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Erstes Kapitel

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Vor etwa achtzig und mehr Jahren lagerte auf der Prärie hinter der letzten europäischen Ansiedelung am oberen Missouri eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft von Männern, denen man das Leben in den unermeßlichen Wildnissen des Westens auf den ersten Blick ansah. Zum größten Teil waren sie Amerikaner, hatten aber auch einige Deutsche in ihrer Mitte, und etwas abseits an einem Baume lehnte sogar ein Indianer in der malerischen Tracht der Schwarzfüße. Seine Gestalt war hoch und geschmeidig, sein Auge glänzend wie das des Adlers und die Gesichtszüge, wenn auch nicht eben schön, so doch offen und gewinnend. Der »Gelbe Wolf« trug auf dem Kopfe eine Art Mütze von Hermelinfellen mit zwei aufrecht stehenden Büffelhörnern (ein Abzeichen besonderer Tapferkeit) und am Körper eine Tunika aus zwei Hirschhäuten. An allen Nähten glänzte der Ausputz von den Stacheln des Stachelschweines und außerdem lang herabfallendes, verschiedenfarbiges Haar, ein Siegeszeichen seines Besitzers, der es erschlagenen Feinden geraubt hatte, um damit seine Gewänder von den Squaws (Frauen) verzieren zu lassen. Die Skalplocken dieser Opfer schmückten in stattlicher Anzahl die Nähte an den auch aus Hirschleder verfertigten Beinkleidern des Häuptlings. Seine Schuhe endlich waren die bekannten schwarzen Mokassins, und vom Gürtel herab hing halb versteckt der »Medizinbeutel«.

»Da wären wir denn sämtlich beisammen, nicht wahr?« fragte einer der Männer, der Trapper Jonathan, eine hagere, sehnige Gestalt von einer so dunklen Hautfarbe, daß man über seine Abstammung im ersten Augenblick zweifelhaft sein konnte. »Unserer acht, denke ich: Travers, Pitt, Duncan, Everett, die beiden Deutschen, der Wolf und ich selbst. Es kann losgehen. Vorwärts, Wolf!«

Während alle Reiter aufsaßen, näherte sich dem jungen Amerikaner, Mr. Everett, ein etwa fünfzehnjähriger Knabe in ärmlichem Anzuge mit einem guten, offenen Gesicht und bat, ihn als Pferdeknecht einzustellen.

Der Trapper sah sich den Knaben schärfer an. »Komm her, du,« rief er, »bist du nicht der Sohn des Deutschen von der kleinen Farm da unten am Fluß? – Werner heißt dein Vater, oder Ferber, nicht wahr?«

Das hübsche Gesicht des Knaben wurde blaß. »Er hieß so, Sir! Mein Vater ist vor acht Tagen gestorben. Ich selbst heiße Hugo Werner.«

»Aha,« rief eine andere Stimme, »der ist's also. Guter Leute Kind, Mr. Everett. Der Vater kam vor langen Jahren hierher und gründete in dieser Gegend die erste Niederlassung, kämpfte mit wilden Tieren und wilden Menschen, steckte alle seine Kraft und all sein bißchen Kapital in das Unternehmen, dann, als er endlich die Früchte dieser ausdauernden Anstrengungen zu genießen hoffte, verkaufte plötzlich die Regierung den ganzen Grund und Boden hier herum einem schlauen Spekulanten, der sich die Sache längst schon berechnet und wohlerwogen hatte; Werner mußte, da er nur ein Pächter war, seine Farm verlassen, ausgeplündert bis auf den letzten Cent, arm wie Hiob – er legte sich hin und starb, das ist die Geschichte.«

Der alte Trapper nickte vor sich hin, und Mr. Everett nahm den jungen Burschen zu sich. Dieser versprach alles, was man von ihm verlangte, dann lief er, während die Reisegesellschaft zum Fluß hinabritt, quer durch die Feldwege bis an ein kleines, zu einer stattlichen Farm gehörendes Nebengebäude, nahm von Mutter und Schwester Abschied und eilte wieder zu seinem neuen Herrn zurück.

Es war eine stattliche Karawane, die an den Ufern des gelben Missouri über die endlosen Prärien mit Reitern und Packpferden dahinzog. Voran ritten der Trapper und der Gelbe Wolf, ihre Pferde zu schnellerer Gangart antreibend. Das malerische Ufer des Missouri mit seinen Hügeln aus Ton und reichlichen Adern von Bergkristall erglänzte im Sonnenlicht gleich den Ruinen einer uralten Stadt. Hier wölbten sich hohe Dome mit Riesenpfeilern, dort standen einzelne halbgebrochene Säulen, und weiterhin zeigte sich vielleicht ein Schloß auf einsamer Warte.

Mehrere der Reisenden hatten das Schauspiel noch nie gesehen und konnten daher jetzt ihre Blicke kaum davon losreißen. »Das ist schön,« rief Mr. Everett, »beim Zeus, das ist romantisch! Wahrhaftig, man kann dafür ein wenig Wildnis mit in den Kauf nehmen, z. B. den Mangel an Handtüchern und Sofas. Ich entbehre diese beiden nützlichen Gegenstände sehr.«

Zugleich mit diesen Worten zog er ein kleines Notizbuch hervor und handhabte sehr geschickt den Stift.

Der Gelbe Wolf deutete auf ein vielzackiges Geschiebe von Klüften und Ausläufern, das in einiger Entfernung aus dem schlangenartig gewundenen Ufer hervorsprang. »Dort wollen wir unser Lager aufschlagen,« sagte er. »Die Wolken haben dunkle Ränder, es gibt Regen. Die Sonne sinkt, wir müssen eilen.«

Das zerklüftete, bergige Gelände war erreicht. Das Gepäck wurde in die nach hinten gelegene kleinere Höhle geschafft und alle Wände genau untersucht. Außer einigen harmlosen Schlangen und Fledermäusen fand sich kein Bewohner, nichts schien den Frieden des Ortes zu stören. Hugo mußte dem Trapper helfen, trockenes Holz zum Feuer herbeizuschaffen und Wasser aus dem Bache zu schöpfen, dann kamen die Vorräte an das Tageslicht, vor allem Pemmikan.

Bald brodelte das Wasser im Topf, und die Düfte der zerstoßenen Kaffeebohnen wirbelten verlockend empor, und Mr. Everett holte Zigarren und seine Gitarre hervor und spielte.

»Eine singende Medizin,« sagte der Gelbe Wolf, indem er auf die Gitarre deutete.

»Das ist recht, Häuptling,« versetzte Everett, fortwährend in die Saiten greifend und sich mit dem Oberkörper nach dem Takte wiegend, »setze dich hierher zu mir, alter Junge, und laß uns plaudern. Zum Beispiel, was hast du da baumeln? Ein ausgestopftes Murmeltier, so wahr ich ein armer Sünder bin.«

Der Indianer brachte sogleich das geheimnisvolle Etwas hinter seiner Tunika in Sicherheit. »Medizin!« antwortete er.

»Auch Medizin? – Alle Teufel, was ist denn darin?«

»Höre ihn nicht, Sagamore,« schaltete in der Mundart der Schwarzfüße plötzlich der alte Trapper ein, »er ist ein Narr, der nicht daran denkt, dich beleidigen zu wollen.«

Der Häuptling mochte indessen an dem hübschen, gutmütigen Gesicht des jungen eleganten Neuyorkers Gefallen finden. »Weißer Mann hat auch seine Medizin,« versetzte er freundlich, während die braunen Finger in der Luft ein Kreuz malten. »Der Gelbe Wolf will es niemals verspotten.«

Ein voller Akkord der Gitarresaiten wurde plötzlich unterbrochen, und Mr. Everett reichte dem Indianer die Hand. »Du bist ein prächtiger Kerl,« sagte er halb lächelnd, »werde mein Freund! Willst du das?«

»Hugh!« rief statt aller Antwort der Häuptling, indem er blitzschnell seine Waffen ergriff – »ein Bär!«

Jonathan schien ebenso rasch das Herannahen des Ungetümes bemerkt zu haben, auch seine Kugelbüchse lag im Anschlag, bevor noch die Weißen daran dachten, sich von ihren Plätzen zu erheben. »Alles still,« gebot er, »Kaleb wird nicht angegriffen!«

Vor ihnen saß im Grase ein riesiger grauer Bär, das gefährlichste Raubtier dieser Gegenden. Er schien den Augenblick zum Angriff sorgfältig erwarten zu wollen. Aus dem offenen Rachen floß der Geifer, die Augen glänzten tückisch. So von dem Widerschein des Lagerfeuers hell beleuchtet, rötlich angestrahlt, mit einem ins Ungeheuerliche verzerrten Schattenbilde, glich er dem bösen Geiste der Felsen.

Der Trapper verwendete von dem wütenden Bären keinen Blick, auch der Indianer kroch Zoll um Zoll, immer den Pfeil auf der Sehne haltend, näher zu seinem alten Waffengefährten hinüber.

»Ich schieße!« rief Everett.

»Laßt das,« warnte Pitt. »Menschen und Pferde wären in größter Gefahr. Dies ist der männliche Bär, jedenfalls aber liegt das Weibchen mit ihren Jungen in irgendeiner nahen Höhle. Schießt um des Himmels willen nicht!«

Aber die Warnung kam zu spät. Everetts Kugel zischte durch die Luft, und der getroffene Bär sprang fußhoch über den Boden empor. Aus einer Wunde in der Schulter floß strömend das Blut, die gewaltigen Pranken schlugen nach allen Seiten, daß Gras und Erde in großen Klumpen umhergeschleudert wurden, die Pferde flüchteten, und das Feuer erlosch fast ganz. Mit einem einzigen Satze näherte sich, vor Wut und Schmerz brüllend, das Untier seinen Angreifern.

Ein Hagel von Kugeln empfing es. Sein schönes, graues Fell wurde durchlöchert, sein Fleisch in Stücke zerrissen, aber noch war keineswegs die riesige Kraft gebrochen, noch taumelte es nur, ohne zu stürzen.

»Zurück! Zurück!« rief der Trapper. »In die innere Höhle, oder wir sind alle verloren.«

Ein Pfeil vom Bogen des Häuptlings traf das Tier ins Auge und blieb schwankend im Kopfe stecken. Halb geblendet übersprang es die Reste des Feuers.

Everett allein erwartete festen Fußes sein Kommen, die übrigen hatten sich hinter den Schutzwall der Felsenmauern begeben und schossen von dort aus dem Dunkel hervor. Jeder einzelne unter ihnen gab den tollkühnen Neuyorker verloren.

Dieser behielt indessen seine vollste Kaltblütigkeit. Auf einem etwas erhöhten Punkte stehend, ließ er den Bären nahe genug herankommen, um mit Sicherheit zielen zu können, dann flog die Kugel aus nächster Nähe in den geöffneten Rachen der Bestie und bereitete ihr dadurch den Garaus. Zuckend wälzte sie sich am Boden, um in der folgenden Minute zu verenden.

»Hurra!« rief Everett, »Mrs. Kaleb, Sie sind Witwe!«

Der Indianer trat aus der Höhle hervor, sein ernstes Gesicht war von einem Schimmer des Lächelns erhellt.

»Mein weißer Bruder ist ein Tapferer,« sagte er wohlgefällig, »er wäre würdig, die Adlerfeder zu tragen.«

Auch der Trapper nickte zufrieden. »Es ist um den Mut eine schöne Sache,« sagte er, »aber man soll nichts übertreiben. Es ist gegen alle Regeln der Jagd, den grauen Bären anzugreifen.«

Everett holte unbekümmert um die sehr verständlichen Ermahnungen, die ihm auch von den übrigen Reisegefährten zuteil wurden, eine Blechpfanne und einige Büchsen mit Gewürz hervor, und es wurde von dem Fleische des Bären ein leckeres Abendessen bereitet. Nach der Mahlzeit trug der Indianer sorgfältig die Überreste des Bären in den Bach, um nicht etwa einen nächtlichen Besuch der Wölfe herauszufordern, dann begaben sich alle zur Ruhe. Die Wache wurde unter den Teilnehmern der Reise durch das Los entschieden. Bis zur ersten Hälfte der Nacht mußten Jonathan und Hugo den Schlaf ihrer Genossen behüten. Sie hüllten sich, so gut es ging, in die mitgenommenen Wolldecken, legten die geladenen Büchsen neben sich und faßten Stellung am Ausgange der inneren Höhle. Im Vorderraum brannten große Baumäste, die von Zeit zu Zeit näher herangeschoben wurden, die Pferde weideten hörbar das junge Gras, und dicht nebeneinander saßen der Knabe und der alte Trapper.

Obgleich dieser eine Kugelbüchse und ein Jagdmesser trug, obgleich die Putzgegenstände der Wilden und namentlich der bei keinem Indianer fehlende Medizinbeutel an seiner Person nicht zu entdecken waren, so hatte er doch aus der Haut des schwarzen Hirsches seinen ganzen Anzug selbst gefertigt und auch die Gewohnheiten des roten Volkes angenommen. Mit der selbstgefertigten Pfeife aus Speckstein zwischen den Zähnen sah er vorsichtig auf die Prärie hinaus und kehrte dann, als ihm nichts Verdächtiges begegnete, zu seinem jungen Gefährten zurück.

»Du bist ein guter, bescheidener Junge,« sagte er. »Erzähle mir einmal deine Geschichte, mein Sohn; vielleicht kann ich dir früher oder später nützlich werden.«

Und der Knabe sagte ihm alles, was sein junges Herz bewegte und was er von seiner Familie wußte.

»Ein Leben ohne Heimat«, entgegnete darauf der Trapper seufzend, »ist ein verlorenes Leben, mein Junge. Wir Weißen lernen doch niemals ganz wie die Rothäute fühlen, denn der Wandertrieb steckt bei uns nicht so in Fleisch und Blut; du mußt daher Landwirt werden, wie es dein Vater war.«

»Aber Ihr seid doch auch ein Weißer und – ein Trapper!« wagte Hugo zu sagen.

»Freilich! – nur hat mich mein Geschick in diese Verhältnisse gewaltsam hineingeworfen; ich konnte nicht anders, denn meine Wiege stand in einem indianischen Wigwam, oder besser, hing auf dem Rücken einer barmherzigen indianischen Squaw. Du sollst hören, wie es mir erging, Junge, damit du siehst, daß auch andere Leute ihre Bürden zu tragen hatten! – Vor sechzig Jahren stand da, wo heute die Straßen einer Stadt sich dehnen, meines Vaters Blockhütte. Ich selbst lag neugeboren, kaum einige Tage zählend, in der Wiege, als in einer Nacht die Krähenindianer kamen und alles mordeten, was auf der Farm lebte. Der Häuptling hüllte mich in seine Büffelhaut und brachte mich in die Hütte seiner Squaw, wo ich eine Zeitlang blieb, bis mein Schicksal abermals eine unerwartete Wendung nahm. Die Schwarzfüße, mit den Krähen im beständigen Kriege, schickten, während sich die Männer des Stammes im Felde befanden, heimlich Kundschafter, die das kleine Kind des Krähenhäuptlings stehlen sollten, um es nachher gegen ein hohes Lösegeld von Pferden und Pelzen wieder zurückzugeben. Die Abgesandten wußten nichts von dem weißen Knaben, der ahnungslos in seiner Wiege schlief. Im Dunkel der Nacht ergriffen sie ihn und brachten ihn zu den Schwarzfüßen, fest überzeugt, das Fürstenkind geraubt zu haben. Taubenauge, die Großmutter des Gelben Wolfes, zog mich groß, und ich nahm die Gewohnheiten des roten Volkes an, ehe ich überhaupt wußte, daß es auf Erden weiße und farbige Menschen gibt. Erst später, nachdem um mein Kinn der Flaum zu sprossen begann, erfuhr ich das, was ich dir jetzt erzähle, mehr aber auch nicht; denn die Familie, bei der ich lebte, wußte selbst nichts anderes als nur dies. Wer mein Vater gewesen, wie er hieß und aus welchem Lande er stammte, das wußte niemand.«

Hugo hatte mit großer Teilnahme die Erzählung des alten Trappers angehört. »Und seitdem habt Ihr Euch taufen lassen, Mr. Jonathan,« fragte er, »und lebt nicht mehr bei den Indianern?«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Christ in dem Sinne, wie du es meinst, Kind, ich könnte auch mein Herz von den Rothäuten und ihren Sitten nimmer ganz losmachen, aber meinen indianischen Namen änderte ich so allgemach um in Jonathan, und gegen die Weißen habe ich mein Leben lang nicht kämpfen mögen. Du siehst, an meinem Gürtel hängt keine Skalplocke – ich konnte mit den Bleichgesichtern niemals streiten, da sie ja meine Familie sind. Nur einen unter allen nehme ich aus, Stuart Collins. Zwischen ihm und mir liegt seit vielen Jahren eine Fehde, wir haben die Streitaxt ausgegraben und nicht mehr aus derselben Pfeife geraucht bis auf diesen Tag. Sieh, deshalb will ich nach Möglichkeit die Wunde heilen, die er schlug; ich will dein Freund sein, weil er dein Feind ist, der Elende, der Verfluchte, der deine Familie ins Unglück stürzte.«

Hugo wagte nicht, dem Grunde dieses leidenschaftlichen Hasses nachzuforschen. »Ich danke Euch, Mr. Jonathan,« sagte er herzlich, »und ich werde mich bemühen, Euch und den anderen Herren, so gut es angeht, zu dienen.«

Der Trapper unterdrückte einen Seufzer. »Sprechen wir von angenehmeren Dingen,« versetzte er, »so alte Erinnerungen machen traurig. Morgen sollst du den Umzug einer ganzen Bewohnerschaft in der Prärie mit ansehen.«

Hugo freute sich mehr, als er dem Alten gestand. »Eins könntet Ihr mir erzählen, Mr. Jonathan,« sagte er nach einer Pause, »ich hätte es schon so lange gern gewußt. Was ist das mit dem Medizinbeutel der Indianer?«

»Das will ich dir sagen, Kind. Jeder Indianer begibt sich, sobald er fünfzehn Jahre alt ist, ohne Begleitung hinaus in den Wald oder die Prärie, fastet drei Tage und drei Nächte, öffnet auch während dieser Zeit die Lippen zu keinem Laut und setzt sich, wenn der vierte Tag anbricht, mit dem Rücken gegen einen Baum, um auszuspähen. Das erste Tier, das er sieht, ist sein »Natohwa« oder Geheimnis, von den meisten einfach Medizin genannt. Er hält es für seinen besonderen Schutzgeist und kehrt nun nicht eher in das Dorf zurück, bis er ein solches erlegt hat, worauf unter vieler Feierlichkeit die Haut des betreffenden Geschöpfes zubereitet und aus ihr der mit Gras und Moos gefüllte Beutel hergestellt wird. Ist das Tier größer, dann nimmt man ein Teilchen seines Felles; ist es klein, so stopft man es in Lebensgröße aus und läßt nun den Beutel niemals wieder von sich.«

»Und Ihr habt auch so hungernd und stumm drei Tage und drei Nächte allein im Walde gelegen, Mr. Jonathan?«

»Ja, Kind! – Und mein junges Herz war voll von heiliger Begeisterung, voll von den Schauern der Ehrfurcht. Gegen Morgen des vierten Tages zog ein Gewitter herauf, es donnerte und blitzte, der Regen rauschte in Strömen herab, alle Tiere hatten Schutz gesucht vor dem Toben und Wüten des ergrimmten Wetters. Ich lag mit dem Gesicht in das nasse Moos gedrückt, meine Wangen glühten, meine Augen standen voll Tränen. Der Große Geist sprach ja zu mir. Aber noch hatte ich kein Tier gehört oder gesehen. Ob der Große Geist zürnte? Ob er für mich Armen keine Medizin senden wollte? Ich schluchzte, ich nahm im Geiste Abschied von meinen Lieben daheim im Dorfe. Zu ihnen zurückkehren ohne Medizin durfte ich nimmer; ich wäre entehrt gewesen. Und wie ich so dalag, da ertönte in den Zweigen über meinem Haupte plötzlich die Stimme eines kleinen Singvogels. Das Gewitter hatte aufgehört, die Sonnenstrahlen spielten wie lebende luftige Geschöpfe auf dem perlenbesäten Boden, und das Vögelchen sang und schmetterte aus voller Kehle ein Danklied. Ich war überglücklich, meine Medizin war gefunden!«

Jonathan schwieg. Er stopfte neuen Tabak in die Pfeife. »Was ich dir hier erzählt habe, das bleibt unter uns, Junge,« sagte er nach einer Pause. »Die anderen brauchen es nicht zu wissen; vielleicht hätte ich sogar besser getan, es auch dir nicht mitzuteilen. Aber wenn ich im Frühling so an die Grenze der weißen Niederlassungen komme, wenn ich den Rauch ihrer Häuser sehe und ihre Sprache höre, dann wird mir immer so seltsam ums Herz. Doch nun schlafe, Hugo! Ich kann mit meinen alten Augen für uns alle wachen. Die Krähenindianer kommen nicht in diese Gegend, es naht keine Gefahr irgendeiner Art. Schlaf und stärke dich für morgen!«

Am folgenden Tage sehr früh saß die ganze Reisegesellschaft im Sattel. Das Bärenfleisch wurde mitgenommen, ebenso das zottige Fell des alten Kaleb. Die Sonne schien warm herab auf tausend Knospen und keimende Blätter. Auch Hugo fühlte sich heute schon viel freier als gestern, und Mr. Everetts Laune war geradezu unübertrefflich. »Die Wildnis läßt sich ganz gut an,« sagte er, »ich erwachte in dieser Nacht nur zwölfmal und habe kaum ein halbes Schock Käfer und Eidechsen in meinen Kleidern gefunden. Wann werden wir Büffel schießen, Old Jonathan?«

»Wenn uns welche begegnen,« war die trockene Antwort. »Vorerst müssen wir jetzt absteigen und die Pferde am Zügel führen. Es kommt ein Hundedorf.«

Der Gelbe Wolf stand schon auf dem Boden und zog sorgfältig spähend sein Tier hinter sich her; alle übrigen folgten diesem Beispiel, und nun zeigte sich auch die Kolonie jener kleinen Vierfüßer, die in den nordamerikanischen Prärien zu Hunderttausenden leben. In je zwanzig bis dreißig Fuß Entfernung hoben sich vom Grau der Erde kleine Hügel, deren jeder oben auf seiner höchsten Höhe einen Eingang für die bewohnende Familie erkennen ließ. Regelmäßige Straßen hatte indes dieses seltsame Dorf nicht, so daß die Reisenden ihre Pferde hindurchziehen mußten. Wäre eines davon mit dem Huf in eine derartige Vertiefung geraten, so hätte es unfehlbar die Beine gebrochen.

»Ich habe diese vermaledeiten Dörfer häufig genug durchwandert, um die seltsamen Neigungen des Präriehundes zu kennen,« sagte Mr. Duncan. »Seht ihr da an jedem Eingang eine kleine Eule sitzen, meine Herren? – Das ist die Schildwache der Familie, zu der auch große gehörnte Eidechsen und Landschildkröten gehören. Aha, da erscheint der Hausherr.«

Aus allen Erdlöchern erhoben sich die Köpfe des amerikanischen Hamsters, eines kleinen hundeähnlichen Tieres, das braun mit weißem Bauch die Größe eines Eichhorns besitzt und das jetzt schweifwedelnd in aller Gemütlichkeit vor seiner Haustür saß und jenen Laut hervorstieß, der mit der Hundestimme verwandt ist, aber trotzdem entschieden wie »Tschirp! Tschirp!« klingt. Dieses Gebell begleitete die Gesellschaft von Hütte zu Hütte und wurde zu einem Konzert, das selbst die stärksten Nerven erschüttern mußte.

Es ging weiter. Drei Stunden im Sonnenschein über einen unebenen, zu beständigen Kreuz- und Quersprüngen nötigenden Boden zu marschieren und dabei mehrere Pferde am Zügel hinter sich herzuziehen, das verdirbt auch die beste Laune.

Gegen Mittag wurde Pemmikan und Schiffsbrot gegessen. Es fehlte in dieser baum- und wasserlosen Gegend jede Möglichkeit, ein Feuer zu entzünden, und nur der Gelbe Wolf und der Trapper schienen von den Anstrengungen des Weges nicht das geringste zu bemerken.

»In zwei Stunden müssen wir dein Volk treffen, Sagamore,« sagte Jonathan.

Der Häuptling streckte die Hand aus. »Wenn der Sonnenball über den Wipfeln dieser drei Fichten steht, dann sind die Söhne der Schwarzfüße an den Ufern des fischreichen Sees angelangt,« versetzte er.

»Hugo!« rief nach einiger Zeit Old Jonathan dem Knaben zu, »jetzt paß auf, wir kommen in das Lager der Schwarzfüße, oder besser, wir sehen sie umziehen.«

Der Knabe hob sich im Sattel und sah vor Verlangen bebend in die angedeutete Richtung hinaus. Da zog es über die grüne, sonnige Prärie heran mit mehr als tausend Pferden und wenigstens ebenso vielen Hunden. Zu beiden Seiten eines seltsam malerischen, aus Frauen und Kindern bestehenden kleinen Heeres schwärmten auf flinken, vortrefflich abgerichteten Pferden etwa sechshundert Indianer, alle mit Büchsen oder Pfeilen und Bogen bewaffnet, alle in Hirschleder gekleidet, mit dem Medizinbeutel an der Seite und der größeren oder geringeren Anzahl von Skalplocken an der reich verzierten Kleidung. Sie bildeten die Schutzwache der Frauen und Kinder, die sämtlich zu Fuß gingen, nur begleitet von jenen Hundescharen, die hier auf das sinnreichste zum Nutzen der Haushaltung verwendet wurden. Jede Squaw führte am Zügel ein Pferd, das auf seinem Rücken die Zeltstangen, das Gerät der Hütte und ihre Fellbedachung trug. Auf diesem schwankenden Bau saßen die Alten und Schwachen, sowie diejenigen Kinder, die zum Gehen noch zu klein waren, so daß bei einzelnen besonders zahlreichen Familien das Pferd drei bis vier Personen neben der ganzen beweglichen Habe seines Eigentümers zu tragen hatte. Neben dem Pferde gingen die größeren, stärkeren Hunde, ebenso eingeschirrt und beladen wie die ersteren, während ihre weniger kräftigen Genossen bellend und tobend den ganzen Zug umsprangen. Das Auge konnte nichts Interessanteres sehen als diese Völkerwanderung im kleinen.

Die Weißen mit ihren Begleitern hielten auf dem Wege, den der indianische Stamm verfolgen mußte, aber vergebens erwartete Hugo, daß das braune Völkchen irgendein Zeichen der Freude des Wiedersehens an den Tag legen werde. Auf beiden Seiten blieb man anscheinend ganz gleichgültig, nur ein einziger großer, schöner Wolfshund machte von der allgemeinen Regel eine Ausnahme, indem er dem alten Trapper entgegensprang. Seine tollen Freudenbezeugungen, sein Winseln und sein Bellen verrieten deutlich, daß er den geliebten, langvermißten Herrn bewillkommnete.

»Treu!« sagte leise, den mähnenumwallten Kopf streichelnd, der Trapper, »Treu, mein alter Geselle, freust du dich? – Aber still jetzt, still!«

Und der Hund gehorchte augenblicklich. Neben dem Pferde gehend, begnügte er sich, seinen Herrn fortwährend anzusehen und leise mit dem buschigen Schweif zu wedeln. Die Weißen ritten jetzt in einer Linie mit den roten Kriegern und den zu Fuß gehenden Squaws; in geringer Entfernung zeigte sich die blaue Fläche des Sees, an dessen Ufer für diese Nacht gerastet werden sollte. Hier angelangt, begannen die Frauen das Zeltdorf herzurichten und das Abendessen zu bereiten.

In der Mitte des freien Platzes standen abgesondert von den übrigen zwei Zelte, deren eines, das Beratungszelt, den Männern zum Versammlungsort diente, während das andere, die Medizinhütte, gewissermaßen das Allerheiligste war, den Frauen strengstens verschlossen und auch nur zu bestimmten seltenen Stunden den Häuptlingen geöffnet, der Wohnort des Medizinmannes oder Zauberers.

Allmählich wanderten von allen Seiten die Krieger mit ihren langen Pfeifen und hübschen Tabaksbeuteln zur Versammlungshütte. Auch unsere Reisenden fanden sich ein, und nachdem noch eine Zeitlang geraucht und geschwiegen worden war, ergriff ein alter Häuptling das Wort, um den Gelben Wolf inmitten seiner Krieger willkommen zu heißen und zugleich den Fremden die Gastfreundschaft des Stammes anzubieten.

»Wi-ju-jon will unseren Freunden, den Blaßgesichtern, seine Felle verkaufen?« fragte er. »Die Verstecke, in denen er sie vor den Blicken der räuberischen Krähen verbirgt, liegen an den oberen Wasserfällen des Missouri?«

»So ist es, mein Bruder,« versetzte der Trapper. »Hat der ›Büffeltöter‹ gegen diesen Plan etwas einzuwenden?«

Der Häuptling schwieg eine Zeitlang. »Wi-ju-jon ist ein weiser Mann und hochgeachtet von dem Volke der Schwarzfüße,« sagte er dann, »er möge hören und urteilen. Meine jungen Krieger haben in der Umgebung der Missourifälle die Spuren des Krähenstammes gefunden. Mit den roten Männern waren zwei Weiße, ein Mann und ein Knabe.«

Der Trapper hob den Kopf. »Weiße?« wiederholte er überrascht. »Hat der Büffeltöter von seinen jungen Leuten erfahren, wer diese waren?«

Der Häuptling verneinte. »Meine Krieger haben das Blaßgesicht vorher niemals gesehen,« versetzte er. »Wi-ju-jon muß wissen, was ihm zu tun obliegt.«

»Old Jonathan, ich ziehe mit Euch!« ließ sich Mr. Everett vernehmen. »Je toller, desto besser. Meiner Mutter Sohn fürchtet sich vor nichts als vor der Langenweile!«

»Wi-ju-jon!« ermahnte der Gelbe Wolf.

Ein Blick aus den freundlichen Augen des Trappers dankte ihm. »Die weißen Männer mögen selbst entscheiden,« sagte er dann, »wollen sie mich mit ihren Packpferden nicht bis zu den Missourifällen begleiten, so ist es mir auch unmöglich, ihnen meine Felle zu verkaufen. Auf Streit mit den Indianern muß jeder gefaßt sein, der sich überhaupt in ihr Gebiet begibt.«

»Wohl gesprochen!« rief Everett. »Ich gehe mit, alter Geselle!«

»Abgemacht!« rief Mr. Duncan, der Erfahrenste unter den Versammelten, »abgemacht, wir wollen die Sache wagen, selbst auf die Gefahr eines Scharmützels hin. Habe schon mehr als ein solches überstanden, bin nicht der Mann, auf halbem Wege wieder umzukehren.«

Jetzt erhob sich der Gelbe Wolf und sagte: »Will Wi-ju-jon dem Sohne seines Häuptlings gestatten, ihn mit fünfzig oder hundert der besten Krieger zu begleiten? Auch die tapfersten Häuptlinge können gegen eine doppelt stärkere Macht nicht kämpfen. Vielleicht sind dreihundert bis vierhundert Krähen an den Fällen.«

Der Trapper schüttelte den Kopf. »Wozu, Häuptling?« fragte er. »Wollen sie nur meine Felle stehlen, so bedarf es dieses Zweckes wegen keiner großen Anzahl; sind sie aber auf dem Kriegspfade begriffen, dann treffen wir sie am Missouri überhaupt nicht. Vielleicht ist es ein Feldzug gegen die dort herum wohnenden Sioux.«

»Desto besser!« rief der Häuptling. »Dann hat der Gelbe Wolf mit seinen jungen Kriegern einen Spazierritt gemacht.«

Früh am nächsten Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen den Rand des Horizonts färbten, saß die ganze Reisegesellschaft, jetzt um etwa sechzig braune Krieger verstärkt, im Sattel, und während die indianischen Frauen das Zeltlager abbrachen, verschwanden die letzten des Zuges hinter den Gebüschen am See.

Vor ihnen lag das wilde, weite Indianergebiet, das felsige Land voller Hindernisse und Gefahren. Was würden die nächsten Wochen, ja vielleicht schon die nächsten Stunden bringen?

»Ungeheuer romantisch!« rief Mr. Everett. »Hurra, der Westen soll leben!«


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