich auf den Jahrmärkten sehen läßt! O – wer mir das einst prophezeit hätte, daß ich noch einmal vor einem ganzen Parterre von Libertins und Cocotten meine Beine zeigen und dazu grimassieren würde, wie eine Café-Chanteuse!«

»Das thun Sie aber gar nicht, gnädiges Fräulein,« beeilte sich Rudolf zu trösten, indem er hinter sie trat und ihr eine Hand auf die Schulter legte: »Das ist es ja eben, was Ihren Ruhm hier in Berlin gemacht hat, daß Sie nichts von dieser Chansonettenmanier an sich haben.«

»So ist es brav, mein Freund,« sagte Bianka mit einem dankbaren Blick, indem sie sich erhob und ihren dunklen Kopf an seine Brust lehnte. »Sagen Sie mir, schwören Sie mir, daß Sie sich nicht nur in meine Waden verliebt haben – Sie sind übrigens falsch, lieber Freund! – sagen Sie, daß Sie mit Ihrem Scharfblick etwas andres hinter meiner Maske zu entdecken glaubten, sagen Sie mir einige dumme Phrasen: Ich sei Ihnen ein schönes Rätsel oder . . . irgend so etwas Gutes. Lügen Sie, schwören sie falsch; aber sehen Sie mich mit Ihren ehrlichen Augen dabei an, und ich will es glauben; denn ich bin sehr betrübt und will getröstet sein.«

Er löste ihr den Federhut vom Kopfe, streichelte ihr schwarzes Haar und that ihr den Gefallen, sie mit schmeichelnden Redensarten zu trösten. Er that es gern, denn ihr Wesen rührte ihn – und außerdem war es eine gute Uebung in der Civlisation für ihn.

»Ich habe Kopfschmerzen, lieber Freund, meine garstige Neuralgie. Thun Sie mir etwas Eau de Cologne auf die Stirn und pusten Sie dann so – ja? Seien Sie so gut!« Sie warf den Degen zu dem Federhut auf das Klavier, streckte sich dann auf die Chaiselongue aus und schloß die Augen.

Rudolf holte gehorsam den Zerstäuber herbei, strich sorgsam mit einer Hand die gebrannten Löckchen von ihrer Stirn zurück und besprengte sie mit dem duftenden Wasser von Gegenüber dem Jülichsplatz. Dann beugte er sich über sie und pustete leise darüber hin. Er hatte jetzt Muße, dies Gesicht ganz aus der Nähe zu studieren. Mit geschlossenen Augen sei es eigentlich nicht schön – sagte er sich. Die Backenknochen waren allzu vorspringend, der Mund zu groß, die Nase nicht schmal und lang genug und die Augen etwas weit auseinanderliegend. Und ohne daß er es wußte und wollte, zauberte seine erregte Einbildungskraft ein andres Frauenantlitz an diese Stelle, das keinen von all diesen Mängeln aufwies, das in ebenmäßiger, tadelloser Zartheit und Schönheit ihm einst gelächelt hatte und ihn seither Tag und Nacht mit dem Zauber schmerzlichen Erinnerns gefangen hielt. Ja, er sah Asta von Lersens stolzes Haupt hier vor sich, nur eine Spanne weit von seinen durstenden Lippen, in das weiche Kissen gebettet – und er beugte sich tiefer herab. Da legten sich zwei weiche Arme um seinen Hals, heiße, volle Lippen suchten die seinigen und hefteten sich zu langem Kusse darauf. Er fühlte es an dem raschen Schlagen ihres Herzens, daß sie glücklich war in seiner Umarmung, und er schämte sich, daß er sie betrog – und preßte sie wilder an sich, um sich selbst zu belügen, um zu vergessen, daß es nicht dieser schöne Leib war, den seine Seele liebkoste.

Sie drückte ihn sanft von sich und sah ihm mit wehmütigem Lächeln ins Auge. »O, mein Freund, wenn du mich so liebst, warum sagst du mir es nicht?« fragte sie mit ihrer weichen Stimme, der eigentümlich schmeichelnden, fremdartigen Betonung. Ach, ihre Augen waren wunderschön! Sie schienen Rudolf so wissend, so strafend und doch verzeihend anzuleuchten. Er ließ sich vor ihrem Lager auf die Kniee gleiten und stammelte: »Mein gnädiges Fräulein – ich weiß nicht – wie ich es verdiene . . . ich . . .« Und sie streichelte ihm die roten Wangen und lachte: »Närrischer Mensch, wenn dir ein Mädchen einen so schönen Kuß gegeben hat, dann sagst du nicht mehr ›gnädiges Fräulein‹ zu ihm! Und nun nehmen Sie sich einen Stuhl und hören Sie mir zu, Herr von Eckardt, ich will Ihnen erzählen. Stecken Sie sich eine Cigarre an und geben Sie mir die Papyros – die Geschichte wird lang.«

Er brachte die Cigaretten und zündete sich selbst eine seiner eignen Cigarren an. Und Bianka Grigori rauchte, stützte den Kopf auf den linken Ellenbogen und sprach: »Wenn Sie wissen wollen, warum ich gerade Sie einer Gunst gewürdigt, deren sich bisher noch keiner meiner Verehrer zu rühmen hatte, so muß ich Ihnen meine wahre Geschichte erzählen. Sie sind ein Mann, der nicht aussieht, als ob er Geheimnisse in der Stadt herumtrüge. Was ich Ihnen erzählen will, muß unser Geheimnis bleiben, lieber Freund; versprechen Sie mir das?«

»Ich verspreche es.«

»Gut. Ich heiße eigentlich Adriane Grigorescu. Meine Mutter war eine sehr vornehme ungarische Gräfin, mein Vater entstammte einer der ältesten Familien Rumäniens. Er zeichnete sich schon frühe im Staatsdienst aus und schien eine große politische Zukunft zu haben. Entgegengesetzte Parteieinflüsse drängten ihn aus seiner Stellung und er ging nach Serbien, wo er bald zu hohem Ansehen gelangte und endlich gar erster Minister wurde. Meine Mutter starb kurz bevor der Vater sein Portefeuille erhielt. Ich war die einzige Tochter, sehr verwöhnt und verzogen, Erbin eines ansehnlichen Vermögens. In einer der exklusivsten Schweizer Pensionen sollte ich mir das Ganze der modernen Bildung aneignen. Außer den zahlreichen Sprachen habe ich nicht viel dort gelernt, denn ich war faul und sehr eingebildet. Ich war immer sehr selbständig gewesen, hatte mir von Kind auf über alle Dinge meine eignen Gedanken gemacht, verachtete vieles von dem nach Gebühr, was jungen Mädchen sonst als etwas Kostbares im Kopfe steckt – ich verehrte nur meinen Vater, obwohl er sich nur wenig und dann immer etwas von oben herab mit mir beschäftigte, und die Musik. Ich war sehr ehrgeizig, ich wollte einst eine große Rolle spielen in der Gesellschaft; meine vornehme Herkunft, mein Talent, mein besondres Wesen, das ich wohl der eigentümlichen Mischung des Blutes verdankte – Sie sehen, ich war niemals naiv: ich beobachtete mich selbst durch ein scharfes Glas und rechnete mit dem, was ich in mir Besondres entdeckte! – Alles sollte mir helfen, mich über das gewöhnliche Frauenmittelmaß hinauszuheben. An euch Männer dachte ich nie anders, als an meine Puppen, mit denen ich spielen und die ich dann in die Ecke werfen wollte, wenn sie mich nicht mehr amüsierten. – Alles, was mein Herz an Zärtlichkeit tief in sich verschloß, gab ich einem Mädchen hin, einer Mitschülerin, in meinem Alter. Sie war eine preußische Offizierstochter, schön aber kühl und hart, wie diese abscheulichen, norddeutschen Weine, die man erst auf Eis legen muß, wenn sie die Zunge betrügen sollen! Sie war die beste Schülerin, ein ausgezeichneter Lernkopf, ich in vielen Fächern die schlechteste; und dennoch zogen wir uns von Anfang an gegenseitig an, obwohl wir uns noch mißtrauisch beobachteten und zurückhielten. Eines Tages aber fanden wir uns – ich weiß es noch wie heute: eine hübsche, aristokratische Engländerin, eine dumme Gans mit blondem Haar und sehr großen, weißen Schneidezähnen, lief mit unserm Zeichenlehrer, einem langhaarigen deutschen Esel, davon. Der Skandal regte natürlich die ganze Pension furchtbar auf – wir beide, die Norddeutsche und ich, wechselten auch ein paar Worte darüber. Dabei kam die Uebereinstimmung unsrer Anschauungen heraus – und von dem Tage an schlossen wir einander fest ins Herz und blieben unzertrennlich wie junge Eheleute. Aber verzeihen Sie, was geht Sie diese Mädchenfreundschaft an. Ich wollte ja etwas ganz andres erzählen. Bitte geben Sie mir noch etwas Feuer – danke! Und jetzt drehen Sie mir den Rücken zu, ich kann Ihr Gesicht nicht sehen bei dem, was ich Ihnen jetzt vertrauen will.«

Sie that noch einen Zug an ihrer Cigarette, ließ langsam den Rauch aus dem wenig geöffneten Munde hervorquellen und dann warf sie das Papierröllchen in den Aschbecher. Ein Zittern durchlief ihren schlanken Körper, sie legte die Hände vor das Gesicht, wie wenn sie sich dadurch noch mehr verbergen könnte vor dem abgewandt Lauschenden. Und dann begann sie wieder: »Ehe ich noch die Schule ganz durchgemacht hatte, rief mich ein Brief meines Vaters nach Hause. Eine äußerst glänzende Heirat stehe für mich in Aussicht. Ich kam voller Erwartung an, denn ich war natürlich höchst begierig, meinen ersten Freier kennen zu lernen, der sich wahrscheinlich durchaus romantisch in mein Bild verliebt hatte. Mein Vater gefiel mir gar nicht. Er war in einer beständigen nervösen Aufregung, bald unnatürlich lustig, bald seltsam in sich gekehrt, wie geistesabwesend. Er erklärte mir seinen Zustand mit politischen Aufregungen und äußerte die Absicht, bald seine Entlassung aus dem Staatsdienste nachzusuchen. Er gab ein glänzendes Fest nach dem andern mir zu Ehren – aber wenn ich ihn fragte, wer denn nun von all den vornehmen Gästen mein Bewerber sei, lachte er nur und sagte, ich solle nur raten und mich gedulden. Der Fürst war ihm wohl gewogen und erschien öfters bei unsern Festen. Bald aber fiel es mir auf, daß aus dem Kreise der höheren Beamten und der angesehensten Familien die Absagen sich immer mehrten. Ich ahnte etwas Schreckliches; ich spürte meinem Vater nach auf Tritt und Schritt – und bemerkte, daß ein junger Mann, der Sohn eines Wiener Finanzbarons ersten Ranges, öfters und zwar außerhalb seiner Dienststunden zu ihm kam, und daß er sich nach diesen Besuchen meist lange einschloß und später in ganz besonders gedrückter Stimmung zu sein pflegte. Und dann kam der Tag, an welchem er mir eröffnete, daß jener junge Orientale sich um meine Hand bewerbe, und daß ich sie annehmen müsse, wenn ich ihn nicht zu Grunde richten wollte. Er habe durch eine unglückliche Börsenspekulation fast sein ganzes Vermögen verloren – wenn ich jenen Menschen nicht heirate, sei er ruiniert. – Ich war empört, meiner selbst nicht mächtig, ich sagte meinem Vater . . . o, lassen wir's. Er bat, drohte, er sperrte mich ein – es gelang mir zu entfliehen und mich bei einer befreundeten Familie auf dem Lande zu verbergen. Und da – nach acht Tagen brachte uns die Zeitung die Nachricht ins Haus, daß die Kammer in einer stürmischen Sitzung den Minister ins Angesicht beschuldigt hatte, daß er – Bestechungen angenommen, die Interessen des Landes schwer geschädigt habe. Er wurde in Haft genommen – für schuldig befunden, sein Vermögen mit Beschlag belegt und . . . und er entzog sich der entehrenden Strafe durch einen Pistolenschuß. Ich war Waise, mittellos, gewaltsam losgerissen von Vaterland, Rang und Gesellschaft, mein Herz wie erstarrt. Man verschaffte mir eine Stelle als Reisebegleiterin bei einer aristokratischen englischen Familie. Ich sah die halbe Welt, ich lernte Menschen kennen – sehr genau kennen, von allen Seiten! O mein Freund! In meiner abhängigen Stellung. . . . Das sind Erfahrungen, die nur ein Weib machen kann! Ihr Männer untereinander seid so gute Kameraden, ihr laßt einer den andern gelten, wie er ist, und tritt euch einer zu nahe, so greift ihr zu den ehrlichen, edlen Waffen und schlagt euch die Köpfe blutig. Aber wir armen Frauen in dienender Stellung, ohne Zuflucht, ohne Schutz – wir sind machtlos und rechtlos! – Ich gefiel, ich erregte die Neugier, ich wurde begehrt – und ich fühlte, daß ich Weib sei und – nicht nur meinen Trotz, meinen Hochmut, sondern auch mein heißes Blut zu bekämpfen hatte. Ich machte mich unmöglich, wie sie es nannten – nicht in einer, in zehn Familien! – Da versuchte ich es gar nicht mehr. – Ich hatte mich fest gehalten in allen Versuchungen, weil ich das Recht auf eine Zukunft nicht aufgeben wollte, für die ich mich von Natur geschaffen glaubte. Ich hatte alles entbehrt, was meine Seele nötiger brauchte, als Luft und Licht. Ich wollte frei sein, ich wollte herrschen, ich wollte mich rächen an der Niedrigkeit des Männervolkes. Und ich wollte auch Weib sein, glänzen, Leidenschaften erwecken, um sie nach meinem Belieben zu verachten oder zu erwidern! Ich glaubte Talent zur Sängerin zu besitzen. Ich hatte mich jämmerlich überschätzt – man lachte mich aus. Da versuchte ich es endlich mit der Operette; aber auch da wollte es nicht besonders glücken. Es gab zu viele meinesgleichen auf französischen Bühnen. Ich fiel nicht auf – wahrscheinlich, weil ich zu anständig war. Aber ich konnte nicht anders, die Gemeinheit meiner Umgebung widerte mich an – ich war weniger frei denn je, weil ich nur die Freiheit hatte, gemein zu sein wie sie – und dazu war ich noch nicht reif!« Sie hielt inne und richtete sich auf. Ihre Mienen erhellten sich, ja sie lächelte, als sie dem immer noch stummen Rudolf zurief: »Sind Sie dabei eingeschlafen, mein Alter? Sie dürfen mich wieder ansehen. Ich komme nun gleich zu Ihnen!«

Er wendete sich ihr zu und streckte ihr die Hand entgegen, zog sich aber gleich wieder zurück und sagte mit drolliger Resignation: »Ach – beg your pardon – man soll nicht shake hands machen. Also bitte, kommen Sie zu mir!«

Und Adriane fuhr fort: »Hier in Berlin ging endlich mein Stern auf. Das Publikum läßt sich hier viel gefallen. Es merkte mir an, daß ich weit her sei, und ich spreche das Deutsche mit einem ganz fremden Accent – wunderliches Volk, diese Deutschen, besonders hier im Norden: sie sind außer sich vor Entzücken, wenn man ihre Sprache mißhandelt! Der Beifall der Berliner hat mir sehr wohlgethan – ich glaube selbst, daß ich seither etwas leiste in meiner Kunst, welche keine ist. Hier fand ich die Gelegenheiten, Bekanntschaften zu machen, wie ich sie brauchte. Lesen Sie nur alle die schönen Namen auf den Visitenkarten da! Die gute kleine Fürstin lud mich sogar in ihr Haus ein, der Prinz bemühte sich auffallend um meine Gunst, zehn andre desgleichen . . . und dennoch hielt ich mich streng zurück und spielte die lächerliche Rolle einer tugendhaften Operettensängerin! Ich war feige geworden durch die affreusen Erfahrungen meiner Theaterzeit! Diese deutschen Edelleute erschienen mir harmloser als ihresgleichen in andern Ländern, obwohl ich ihnen nichts Bessres zutrauen wollte! Ich wußte nicht, wie ich mit ihnen dran sein würde, ich zögerte und konnte keinen Entschluß fassen – bis zu dem Tage, wo Sie mit Ihrer Pflaumenkiste erschienen. O die Idee war genial! Und wie Sie nun gar am andern Tage wiederkamen und mir mit dem größten Ernst von der Welt erklärten, Sie hätten die Absicht, sich für mich zu ruinieren, da hätte ich Sie auf der Stelle umarmen können – aber Sie sehen gar nicht so aus, als ob Sie das Bedürfnis hätten, umarmt zu werden. Sie sind ein self made man, als solcher habe ich schon die größte Achtung vor Ihnen – Sie sind der naivste Mann, der mir je vorgekommen ist, und darum fühle ich deutlich, daß man Ihnen nichts vorlügen darf. Sehen Sie, lieber Freund, darum habe ich Ihnen auch das alles gesagt! Ich werde jetzt meinen Salon der eleganten Herrenwelt öffnen. Man soll sich in guter Form und doch sans gêne bewegen bei mir, von Politik, Kunst und Liebe plaudern, man soll mir die Schuhspitzen küssen und sich für mich zu Grunde richten dürfen – und Ihre Anwesenheit, mein getreuer Eckardt, soll den Stil in die Gesellschaft bringen, und soll mir einen Halt geben. Wollen Sie das für mich thun?« Der freundliche, bittende Blick ihrer großen dunklen Augen machte Adriane in diesem Augenblick so schön, daß sie einen Heiligen hätte verführen können.

Aber Rudolf ließ sich nicht hinreißen, sondern erwiderte ganz bedächtig: »Man wird Sie meine Geliebte nennen!«

»Glauben Sie, daß mich das kränken könnte nach allem, was ich Ihnen vertraut habe? Und wenn die Leute die Wahrheit sagten . . .« sie lächelte schelmisch zu ihm auf.

Da endlich taute ihm das Herz auf. Ach, es war doch ein wonniger Trost für den verwundeten Stolz seiner Seele, daß dieses selbstherrliche, welterfahrene Weib sich freiwillig vor ihm neigte, ihn allein teilnehmen ließ an ihrem tiefen Leid, wie an ihren Träumen von Glück und Glanz! Er sprang auf, heiß schoß ihm das Blut ins Hirn, er zog sie empor und schloß sie fest in seine Arme, so fest, daß ihr beinahe der Atem verging. Sie ließ es gern geschehen. Sie fühlte sich wohl in diesen starken Armen, sie spürte nicht nur die Kraft seiner Sehnen, sie fühlte auch zugleich die ganze Wucht seines Charakters, und es war ihr, wie allen trotzigen geistesstarken Frauen, eine Wonne, sich einmal schwach zu empfinden. Jetzt ließ er sie los, um ihr ins Auge zu sehen – und dabei glitt sein Blick an ihr herab und bemerkte, daß sie, die stolze Adriane Grigorescu, die Tochter der serbischen Excellenz, ja noch immer in dem albernen Männeranzug steckte. Sonderbar – sein kurzer Rausch war mit eins verflogen. Es schien ihm lächerlich und unwürdig zugleich, daß er solch Bürschchen in Samtjäckchen und gelben Stulpenstiefeln, wie eine wahrhaftige Geliebte an sein Herz drücken sollte. Ihre ganze Erzählung, die ihn wirklich ergriffen hatte, erschien ihm plötzlich als von höchst zweifelhafter Glaubwürdigkeit. Er ärgerte sich über Adriane wie über sich selbst – und aus den glühenden Liebkosungen, zu denen sein überströmendes Mitgefühl ihn hatte hinreißen wollen, wurden nichtssagende Phrasen des Trostes und billige Schmeicheleien.

Hätte das seltsame Weib mit den wunderbaren Augen in Frauenkleidern da vor ihm gestanden, in dem höchst einfachen Morgenrock, in welchem sie ihn schon ein paarmal empfangen hatte, wer weiß, ob nicht das Glück des Augenblicks Worte auf seine Lippen gelockt hätte, die vielleicht seine ganze Zukunft jämmerlich über den Haufen gerannt haben würden.

Adriane merkte sofort, daß ihn irgend etwas aus der Stimmung gerissen habe, und sie vermied es mit feinem Instinkt, nach der Ursache zu fragen. Sie machte sich am Schreibtisch zu thun und sagte leichthin: »Ich habe Prinz Führingen heute die frohe Botschaft angekündigt, daß ich fortan für ihn und jedermann, der in der gesellschaftlichen Form hier Eintritt sucht, zu finden bin. Bringen Sie doch auch einmal den dicken Major mit, von dem Sie mir so viel Prächtiges erzählten. Den kleinen Lersen habe ich auch gebeten.«

»So? Soll er für seine dreizehn Bouquets endlich belohnt werden? Haben Sie ihn selbst gesprochen?«

»Ja, ich traf ihn heute bei der Fürstin; er machte mit seiner Mutter und seinen beiden Schwestern dort Besuch. Kennen Sie seine Schwestern?«

»Ich glaube, ich habe sie einmal gesehen – bei einem Bazar.« Er sagte es möglichst gleichgültig. Aber wenn Adriane sich umgewendet hätte, so wäre es ihr nicht entgangen, daß errötete wie ein junges Mädchen.

Sie holte aus einem Fache des Schreibtisches eine zierliche Kassette hervor, schloß sie auf und entnahm ihr ein obenauf liegendes kleines Bildnis in Wasserfarben, in einen Rahmen von dunklem Plüsch gefaßt. Sie versenkte sich in den Anblick und sprach leise vor sich hin: »Du bist noch schöner geworden, du liebes Bild! Asta, Asta – meine Asta! Wieviel tausendmal habe ich so deinen Namen in allen den furchtbaren Stunden meines Lebens vor mich hin – gebetet – ja gebetet! Was würdest du thun an meiner Stelle, du Schöne, du Gute? Laß mich dir ins Auge sehen, ob du mich nun verachtest, oder ob die Augen noch mit der alten, süßen Mädchenliebe mich anstrahlen!«

Adriane ließ den Kopf sinken, bis ihre Stirn die Platte des Schreibtisches berührte – sie weinte. Und sie merkte nicht, wie es hinter ihr geschlichen kam, und wie zwei brennende Augen über ihre Schulter hinweg das kleine Gemälde der Jugendfreundin anstarrten – lange, lange!

Endlich berührte Rudolf leise ihren Arm und fragte: »So wäre also dieses Fräulein von Lersen die Schulfreundin, von der Sie sprachen?«

Adriane fuhr empor, wischte hastig ihre Thränen ab und antwortete: »Ja, sie ist es – oder sie war es; denn heut bei der Fürstin hat sie mich auf den ersten Blick erkannt wie ich sie, und doch – jeder ihrer Blicke sagte mir: Ich will dich nicht mehr kennen, eine Operettensängerin existiert nicht für Asta von Lersen! – o!«

Und solch ein »O«, halb Knirschen, halb Hohnlachen, stieß auch Rudolf hervor, unfähig, sich zu meistern.

»Nicht wahr, mein Freund, sie ist empörend, diese Vornehmheit, die nur in lächerlicher Ungerechtigkeit, in vorurteilsvollem Hochmut besteht?« eiferte die Grigori. »Und Sie hätten dieses Mädchen kennen sollen mit ihrem großen, guten Herzen, mit dieser Fähigkeit begeisterter Hingabe, die unter der kalten Marmorschönheit versteckt war. Ja, man schalt sie schon in der Pension hochmütig, gerade so wie mich, weil wir alles Einfältige, alle kokette Kinderei, überhaupt alle Nichtigkeiten verachteten. Und nun hat das tägliche Beispiel, die dumme Gewohnheit, meine Asta auch heruntergezogen zu sich! O lieber Freund, wenn Sie unsre Liebesschwüre gehört, unsre Briefe gelesen hätten . . . da sind sie, ich habe sie alle aufgehoben;« sie wies auf die offne Kassette: »Sie sehen, wie teuer sie mir waren, daß ich ihretwegen sogar ordentlich wurde! Aber das kann Sie ja alles nicht interessieren. Sprechen wir nicht mehr davon. Ich glaube, ich habe großen Hunger. Gehen wir zusammen essen?«

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Entschuldigen Sie mich einen Moment. Ich ziehe mir diesen Affenanzug sehr schnell aus.« Damit eilte sie in das Schlafzimmer.

Rudolf hörte, wie sie den Riegel vorschob. Dann trat er rasch an den Schreibtisch, den sie in ihrer Nachlässigkeit natürlich offen gelassen hatte, riß das Bildchen aus der Kassette, blickte mit verzehrender Sehnsucht im Auge lange darauf und bedeckte endlich gar das kalte Glas mit seinen tollen, heißen Küssen. Ja, das waren andre Küsse als die, welche er vor kurzem noch der armen, betrogenen Grigori vergönnt hatte!

Und dann griff er aufs Geratewohl einen von den zahlreichen Briefen heraus, verbarg ihn mit scheuer Hast in seinem Taschenbuche und schloß dann die Kassette wieder leise zu. Der geraubte Brief brannte heiß über seinem Herzen. Wie gern wäre er fortgestürmt, um ihn gleich zu Hause mit inbrünstiger Aufmerksamkeit durchzulesen. Aber er mußte seine Ungeduld zügeln, er mußte Fräulein Grigori zu Tische führen, sie dann wieder bis an ihre Hausthür geleiten und nun endlich – da sie vor dem Beginn des Theaters noch eine Stunde der Ruhe bedurfte – nun endlich durfte er sich in den Wagen werfen, heimfahren, die Treppen in großen Sätzen hinaufstürmen und im letzten roten Scheine der sinkenden Maiensonne seinen Brief lesen!

Ja – seinen Brief! Denn er war genau so fieberhaft aufgeregt vor Begierde, seinen Inhalt kennen zu lernen, als ob er das erste Liebeszeichen seiner Herzliebsten sei und an ihn selbst gerichtet. Glücklicherweise war er deutsch abgefaßt. Seine Sprache war so glühend, so poetisch ausgeschmückt und leidenschaftlich dahinstürmend, wie die einer Liebenden an den Geliebten. Und Rudolf, der sonst so nüchterne, überlegte matter of fact man, setzte sich ohne weiteres an die Stelle der angeschwärmten Freundin und berauschte sich an der Sphärenmusik dieser ernsthaft überschwenglichen Mädchenschwüre, dieser holden Koseworte – und die »tausend heißen Küsse«, die Asta zum Schluß der Geliebten sandte, preßte er schier in voller Anzahl dem Papiere wieder auf, das vor nun acht Jahren ihre Hand mit fliegender Feder berührt hatte.

Selig wie der blondeste deutsche Mondscheinjüngling hockte dieser dreiunddreißigjährige Republikaner und Werkstattsdirektor von Jefferson and Jenkins, Buffalo, über seinem Liebesbrief und las ihn immer wieder von vorn, bis er ihn nahezu auswendig wußte.

O du guter Gott! Was war das für ein Wirrsal von Gefühlen in ihm! Vor wenigen Stunden noch hatte er ein hinreißendes Geschöpf, das sich ihm freudig hingab, in den bebenden Armen gehalten, und dabei wußte er es doch nun so deutlich, daß nicht für sie diese tolle, blindwütende Leidenschaft ihm Herz und Hirn versengte, sondern für die Schreiberin dieses gestohlenen Briefes, die sein ernstes, ehrliches Liebeswerben schnöde abgewiesen hatte!

O Liebe – dein Name ist süßer denn Honigseim und der Englein Lobgesang, aber dein Sinn ist – Unsinn!


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